zp 113 – der mensch braucht nachbarschaft

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Für intelligente Optimistinnen und konstruktive Skeptiker 113 Mai/Juni 2011 10.– CHF / 8.– € Der Mensch braucht Nachbarschaft Wo die Gesellschaft beginnt: in der Nachbarschaft S 6 Je schneller desto mehr S 13 Psychologie der Nachbarschaft S 16 Geldschöpfung: Die Wahrheit ist offizi- ell S 38 Grundeinkommen: Damit der Mensch Nein sagen kann S 42 Natur: Hier gibt’s was zu essen S 54 Durchs schweizerische Unterholz S 64

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| Für intelligente Optimistinnen und konstruktive Skeptiker

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Page 1: ZP 113 – Der Mensch braucht Nachbarschaft

Für intell igente Optimist innen und konstruk t ive Skept iker

113

Mai/Juni 201110.– CHF / 8.– €

Der Mensch braucht Nachbarschaft

Wo die Gesellschaft beginnt: in der Nachbarschaft S 6 Je schneller desto mehr S 13 Psychologie der Nachbarschaft S 16 Geldschöpfung: Die Wahrheit ist offizi-ell S 38 Grundeinkommen: Damit der Mensch Nein sagen kann S 42 Natur: Hier gibt’s was zu essen S 54 Durchs schweizerische Unterholz S 64

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2 Zeitpunkt 112

Impressum

ZeItpunkt 113 maI / JunI 2011Erscheint zweimonatlich, 20. Jahrgang

Verlag / redaktIon / aboVerwaltungZeitpunktWerkhofstrasse 19CH-4500 SolothurnAboverwaltung: Hannah WillimannT 032 621 81 11, F 032 621 81 [email protected], www.zeitpunkt.chPostcheck-Konto: 45-1006-5IBAN: 0900 0000 4500 1006 5ISSN 1424-6171

VertrIeb deutschlandSynergia Verlag und MediengruppeErbacher Strasse 107, 64287 DarmstadtT 06151 – 428910, [email protected]

redaktIonTom Hänsel (Gestaltung), Michael Huber MH,Magdalena Haab MAG, Christoph Pfluger CP (Leitung), Roland Rottenfußer RR, Mathias Stalder MS, Samanta Siegfried Sam, Dr. Peter Bosetti Ständige MitarbeiterInnen:Geni Hackmann GH, Sagita Lehner SL, Heinzpeter Studer, Alex von Roll AvR, Ernst Schmitter

anZeIgenberatungMathias StalderZeitpunkt, Werkhofstrasse 19CH-4500 SolothurnT 032 621 81 11, M 076 409 72 [email protected]

abonnementspreIseDer Abopreis wird von den Abonnentinnen und Abonnenten selbst bestimmt.Geschenkabos: Fr. 54.– (Schweiz), Fr. 68.– (Ausland), Einzelnummer: Fr. 10.– / Euro 6.50

druck und VersandAVD Goldach, 9403 Goldach

papIerRebello Recycling

herausgeberChristoph Pfluger

bIldnachweIsTitelbild: Tom Hänsel

beIlagen Teilauflagen dieser Ausgabe liegen Prospekte bei vonWaschbär, Actares, Biketec, AfroPfingsten und Neustart Schweiz. Wir bitten um Beachtung.

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Zeitpunkt 113 3

Editorial

leben statt wohnen

Liebe Leserinnen und Leser

«Der Tote lag zwei Wochen unbemerkt in seiner Wohnung.»Wenn ich so eine Meldung lese, frage ich mich immer: Wo wa-ren die Nachbarn? Sie waren wohl weg an der Arbeit, weg zum Einkauf, weg zur Erholung, weg in den Ferien. Und wenn sie mal da waren, waren sie irgendwie doch nicht da. Irgendwie selber ein bisschen tot…

So tief sind unsere Nachbarschaften gesunken: Sie sind gerade noch gut genug zum Wohnen und taugen nur noch ausnahms-weise zum Leben. Die individuellen und sozialen Kosten sind enorm: Individualisierung, Zersiedelung, Verkehr, Ressourcen-verschwendung – man mag es nicht mehr hören. Besonders bedenklich ist, dass Politik und Behörden, ja selbst die Um-weltorganisationen das Problem nicht erkennen. Dabei ist das Potenzial lebendiger Nachbarschaften enorm. In deutschen Öko-Siedlungen, das haben Wissenschaftler nachgerechnet, lebt es sich bestens mit 1500 Watt, einem Viertel des Energieverbrauchs eines Durchschnittsschweizers.

Nachbarschaft braucht aber mehr als nur die Bereitschaft, mit den Menschen vor Ort ein gutes Leben zu gestalten. Um die Zerstörung unseres Lebensraums wenigstens teilweise rückgän-gig zu machen und die Wohnquartiere wieder zu organischen Nachbarschaften umzubauen, braucht es politischen Willen und ein bisschen Geld. Aber lange bevor die Mittel fliessen, braucht es Menschen, die die Vision teilen und weitertragen. Dazu möchte dieser Zeitpunkt einen Beitrag leisten. Nachbarschaft muss zum Politikum werden – und zuerst zu einer Herzensan-gelegenheit!

Wir bleiben dran und wünschen Ihnen viel Lesevergnügen und Anregung.

Christoph PflugerHerausgeber

Der Mensch ist des Menschen Medizin.

Aus Afrika

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4 Zeitpunkt 113

Inhalt

schwerpunkt: nachbarschaft

38 entscheIden & arbeIten

6 Wo die Gesellschaft beginnt: in der Nachbarschaft! P.M.

13 Je schneller desto mehr Je schneller wir uns bewegen, desto stärker wirkt die Masse

Leopold Kohr16 Psychologie der Nachbarschaft

Im Mikrokosmos einer Hausgemeinschaft spiegelt sich der Makrokosmos� Roland Rottenfußer

20 Die Kraft der Nachbarschaft Der Name ist gut gewählt: «KraftWerk1» in Zürich

Alex von Roll 22 Geteilte Bescheidenheit, gemeinsamer Reichtum

der Q-Hof in Bern Michael Huber24 Kraft & Licht

eine Insel in Basel Meta Morfos26 Kein Platz für Kleinlichkeiten

auf dem Wagenplatz in Freienstein Magdalena Haab28 Hier gibt’s Nachbarschaft: ein paar bestechende Projekte kurz vorgestellt Magdalena Haab29 Zwischen Himmel & Erde im Hotzenwald Sagita Lehner30 Unter-Grundhof: grüne Insel in Emmen Michael Huber31 Die grünste Nachbarschaft der Schweiz Sagita Lehner32 Die Nachbarschaft beginnt im Haus und andere

Kurznachrichten34 Hier ist Neustart – wo bist Du? Christoph Pfluger37 Nachbarschaft auf Wanderschaft

38 Geldschöpfung: Die Wahrheit ist offiziell Auszug aus «Geld und Geldpolitik»

40 Vollgeldreform – die wichtigste Volksinitiative seit langem42 «Damit der Mensch Nein sagen kann»

600 Menschen legten Mitte März an einem Kongress zum «Grundeinkommen» die Basis für eine Volksinitiative. Christoph Pfluger

46 Neue Partei «aus der Intteligenz des Herzens und andere Kurznachrichten

48 Der ehemalige zukünftige König Soll die Thronbesteigung von Prinz Charles verhindert werden? Roland Rottenfußer

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Zeitpunkt 113 5

Inhalt

50 VollwertIg leben

64 horIZonte erweItern

52 Hier gibt’s was zu essen. Meret Bissegger geniesst, was andere bekämpfen: Unkraut. Michael Huber

52 Anti-Öko-Demo für Fleischkonsum und andere Kurznachrichten56 Historisch: Mehr Sonnen- als Atomstrom57 Wahre Werte62 Diesen Film dürfte es eigentlich gar nicht geben

«Der Sommer im Winter» Christoph Pfluger

64 Durchs schweizerische Unterholz Die Herzroute, der schönste Velowanderweg des Landes, erobert ein Stück Innerschweiz. Paul Dominik Hasler

68 Das kreative Universum Evolution ist mehr als Daseinskampf und Wettbewerb. Roland Rottenfußer

72 Frankoskop: die Décroissance-Bewegung verschärft ihren Ton Ernst Schmitter

74 Verschwörungstherapie mit dem Zirkus Lollypop und andere Kurznachrichten

77 Agenda78 Kleinanzeigen80 Leserbriefe82 Brennende Bärte Geni Hackmann

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Nachbarschaft

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Wo die Gesellschaft beginnt:

In der nachbarschaftEndlich tun, was alle denken: Appelle und individuelle Verhaltensände-rungen werden uns nicht aus den Krisen führen. Wenn wir einfacher leben wollen, müssen wir die Nachbarschaften zu sozialen und wirtschaftlichen Organismen ausbauen, in denen das ganze Leben stattfinden kann. Der Neustart ist möglich, nötig, und er macht sehr viel Spass.

wir leben in einer paradoxen Zeit. Krisen in allen Bereichen – Peak Oil, Peak Soil, Peak Water, Peak Soul, Peak Growth – zeigen uns, dass es so nicht weiter gehen kann.

Doch statt das Steuer herumzuwerfen, lautet die Re-aktion: dann erst recht noch mehr vom Gleichen. Noch mehr Autos, noch mehr Überbauungen, noch mehr Wachstum, noch mehr Spekulation. Klar: die Rendite für unsere Pensionen brauchen wir jetzt, das Überleben des Planeten kommt später.

Noch paradoxer ist es, dass all das fast allen bewusst ist: gemäss der ETH-Umweltumfrage von 2007 schät-zen mehr als vier Fünftel (82 Prozent) der Schweizer Wohnbevölkerung «die Gefahr des Treibhauseffekts und der Klimaerwärmung für Mensch und Umwelt» als hoch ein – 1994 waren es erst 54 Prozent.1 Die Be-reitschaft, den Lebensstandard zugunsten der Umwelt einzuschränken, ist relativ hoch: 64 Prozent waren 1994 bereit dazu, 68 Prozent im Jahr 2007.Laut einer BBC-Umfrage glauben nur noch 11 Pro-zent der Weltbevölkerung, dass der Kapitalismus gut funktioniert. In Frankreich, Mexiko und der Ukraine verlangen mehr als 40 Prozent, dass er durch etwas gänzlich anderes ersetzt werden sollte. Es gibt nur zwei Länder, wo mehr als ein Fünftel glauben, dass der Kapitalismus in seiner gegenwärtigen Form gut funktioniert: die USA (25 Prozent) und Pakistan (21 Prozent). («Der Kapitalismus hat ein Image-Problem», in: Tages-Anzeiger, 11.10.2009)

der glaube Ist da, aber das handeln fehltFast niemand glaubt mehr an die Zukunft dieses Sy-stem – vielleicht sind jene 11 Prozent, die noch daran glauben, identisch mit den 10 Prozent der globalen Reichen, denen 85 Prozent des Weltvermögens ge-hören. Fast alle wissen, was zu tun ist, eine grosse Mehrheit ist sogar zu Einschränkungen bereit. Die Stadtzürcher Bevölkerung stimmte der 2 000 Watt-Ge-sellschaft (statt wie heute 6 000 oder 9 000 Watt) mit 76 Prozent Ja zu. Wer heute noch «Umweltbewusstsein» fördern will, rennt offene Türen ein.

Und trotzdem fehlt das konsequente Handeln. Das liegt vor allem daran, dass die Handlungs-Strategien, die angeboten werden, sich selbst sabotieren. Zum einen ist da die individuelle Strategie Modell «Öko-Held», die uns mit allerlei individualisierten Schreck-mümpfeli (wie Ecological Footprint) ein schlechtes Gewissen machen und uns dann als moderne Don Quixotes losschickt, um Elektroautos zu kaufen,

Wer Opfer von verfehlten Infrastrukturen (Siedlungen, Versorgung, Verkehr) individuell bestraft, erzielt keine Lenkung, sondern höchstens Umgehungs- und Rückzugsmanöver. Statt sich als Akteur zu fühlen, wird man zum Opfer.

von P. M.

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Nachbarschaft

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Gemüse auf dem Balkon anzupflanzen, in Hofläden zu posten (dafür braucht man dann das Elektroau-to), Veganer zu werden, myclimate-Ablassbriefe zu kaufen usw. Die Selbst-Sabotage besteht hier darin, dass die Umweltbelastung schon lange nicht mehr individuell zugeordnet werden kann, weil unsere Leben eng verwoben sind, und die grössten Um-weltbelastungen in einer kollektiven Infrastruktur angelegt sind (Autobahnen, Shoppingcenters, Schulen usw.). Individuelle Einschränkungen sind zudem in falscher Weise asketisch und verdecken, dass wir gar nicht verzichten müssen, sondern dass unsere Genüsse zum Vornherein pseudo-individualistisch verfälscht sind und vieles zugleich ökologischer sein und viel mehr Spass machen könnte. Diese geplante Frustration durch individuelle Verhaltensänderung führt dann eher zu einem Backlash, nicht zum Ver-zicht auf Mobiliät, sondern zur Abkapselung und zur Einsicht, dass es eben doch nicht geht. Man kauft sich lieber den neusten BMW und lässt die Katastrophe mal auf sich zukommen.

Die zweite Loser-Strategie ergänzt sozusagen die erste: staatliche Regulierungen. Im Prinzip wird einem durch solche Strategien das Autofahren, das Wohnen, das Erwerben oder Entsorgen von Gütern gezielt ver-teuert. Wir werden also so gelenkt, dass wir uns aus eigenem Interesse umweltgerechter verhalten sollten.

Diese Strategie ist erstens zynisch: wer genug ver-dient, kann sich Umwelt-sünden leisten, wer ein knappes Budget hat und ohnehin schon weniger verbraucht und weniger Ausweichmöglichkeiten hat, wird kollektiv be-straft und wählt dann SVP. Zudem sind die mei-

sten Regulierungen unwirksam, weil erzwungene Effizienz (bei Geräten, Autos) mit dem Rebound-Ef-fekt bloss zu anderweitigem Mehrkonsum oder ver-frühtem Neukauf (graue Energie statt rote) führt. Wer Opfer von verfehlten Infrastrukturen (Siedlungen, Versorgung, Verkehr) individuell bestraft, erzielt kei-ne Lenkung, sondern höchstens Umgehungs- und Rückzugsmanöver. Statt sich als Akteur zu fühlen, wird man zum Opfer. Die Lust am eigenen Handeln wird einem durch anonyme, ungerechte und büro-kratische Regulierungen genommen – eine Wirkung auf den CO2-Ausstoss war in den letzten Jahren denn auch kaum spürbar.

der eInZIge weg: wIrDie einzige Hoffnung, eine wirklich klimawirksame Umstellung unserer Lebensweise zu bewirken, be-

steht gemäss Dennis Meadows (Gründer des Club of Rome) darin, Gemeinschaften mit «kultureller Solidarität» herzustellen. (Er glaubt, dass nur zwei Länder hier noch eine Chance haben: Japan und die Schweiz.) Harald Welzer sagt: «Ohne einen Flucht-punkt der Wir-Identität, der in der Zukunft liegt, wird man kein neues kulturelles Projekt entwickeln können, das die Probleme und Krisen, die sich längst aufgetürmt haben, angehen, geschweige denn lösen könnte.» (Das Ende der Welt, wie wir sie kannten, 2010, S. 234)

Die Gründe für diesen Wir-Weg leuchten ein: Wer etwas zusammen mit Menschen tut, mit denen er täglich Kontakt hat, hat dafür eine echte (durchaus egoistische) Motivation, weil er sicher sein kann, dass er etwas zurück bekommt, und weil er einen direkten Feedback im Alltagsleben selbst erhält. Die Beloh-nung ist im Handeln schon eingebaut, sie braucht keine äusseren Anreize über Preise oder Steuerab-züge. Es geht also darum. einen gesellschaftlichen Rahmen zu finden, der ökologisch effizient, sozial unterstützend, kommunikationstauglich, arbeits-sparend, psychosozial ausgewogen und potentiell lustvoll ist. Nimmt man all diese Anforderungen zu-sammen, so kommt man auf Nachbarschaften von um die 500 (400-800) Personen aller Altersgruppen. Damit sind sie etwas grösser als informell funktio-nierende Gemeinschaften (maximal 150 Personen, gemäss Dunbar, Grooming, Gossip, and the Evolution of Language) dafür aber sozial nachhaltiger, flexib-ler und kühler, da sie formelle, basisdemokratische Strukturen erfordern und auch tragen. (Allzu grosse Intimität führt bald zu mafiaähnlichen Strukturen oder erfordert einen riesigen sozialpsychologischen Pflegeaufwand.)

In einem gewissen Sinn bestehen Nachbarschaften schon in vielen Städten, weltweit. Sie müssten nur noch gesehen, wachgeküsst und umgebaut werden. Im Zuge der Automobilisierung und der dadurch verursachten Umsiedlung vieler Menschen sind sie allerdings arg zerzaust, ausgehöhlt und ihrer Infra-struktur beraubt worden.

dIe stadt Vom land her neu erfIndenMit gesellschaftlicher und kultureller Aufwertung allein sind Nachbarschaften nicht machbar. Unser Vorschlag zielt daher darauf ab, die Reaktivierung der Nachbarschaft mit einem anderen kritischen, aber lebenswichtigen Sektor unserer Gesellschaft zu kombinieren: der Landwirtschaft. Gemeinschaft findet hie und da statt, Essen müssen wir immer. Nachbarschaften und Bauernhöfe sind heute zwei «lose Enden» unseres Systems, die beide unbefriedi-gend funktionieren. Bäuerinnen möchten gerne für Verbraucherinnen produzieren, die sie kennen und

Die Frustration durch individuelle Verhaltensänderung führt nicht zum

Verzicht auf Mobiliät, sondern zur Abkapselung und zur Einsicht, dass es eben doch nicht geht. Man kauft

sich lieber den neusten BMW und lässt die Katastrophe mal auf sich

zukommen.

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von denen sie endlich Anerkennung für ihre Arbeit bekommen. Die Konsumentinnen möchten wissen, woher ihre Nahrungsmittel kommen und sie möchten von den niedrigeren Preisen profitieren, die ohne Zwischenhandel möglich werden. Dass dies nicht mehr bloss eine städtische, sondern eine nationale und globale Herausforderung ist, leuchtet sofort ein. Doch in den Städten kann ein Ausweg zumindest angebahnt werden. Dies ist graduell möglich, ohne bisherige Strukturen zu zerreissen. Wir können zu-dem an vielfältige Erfahrungen und bestehende Pro-jekte anknüpfen.

Eine 2 000 Watt-Gesellschaft2 ist ohne eine grund-legende Neukonzeption unserer Lebensmittelversor-gung nicht zu erreichen. Die Nahrungsmittel ver-

ursachen gut 30 Prozent unseres CO2-Ausstosses, obwohl wir dafür nur 8 Prozent unseres Haus-haltgelds ausgeben. Dabei sind die Transportwege (von und zu Supermärk-ten und Shoppingcenters) nicht einmal inbegriffen. 50 Prozent der Nahrungs-

mittelkosten entfallen auf Transporte. Das bedeutet, dass die Nahrungsmittelversorgung keine Privatsache mehr sein kann, sie kann auf privater Basis nicht effizient umorganisiert werden. Die Nahrungsmit-telversorgung wird genauso eine politische Aufgabe werden, wie es heute der Verkehr schon ist. Wenn wir diese Aufgabe ernst nehmen, dann wird das weitrei-chende Folgen für das Leben in den Städten haben.

Wie Vandana Shiva es in ihrem neusten Buch sagt, müssen wir die Städte aus der Perspektive des Landes, der Nahrungsmittelerzeugung her, neu erfinden.

grundVersorgung aus dem umlandDas Modell, das zugleich Nachbarschaften mit einem ernsthaften Mittelpunkt und die Schweizer Bäue-rinnen mit einem zuverlässigen Abnahmesystem ver-sorgen könnte, nennen wir Mikro-Agro. Es ist das denkbar einfachste: Eine Nachbarschaft von 500 Be-wohnern braucht zur Versorgung mit den Grundnah-rungsmitteln eine Landwirtschaftsfläche von ca. 80 bis 100 Hektar. Das heisst, ein grosser, in sich diversi-fizierter Landwirtschaftsbetrieb bringt seine Produkte in das Lebensmitteldepot der Nachbarschaft. Solche Betriebe gab es im Schweizer Mittelland immer schon und sie sind immer noch wirtschaftlich möglich. (In einer Distanz von 50 km befindet sich genug Kultur-land um ca. drei Millionen Menschen ernähren zu können.) Auch wenn von der Transportlogistik her ein einziger Betrieb pro Nachbarschaft ideal wäre, können sich auch mehrere, möglichst benachbarte, Betriebe die Belieferung teilen. So können kleinere Betriebe überleben und jenseits von Migros oder Coop an verlässliche Abnehmer angebunden wer-den. Die rechtliche Form dieses Austauschs – Ver-tragslandwirtschaft, gemeinsame Genossenschaft, direkter Betrieb durch die Nachbarschaft – kann je nach Nachbarschaft variieren. Ein solches Lebensmit-teldepot ist relativ gross und braucht eine technische Infrastruktur.

Die Nahrungsmittelversorgung von 500 Personen generiert theoretisch einen Jahresumsatz von 1,8 Millionen Franken (300.– × 12 × 500). Um diesen Umsatz bewältigen zu können, ist eine Ladenfläche von mindestens 400 m2 nötig (dazu kommen noch Lager- und Verarbeitungsflächen). Das sieht aus wie heute ein kleiner Supermarkt. Dazu kommen Kühl-räume (für Milchprodukte, Fleisch). Gemäss einer deutschen Studie ist diese Form der Lebensmittellogi-stik (Regionalsupermarkt genannt) die ökologischste, viel besser als Hofläden, Wochenmärkte, Bioläden (vgl. Demmeler, 20003). Investitionen von mehreren hunderttausend Franken sind nötig. Dies sind je-doch ökologisch nachhaltige Investitionen, da damit ineffiziente Kleinanlagen in den Wohnungen durch die effizientesten grossen Modelle ersetzt werden können. Wenn an den Laden noch eine Grossküche angeschlossen wird (mit Restaurant / Bar / Café), dann wird die multifunktionale Ökobilanz noch einmal verbessert. Zugleich entsteht so ein Nachbarschafts-Mikrozentrum, in dem das soziale und kulturelle Leben angesiedelt werden kann. Die Erdgeschosse können sinnvoll für kleine Produktionsbetriebe ge-nutzt werden, es entstehen Arbeitsplätze direkt

In einem gewissen Sinn bestehen Nachbarschaften schon. Sie müssten

nur noch gesehen, wachgeküsst und umgebaut werden. Die

Automobilisierung hat sie zerzaust, ausgehöhlt und ihrer Infrastruktur

beraubt.

Das Nachbarschaftszentrum ist der Ort der Begegnung, der Versorgung mit Alltagsgütern, gemeinsam genutzter Einrichtungen und der Sitz von kleinen Dienstleis-tungsbetrieben.

Wo die Gesellschaft beginnt

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Nachbarschaft

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am Wohnort (die Grossverteilerarbeitsplätze wandern in die Nachbarschaften zurück).

es braucht den polItIschen wIllenAll das braucht Investitionen, die langfristig von den Nachbarschaftsbewohnerinnen selbst getragen wer-den können. Aber unmittelbar müsste die Öffent-lichkeit einspringen und eine Anschubfinanzierung leisten. Sie müsste auch die Anfangsorganisation übernehmen, Beratung leisten, eine Plattform für den Stadt / Land-Kontakt schaffen usw. Obwohl di-ese Versorgungsstruktur sehr ökologisch ist, ist sie kommerziell so wenig tragfähig wie die verdrängten kleinen Läden es waren. Sie setzt (neben bezahl-ter professioneller Kernarbeit) ein gewisses Mass an freiwilliger Mitarbeit voraus, die organisiert werden muss. Wie viele Stunden das sein werden – 3 pro Mo-nat, 3 pro Woche – hängt natürlich vom gewünschten Umfang der Dienstleistungen ab. Wo versucht wurde, Nachbarschaftsdienstleistungen rein kommerziell zu betreiben, ist dies an zu hohen Lohnkosten geschei-tert (wie das Dienstleistungskonzept James in Albis-rieden, Zürich). Insgesamt kann diese Mitarbeit als eingesparte Hausarbeit abgebucht und durch eine Senkung der Lebenskosten «entlöhnt» werden. Diese Mitarbeit ist jedoch zugleich der Motor der sozialen Synergie und der kulturellen Belebung der Nachbar-schaft. Kommunikation entsteht am besten durch Zu-sammenarbeit. Für eine Reduktion der Erwerbsarbeit

(d.h. auch Lohnausfall) zugunsten einer erweiterten Hausarbeit gibt es durchaus Raum.4

Der Aufbau der Mikrozentren bedingt keine Än-derung von Eigentumsverhältnissen: Mieter, Eigen-tümer, Genossenschaften oder die Stadt arbeiten in einem Verein oder in einer Genossenschaft zu diesem Zweck zusammen und profitieren davon. Ein Mikro-zentrum bedeutet unmittelbar eine Aufwertung von Immobilien.

Auf der Landseite entsteht komplementär ein Agro-zentrum, wo der liefernde Bauer oder die Bäuerinnen ihre Produkte sammeln, aufbereiten, abpacken und gemeinsam abtransportieren können. Bei 500 Kon-sumentInnen fallen pro Tag theoretisch 900 kg an (1,8 kg × 500). Da in diesem Gewicht jedoch alle Nahrungsmittel eingeschlossen sind, wird auf die Versorgung durch das Agrozentrum nur etwa die Hälfte entfallen (der Rest kommt vom ergänzenden Supermarkt im Quartierzentrum oder von Spezial-geschäften). Wenn jeden zweiten Tag geliefert wird, wird für den ganzen Transport nicht mehr als ein Kleinlastwagen benötigt. Da nur drei Mal pro Wo-che geliefert werden muss, genügen halb so viele Kleinlastwagen wie eine Stadt Nachbarschaften hat (350 in Zürich, 170 in Basel). Grössere Lieferungen von lagerbaren Gütern (Kartoffeln) können auch per Bahn erfolgen.

Das Agrozentrum entwickelt sich, ganz analog zum Mikrozentrum, zu einem sozialen und kulturellen

… du kommst nach einem anstrengenden Arbeitstag um halb sechs nach Hause. Du gehst die 100 Meter von der Tramstation und siehst schon die beleuch-teten Fenster des Mikrozentrums. Du kommst an Peters Schreinerei vorbei und erkundigst dich bei Evas Werkstätte, ob das Velo schon repariert ist. Aber jetzt betrittst du die grosszügige Lounge, wo du in verschiedenen Ecken schon bekannte Gesichter beim Zeitungslesen, beim Schwatzen oder beim Billiard-spielen entdeckst. Doch zuerst wendest du dich nach rechts, wo im Lebensmittellager das frische Gemüse von der Bäuerin Lea aus Rafz ausliegt. George hat Ravioli gemacht, es gibt die berühmten Quiches von Beatrice; frisch gebackene Baguettes (aus eigenem Getreide, selbst gemahlen) verströmen ihnen Duft im ganzen Gebäude. Das schwarze Brett des Bistros Ra-tatouille kündigt das Abendessen an: Älplermakronen «Ursula», Salat, eine spanische Gemüsesuppe. Aber du siehst dich zuerst noch etwas im Lebensmittellager um: vielleicht willst du ja auch selbst etwas kochen. Am Take-Away-Tresen gibt es asiatische Nudelge-richte, Pizza, einen Hackbraten, Kuchen... Aber da Ueli dir vorschlägt, doch zusammen im Bistro zu essen

und die vom BewohnerInnenrat bewilligte Pétanque-Anlage zu besprechen, kaufst du nur etwas Milch und Brot. Das Lager ist ja bis zehn Uhr offen – da kannst du immer noch spontan einen guten Montepulciano (von Girolamos Weingut in der Toscana) holen.

Die Wäscherei hat deine Bett- und Frotteewäsche schon bereit. Carlo, der dort Dienst hat, gibt dir noch ein paar Tipps für deinen Waschdienst am nächsten Montag. Momentan kommt das Betriebskonzept für die Nachbarschaft Haselmaus mit vier Stunden Gratis-arbeit pro Monat aus. Dazu gibt es noch vier bezahlte professionelle Stellen. Insgesamt geht der Mix auf: du sparst mehr Hausarbeit als die vier Stunden, die du beisteuern musst, und hast erst noch den Komfort eines Viersternhotels. Auch die Kosten stimmen: du kannst im Bistro für fünf Franken essen, du sparst dir das Einkaufen, und die Lebensmittel sind billiger als früher beim Grossverteiler. Zudem sind sie frischer, biologisch, und du kennst die Bäuerinnen von eigenen Landarbeitseinsätzen.

An der Bar trinkst du noch ein Bier mit Toni und Barbara. Die neusten politischen Zumutungen werden besprochen, eine Versammlung für eine Initiative für

städtische Gratisvelos organisiert. Toni empfiehlt das mexikanisch angehauchte Restaurant der benach-barten Nachbarschaft Motta-Weg. Du beschliesst, morgen dort zu essen: mit der Nachbarschafts-Chip-Karte kannst du in allen Nachbarschaften der Region essen gehen. Voranmeldung ist aber erwünscht.

Aber nun gehst du endlich nach oben in deine helle, hübsche Dreizimmerwohnung, die du mit Olga teilst. Es gibt keine normierten grossen Einbauküchen mehr: du stellst dir deine Küche individuell aus dem Lager von Küchenelementen, das sich im ehemaligen Tief-parkhaus befindet, zusammen, die nötigen Anschlüs-se sind natürlich in jeder Wohnung vorhanden. Früher hattest du einen grossen Kühlschrank und einen Herd mit vier Platten und Backofen. Aber da unten im Depot sowieso jederzeit alle Lebensmittel zur Verfügung stehen, seid ihr auf einen kleinen Notkühlschrank und einen Herd ohne Backofen umgestiegen. Da Hasel-maus ein kleines Schwimmbad hat, haben die meisten Wohnungen nur noch eine Dusche und WC.

Du entspannst dich auf dem Sofa, stellst Swiss Jazz ein und willst nun bis acht Uhr niemanden mehr sehen. P.M.

Stell dir vor…

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Zentrum: Ferien auf dem Bauernhof, ein Landgasthof, Angebote für Stadtkinder, Mitarbeitsmöglichkeiten, ein landwirtschaftliches Ausbildungs- und Medien-zentrum usw.

Die Agrozentren ersetzen bis zu einem gewissen Grad Ferienhäuschen und geben den Städtern di-rekten Zugang zur Natur, ohne diese mit Einfamili-enhäuschen zerstören zu müssen.

unerhörte belebungWie sieht nun ein Quartier aus, in dem es zehn bis dreissig Mikrozentren gibt? So alle 200 Meter wird es ein solches Zentrum geben, das natürlich allen QuartierbewohnerInnen, unabhängig davon in wel-cher Nachbarschaft sie wohnen, offen steht. Jedes Zentrum wird seine eigenen Spezialitäten und Qua-litäten, seine eigenen Bezugsquellen (Weingut in der Toskana, Olivenöl aus der Mani, Yak-Wurst aus dem Prättigau) haben: der gegenseitige Besuch lohnt sich.

(Ein Nachbarschaftsbe-wohner muss ja über-haupt nicht nur in sei-nem Lebensmitteldepot einkaufen.) Die Strassen werden sich unerhört beleben – aber nicht mit Verkehr, sondern mit Menschen. Es wird viel-fältige Möglichkeiten für professionelle und frei-

willige Arbeit geben, die zugleich interessant und notwendig ist: im Laden, in der Nahrungsmittelver-arbeitung (Teigwaren, Joghurt, Take-Away), im Re-

staurant/Bar/Mediathek, in Secondhanddepots usw. Zugleich geben solche sozialen Zentren auch neue Chancen für gewerbliche Kleinbetriebe aller Art, die sich daran anhängen können (die Kunden sind schon einmal vor Ort).

Das Quartier gewinnt nicht nur 20 «Supermärkte», sondern 20 individuelle Treffpunkte, die nicht rein kommerziell sind. Die QuartierbewohnerInnen ha-ben ein gemeinsames Thema: der Stand der landwirt-schaftlichen Kulturen, das Wetter, die Gastronomie. Das Quartierzentrum wird darum belebter, weil nur der verbleibende Grossverteiler unentbehrliche Zu-satzprodukte aus aller Welt (natürlich Fair Trade) anbietet, weil es dort spezielle Dienstleistungen, eine Filiale der staatlichen Dienste, einen Zigarrenladen, einen Theatersaal, eine Norceria, eine Apotheke, eine Konditorei, ein Gourmetlokal, ABC-Lernzentren usw. gibt. Es findet eine Re-Organ-isierung und Re-sozial-isierung der Stadt statt.

«oh gott, eIn nachbar!»Der Umbau des heutigen schweizerischen Siedlungs-breis in 14 000 Nachbarschaften und 500 Basisge-meinden ist ein logisches und machbares Programm für eine wirkliche öko-soziale Wende. Das Problem ist nur: Wie werden aus anonymen Siedlungen Nach-barschaften? Viele Menschen haben zwar heute Sehn-sucht nach Gemeinschaft, viele sind aber zugleich gebrannte Kinder und haben eher Ekelgefühle, wenn sie das Wort nur schon hören. Allzu viel Schlimmes schwingt mit: das Dorf, die patriarchalische Kontrolle, Zwangsgemeinschaften, die man in der Schule und in der Armee erfahren hat. Allein schaffen wir es nicht – gemeinsam haben wir (noch) keine Lust.

Doch: Eine Nachbarschaft ist kein Dorf. Es ist eine urbane (75 Prozent der Schweizer Bevölkerung wohnt in Städten oder deren Agglomerationen), offene, fle-xible, professionell gemanagte Lebensweise, Kreu-zungspunkt und Bezugspunkt zugleich. Die Privat-sphäre in Wohnungen oder Zimmern ist heilig. Das ist eine Bedingung dafür, dass die Infrastruktur einer Nachbarschaft locker funktionieren kann. Wenn man sich treffen will, trifft man sich. Wenn man allein sein will, bleibt man allein.

Es wird nicht leicht sein, die Menschen aus ih-rem eingespielten Trott von Arbeit, Erholung und Rückzug heraus und in kooperative Unternehmen hinein zu locken. Eine Projektbegleitung von aussen ist für den Aufbau und Betrieb von Nachbarschaften ganz wesentlich. Nur so kann die Intimitätsbarriere überwunden und eine Überforderung und Frustrie-rung von wohlmeinenden PionierInnen vermieden werden. Nachbarschaften sind «heikle» Unterfangen. Sie brauchen Regeln und Toleranz, viel «Luft», ein professionelles Management.

Eine Nachbarschaft im heutigen Kontext ist keine verschworene

Gemeinschaft, sondern eine Abmachung zu gewissen Themen.

Man braucht nicht 500 neue FreundInnen, sondern nur seriöse,

gut organisierte, öko-soziale Vertragspartner.

Jede Nachbarschaft wird von einem «Agrozentrum» im Umland versorgt, kooperierende Landwirtschaftsbetriebe von ca, 100 ha. Im Agrozentrum kann man Ferien machen, mitarbeiten und Schulen können die Nahrungskette von Anfang an entdecken.

Wo die Gesellschaft beginnt

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Nachbarschaft

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VIelleIcht begInnt es mIt eInem gemüseaboEine Nachbarschaft im heutigen Kontext ist keine verschworene Gemeinschaft, sondern eine Abma-chung zu gewissen Themen. Hier ist die Grössen-ordnung eben wichtig: Man braucht nicht 500 neue FreundInnen, sondern nur seriöse, gut organisierte, öko-soziale Vertragspartner.

Die Veränderung von Rahmenbedingungen durch eine ganze Palette von Programmen und Subventi-onen ist notwendig, damit aber die eigene Aktivität und die Fantasie der Menschen angeregt werden kann, braucht es auch konkrete Projekte, Modell-nachbarschaften, welche die Zukunft vorwegneh-men, und in denen neue Strukturen, Verhaltenswei-sen und Technologien getestet und eingeübt werden

können. Es braucht so-wohl den systemischen Push, als auch den ex-emplarischen Pull.

Einerseits brauchen wir also Modellnachbar-schaften (es gibt Dut-zende von möglichen

Arealen in der Schweiz), andererseits hunderte von kleinen, realen Ansätzen in den Nachbarschaften, wo wir schon wohnen. Das kann ein Gemüseabo für zwanzig Familien sein, ein gemeinsames Depot, viel-leicht eine Bar oder ein kleiner Laden. Wir können Autos oder GAs teilen, ein Tauschlager für Kinder-kleider, Bohrmaschinen, Kunstwerke usw. einrichten. All diese konkreten Projekte sind wichtig, aber sie werden erst nachhaltig als Vorstufen im grösseren Nachbarschaftsrahmen. Wir brauchen Unterstützung, Ermutigung, einen gesamtgesellschaftlichen Konsens, Einbettung in ein globales Projekt. Nachbarschaften sind wirklich wichtig.

P.M. lebt als Schriftsteller und Publizist in Zürich. Er ist aktiver Urbanist, Mitinitiant von genossenschaftlichen Wohnprojekten (z.B. KraftWerk1) und Gewerkschafter. Zu seinen wichtisten Werken gehören «Weltgeist Superstar (1980), «bolo’bolo» (1983), «Die Schrecken des Jahres 1000» (1996), «Der

goldene Weg» und «Akiba, ein gnostischeer Roman» (2008). Zuletzt ist von ihm erschienen: «Neustart Schweiz – so geht es weiter» (Edition Zeitpunkt, 2. Aufl. 2010), das eine breit abgestützte Bewegung zur Revitalisierung der Nachbarschaften ausgelöst hat.Kontakt: Verein Neustart Schweiz, 8000 Zürich. www.neustartschweiz.ch

Anmerkungen:1: www.socio.ethz.ch/news/Umweltsurvey2007_Kurzbericht.pdf2: Eigentlich geht es um die 1 000-Watt-Gesellschaft, denn nur diese kommt

mit einem CO2-Ausstoss von einer Tonne aus. Die 2 000-Watt-Gesellschaft ist eine willkürlich gemilderte Version, die nur erfunden wurde um die «Akzeptanz» zu verbessern. Der Begriff «2 000 Watt» ist eine Schweizer «Erfindung». Das Paul-Scherrer-Institut (PSI) und die Eidgenössisch Technische Hochschule (ETH) führten ihn 1998 ein, basierend auf der Er-kenntnis, dass es zum Überleben und Weiterkommen in einem Land 1 000 Watt pro Person braucht. Mit dem Doppelten, also 2 000 Watt pro Person, müssen die Menschen in einem hoch entwickelten Land wie der Schweiz nicht auf Lebensqualität verzichten, so die Berechnung der Wissenschaft-ler. Watt bezeichnet genau genommen die Energieleistung. 2 000 Watt entsprechen jährlich 17 500 Kilowattstunden Verbrauch pro Person. Damit wird auch der CO2- Ausstoss auf 1 Tonne pro Person und Jahr reduziert und der Klimawandel eingedämmt. (Züri-Tipp, 24. Nov. 2010)

3: Demmeler, Martin, Ökobilanz eines Verbrauchers regionaler Bio-Lebens-mittel, Bioring Allgäu, 2000

4: «Eine repräsentative Umfrage des Tages-Anzeigers hatte schon im Rezessionsjahr 1993 gezeigt, dass zwei Drittel der Vollbeschäftigten auf durchschnittlich zehn Prozent ihres Lohnes verzichten würden, wenn sie dafür weniger arbeiten müssten.» Gasche, 88

Die Mitarbeit ist zugleich der Motor der sozialen Synergie und

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Page 13: ZP 113 – Der Mensch braucht Nachbarschaft

Nachbarschaft

Zeitpunkt 113 13

Je schneller desto mehrJe schneller wir uns bewegen, desto stärker wirkt die Masse der Menschen und desto grösser wird der Siedlungsdruck. Diese 40 Jahre alte, bahn-brechende Erkenntnis des österreichischen Philosophen und National-ökonomen Leopold Kohr ist leider noch nicht in die Planungsbehörden vorgedrungen. Anstatt die Quartiere mit vollem Lebenswert auszustatten, werden die Fluchtwege laufend ausgebaut und dadurch die Probleme ver-schärft.

broadus Mitchell, der eine Biographie über Alexander Hamilton verfasst hat und zu den bedeutendsten Wirtschafts-historikern Amerikas gehört, erzählt die amüsante Geschichte von einem etwas

irritierten Arzt, der in einem grossen Gebiet im Süden der Vereinigten Staaten bei der Geburt ungewöhnlich vieler unehelicher Kinder dabei war.

Was den Arzt irritierte, war in erster Linie die Tat-sache, dass alle Mütter als den Vater ihres Babys die gleiche Person angaben. Völlig von den Socken war er dann allerdings, als er dem Vater der Kinder zum ersten Mal begegnete und dieser sich als Mann von über achtzig Jahren erwies. «Wie um alles in der Welt haben Sie es angestellt, all diese Kinder zu zeugen?» fragte der Arzt. «Nun», antwortete der erstaunliche Achtziger mit altersgemäss krächzender Stimme, «ich

gebe zu, ich hätte es nicht geschafft, wenn ich nicht ein Motorrad gehabt hät-te.» Mit anderen Worten: Die Geschwindigkeit der modernen Verkehrsmit-tel erlaubte es dem alten Kerl, in einem beacht-lichen Gebiet zu leisten, was nur im Umkreis einer Quadratmeile möglich

gewesen wäre, wenn er zu Fuss unterwegs gewesen wäre. Und innerhalb einer Quadratmeile hätte es natürlich nicht so viele Frauen für eine solche Zu-fallsmutterschaft gegeben.

Doch die Geschwindigkeit, mit der man heute unterwegs ist, hat noch einen viel wichtigeren Effekt, als nur die Bevölkerung quantitativ zu ver-grössern, indem man ihre Zahl vergrössert. Die ei-gentliche Sensation ist, dass die Geschwindigkeit die Bevölkerung auch qualitativ wachsen lässt, indem sie deren Masse vergrössert, so wie eine höhere Geschwindigkeit die Zahl der Atomteilchen erhöht oder eine schnellere Zirkulation die «Geldmenge» vergrössert, wie jedem Wirtschaftsstudenten beige-bracht wird.

Das erklärt, warum Theater zusätzlich zu den nor-malen Ausgängen auch über Notausgänge verfügen müssen – für den Fall, dass das Publikum in Panik gerät und schneller als normal hinaus möchte. Denn wie jeder Theaterbesitzer weiss, hat eine schnellere Menge den gleichen materiellen Effekt wie eine grös-sere Menge. Die Zahl der verfügbaren Ausgänge muss deshalb nicht der numerischen, sondern der effektiven (oder Geschwindigkeits-) Grösse des Publikums ent-sprechen; sie ergibt sich, wenn man die numerische Grösse mit der Geschwindigkeit multipliziert.

Womit sich die Planer befassen müssen, ist nicht die Lokomotion

(Fortbewegung), sondern die Motivation; sind nicht Fahrzeug-

und Strassentypen, die Hans Müller rasen lassen, sondern der Grund,

warum Hans Müller rast – und dann müssen sie ihm diesen Grund

nehmen.

von Leopold Kohr

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Nachbarschaft

14 Zeitpunkt 113

Was für Menschen in einem Theater zutrifft, gilt natürlich auch für Bevölkerungen, die sich im geschlossenen Raum von Städten oder Nationen bewegen. Je schneller sie sich aufgrund der moder-nen Verkehrsmittel, vom Motorrad bis zum Düsen-flugzeug, bewegen, desto stärker nimmt ihre effektive Grösse zu. Abgesehen von ein paar wenigen Aus-nahmen wie Indien ist das Problem der weltweiten Überbevölkerung weniger wegen der übermässigen Zahl an Menschen so beunruhigend, sondern wegen der übermässigen Geschwindigkeit, mit der sie sich bewegen.

Angesichts dessen besteht eine Möglichkeit, des Problems Herr zu werden, darin, ähnlich wie im The-ater eine Art «Notraum» zu schaffen, um die Phasen zu überstehen, in denen sich die Menschen schneller als gewöhnlich bewegen, wie dies in jeder Stadt zu den Stosszeiten der Fall ist. Das tun Planer ohnehin, indem sie ständig neue Strassen bauen und die alten verbreitern.

Das Problem dabei ist nur: Anders als im festste-henden Raum des Theaters lindert die Einrichtung zusätzlichen «Notraums» innerhalb der dehnbaren Grenzen einer Stadt nichts an der Überfüllung; in Wirklichkeit verstärkt sie diese sogar noch, denn sie ermutigt die Bevölkerung, sich über die «Stadtmauern» hinaus in immer grössere Gebiete auszubreiten. Doch je weiter sich eine zusammengehörende Bevölkerung

ausbreitet, desto grösser wird die Entfernung, die sie zurücklegen muss, um ihren täglichen Ver-richtungen nachzukom-men. Und je schneller sie sich bewegt, desto stär-ker nimmt ihre effektive (oder Geschwindigkeits-) Grösse zu.

Im Falle einer Stadt von der Grösse San Franciscos, Bristols oder San Juans in Puerto Rico bedeutet das, dass eine numerische Bevölkerung

von – sagen wir – 600 000 Menschen zu einer effek-tiven Bevölkerung von vielleicht 2 000 000 Menschen aufgebläht wird, während ihr Netzwerk an Notstras-sen bestenfalls für 1 000 000 Menschen ausgelegt ist. Und diese Kluft lässt sich niemals schliessen. Denn jedes Mal, wenn in einem arithmetischen Verhältnis neue Strassen hinzukommen, steigt die effektive oder geschwindigkeitsbedingte Bevölkerung einer Stadt genau deshalb in geometrischem Verhältnis an. Aus diesem Grund erreichte der 1948 eröffnete New Jer-

sey Turnpike die für das Jahr 1975 prognostizierte Verkehrsdichte bereits eine Woche nach seiner Er-öffnung; und deshalb hatte, zur Überraschung von Inspektor Martin West vom Strassenverkehrsdezer-nat der Polizei von Surrey, die durch seinen Distrikt führende Autobahn M 25 schon in den 1980er Jahren «eine Verkehrslast zu bewältigen, wie sie erst für die 1990er Jahre prognostiziert worden war». «Das Verkehrsaufkommen verursacht Chaos» nicht trotz, sondern wegen der neuen Autobahnen.

Damit bleibt als die einzig praktikable Lösung nur die zweite Methode, mit der die Theater der massenvergrössernden Wirkung der Geschwindigkeit zu begegnen versuchen, wenn sie ihr Publikum dazu ermahnen: «Im Falle eines Brandes gehen, nicht ren-nen.» Denn ebenso wie erhöhte Geschwindigkeit den Druck und die Masse einer Menschenmenge erhöht, verringert eine reduzierte Geschwindigkeit Druck und Masse. Doch wie jeder Theaterbesitzer ebenfalls weiss, lässt sich die effektive oder geschwindigkeits-bedingte Grösse eines Publikums nicht reduzieren, indem man es vor den verheerenden Folgen des Ren-nens warnt, sondern einzig und allein, indem man ihm den Anlass nimmt, überhaupt zu rennen – das heisst, indem man sicherstellt, dass es zu keinem Brand kommt. Die wahre Antwort auf das Problem, das durch die vergrössernde Wirkung beschleunigten Schrittes entsteht, besteht somit weniger in Notaus-gängen, sondern in einer feuersicheren Struktur.

Gleiches gilt für die Antwort auf unsere urbanen und nationalen Probleme (…). Deshalb müssen unse-re Planer für eine Situation sorgen, die den Menschen nicht die Mittel für eine Fortbewegung mit hoher Ge-schwindigkeit nimmt, sondern das Motiv, das sie dazu zwingt, sich überhaupt immer schneller zu bewegen. Oder anders ausgedrückt: Womit sie sich befassen müssen, ist nicht die Lokomotion (Fortbewegung), sondern die Motivation; sind nicht Fahrzeug- und Strassentypen, die Hans Müller rasen lassen, sondern der Grund, warum Hans Müller rast – und dann müssen sie ihm diesen Grund nehmen. (…)

Auf kommunaler Ebene lässt sich das erreichen durch ein hohes Mass an städtischer Dezentrali-sierung oder, wie man es besser nennen sollte, an multizentrischer Umgestaltung. Das bedeutet: Statt die zentralen Behörden einer Stadtregion über die verschiedenen Bezirke zu verstreuen, gilt es, die Stadtteile wieder zu autonomen, eigenständigen Ge-meinwesen zu machen, in denen der Bürger alles, was er fürs tägliche Leben braucht, an Örtlichkeiten findet, die zentral, aber klein und in der Nähe sind. Die Antwort ist deshalb keine Dezentralisierung im eigentlichen Sinne, sondern eine Zentralisierung im kleinen Massstab.

Statt die zentralen Behörden einer Stadtregion über die verschiedenen

Bezirke zu verstreuen, gilt es, die Stadtteile wieder zu autonomen, eigenständigen Gemeinwesen zu

machen, in denen der Bürger alles, was er fürs tägliche Leben braucht, an Örtlichkeiten findet, die zentral,

aber klein und in der Nähe sind. Die Antwort ist deshalb keine

Dezentralisierung im eigentlichen Sinne, sondern eine Zentralisierung

im kleinen Massstab.

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Zeitpunkt 113 15

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Das ist die einzige Möglichkeit, wie sich der steigende Verkehrsdruck unserer motorisierten geschwindigkeitsbedingten Überbevölkerung redu-zieren lässt, ohne dass man zu handfesteren Metho-den Zuflucht nehmen muss: nicht indem man zentrale Einrichtungen regionalisiert, sondern indem man die Regionen zentralisiert und ihnen zu diesem Zweck ein hohes Mass an Autonomie gewährt; und in den

Städten, nicht indem man die Slums suburbanisiert, sondern indem man die Vorstädte urbanisiert; nicht indem man die Vier-tel der Armen in Viertel für Yuppies verwandelt, die beide 15 Meilen ent-fernt arbeiten, sondern indem man jedes Quar-tier in eine kleine, alle

Schichten umfassende Stadt verwandelt, die über eine so spezifische Identität, eine so gesellige Eigenstän-digkeit und einen ästhetischen Charme verfügt, dass kaum jemand sie verlassen muss oder will.

Vor dem Ende des 20. Jahrhunderts, wenn das schreckliche Gespenst der numerischen Überbevöl-

kerung umgehen wird, ist das alles, was man braucht, um die geschwindigkeitsbedingte Überbevölkerung von Städten bis zu zwei Millionen auf eine zu be-wältigende Grössenordnung von 600 000 zurückzu-fahren. Und warum nicht, wie im Falle Londons, den überwiegenden Teil am Ende des Jahrhunderts in eine Föderation von Dörfern verwandeln, wie es der fröhliche Anarchist William Morris für die bri-tische Hauptstadt vorgeschlagen hat? Oder die Stadt abschreiben.Die einzige Möglichkeit ist, jedes

Quartier in eine kleine, alle Schichten umfassende Stadt zu verwandeln, die

über eine so spezifische Identität, eine so gesellige Eigenständigkeit

und einen ästhetischen Charme verfügt, dass kaum jemand sie

verlassen muss oder will.

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Der vorliegende, leicht gekürzte Aufsatz erschien unter dem Titel «Velocity Population» erstmals 1973 in der Tageszeitung «El Mun-do» in Puerto Rico, wo Leopold Kohr als Professor für Nationalökonomie lehrte. Der Text wurde allen Mitar-beiterInnen der puertoricanischen Planungsbehörden als Pflichtlektüre verordnet und hat bis heute nichts von seiner Aktualität verloren. Auf deutsch ist «geschwindig-keitsbedingte Bevölkerung» in der Sammlung «Probleme der Stadt – Gedanken zur Stadt- und Verkehrsplanung» von Leopold Kohr erschienen (Otto Müller Verlag,

2008. 162 S. Geb. Fr. 27.– Auf Leopold Kohr, den grossen Philo-sophen der kleinen Dimension und Lehrer von E.F. Schumacher («Small is beautiful») weisen wir immer gerne hin. Was er in seinem Hauptwerk «The Breakdown of Nations» in den 50er Jahren geschrieben hat, können wir heute am Kontrollverlust der Grossmächte erkennen.

Je schneller desto mehr

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Nachbarschaft

16 Zeitpunkt 113

psychologIe der nachbarschaftIm Mikrokosmos einer Hausgemeinschaft spiegelt sich der Makrokosmos wider. Die Lösungen, die wir für Nachbarschaftskonflikte finden, sind auch geeignet, die Probleme der Welt zu lösen. Es wäre bitter nötig. Denn so-wohl global als auch im Wohnumfeld werden wir enger zusammenrücken müssen.

nie konnte man auf seine Nachbarn so leicht verzichten wie heute. Und nie war konstruktive Nachbarschaft zu-gleich so wichtig wie jetzt. Jonas Lieb braucht keine Nachbarn. Er wohnt zu-

rückgezogen in einem anonymen Wohnblock mit 70 Parteien. Sein Tor zur Welt ist sein PC. Jonas, wohn-haft in Bayern, chattet mit Norddeutschen, bildet mit Engländern und Südkoreanern im Online-Rollenspiel «World of Warcraft» eine Gilde. Freunde sind Personen, die auf Facebook als solche bezeichnet werden, die wenigsten kennt er persönlich. Nachbarn sind Leute, die man nur dann bemerkt, wenn sie wegen des versäumten Treppen-Putzdienstes nerven.

In den Industrieländern, vor allem in den Städten, herrscht eine Kultur der Wahlverwandtschaft. Nach-barschaft bedeutet Nähe, die man sich nicht ausge-sucht hat. Durch die Wahl des Stadtviertels – edel, alternativ oder preisgünstig – kann man höchstens vorselektieren. Freunde sucht man sich ohnehin anderswo. Frühere Zentren nachbarschaftlicher Be-gegnung verlieren an Bindekraft: der gemeinsame Kirchgang, das Tanzfest auf dem Dorfacker, Trachten- und Schützenverein, das Dorfwirtshaus, in dem man Schulfreunde wieder traf. Wer sich um die Freund-schaft einer Nachbarin bemüht, konkurriert heute mit der ganzen Welt um ihre Aufmerksamkeit.

Die moderne Bauweise begünstigt das Neben-einander-her-leben, vor allem in Hochhäusern und Wohnblöcken. Als Einzelner, Paar oder Familie ist man einsam und fühlt sich zugleich durch die Nähe der anderen unterschwellig beklommen. Hat man Erfah-rung mit Nörglern gemacht, lebt man ständig im Hin-blick auf mögliche nachbarschaftliche Ermahnungen. Die Überlastung mit unerwünschten menschlichen

Begegnungen, z.B. auf dem Gang, macht manche erst recht verschlossen. Jonas Lieb ist manchmal froh, das Treppenhaus ohne «Feind-kontakte» durchqueren zu können. Ruht er sich dage-gen in einem Ferienhaus auf dem Land aus, machen ihm zufällige Begegnungen mit Nachbarn Spass.

An und für sich ist enges Zusammenleben, etwa in Hochhäusern, vernünftig. Durch Nutzung der dritten Dimension wird das Land nicht zersiedelt. Zusam-menrücken ist ökologisch sinnvoll, es geht weniger Heizwärme verloren. Das, was viele Menschen angeht, kann gemeinschaftlich gelöst werden: Heizung, Müll-entsorgung, Dachreparatur. Mit Nachbarn befreundet zu sein, spart Fahrt- und Telefonkosten. Es könnte

von Roland Rottenfußer

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Zeitpunkt 113 17

so schön sein, aber wo gemeinsame Interessen sind, besteht Kompromissbedarf. Und wo Kompromisse nötig sind, liegt auch Konfliktpotenzial.

Nachbarschaft bedeutet, Fremden auf beunruhi-gende Weise ausgeliefert zu sein. Auch wenn zu-rückgezogene Menschen wie Jonas Lieb diese Tatsa-che nicht wahrhaben wollen. «Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt», schrieb Schiller im «Wilhelm Tell». Und darüber, wer fromm ist und wer böse, gehen die Meinungen natürlich auseinander. Es ist immer der andere. Störenfried oder Kontrollfreak, zu unintelli-gent oder zu hochnäsig, Ausländer oder patriotischer Spiesser – selten kann man seine «Nächsten» lieben wie man sollte.

Eine der schönsten Geschichten über Nachbar-schaft hat Gerhard Polt in einem Sketch verarbeitet. Ein neuer Mieter hat sich angekündigt: Ausländer.

Die deutschen Nachbarn versammeln sich auf der Treppe. Sie befürchten Knoblauchgeruch und «permanentes Gedudel». Und die Ausländer sind ja auch so kinderfreund-lich, Geschrei unerzogener Bälge ist vorprogrammiert. Da muss man doch was tun, bevor es zu spät ist!

Die Nachbarn lassen eine Unterschriftenliste rum gehen. Sie protestieren bei der Hausverwaltung gegen den neuen Mieter. Plötzlich kommt dieser, dunkel-haarig und sehr gepflegt, die Treppe rauf. Er stellt sich höflich vor und bemerkt nebenbei, dass er das Haus gekauft hätte. Gleich lassen die Nachbarn die Unterschriftenliste verschwinden und begrüssen ihn mit schleimiger Freundlichkeit. Die Zuschauer freuen sich, dass der Sketch Fremdenfeindlichkeit entlarvt; aber jeder kennt Personengruppen, die er nicht so gern nebenan hätte.

Jeder Nachbar ein Gleichgesinnter – diesen Traum träumten schon viele. Er fand Ausdruck in verschiedenen Kommunenprojekten bis hin zu Reichenghettos (Gated Communities). Negativbei-spiel ist Rashneeshpuram, die Bhagwan-Kommune

in Oregon, USA. Dort wurde von Anfang an eine strenge Trennung zwischen Sannyasin und der «Nor-malbevölkerung» inszeniert. Von beiden Seiten gab es grosse Vorurteile und Anfeindungen. Die Bhagwan-Anhänger versuchten die Bevölkerungsmehrheit im Landkreis zu bilden und so die Politik zu dominieren. Die «Uneingeweihten» draussen zahlten es ihnen mit Sabotage und juristischen Angriffen heim. 1983 ex-plodierte in einem von Sannyasin betriebenen Hotel eine Bombe. Danach wurde die Kommune zuneh-mend zur Kaserne für spirituell Befreite. Eigene be-waffnete Ordnungskräfte patrouillierten, das Regime regierte nach innen zunehmend autoritär. Telefone wurden angezapft, Abweichler in den eigenen Reihen isoliert und diskriminiert.

Dieses abschreckende Beispiel zeigt, wie der Traum von einer homogenen Zone der Rechtgläubigen zum Alptraum wird. Kommunarden wie Ureinwohner scheiterten an der Aufgabe, eine verträgliche Nach-barschaft unter Verschiedenen zu schaffen. Interes-santerweise stellt sich dieselbe Aufgabe auch für die globale Weltgemeinschaft. Viele Probleme der «gros-sen Welt» finden sich auch in der Nachbarschaft wie-der. Der Makrokosmos spiegelt sich im Mikrokosmos. Hierzu ein paar Beispiele:

Staat und Individuum: Die Hausverwaltung bildet in vielen Wohnkomplexen eine Art Staat im Staat. Sie wird ja von den Hauseigentümern eingesetzt und den Mietern bezahlt, hätte somit eine dienende Funktion. Mancherorts gebärdet sie sich jedoch als Obrigkeit. Im Extremfall wird der Hausmeister zum gefürch-teten Kontrolleur und Vorgesetzten in immer mehr Alltagsfragen. Bittet man ihn um einen Gefallen, hat er keine Zeit oder ist nicht zuständig. Dafür erwartet er beim Hinweis auf kleinste Ordnungsverstösse Ge-horsam. Widerstrebenden wird rasch mit Sanktionen gedroht, bis zur Ausweisung aus der Hausgemein-schaft. Gleichzeitig erhöht die Hausverwaltung jedes Jahr die Gebühren. Die Mieter bezahlen somit ihren eigenen angemassten Vormund. Natürlich ist nicht jede Hausverwaltung so schlimm, viele machen gute Arbeit. Schlimm ist aber, wenn ein Staat, etwa der deutsche, einer solchen anmassenden Hausverwal-tung immer ähnlicher wird. Rebellion ist also vielfach nötig – im Kleinen wie im Grossen.

Zusammenrücken ist ökologisch sinnvoll. Es könnte so schön

sein, aber wo gemeinsame Interessen sind, besteht

Kompromissbedarf. Und wo Kompromisse nötig sind, liegt

auch Konfliktpotenzial.

Psychologie der Nachbarschaft

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Nachbarschaft

18 Zeitpunkt 113

Regelverletzter und Regelhüter: Der Psychologe Volker Linneweber untersuchte nachbarschaftliches Verhalten in 200 Fällen. «Zentraler Punkt» in allen Streitfällen ist nach Linneweber die «Verletzung von Konventionen, Erwartungen, Normen und Regeln». Klagen über böse Nachbarn kann man in zwei Grup-

pen gliedern: Die einen beschweren sich über die Übertretung bestehender Regeln – Lärm nach 22 Uhr, Schuhschränke im Treppenhaus. Die anderen fühlen sich durch nörgeln-de, spiessige Nachbarn kontrolliert. «Neid auf die sozialen Aktivitäten» der Nachbarn sei oft der Aus-

löser von Beschwerden über Lärm, sagt der Psycho-loge. Mehr als an den Geräuschen «leiden viele daran, dass die anderen ihren Spass haben und sie selber nicht». Ich selbst gehöre als Nachbar eher zu den (sanften) Regelverletzern. Bei Bohrarbeiten in einer früheren Wohnung stand auf einmal das Nachbarpaar vor der Tür und beschwerte sich. Ich war sprachlos. Eben diese Nachbarn waren gerade eingezogen und hatten über Wochen für Dauerbeschallung gesorgt. Diesen Einwand liessen die beiden aber nicht gelten. Ich hätte in der Mittagszeit zwischen 12 und 15 Uhr gebohrt, sie dagegen hätten sich stets an die erlaubten Zeiten gehalten. Ihr wichtigstes Argument: «Wozu haben wir eine Hausordnung?»

Konflikte zwischen Gesetz und Bürgern, zwischen der Ordnungs- und der Freiheitsfraktion gibt es in Nachbarschaften ebenso wie in der grossen Politik. Sinnvoll ist immer das rechte Augenmass. In unserem Wohnblock werden viele gemeinsame Angelegen-heiten basisdemokratisch geregelt. Seit jeher hängt im Hausflur jedoch eine vergilbte Hausordnung mit teils rigiden Vorschriften. So solle man das Herumstehen auf dem Hausflur unterlassen. Hier wurden vor Ur-zeiten Regeln erfunden – von Menschen, die selbst nicht mehr mit diesen Regeln leben müssen. Auch das Mehrheitsprinzip bei Abstimmungen hat seine Tücken. So wurde mit knapper Mehrheit ein Verbot ausgesprochen, auf den Grünflächen Fussball zu spie-

len. Die Hauptbetroffenen, die Kinder, durften aber nicht mitentscheiden. Nicht berücksichtigt wurde das Grundrecht der Kinder, Kind zu sein – also manch-mal auch laut. Manchmal sehe ich Kinder direkt unter dem Schild «Fussballspielen verboten» spielen. Ich freue mich jedes Mal über die anarchische Kraft des Lebens, die da durchbricht.

Grenzstreitigkeiten: In Deutschland enden pro Jahr eine halbe Million Nachbarkeitsstreits vor Gericht. Ganz vorn bei den Streitgründen: Territorialkonflikte. Ein Baum ragt ins Gebiet des Nachbarn hinein – muss der jetzt das Laub entsorgen? Eine Hecke nimmt dem Nachbargrundstück die Sonne. Und wie ist es mit Wurzeln, die in unterirdischer Wühlarbeit in den Garten des anderen eindringen? In «Romeo und Julia auf dem Dorfe», einer Novelle von Gottfried Keller, streiten die Bauern Manz und Marti um einen brach liegenden Acker zwischen ihren Grundstücken. Bei jedem Pflügen vergrössert Marti sein Territorium um eine zusätzliche Furche. Als Manz den Acker kauft, verlangt er das durch schiefes Pflügen abgezwickte Gelände zurück. «Und von diesem Tage an lagen die zwei Bauern im Prozess miteinander und ruhten nicht, ehe sie beide zugrunde gerichtet waren.»

Auch bei modernen Kleingartenbesitzern gibt es «Invasoren» wie «Verteidiger». Die günstigste Lösung ist noch immer: Flächen gemeinschaftlich nutzen und Grenzen nicht so eng sehen. Das ist keine Utopie. Zwischen unserem Gärtchen, den Gärten der beiden Nachbarn und dem Fussweg für die Allgemeinheit gibt es derzeit keine Zäune. «Dein» und «mein» wird locker gehandhabt. Man hat das Gefühl, dass die Blumen der Nachbarn auch die eigenen sind, da die Bereiche ineinander übergehen. Ein Modell auch für Staaten. Seit Europas Grenzen offen sind, gibt es auch keine «unerlaubten Grenzübertritte» mehr. Die Grenze erschafft erst die Übertretung, und die Regel erschafft die Regelwidrigkeit.

Gemeinschaftsaufgaben: Es ist ein Argument, das oft gegen den Kommunismus ins Feld geführt wurde: Für Gemeinschaftseigentum sorgt der Mensch nicht so gut wie für Privateigentum. Aufgaben, die von allen für alle erledigt werden müssen, werden gern

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Zeitpunkt 113 19

vernachlässigt. Jeder hofft, dass der jeweils andere schon seine Pflicht tun wird. Im oberen Stockwerk unseres Mietshauses herrscht derzeit folgende gro-teske Situation: Ein Nachbar war mit dem Putzen der Treppe säumig. Die Partei gegenüber weigerte sich daraufhin auch zu putzen. Sie sieht nicht ein, warum sie das allein machen soll. Im Moment putzt also nie-mand. In meinem Stockwerk läuft es dagegen rund. Ich tue das Meine und kümmere mich nicht darum, ob die Nachbarn ihre Dienste erledigen. Auch in der Gesellschaft als Ganzes sind wir versucht, Gemein-schaftliches nicht so wichtig zu nehmen wie Privates. Dies kann zu einer Abwärtsspirale, zu «ansteckender Sozialblindheit» führen.

Hilfe und Belästigung: In Deutschland ist Nach-barschaftshilfe eher im kleinen Rahmen verbreitet. Ein hilfsbereiter Exnachbar öffnete meine Tür mit einer Kreditkarte, als ich den Schlüssel nicht dabei hatte. Auch gegenseitiges Blumengiessen ist üblich. Sonst lebt jeder für sich allein. In den USA findet man teilweise umfassendere Formen von Nachbarschafts-hilfe. Zieht jemand neu ein, stellt sich die ganze Haus-gemeinschaft freundlich vor, bringt Begrüssungsge-schenke und bietet Hilfe beim Umzug an. So kann es passieren, dass man schnell und mühelos eingerichtet ist. Die Schattenseite: Man ist den betreffenden Nach-barn zu Dank verpflichtet und kann ihnen künftige

Bitten kaum abschla-gen. Zieht eine neue Partei ein, muss man unweigerlich «ran».

Den Alptraum ame-rikanischer Nach-barschaft hat Roman Polanski in «Rosemary’s Baby» karikiert: Minnie und Roman, das freund-

liche, ältere Ehepaar, ergreift Zug um Zug von Ro-semarys Leben Besitz. Bis sich herausstellt: Sie sind Abgesandte Satans. Hintergrund ist Polanskis Kind-heitserfahrung mit der Bespitzelung in der Nazi-Zeit. Auch in grossen Staatsgebilden stellt sich die Frage, wie viel Eigenverantwortung nötig ist und wie weit wir Verantwortung füreinander übernehmen sollten.

Eine eindeutige Antwort darauf gibt es nicht. Zu viel Hilfe kann als Belästi-gung und Entmündigung wahrgenommen werden. Eine Gesellschaft ohne gegenseitige Hilfe ist da-gegen unmenschlich.

«Nachbarschaftsstreit ist oft eher eine Sache der Psychologie als der Rechtssprechung», sagt Kai Warnecke vom Bund der Berliner Haus- und Grundbesitzer. Aber welche Psychodynamik ist wirksam? Der Sozialpädagoge Lothar Draht meint: «Gerade bei Dauernörglern ist die Hausgemeinschaft vielleicht der einzige Ort, wo sie noch etwas zu sagen haben.» Das trifft einen wichtigen Punkt. Im Zeitalter der Globalisierung, ein-gesponnen in die Sachzwänge grosser Staatsgebilde, fühlt sich der Einzelne oft machtlos. In der Nachbar-schaft «ist er wer». Seine Stimme zählt – und sei es als Querulant, als Freizeitpolizist oder Hobbyrevoluzzer. Lothar Draht empfiehlt deshalb, den Nachbarn etwas von der ersehnten Anerkennung zu geben, schon bevor sie sich «wichtig machen».

Positiv gesehen, ist die Nachbarschaft ein Übungs-feld für Problemlösungen, die auch in der Gesell-schaft als Ganzes brauchbar sind. Aus dem bisher Gesagten lassen sich einige Empfehlungen ableiten. Wird es uns gelingen, mit solchen typischen Kon-fliktfeldern umzugehen, oder scheitern wir? Diese Frage wird in naher Zukunft immer wichtiger wer-den. Hohe Energiepreise und die Rücksicht auf das Klima werden uns zwingen, unsere Mobilität einzu-schränken. Wenn wir nicht schon vorher freiwillig unsere Reiselust eindämmen. Unser unmittelbares Lebensumfeld wird damit wieder mehr ins Blickfeld rücken: Welche Versorgungsfragen können wir hier lösen, welche sozialen Bedürfnisse vor Ort befriedi-gen? Ein konstruktives Zusammenleben ist nicht nur nötig, es ist auch machbar, Herr Nachbar.

Im Zeitalter der Globalisierung fühlt sich der Einzelne oft machtlos.

In der Nachbarschaft «ist er wer». Seine Stimme zählt – und sei es als Querulant, als Freizeitpolizist oder

Hobbyrevoluzzer.

Psychologie der Nachbarschaft

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20 Zeitpunkt 113

Nachbarschaft

dIe kraft der nachbarschaftDer Name ist gut gewählt: Im europaweit einzigartigen Nachbarschaftspro-jekt «KraftWerk1» in Zürich steckt viel soziale und innovative Kraft. Und nach zehn Jahren kann man sagen: Es funktioniert.

ahlaad Piwnik, ein Zeitpunkt-Leser, dem wir schon manchen Tipp verdanken, nimmt uns gerne auf einen Spaziergang durch die Siedlung KraftWerk1 in Zürich West mit seinen 80 Wohnungen und einem Bü-

rohaus mit hundert Arbeitsplätzen. Er war schon in der Planungsphase in den 90er Jahren dabei und wohnt mit seiner Partnerin seit 2002 hier, zusammen mit 190 Erwachsenen und 45 Kindern. Wir beginnen mit einem Drink in der Pantoffelbar im Erdgeschoss. Sie ist un-bedient, wir bezahlen, was wir aus dem Kühlschrank nehmen und setzen uns draussen in die Frühlingsson-ne. Dort treffen wir auf Susanna Gruber. Die Mutter von zwei Kindern ist an einigen KraftWerk-Projekten beteiligt. Unter anderem organisiert sie den sozialen Event im KraftWerk-Jahr, den Entrümpelungstag. Am Morgen wir im grossen Flohmarkt getauscht, was nicht mehr gebraucht wird, am Nachmittag wird auf der an-deren Hausseite entsorgt, was keine neue Besitzerin gefunden hat. Susanna war auch schon für die Kinder-gruppe zuständig, zur Zeit will sie die Diskussion um die Zwischennutzung des benachbarte Hardturm-Areal ankurbeln – eine richtige Kraftwerkerin.

Beim Rundgang wundere ich mich über die Fenster-schlitze, die vom Treppenhaus aus in jede Wohnung blicken lassen – meist ins Entrée oder die Küche. Auch wenn mehr als die Hälfte mit kleinen Vorhängen blick-dicht gemacht wurden, zeigen die Fenster: Hier wohnt man nicht allein in einer Wohnung, sondern zusammen in der Siedlung. Die Wohnung ist der geschützte Rück-zugsraum, das soziale Leben findet in der Nachbarschaft statt, und dazu bietet das KraftWerk viel Infrastruktur: eine Bar, ein Restaurant. Gemeinschaftsräume, Gästezimmer und ein «Konsumdepot». Der Name verrät den Ideengeber, den Autor P.M., der ebenfalls im Haus wohnt, in den 70er Jahren in der Zürcher Hausbesetzer-Szene aktiv war und mit seinen Büchern «bolo bolo» und «Neustart Schweiz» die Idee der lebendigen Nachbarschaft für Urbanisten und Alternative gleichermassen hoffähig machte.

das konsumdepot im kraftwerk hat jeweils von 18.00 bis 20.00 Uhr geöffnet, wird im Turnus von Frei-willigen betreut und führt ein «basisdemokratisches» Grundsortiment des Alltagsbedarfs, meist in Bio-Qua-

lität, einiges vom Landwirtschaftsprojekt «ortoloco» in der Nähe. Das Geschäft läuft: Acht Kunden aus dem KraftWerk und der Umgebung müssen um halb sieben bedient werden; im Durchschnitt kaufen sie für rund 25 Franken ein. Einige bezahlen bar, andere lassen sich den Einkauf von ihrem Guthaben abziehen. Seit das Sorti-ment gestrafft wurde, schreibt das Depot eine schwarze Null – trotz Gratisarbeit erstaunlich für einen kleinen Quartierladen mit derart kurzen Öffnungszeiten.

Roland hat sich für die Arbeit im Konsumdepot ge-meldet, weil er auch etwas für die Gemeinschaft tun will und man an diesem Treffpunkt ihren Puls fühlt. Er wohnt mit seiner Partnerin zusammen und schätzt es, an einem Ort zu leben, wo man sich kennt und auch etwas zusammen zu tun hat. Die Musiklehrerin Maya, die von Roland an diesem Abend in die Geheimnisse des Depots und seiner elektronischen Kasse eingeführt wird, wohnt mit ihrem Freund in einer Neuner-WG, die insgesamt drei Etagen belegt. So hat jeder trotz WG genügend Freiraum. Die grösste KraftWerk-WG zählt vierzehn Personen und hat ein Wohnzimmer so gross wie eine kleine Turnhalle.

Für die WGs wurde übrigens extra ein neuer Miet-vertrag entwickelt. Das erfahren wir von Hans Rupp, der im Herbst Greenpeace verlassen hat, um Geschäfts-führer der Genossenschaft KraftWerk zu werden. Die WGs bilden rechtlich jeweils einen Verein, der die Wohnung von der Genossenschaft mietet. So muss bei neuen BewohnerInnen nicht immer ein neuer Vertrag abgeschlossen werden. Die WGs sind denn auch fast der einzige Bereich, in dem es Fluktuationen gibt. Frei werdende Zimmer müssen nie ausgeschrieben werden, sondern wechseln die Hand unter den Bewohnern.

Wohnen in einer echten Nachbarschaft spart Platz: Kraftwerkerinnen und Kraftwerker kommen mit rund 15 Prozent weniger Wohnraum aus als der durchschnitt-liche Zürcher, mit 36 statt 42 Quadratmetern. Für 100 Quadratmeter bezahlen sie rund 1 900 Franken Monats-miete sowie einen einmaligen Genossenschaftsanteil von 15 000 Franken auf 35 Quadratmeter, der bei Auszug wieder rückerstattet wird. In der Miete inbegriffen sind die Nebenkosten und ein einkommensabhängiges «Spi-ritgeld» von 10 bis 100 Franken, mit dem Projekte der

von Alex von Roll (Text und Bilder)

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BewohnerInnen finanziert und bei Bedarf Mieten verbilligt werden. Hans ist nur zu einem kleinen Teil mit der Verwaltung von KraftWerk 1 beschäftigt. Viel zu tun geben die neuen Projekte, KraftWerk2 für rund 70 Bewohner in Zürich Höngg, das Ende Jahr fertig wird, mit zwei neuartigen «Cluster-WGs» und das wesentlich grössere Kraft-Werk4 auf dem Zwicky-Areal, dessen Realisation anfangs März be-schlossen wurde und das 2014 bezugsbereit sein wird. «Wir bauen die Rohform eines neuen städtischen Quartiers», heisst es dazu in einer Broschüre. Es soll, trotz Neubauten innen und aussen relativ flexibel bleiben und die Initiativen der Bewohner widerspiegeln.

Ein paar Minuten später begegnen wir durch Zufall dem Pro-jektleiter dieses beispielhaften, 75 Millionen Franken teuren Vorha-bens, dem Architekten Andreas Hofer. Andreas, der sich seit drei Jahrzehnten beruflich mit Stadtplanung und dem Quartierleben befasst, klärt mich im Schnellverfahren auf: «Nachbarschaft ist ein theoretisches Konstrukt. Wir bemühen uns immer um Infrastruktur. Aber eine Nachbarschaft ist nicht primär eine physische Grösse, sondern das Produkt der Menschen, die dort leben.»

Zeit für Widerspruch ist nicht vorhanden, zumal wir am Schluss ohnehin der gleichen Meinung wären, nämlich dass Nachbar-schaften Orte der Begegnung und der Aktivität brauchen und dass es ohne ein bisschen Infrastruktur nicht geht.

Im Gegensatz zu den meisten Genossenschaften verfügt das KraftWerk über ein eigenes Bürohaus – wohnen und arbeiten ge-hören schliesslich zusammen. Von den 100 Leuten, die hier arbei-ten, wohnen jedoch nur fünf am Ort. Ahlaad ist einer von ihnen, der zusammen mit seiner Partnerin Mallika Geier den «Raum für Bewusst Sein» führt und dort Yoga, Meditation, Körperarbeit und Seminare anbietet. Er schätzt den kurzen Arbeitsweg von wenigen Gehminuten enorm, was ihm ein harmonisch fliessendes Gleichge-wicht von Arbeit, privater Aktivität und Freizeit ermöglicht.

Das Gleichgewicht von Individualität und Gemeinschaft, von Nähe und Distanz scheint mir im KraftWerk ziemlich gelungen. Mir fehlt allerdings ein Garten, und auch die Ablenkung durch die vielen interessanten Menschen würde mich wohl überfordern.

Wie nahe kommt das KraftWerk einer idealen Nachbarschaft? Gerade, als sich diese Frage bemerkbar macht, taucht P.M. auf, ge-wissermassen der Chefideologe der Nachbarschaftsbewegung. Zeit für eine Antwort hat er allerdings nicht; er ist unterwegs zu einer Sitzung der Arbeitsgruppe «Nachbarschaft» von Neustart Schweiz. Dort wird an vielen idealen Nachbarschaften gearbeitet.

Kontakt: Bau- und Wohngenossenschaft KraftWerk1 Hardturmstr. 269, 8005 Zürich. Tel. 044 440 29 81. www.kraftwerk1.ch

1) Man trifft sich: Ahlaad Piwnik im Gespräch mit Susanna Gruber (stehend) 2) Er arbeitet im Projektentwicklungsteam für die grösste Nachbarschaft der Schweiz: der Architekt Andreas Hofer. 3) Die lockere Stimmung zieht an: Nach Fei-erabend kommen Angestellte aus der Umgebung auf ein Bier ins Kraftwerk. 4) Das Geschäft im Haus: Hans Rupp, Ge-schäftsführer der Genossenschaft KraftWerk 1 (links) versorgt sich im Konsumdepot bei Roland Hunziker und Maya Rieger.

KraftWerk1

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Nachbarschaft

geteIlte bescheIdenheIt, gemeInsamer reIchtumDer Berner Q-Hof ist ein Ort der Individualisten und gleichzeitig eine warmherzige Nachbarschaft. Sein Geheimnis: Die Nachbarinnen definieren Einzigartigkeit nicht über teure Uhren und schnelle Autos, sondern über ihre Lebensphilosophie.

hoffnungsvoll blicken die indigenen Bau-ern ihrer Zukunft entgegen, zuvorderst ein Knabe, der seine Hand nach dem Wohlstand ausstreckt. Mit Gabeln und Hacken, mit den eigenen Händen, haben

sie den Kaffee angebaut, auf dessen Verpackung sie nun mit einem Bild geehrt werden.

Das Bild täuscht. Die Indios bauen nicht ihre Zukunft an, sondern die der Kolonialherren; der Knabe streckt seine Hand nicht nach dem Wohlstand aus, sondern nach einer Banane – der einzigen, die für die Bauern übrig bleibt. Ihre Kaffeetasse ist leer.

Dieses monumentale Wandbild bedeckt die Westfas-sade des Quartierhofs, kurz Q-Hof, in der Berner Lor-raine. Gemalt haben es Colby Blumer und Marc Rudin. Rudin, ein Grafiker, lebte in den 70er-Jahren selbst im Q-Hof, bevor er wegen militanten antiimperialistischen Aktionen inhaftiert wurde. Das Bild prangt nicht zu-fällig hier; es zeigt das Interesse der Bewohner an der

Welt, an der Politik, an den Unterdrückten. Auch wenn sich nicht alle international engagieren, so zumindest in der Nachbarschaft. Die Lorraine ist das Quartier in Bern, dessen Bewohner sich am heftigsten und längsten gegen die Immobilienspekulation gewehrt haben und nicht nur geografisch nahe beim alternativen Kultur-zentrum Reitschule liegt.

dIe prInZessIn«Der Q-Hof ist wie eine Familie», erklärt Vera, noch bevor ich meine erste Frage gestellt habe. «Ja hör doch auf!», entgegnet Marc.

Willkommen im Q-Hof. Es ist ein Gespräch im In-nenhof, wie man es an lauen Sommerabenden häufig belauschen könnte. Vera ist eine 78-jährige Dame, die ab und zu ihre «Knochen sortieren muss», sonst aber quicklebendig ist. Unbeirrbar in ihrer Meinung, könnte sie es mit jedem polternden Stadtpolitiker aufnehmen; er im piekfeinen Anzug, sie im blauen Bademantel. Sie

von Michael Huber

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Nachbarschaft

ist trotz finanzieller Schwierigkeiten die ewige Prin-zessin, die alle gerne feiern und die sich gerne feiern lässt. Ihr Gegenüber ist Marc, Vater zweier Kinder und Fagottist von Beruf.

«Wenn wir eine Familie sind», nimmt er den Faden auf, «dann eine ohne Zwänge. Wir sind keine abgeschottete Gesellschaft, keine Insel.»

Bodil, die mit ihrem kleinen Sohn hier wohnt, er-gänzt: «Im Q-Hof ist es einfach, Kontakt miteinander aufzunehmen.» Als möchten sie einen Tatbeweis er-bringen, haben sich im Innenhof mittlerweile junge Männer zum spontanen Pingpong versammelt. «Aber ich kann mich auch zurückziehen, ohne dass jemand misstrauisch wird.»

one man, one room«Die Menschen hier haben schon immer nahe beiei-nander gelebt», erinnert sich Vera, die bereits seit 1957 im Q-Hof wohnt und den Wandel miterlebt hat. Wo heute rund 45 Leute wohnen, wirtschafteten früher drei Metzgereien, eine Bäckerei, ein Krämerladen, ein Schreiner, ein Holzschnitzer und ein Bordell. In den 1980ern sollte der Q-Hof zugunsten profitabler Bauten abgerissen werden. Natürlich wehrten sich seine Be-wohnerinnen: Tagsüber errichtete die Post, damalige Besitzerin, Profile auf dem Grundstück, nachts räumten die Nachbarn sie wieder weg und legten sie auf den stark befahrenen Nordring. Nach einem langen Hin und Her, Demos, Festen, politischen Vorstössen und der Gründung einer Wohnbaugenossenschaft erhielten die Bewohner 1996 das Baurecht. «Nun mussten wir ausbügeln, was hundert Jahre lang vernachlässigt wor-den war.» Beim Umbau musste jeder Genossenschafter hundert Stunden Arbeit leisten oder Ersatz bezahlen. Sie vereinbarten, dass jede Person nicht mehr als ein-einhalb Zimmer bewohnen dürfe. «Ich hatte drei», sagt Vera, und setzt die Unschuldsmiene eines Mädchens auf, das sie bereits damals längst nicht mehr gewesen

war: «Ich wehrte mich mit Händen und Füssen, bis sie mich in Ruhe liessen.» Weil sie des Treppensteigens müde geworden war, ist mittlerweile auch Vera in eine kleinere Wohnung im Parterre gezogen.

das heInZelmännchenJedes Haus hat nur eine Dusche, dafür steht im Hof eine Jurten-Sauna. In Marcs dunkler Wohnung ist fast alles im selben Raum – Küche, Bett, Schreibtisch und Klavier. Sein «halbes Zimmer» beansprucht ein Kajütenbett für die Kinder. Ansonsten prägen vor allem bunte Buch-rücken das Bild der Wohnung. «Es waren noch mehr, aber die meisten habe ich mit einem Nachbarn auf den Estrich verfrachtet», sagt er und erzählt eine wunder-same Geschichte der Nachbarschaftshilfe: «Nachdem die Bücher alle oben waren, hinterliessen wir auf dem Estrich ein riesiges Durcheinander. Doch als ich das nächste Mal hinaufstieg, stand da ein neues Regal und alles war geordnet.» Sein hilfsbereiter Nachbar ist nicht das einzige Heinzelmännchen im Q-Hof. Vera zum Beispiel bekommt finanzielle Unterstützung, und einer an Multipler Sklerose leidenden Nachbarin helfen zwei Leute bei der Wäsche und beim Einkauf.

Marc schätzt die Offenheit des Q-Hofs. «Irgendwann nervt mich bei der Arbeit das Gerede über die Musik.» Die unterschiedlichsten Nachbarn öffnen ihm die Tü-ren zu anderen Welten. «Verglichen mit dem früheren WG-Knatsch geht es hier sehr harmonisch zu und her.» Die Leute trachten eher nach Weisheit und Lebens-lust als nach Materiellem. «Wenn du nach materiellem Reichtum strebst, lebst du ohnehin nicht lange hier. Wir pflegen einen philosophischen Individualismus.» Im Q-Hof leben Rentnerinnen, Studenten, Säuglinge, Mütter, Väter, Teenager, Anzugträger, Migrantinnen und Lebenskünstler. Die Vielfalt ist kein Herd des Kon-flikts sondern eine Quelle der Erholung. Die geteilte Bescheidenheit verbindet – und schafft Platz für gei-stigen Reichtum.

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Nachbarschaft

kraft & lIchtDie Dauerbaustelle am Voltaplatz ist nicht das Ende der Welt. Dahinter ver-birgt sich, nah an der französischen Grenze eine Nachbarschaft, die sich erfolgreich gegen die Kommerzialisierung des Quartiers wehrt. Die letzten Gallier des einfachen Lebens.

Zwischen Novartis-Campus, dem Coop-Ver-teilzentrum und dem Voltaplatz befindet sich eine kleine Perle, die in dieser feind-lich wirkenden Umgebung wie ein Para-dies wirkt. Die Licht- und die Kraftstrasse.

Stimmige Namen.

Früher dachte ich, der Voltaplatz sei das Ende von Basel. Immer wenn ich dort zufällig vorbei kam, wurde tonnenweise Erde bewegt. Entweder für den Bau der Dreirosenbrücke, die Erweiterung der Nordtangente oder neue Gebäude des Campus. Auch heute brummt und schraubt es an dieser ewigen Baustelle. Doch heute stört mich das wenig: ich will zu Claudia.

Zwischen Voltaplatz und der Kraftstrasse liegt wie ein Schall- und Stossdämpfer die fast zwei Fussballfelder grosse Voltamatte. Kinder tollen umher, Sonnenbader schwitzen und Grüppchen treffen sich zum reden und bräteln. Im hinteren Teil der grossen Wiese liegt ver-steckt unter Bäumen ein Robinsonspielplatz.

In der Kraftstrasse angekommen muss ich schmun-zeln: Auch der hektische Auto-Lenker muss sich der Zeit dieser Insel anpassen – er kann fuchteln wie er will, die noch feuchten Transparente werden ohne Eile behutsam auf den Gehweg verlegt. «Wasserstrasse bleibt», «Finger weg» und ähnliches lese ich da. Nora, mein Interesse bemerkend, erklärt mit dem Farbroller schlenkernd, ein befreundetes Wohnprojekt auf der anderen Seite des Voltaplatzes sei vom Abriss bedroht und brauche Unterstützung. Gerne würde ich helfen, aber ich habe abgemacht...

… und werde auch schon erwartet, auf einer Balkon-Idylle und mit feinen selbstgebackenen Aprikosen-Küsschen.

Claudia ist eine Art Sekretärin des «Licht- & Kraftstras-sen-Vereins», deshalb bin ich hier. «Euer Verein kauft Häuser, damit sie Novartis nicht bekommt?», frage ich.

Links: Ungleiche Gegner: «Campus vs Kraft und LichtRechts: ganz normaler Freitag Nachmittag im Quartier

von Meta Morfos

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Claudia lacht: «Nein, soviel Geld haben wir leider nicht» … aber es stimmt schon, der Verein hat überall dort den Finger drauf, wo es um Einschränkungen der Be-wohner geht, «gegen alles, was unsere Idylle bedroht.». Alle zwei Jahre organisiert der Verein das «Licht- & Kraftstrassen-Fest» – offenbar das älteste Strassenfest Basels. Alle Nachbarn helfen nach ihren Möglichkeiten freiwillig mit. Der Erlös wird für politische Aktionen und das nächste Fest verwandt.

«Politische Aktionen? …» hake ich nach. Ursprünglich waren es die Pläne von Novartis, die die Kraft- und die Lichtstrasse zusammenbrachte und organisierte. Inzwi-schen ist auch die Stadt mit ihren Aufwertungsplänen nach oben auf der Traktandenliste gerückt. «Wir wollen hier einfach wohnen» sagt sie, dazu brauche es kein hippes Trendquartier.

Nicht nur die gemeinsamen Feinde, die hungrige Novar-tis und die satten Aufwertungen bringen die Bewohne-rInnen der Kraftstrasse zusammen, auch die Quartier-beiz «zum alten Zoll» ist der Ort, wo sich die Menschen gegenseitig den Puls abnehmen. Dort trifft man immer jemandem, mit dem einen irgendeine Geschichte ver-bindet oder eine neue entstehen kann.

Auf dem Balkon erklärt mir Claudia die Strasse: Die «Nachbarschaft Kraftstrasse» ist eine gewachsene, er-fahre ich. Zuerst wurde die Hausnummer fünf von von einer Genossenschaft bezogen. Dann wurden die Sie-ben und die Neun von Kaufgemeinschaften erworben. Weiter hinten hat es noch einmal eine Genossenschaft und eine Kaufgemeinschaft. Dank der günstigen Mieten breiten sich auch ehemalige BesetzerInnen Wohnung um Wohnung aus. Im Hinterhof gibt es einen Schlos-ser, der glücklicherweise um Schlag fünf den Hammer

fallen lässt, eine Ateliergemeinschaft und andere Hand-werker. «Ja, es braucht dieses Miteinander von Wohnen und Arbeiten» – etwas anderes kann sich Claudia nicht vorstellen. Aber auch die günstigen Mieten helfen, dass sich «vernünftige Leute» in diese Gegend verirren … «und wer einmal da ist, mag gar nicht mehr weg.» … Auch Helmut, der Grünfink, der ihr Körner aus der Hand stibitzt, wohnt seit Jahren hier.

Ein paar Sonnenstrahlen später, nach vielem Hin- und Her – was denn eine Nachbarschaft ausmacht, was dazu getan werden muss, und wie schön es ist, in einer solchen zu wohnen – und einem letzten le-ckeren Aprikosenküsschen mache ich mich auf den Heimweg. In der Strasse herrscht friedliche Ruhe. Das Gewusel und die Transpis haben sich verzogen, wohl in Richtung «Wasserstrasse». Auf der Voltamatte, wo es über die Spielplatzhecke jauchzt und quiekt, treffe ich Michèle vom Robinsonspielplatz und erfahre, es sei der älteste der Schweiz. Allerdings müssten sie jetzt umziehen. Irgendwie sind sie Novartis und Stadtbau-Konzepten im Weg und werden dreihundert Meter nach Osten verschoben. Doch das nehmen sie sportlich. Dafür gibts dann neue, energieeffiziente Häuschen, einen Media-Raum, kleine Hütten für die Mädchen und die Jungs. «Und was ist mit den riesigen alten Bäumen?» frage ich und blinzle nach oben, wo es grünt und blüht. «Ursprünglich sollten sie ja gefällt werden, aber da hat sich ein Nachbar drum geküm-mert», strahlt sie. Die Nachbarschaft der letzten Gallier funktioniert.

Ein bisschen bezaubert, und ein wenig wehmütig suche ich wieder das Weite, bis mich der Lärm der ewigen Baustelle wieder verschluckt. Bis zum nächsten Licht- und Kraftstrassenfest!

Kraftstrasse

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Nachbarschaft

keIn platZ für kleInlIchkeItenZwanglos und unkompliziert ist das Zusammenleben auf dem Wagenplatz in Freienstein. Es ist früher Sonntagnachmittag, eine Gruppe der Nachbar-schaft sitzt draussen beim Kaffee. Irgendwo auf dem Areal spielt ein Be-wohner auf seinem Musikinstrument…

es ist ein romantisches Bild: Hinter der still-gelegten Spinnerei Blumer, am Ufer der Töss, stehen ein knappes Dutzend umge-bauter Zirkuswagen, dazwischen knorrige Bäume, Katzen, die sich in der Sonne rä-

keln. Die angrenzende Wiese wird von einem natür-lichen Bachlauf durchzogen. «Wenn einer kommt», so Thorsten Meito «und meint, in einem Wagen zu leben sei einfach nur toll, dann weiss ich, dass er keine Ahnung hat.» Ein solches Leben könne man nicht planen – es entstehe einfach. Und die Nächte zwischen November und März seien rau, wer dann vergesse einzuheizen, könne gerade so gut im Freien schlafen. Thorsten Meito muss es wissen, denn bereits den fünfzehnten Winter hat er im Wagen verbracht – Holz geschleppt, Schnee geschippt. Mit einer Gruppe von Zirkusleuten, die nach dem Leben auf Achse ohne festen Wohnsitz waren, fand er hier auf dem Blumer-Areal vor sechs Jahren die-

sen idealen Platz. Mit dem ehemaligen Fabrik-Besitzer handelte er 2500 Franken Monatsmiete aus, das macht zwischen 250 und 300 Franken für jeden Bewohner. Mehr dürfte es nicht sein, denn viele dieser kreativen Menschen (sieben Männer und drei Frauen) sind ganz oder teilweise selbstständig. Sie verdienen ihr Geld als Schauspielerinnen, Clowns und Strassenkünstlerinnen oder als Suppenkoch, so wie Oskar Henkel. Er nimmt sich nur kurz Zeit für einen Kaffee, um dann wieder hämmernd und schleifend an seiner Werkbank zu ar-beiten. Unter der Woche schwingt er den Suppenlöffel für «Suppen und Pedale», einen kleinen Bio-Suppen-Velokurier, dessen Team die vollen Töpfe mit dem Drahtesel ausliefert.

Ein ökologischer Lebensstil ergibt sich auf dem Wagenplatz wie von selbst. Alle Anwesenden pflich-ten dem bei, denn wer Trink- und Abwasser hin und

von Maggie Haab (Text und Bilder)

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her trägt, der verbraucht ziemlich bald nur noch das Mi-nimum. Und mehr als eine Lampe pro Raum und Nase ist auch nicht nötig. In einem Winter verbrauchen sie gemeinsam lediglich 13 Ster Holz. Das sei etwa so viel, wie ein altes Bauernhaus verschlinge. Selbstverständ-lich achteten sie alle bewusst auf den Ressourcenver-brauch, doch für Dogmatismus oder Verhaltenszwang ist auf dem Gelände kein Platz. Die Nachbarschaft ist keine Glaubensgemeinschaft. Und obwohl sie sich ein Brünneli und eine Toilette im Gemeinschaftsraum der alten Fabrik teilen, stehen sie sich gegenseitig nicht auf den Füssen herum und lassen einander Platz für ihren individuellen Lebensstil. Wer seinen ganzen Haushalt auf wenigen Quadratmetern unterbringen muss, kann es sich nicht leisten, kompliziert zu werden oder unnützen Kram anzuhäufen. Die Wohnsituation prägt das Ver-hältnis unter den Nachbarn, die ihre Wagen recht dicht aneinander gestellt haben: Sie helfen sich gegenseitig, mischen sich aber nicht in persönliche Angelegenheiten ein. Der dreissigjährige Amir Ali ist seit fünf Jahren Wagenbewohner und beschreibt das Gemeinsame so: «Wir heizen einander auch mal den Wagen ein oder kochen und essen bei Gelegenheit zusammen», so wie heute: Bärlauchspaghetti für alle. Die Blätter vom Wald, die Nudeln von Aldi.

Es gab auch schon Leute, die den ganzen Platz in eine Öko-Gemeinschaft umbauen wollten, erzählt Thorsten, «aber ausschliesslich Bio zu essen, ist auf

Dauer einfach unbezahlbar. Ich habe zwei Kinder». Sein zehnjähriger Sohn Mikko spielt mit seinem Freund auf der Super-Nanny›. Damit meint Thorsten das Rie-sentrampolin neben der Baumhütte, das die Kinder vorerst beschäftigt. Der Ort ist mit seinen vielen Ecken, verlassenen Bauten, fliessenden Wassern und Tümpeln nicht nur für Kinder und Bastler ein wildes Traumland, sondern bietet auch ideale Lebensbedingungen für Tiere aller Art. Denn die von der Gemeinde bewilligte «Zone für mobile Bauten» ist nur ein kleiner Teil des ganzen Fabrikgeländes, auf dem sich die Natur auf be-eindruckende Weise ihren Raum zurückeroberte: Öfters sind hier Eisvögel, Käuze, Graureiher und Kraniche zu beobachten. Der Algenteich bietet Heimat für Frösche sowie diverse Libellenarten, aber auch Ringelnattern und Dachse gehören zu den wiederkehrenden Besu-chern des Areals, das innert den nächsten zehn Jahren komplett überbaut werden und modernen Häusern Platz machen soll. Das ungezähmte Leben müsste dann etwas Übersichtlicherem, Lukrativerem weichen, wenn nicht noch ein Wunder geschieht. In der Zwischenzeit, solange die Baumaschinen noch nicht aufgefahren sind, geht das ideenreiche Miteinander weiter. Bald wird in der Runde ein Plätzchen frei, und wer nicht bis zum jährlichen Sommernachtsfest warten will, geht die wil-den Nachbarn schon vorher besuchen, am besten bei Regenwetter, damit man nicht zu neidisch wird.

Freienstein

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28 Zeitpunkt 113

Nachbarschaft

Giesserei der Genossen-schaft für selbstverwal-tetes Wohnen Giesserei – das Mehr-Gene-rationen-Haus, Ida-Sträuli-Strasse, 8404 Winterthur

‹Die Giesserei› der Gesewo dürfte ein Wegbereiter werden für Ressourcen schonendes Woh-nen und gelebte Nachbarschaftskultur. Noch vor dem ersten Spatenstich bloggt der Projektlei-ter über den Umgang mit Haustieren und nimmt Wünsche der künftigen Bewohner entgegen, die den Bezug im Frühjahr 2013 kaum mehr abwarten können. Das Mini-Dorf soll aus einem vielfältigen Mix unterschiedlicher Wohnungen und Bewohner bestehen.

Wohngenossenschaft und Verein 166 (164 Wohneinheiten) 8

7 5

Kontakt: [email protected], www.gesewo.chwww.mehrgenerationen-haus.ch

Brasserie Lorraine Quartiergasse 173013 Bern

1980 kaufte die Genossenschaft KUKUZ die Liegenschaft, um eine basisdemokratische Genos-senschafts-Beiz zu eröffnen. Beinahe das ganze Sortiment ist biologisch und aus der Region. Laufend finden Kulturveranstaltungen statt, die noch unentdeckte Perlen auf die Bühne brin-gen. Zur Brass gehören zwei grosse Wohngemeinschaften und Büros für politische Organisati-onen wie beispielsweise ‹augenauf›.

Genossenschaft mit Restaurantskollektiv 2 Wgs à 5 und 10 Zimmer 3

2 8

Kontakt: www.brasserie-lorraine.ch031 332 39 29

BerglandHof BerglandHof AG3995 Ernen

Da die Erde nicht vererbt, sondern nur von den Kindern geliehen sei und Senioren nicht in Altersheime gehören, schlossen sich drei Familien zusammen. Die Initianten des geplanten Mehrgenerationenhauses sind Biogärtner. Der Berglandhof will Alt und Jung betreuen, Kurse anbieten und Bergland-Bio-Produkte im organisch gebauten Haus verarbeiten, Anwohner und Feriengäste damit versorgen sowie eine Boutique und einen Hofladen betreiben.

Aktiengesellschaft BerglandHof 15 permanent ca. 8 8

6 2

Kontakt: Ingrid Birri Schmid, [email protected]

Gleis 70 Hermetschloostr. 708048 Zürich

Beinahe schon berühmt-berüchtigt waren die Partys an der «Hermetschloo» bis sich die Atelier-Hausgemeinschaft mit mehreren Dutzend günstigen Werkräumen und Büros instal-lierte. Innerhalb des Hauses können sich Parteien ihrem Bedürfnis entsprechend verkleinern oder vergrössern. Noch immer feiern sie gerne, doch längst nicht so oft wie früher. Die Mieter subventionieren gemeinsam ihre Kantine mit Dachterasse, an welcher drei soziale Einsatzpro-gramme angehängt sind.

Genossenschaft mit ca. 150 Mitgliedern ca. 50 5

7 8

Kontakt: [email protected]

Arche Nova Guschstrasse 10 – 658610 Uster

Die familienfreundliche Siedlung am Aabach entstand als innovatives Umnutzungsprojekt einer stillgelegten Gross-Spinnerei. Um die gemeinsamen Bereiche und Gruppenräume zu verwal-ten, organisieren sich die Eigentümer der 56 Reiheneinfamilienhäuser in Arbeitsgruppen, wie der Siedlungs- oder Kompostgruppe. Der offene und begrünte Innenhof zwischen den Hausein-gängen bietet Begegnungsraum für die selbstorganisierten Nachbarn.

Eigentümergemeinschaft mit Verwaltungsversammlung 56 Parteien, ca. 350 Pers. 9

3 2

Kontakt: Walter Richner, Gusch-strasse 44, 8610 Uster

Fabrikgässli 2502 Biel/Bienne

Die 2010 gegründete Genossenschaft FAB-A plant im zentralen Bieler Plänkequartier eine nachhaltige und energieeffiziente Überbauung des ‹Fabrikgässlis›. Die derzeitigen Bewohner der ‹besetzten› Liegenschaften erhielten Zwischennutzungs- bzw. Gebrauchsleihverträge bis zum Abrisstermin. Bereits haben sich 15 Parteien – davon acht Familien – für die autofreie Siedlung angemeldet. Sie soll im Frühjahr 2013 bezugsbereit sein.

Genossenschaft FAB-A 19 – 20 8

4 1

Kontakt: www.fab-a.ch [email protected]

oak-Siedlung ‹Neue Heimat› Neue Heimat 10-32 4143 Dornach

In Dornach baut die Genossenschaft Sophie Stinde vier Mehrfamilienhäuser auf einem Gelände mit eigener Quelle und Bach. Die Siedlung bietet bezahlbaren Wohnraum, ein Energiesystem mit saisonalem Wärmespeicher und eine Infrastruktur, die für Kinder, Betagte und Behinderte des angrenzenden Heimes geeignet ist. In Laufen BL und Frauenfeld TG plant das Architekten-büro oak für anthroposophische Baukunst ähnliche Projekte.

Wohnbaugenossenschaft Sophie Stinde (Bauherrin), Stiftung Edith Maryon (Landeigentümerin) 21 8

4 2

Kontakt: www.sophie-stinde.ch, www.oak-gmbh.chwww.maryon.ch, [email protected]

Claudia – House of Sounds Zürcherstrasse 320/3228406 Winterthur

Bis zum 1.1.2012 soll aus einer Bauruine ein Musikpalast mit dem klingenden Namen ‹Claudia – House of Sounds› entstehen. Auf sieben Etagen, plus Restaurant und Caféteria mit Blick über Winterthur, soll eine musikalische Nachbarschaft einziehen. Vorgesehen sind etwa 200 Musiker, Proberäume und Angebote wie Plattenbörsen, Instrumentehandel, Musikunterricht, Tanzschulen, Clubs für Livemusic etc. Für Interessenten mit guten Ideen hat die Verwaltung ein offenes Ohr.

Mieterschaft aus Musikgewerbe 250-400 2

8 8

Kontakt: www.claudia-sounds.ch Fischer Liegenschaften: [email protected]

Aus der simplen Idee, wie das gemeinschaftliche Leben besser gestaltet werden könnte, sind bereits etliche bestechende Projekte entstanden. Einige davon, und viele die noch in Planung oder im Bau sind, finden Sie in der Liste, die glücklicherweise nicht abschliessend ist. Zusammenstellung: Maggie Haab

hIer gIbt’s nachbarschaftEin Ranking (Ranking 1 = wenig bis 10 = stark) hilft bei der Orien-tierung, wie gross ‹ ›, singlereich ‹ ›und exotisch ‹ › dieNachbarschaft ist, oder wie kinderfreundlich ‹ › sie sich prä-sentiert.

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Nachbarschaft

bis zu fünftausend junge Deutsche wohnten im Frühjahr 1980 vorü-bergehend in einfachen Hütten aus

Holz und bildeten so die Keimzelle des Wi-derstands gegen das Endlager in Gorleben. Ein eigens errichteter Schlagbaum markierte die Grenze zur «Freien Republik Wendland», wo die Widerständigen zwischen Kompost-klo und Gemeinschaftsküche im friedlichen Protest gegen die offizielle Politik zusam-menlebten.

Karl-Heinz Meyer war einer von ihnen. Die Idee, eine politische Aktion mit dem Alltagsleben zu verbinden, gefiel ihm. Nach einem Monat im Hüttendorf wurde das Ge-lände von der Polizei geräumt und die Holz-hütten abgerissen. Die «Freien Wendländer» fuhren nach Hause. Karl-Heinz aber, damals Student der Raumplanung, liess die Idee vom einfachen Leben in der Gemeinschaft nicht mehr los. Er brütete über der Idee, die sein Leben in Zukunft bestimmen sollte.

Heute lebt Karl-Heinz mit seiner Frau Sabine Ainjali im Hotzenwald – «in einem richtigen Haus». Hier arbeitet Meyer halbtags in dem von ihm begründeten Ökodorf-In-stitut und berät Menschen aus dem In- und Ausland, die eine Gemeinschaft gründen wollen. Er spricht aus Erfahrung: Neun Jahre lang war er am Aufbau des interspirituellen Ökodorfs «Lebensgarten» bei Hannover be-schäftigt. Schon Anfang der 90er wollten so viele Menschen dort leben, dass das Dorf aus allen Nähten zu platzen drohte. Für Karl-Heinz und Sabine Ainjali war es das Zeichen für etwas Neues. In Südbaden, nahe der Schweizer Grenze, gründeten sie 1995 die Delfin-Gemeinschaft. «Um den richtigen Namen zu finden, zogen wir In-dianer-Tarotkarten», erinnert sich Meyer. Sie zogen die Karte des Delfins, Symbol für die Verbindung zwischen Himmel und Erde.

Bis dahin lebte die Gemeinschaft und deren Freunde noch verteilt im Dorf oder in der näheren Umgebung. Ein enger Zu-sammenhalt hatte aber im Hotzenwald seit jeher Tradition. Schon im Mittelalter lebten die Menschen dort, allein durch die geo-grafische Lage, wie auf einer Insel. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Gegend zum Notstandsgebiet erklärt – die schlechte Infrastruktur bot den Vorteil für günstigen Wohnraum. Die Siedler in den 70er-Jahren waren junge Städter, die von einem Leben in einem gesunden Umfeld träumten. Dass die natürlichen Gegebenheiten für zukünf-tige Generationen erhalten blieben, ist nicht zuletzt ihnen zu verdanken.

Die Delfin-Gemeinschaft geht heute noch einen Schritt weiter: Neben dem achtsamen Umgang mit der Natur möchte man hier aktiv zur Heilung der Erde beitra-gen. 1994 hatte Sabine Ainjali eine Vision. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die Erde übersät mit Lichtpunkten, die alle durch Lichtstrahlen verbunden waren. Sabine Ain-jali deutete dieses Bild als ein Licht- und Heilungsnetz für unseren Planeten. «JedeR einzelne von uns kann ein Lichtpunkt wer-den», schreibt sie. Einer dieser Lichtpunkte

entsteht durch die Delfin-Gemeinschaft. Karl-Heinz Meyer: «Unser Ziel ist, dass während vierundzwanzig Stunden pro Tag immer jemand von uns meditiert.» Auch Sin-gen, Musizieren und jede andere Art von Lichtarbeit ist erwünscht. Ein konkretes Bild von der Zukunft des Ökodorfs im Hotzen-wald hat Meyer nicht. Viel wichtiger sei für ihn, offen zu sein für Neues.

Sein nächstes Projekt ist eine Gartencoop, wie sie bereits in Genf realisiert wurde. Für je fünfzig Abnehmer will die Delfin-Gemeinschaft einen Gärtner oder Landwirt anstellen. «Wir bezahlen besser, auch wenn das Gemüse doppelt so viel kostet», betont Meyer. An der Ausbeutung von Mensch und Natur will sich die Gemeinschaft nicht betei-ligen. Hier setzt man auf Selbstversorgung und faire Löhne.

Über die Jahre hat sich im Hotzenwald ein lebendiger Mikrokosmos gebildet. Er zieht Menschen an, die sich in einer Ge-meinschaft verwirklichen möchten. Um näher zusammenleben zu können, würde sich die Delfin-Gemeinschaft auch zu einem «grösseren Platz für das Ökodorf führen las-sen»: mit der Möglichkeit für ein Zentrum, Höfen, viel Land für die Selbstversorgung und einer grossen Wiese mit Hütten, Jurten, und Zelten.

Wer die Zeit der Aussteiger-Bewegung verpasst hat, sollte es sich nicht nehmen lassen dabei zu sein, wenn in Südbaden ein neuer Lichtpunkt zu strahlen beginnt.

Sagita Lehner

24. SEPTEMBER 2011 | BASEL | 10–17 UHR —NEUE WOHNFORMEN UNDGEMEINSCHAFTLICHE WOHNPROJEKTE IM DREILAND—

PROJEKTBÖRSE, VORTRÄGE, CAFÉ-BISTRO. FÜR FACHPERSONENUND INTERESSIERTE—WWW.COURVOISIER-PROJEKTE.CH—Eine Initiative gemeinnütziger Wohnbauträgeraus der Region Basel

REGION BASEL

ZwIschen hImmel und erde Im hotZenwald

Karl-Heinz Meyer vom Ökodorf-Institut (Mitte) an einem Workshop über Gemeinschaftsgründung.

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Nachbarschaft

unter-grundhof: grüne Insel In emmen In Emmen kreuzen sich die Autobahnen A1 und A12, über Emmen dröhnt der Lärm der Patrouille Suisse. Schlagzeilen machte das Dorf, weil es bis 2003 über die Einbür-gerung von Ausländern an der Urne ab-stimmte. Zwischen Hochhaussiedlungen,

Geranien und Militärflugplatz würde man nicht nach einer Ökosiedlung suchen, aber man findet eine: den Unter-Grundhof, ein Areal aus Häusern, Gärten und Spielplät-zen, bewohnt von nicht weniger als 160 Menschen. «Wir sind die grüne Insel im bürgerlichen Emmen, eine Hochburg der Linken», sagt Beat Rölli, der dem Zeitpunkt bereits als ein Pionier der Permakultur in der Schweiz bekannt ist (siehe ZP 105).

Die wildesten Gerüchte gingen um im Dorfe, als die Nachbarschaft vor 25 Jahren gegründet wurde. Von Hippie-Kommune war die Rede und von freier Liebe. Alles falsch, sagt Rölli, aber ganz bürgerlich geht es in der Siedlung doch nicht zu und her.

Auf sieben Familien in Röllis Haus kom-men drei Fahrzeuge; statt überfüllter Garagen haben die Bewohner einen Velo-Reparatur-Platz. «Auf den angrenzenden Grundstücken dürfen die Mieter nicht einmal Hochbeete anlegen – wir haben Hühner und Schafe!» Die Siedlung, hauptsächlich von Familien

bewohnt, ist ein Paradies für Kinder und für den Permakultur-Spezialisten: Rölli hat Insektenhotels kreiert, einen Kompost an-gelegt, Moorbeete und einen Waldgarten gebaut. «Ich habe hier viel mehr Freiheiten als in einem herkömmlichen Quartier.» Frei-heiten mit Verantwortung. «Wer sich nicht engagieren will, darf zwar auch hier leben, aber wenn das alle täten, würde die Sied-lung zusammenbrechen.» Die Schafe und die gemeinsame Kinderbetreuung verbinden. «Manchen ist das zu viel Gemeinschaft, und manchmal gibt es bei so vielen Engagierten auch Streit. Ich wollte zum Beispiel letzthin eine essbare Landschaft anlegen; die Schaf-gruppe fühlte sich bedroht und lobbyierte dagegen.» Es klingt wie im Parlament, Ge-treideproduzenten gegen Viehzüchter, nur ein feiner, aber entscheidender Unterschied bleibt bestehen: Im Unter-Grundhof ist der Konflikt überschaubar, die Interessengrup-pen sind Nachbarn. Michael Huberwww.untergrundhof.ch

Im Unter-Grundhof im Luzerner Vorort Emmen geniessen 160 Menschen eine üppig-ökologische Lebensweise.

Institution Wakónda GmbH

Höheweg 70 · CH-LiebfeldTelefon: 0041 (0)31 972 38 61Fax: 0041 (0)31 972 41 47 [email protected]

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Lernweg der Wildnis: Leben im Wald während des Sommers. Entdecke die Natur, im Bezug mit dir selber. Erlerne die nötigen Wildniskompetenzen für das Leben in dieser Jahreszeit und werde ein Teil von ihr!

Datum: 16.– 21. Juli 2011 Kosten: CHF 520.– An meldeschluss: 27. Juli 2011 Anmeldung: per E-Mail oder Post, siehe Adresse links im Inserat

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Nachbarschaft

dIe grünste nachbarschaft der schweIZ

auf dem Dach der Eugsters blühen zur Zeit Osterglocken. Genau genom-men ist es nicht ihr Dach, sondern

das der Gemeinschaft. «Wenn auf einem Dach etwas kaputtgeht, zahlen alle», erklärt Sämi Eugster.

Er und seine Frau Theres leben in einem von vier Grasdachhäusern am Holderweg im solothurnischen Rodersdorf bei Basel. «Wir wollten der Natur die Grasflächen zu-rückgeben, die wir ihr durch den Bau ge-nommen hatten», erläutert Theres die Idee der Grasdächer. Viele Holderwegler der er-sten Stunde sind heute über sechzig. Die Zeiten, in denen man sich «auf dem Dach die Gummimatten unter dem Hintern weg-zog», sind ihnen in lebhafter Erinnerung. Man isolierte, installierte Verbauungen, die das Abrutschen des Erdreichs verhindern sollten und säte Gras. Im gleichen Jahr spross im Material versteckte Roggensaat. «Die Dächer waren eine einzige wogende Fläche», erinnert sich Sämi Eugster. Inzwi-schen hat sich auf den vier Häusern eine ei-genständige Vegetation entwickelt, wie auch auf dem Gemeinschaftsbriefkasten, auf dem eine Mikro-Wiese wächst. Einige Wildbienen hielten den Kasten für ein Insektenhotel. Obwohl die Menschen am Holderweg in Doppeleinfamilienhäusern wohnen, gibt es viel Gemeinschaftsfläche. Vor allem die

Keller dienen der gemeinsamen Nutzung. So sind zum Beispiel im Keller der Eugsters die Waschmaschine und das Lager für Früchte und Gemüse untergebracht. In den anderen Kellern der Siedlung gibt es einen Filmraum und eine Holzwerkstatt. Einen gemein-schaftlichen Stauraum habe es auch einmal gegeben, ergänzt Sämi und lacht. «Eis Puff» sei das gewesen. Weniger unordentlich sieht es im Gemüsegarten aus. In schnurgeraden Zeilen warten Karottensamen und Zwiebel-samen auf die ersten Sonnenstrahlen. «Im Garten hat jeder seine Aufgabe», sagt Theres, sie selbst kümmere sich um die Blumen.

Die Bewohner der Siedlung haben ganz unterschiedliche Berufe. Da gibt es die So-zialarbeiterin, den Biologen, die Musikerin – und sie sind über viel mehr als nur das gemeinsame Auto miteinander verbunden. «Es ist das Gefühl von echter Nachbarschaft – die gegenseitige Hilfe», sagt Theres.

Als die acht Familien vor vierundzwanzig Jahren nach Rodersdorf zogen, waren sie anfangs als aufwieglerische Reformer und Linkswähler gefürchtet. Zu Recht. «Wir hat-ten im Dorf von Anfang an ein gewisses politisches Gewicht», sagt Sämi. Inzwischen wählt Rodersdorf rot-grün – so wie Basel-Stadt. «Es kamen auch schon Anfragen vom Kanton Solothurn, ob wir die Resultate ver-wechselt hätten», amüsiert sich Theres. Das

Politische war der Gemeinschaft wichtiger als günstiges Bauland, von dem es – im ei-nige Meter entfernten Frankreich – mehr als genug gegeben hätte. Nun bestimmen sie in der Gemeindepolitik mit. Als Künstler ist Sämi Eugster «die künstlerische Ausstrah-lung der Dorfes besonders wichtig». Deshalb ist auf seine Initiative hin KöRR entstanden – Kunst im öffentlichen Raum Rodersdorf. Schliesslich, so Sämi, sei eine lokale Kultur neu zu erfinden. Inzwischen sind die Roders-dorfer aktiv. In Theres Eugsters «Offenem Atelier» malen sie gegen einen Unkostenbei-trag bis in die Nacht hinein an ihren gross-formatigen Kunstwerken. Und auch am von der Gemeinschaft initiierten Theaterprojekt «100 Jahre Bahnhof Rodersdorf» haben sich einheimische Laien mit viel Engagement be-teiligt. Obwohl Sämi Eugster fünfunddreissig Aufführungen anfangs für zu viel hielt, gibt er heute gerne zu, dass sie die Spielzeit noch hätten verlängern können.

Fünfliberkino, Frauenznacht, Mobility-Standort und Bio-Produkte im Dorfladen – das gibt es in Rodersdorf. Sie hätten das Dorf aus dem kulturellen Dornröschen-schlaf erweckt? Davon wollen sie nicht re-den, die Holderwegler bleiben bescheiden. Nicht einmal allein aufs Foto wollen Theres und Sämi Eugster. Da müssten, wenn schon, alle drauf, sagen sie. Sagita Lehner

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Es ist ein seltsamer Auswuchs des modernen Stadtlebens, nicht zu wissen, wer in der Wohnung nebenan ein- und ausgeht. «Wir alle fanden diese Anonymität grässlich», erzählt Stephan Schmidlin, ein 62-jähriger Lehrer, der mit seiner Partnerin Theres als Mieter in einem alten Haus im Berner Länggass-Quartier wohnt. Mit vier weiteren Parteien haben sie sich vor einem Jahr zu einer lockeren Hausgemeinschaft zusammengeschlossen. Was zeichnet sie aus? «Die gute Stim-mung.» Das war nicht immer so im Haus – ein ewiger Streit unter den beiden Besitzerinnen vergiftete das Klima, bis eine der beiden das Haus alleine übernahm. Theres und Stephan hatten sich bereits vorher um mehr Gemeinschaft bemüht, waren aber entweder mit häufig wechselnden Bewohnern konfrontiert oder auf verschlossene Türen gestossen. «Eine gewisse Beständigkeit ist nötig, um sich miteinander einzu-richten.» Man muss sich nicht einmal besonders ähnlich sein. Im Haus wohnen fünf Parteien, vier Paare und eine Familie, unter ihnen viele Linke und Grüne, aber auch ein dezidierter Rechtswähler. «Da gibt’s immer wieder Diskussionen, aber das ist kein Grund, nicht miteinander Feste zu feiern oder einander zu helfen.»

In dieser Hausgemeinschaft haben die Bewohner ein Gleichgewicht zwischen Nähe und Anonymität gefunden.

Neben Festen im Garten und Apéros an Feiertagen organisie-ren sich die Bewohnerinnen auch im Alltag gemeinsam. Sie haben beispielsweise einen informellen Kinder-Hütedienst gegründet und beim Hauseingang eine Mediothek einge-richtet. Wer verreist, lässt seine Katzen und Pflanzen in der Obhut der Nachbarn. «Niemand hat sich bisher in seiner Privatsphäre gestört gefühlt – im Gegenteil, wir sind daran, uns noch weiter zu öffnen.» MH

Die Nachbarschaft beginnt im Haus

Generationenhaus in der SonnenstubeIm Oberwalliser Ernen entsteht ein Generationenhaus der besonderen Art. Dort sollen ältere Menschen einen würdigen Lebensabend verbringen, hilfsbedürftige Be-wohner einen Rahmen, Erholungssuchende finden einen Ferienplatz. Die im Jahre 2006 gegründete BerglandHof Ernen AG will mit ihrem Projekt eine aktive und haut-nahe Begegnung in einer artenreichen Natur und einer vielfältigen Landschaft im Einklang mit den Jahreszeiten ermöglichen. Erweitert wird das Angebot durch die Zu-sammenarbeit mit Bergland Produke, einem Demeter Hof, den Veranstaltungen des Kulturvereins Bergland und des Musikdorfes Ernen. Gefördert wird eine ge-meinsame Lebensform, assoziatives Wirtschaften, eine organische Architektur und gemeinsames Handeln nach dem Motto: Sinn stiften. Sinnvolles tun. Sinnerfüllt leben. Spatenstich ist im Herbst 2011. Weiter Infos unter www.berglandhof.ch

Anders denken, anders leben – und das Treffen dazuWohnen, Arbeiten, Leben – alles gilt es neu zu gestalten. Das dritte WAL-Meeting tagt wie letztes Jahr im Schloss Glarisegg. Unter dem Motto ‹anders denken, anders leben› gibt das Treffen Denkanstösse und vernetzt kritische Freidenker, Wahrheitssuchende und Energie-arbeiter, die sich vor einem autarken Leben nicht fürchten. Promi-nente Antriebskräfte am diesjährigen Treffen sind Pioniere wie Beat Rölli, der Permakultur-Vermittler oder Armin Risi, Sachbuchautor und Gründer des ‹Theistic-Networks›, der über das Mysterium des Friedens referieren wird. Besondere Einsichten in die Rechte der ‹freien› Menschen wird die Ting-Genossenschaft geben, die sich über Landesgrenzen hinweg einer gemeinschaftlichen Verwaltung ohne bürokratische Ketten widmet. Ein ganzer Tag für eine mögliche Zukunft in Selbstverwaltung mit Selbstverantwortung. MAG

WAL-Meeting, 2. Juli 2011, Schloss Glarisegg, Steckborn/TG. Infos und Anmeldungen unter: www.wal-meeting.blogspot.com

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Nachbarschaft

Nachbarschaftsmediation: Einigung ohne VerliererNachbarschaftstreit beschäftigt die Gerichte zunehmend. In Deutsch-land sind es etwa eine halbe Million Fälle jährlich. Das Problem ist: Wer vor dem Richter Recht bekommt, hat nur halb gewonnen, denn das Zusammenleben mit dem «Verlierer» des Prozesses bleibt schwierig. Besser ist es, sich zu einigen. Bei verfahrenen Streitereien kann es sinnvoll sein, die Hilfe eines Dritten in Anspruch zu nehmen. Nachbar-schaftsmediatoren versprechen professionelle Schlichtung für Mieter wie Eigentümer. «Wir leben in einem der am dichtesten besiedelten Ge-biete der Erde», begründet die «Fachgruppe Nachbarschaftmediation» des Schweizerischen Mediationsforums ihr Angebot. «Nachbarschaft bedeutet oft räumliche Nähe, was Probleme auslösen kann. Der Rauch aus dem Grill der Nachbar/innen ist unerträglich, die regelmässigen Parties stören die Nachtruhe, der Baum im Grundstück nebenan steht vor der Abendsonne…» Die Investition kann sich lohnen, denn mit manchen Nachbarn lebt man länger zusammen als mit den eigenen Kindern. Zur Verfügung stehen neun auf Nachbarschaftskonflikte spe-zialisierte Mediatorinnen und Mediatoren. RRwww.nachbarschaftsmediation.ch

«Wachsame Nachbarn»: Verbrechens-prävention oder Spitzelsystem?«Vorsicht! Wachsamer Nachbar». So ein Schild prangt in manchem Hauseingang. Aktionen wie diese entstehen aus der Zusammenarbeit von Nachbarschaftsinitiativen und Polizei, die einander regelmässig «Verdächtiges» melden. Im Saarland etwa soll die Zahl der Einbrüche deswegen merklich zurückgegangen sein. «Mit diesem Projekt soll potenziellen Kriminellen gezeigt werden: Wir Nachbarn achten auf uns. Wir schauen nicht weg, wenn wir etwas Ver-dächtiges bemerken», heisst es in einem Aufruf der Stadt Bensheim. «Durch dieses Verhalten soll erreicht werden, dass Kriminelle ihre verbrecherischen Absichten aufgrund des erhöhten Risikos, entdeckt zu werden, nicht weiter-verfolgen.» Erfreulich ist die Initiative als Gegengewicht zu Anonymität und Gleichgültigkeit. Kritiker befürchten allerdings eine Atmosphäre des Misstrauens und der Be-spitzelung. Auch hat sich gezeigt: In bürgerlichen Wohnge-genden, wo wenig passiert, gründen sich Nachbarschafts-initiativen besonders schnell – und verlaufen dann mangels «dramatischer» Erfolge im Sand. In sozialen Brennpunkt-gebieten mit hoher Kriminalitätsrate finden Initiativen wie «Wachsamer Nachbar» dagegen kaum Anklang. RR

ZeitpunktleserInnen als Nachbarncaro mettler aus Zürich schreibt: Vor zehn Jahren hat unser Hausbesitzer drei Familien gesucht, die mit uns im Haus zusammen leben könnten. Wir hatten uns alle zuvor noch nie gesehen. Mittler-weile leben wir als eine Einheit und die Kinder dürfen in alle Woh-nungen rein und raus laufen, wie sie wollen. Sie zanken selten und wenn, dann versöhnen sie sich gleich wieder. Nie haben wir einen Babysitter gebraucht und ans Wegziehen denkt auch niemand.

christine morgenthaler aus graubünden hat das Geheimre-zept: Wir sind sieben Parteien in einer genossenschaftlichen Wohn-siedlung ohne Gartenzäune und teilen uns Autos, Garten, Werk-zeuge, Kühlschrankinhalte, Feste, Arbeitstage, Zeit aber auch Freud und Leid. Seit 13 Jahren leben hier Menschen – zurzeit zwischen 15 und 74 Jahren– ohne ernstzunehmende Streitereien zusammen. Es tönt simpel, doch dies klappt wahrscheinlich, weil wir keine gemein-same Ideologie, politische Richtlinien oder Dogmen haben, aber alle irgendwie offen und mit viel Toleranz unterwegs sind.

monika blum aus windisch: Ich habe eine Wochenende-Bezie-hung und lebe daher unter der Woche als Single. Da sind gute Nach-barn ganz wichtig und ich habe solche: Bin ich mal weg, wird meine Katze von den türkischen Nachbarn gefüttert. Ich auch, denn liege ich krank im Bett, bringen sie mir Suppe! Im Gegenzug helfe ich ih-nen bei medizinischen Fragen oder beim Verstehen deutscher Texte. Ja, gute Nachbarschaft ist ganz wichtig für die Lebensqualität!

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Nachbarschaft

neustart-text

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Nachbarschaft

Hier ist Neustart. wo bIst du?Liebe Leserinnen und Leser

Ausgerechnet�das�Thema�mit�dem�grössten�Potenzial�hat�keine�politische�Lobby: die Nachbarschaft. Eine organische Nachbarschaft löst die Probleme des Verkehrs, des Energiever-brauchs, der Versorgung, der sozialen Sicherheit – oder reduziert sie zumindest auf menschliches Mass. Um diese enormen Möglichkeiten zu realisie-ren, müssten wir ganzheitlich an sie herangehen – was alle wollen, aber niemand richtig schafft. Wir betreiben Verkehrspolitik, Energiepolitik, Landwirt-schaftspolitik, Wirtschaftspolitik, Siedlungspolitik und Sozialpolitik und realisieren nicht wirklich, dass alles gemeinsam behandelt werden will.

Neustart�Schweiz�ist�hier�die�grosse,� löb-liche�Ausnahme. Ausgehend von lebenswerten Nachbarschaften wird das soziale und wirt-schaftliche Leben ohne Revolution auf eine lokale Basis gestellt, die allen Beteiligten grosse Vorteile bringt, ausser vielleicht den Autobahnbauern, den Betreibern von Atomkraftwerken und den Grossverteilern.

Machen�wir�uns�nichts�vor: Die Idee ist gut, aber der Weg lang. Die hundert Mitglieder, die Neustart Schweiz zur Zeit zählt, sind ein Tropfen auf den heissen Kopf. Damit sich das Konzept der lebendigen Nachbarschaften in den Umwelt-organisationen, den politischen Parteien, den Behörden und den Köpfen der sieben Millionen BewohnerInnen unseres schönen Landes durch-

setzen kann, braucht es schon noch ein paar wache Geister, erfahrene Lebenspraktikerinnen und viele Unterstützerinnen und Unterstützer. Mit anderen Worten: Mitglieder.

Damit�sind�wir�beim�Zweck�dieses�Textes�angelangt: Mach’ eine Ausnahme und trete mit «Neustart Schweiz» wieder einmal einem Verein bei. Der Mitgliederbeitrag ist frei, beträgt aber mindestens 20 Franken.Weil der Zeitpunkt mit dieser Organisation sehr verbunden (aber personell nicht verflochten) ist, machen wir Dir ein besonderes Angebot. Als Mit-glied mit einem Beitrag ab hundert Franken wirst Du auf der nebenstehenden Illustration verewigt. Wir möchten die Illustration mit möglichst vielen vergnügten Menschen bevölkern. Schicke uns ein Ganzkörperbild und Deine bevorzugte Beschäf-tigung (z.B. Boule spielen, basteln, abwaschen, herumsitzen… Vom definitiven Bild erhälst Du dann im Herbst einen Abzug in kleiner Poster-grösse. Keine Angst: nur Deine Allernächsten werden Dich erkennen (wenn überhaupt). Aber Du bist dabei, als PionierIn des Neustarts.

Kreuze auf der Zeitpunkt-Antwortkarte im Umschlag die Position «Neustart Mitgliedschaft» an und sende uns eine Foto mit bevorzugter Tä-tigkeit. Dann bauen wir gemeinsam Nachbar-schaften. Herzlich Christoph Pfluger, Herausgeber

Infos über Neustart Schweiz: www.neustartschweiz.chWo ist Neustart?Die Bildbände «Wo ist Walter?» sind Kult. Die Neu-start-Illustration knüpft daran an. Das definitive Bild wird mit grosszügigen Neustart-Mitgliedern bevölkert und soll ab Herbst die Schweiz zu lebendigen Nachbarschaften inspirieren. Details im neben-stehenden Text.

«Neustart Schweiz», das Buch, mit dem alles begannDie Zeit für Nachbesserungen an unserer Gesellschaft läuft ab. Es reicht nicht mehr, die Dinge zu optimieren, wir müssen anders an sie herangehen. P.M. setzt dort

an, wo das Zusammenleben mit anderen Menschen, die Gesell-schaft an sich beginnt. Anstatt sie auf Treppenhausgespräche und ein gelegentliches Quartierfest

zu beschränken, gibt er ihr eine wirtschaftliche Funktion und eine politische Rolle. Das Buch, das eine Bewegung auslöste. Hier bestellen

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Nachbarschaft

Samstag / Sonntag 4. & 5. JuniPermakulturtage 2011

p e r m a k u l t u r . c h

Verschiedene interessante Stationen führen durch die Erlebnisgärtnerei. E r f o r s c h e n S i e d a s T h e m a Permakultur völlig entspannt wie auf einem Spaziergang. Diverse Stationen

bieten Ihnen Vorträge, Workshops, Einblicke und Ausblicke in eine nachhaltige Zukunft. Wir verwöhnen Sie auch kulinarisch und machen unseren Anlass zum grossen Erlebnis.

Für detailliertere Infos besuchen Sie unsere Internetseite.

Gärtnerei Dietwyler / Haselweg 3 / 5235 Rüfenach AGNähere Infos unter Telefon 056 284 15 70

Mit dem Bus Nr. 374 ab Brugg mit Zielhaltestelle Hasel.

Garten & GourmetWas ist Permakultur?

Heilpflanzen und vieles mehr.....PK Gartengestaltung

Kochen mit der SonneNatürliches Geld

Auch eine Art Heimatfilm

Nach den ‹bewegten› Dok-Filmen «Berner Beben» und «Ruhe und Unord-nung», die den ‹Aufbruch der Alterna-tivkultur› in den 80er Jahren dokumen-tieren, zeigt uns Andreas Berger mit seinem dritten längeren Dokumentar-film nun «eine Art Nachbarschaft»: Was wurde aus der Zaffaraya, welche Bau-wagensiedlungen gibt es sonst noch in Bern und welche Strategie verfolgen Stadt und Polizei … ist anders wohnen überhaupt möglich?Zaffaraya 3.0, Andreas Berger, CH 2011, 110 Minuten

http://www.zaffaraya-film.ch

IN TRANSITION

ist der erste ausführliche Film über die Transition Bewegung, gefilmt von denen, die es am Besten wissen: Diejenigen, welche es im Alltag umsetzen.

Die Transition Bewegung dreht sich um Gemeinschaften rund um den Globus, welche auf Klimawandel und Peak Oil mit Kreativität, Vorstellungskraft und Humor reagieren und ihre lokalen Gemeinden und Ökonomien umbauen. Positiv, Lösungsorientiert, viral und mit viel Spass.

Erhältlich unter http://transitionculture.org/in-transition/ oder bei www.filmefuerdieerde.ch

Ohne Öl aber gemeinsam!

In den frühen neunziger Jahren verlor Kuba den Zugang zu sowjetischem Öl und musste plötzlich den Wechsel von einer Industriegesellschaft zu einer Niedrig-Ener-gie-Gesellschaft vollziehen. Kuba wechselte von gros-ser öl-intensiver zu kleinerer Landwirtschaft, weniger energieintensivem Bio-Anbau und städtischen Gärten und von einer hochindustriellen Gesellschaft zu einer nachhaltigeren. Der Film erzählt die Geschichten von Entbehrungen, Erfindungsreichtum und Triumph über unerwartete Not – mittels «Zusammenarbeit, Einsparung und Gemein-schaft», wie Kubaner es selbst ausdrücken.

The Power of Community, Faith Morgan, USA 2006

Erhältlich bei www.filmefuerdieerde.ch oder www.powerofcommunity.org

Ein Ort der politischen Debatte, aber auch des sanften Tourismus

Dort, wo die Schweiz schon fast Italien ist, in Maloja, Graubünden, gibt es seit vierzig Jahren das selbstverwaltete Ferienzentrum ‹Stiftung Sale-cina›. 1971 von Amalie und Theo Pinkus initiiert als Ferien-, Schulungs-, und Begegnungsort mit politischer Ausstrahlung wurde Salecina seitdem von vielen besucht – als Tagungsort, für Projektwochen oder einfach um in malerischer Umgebung auszuspannen. Rahel Holenstein und Reto Padrutt haben nun einen facettenreichen Dokumentarfilm vorgelegt, der drei Salecina-Generationen überspannt – ein interessanter Einblick in 40 Jahre Salecina.

Salecina, Rahel Holenstein/Reto Padrutt, CH 2011, 53 Minuten, bestellbar unter [email protected]

Der Klassikerzum Thema ‹Nachbarschaft und Film› ist wohl der 1993 gedrehte ko-lumbianische Film ‹La estrategia del caracol› – die Strategie der Schne-cke. ‹Klassisch› ist auch der Plot: ein Mietshaus mit vielen, recht unter-schiedlichen Parteien soll ‹top-sa-niert› werden. Natürlich stören die Bewohner, die, nach anfänglichen Differenzen, das Problem (der Gen-trifizierung?) ganz auf ‹ihre› Weise lösen. Ein unterhaltsamer, liebevoll gedrehter Film, der Mut macht, und auch Lust: auf Nachbarschaft.

La estrategia del caracol Sergio Cabrera Columbia 1993

107 Minuten

Auf DVD erhältlich zB. bei Trigon-Film(www.trigon-film.ch)

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Nachbarschaft

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Nachbarschaften brauchen subtile Grenzen

Bei allen planerischen und architekto-nischen Themen müssen wir auf das beste Architekturbuch der Welt hinweisen. Es trägt den unmöglichen Titel «Eine Muster-Sprache», stammt von Christopher Alexan-der und fünf weiteren ArchitektInnen und behandelt jeden Aspekt des Bauens, von der Verteilung von Städten über die ideale Höhe von Häusern, Zimmer für Teenager bis zum Bänklein vor dem Haus. Und natür-lich hat es auf seinen 1266 Seiten auch ein paar Kapitelchen über die Nachbarschaft. Sie sollten 500 (bis allerhöchstens 1500) Be-wohner umfassen, gemeinsame Entschei-dungen ermöglichen und dürfen nicht durch zu viel Verkehr gestört werden. Je mehr Verkehr, desto weniger Zusammenleben; ab 200 Fahrzeugen pro Stunde sinkt die Qualität der Nachbarschaft nachweislich. Nachbarschaften sollten nicht mehr als 300 Meter im Durchmesser umfassen, brauchen

ein sichtbares Zentrum (z.B. eine Grünflä-che) und eine Grenze, die den «Zugang auf subtile Weise beschränkt». Das ermöglicht der Nachbarschaft die Entwicklung einer eigenen Identität. Alexander und seine KollegInnen haben für das erstmals 1977 erschienene Buch tausende von Studien und Erfahrungen aus der gesamten Archi-tekturgeschichte ausgewertet. Förderlich für Nachbarschaften sind demzufolge im Wei-teren eine Gemeinschaft von Arbeitsstätten, ein Café und ein Laden, kleine Parkplätze, ruhige Hinterseiten und – man lese und staune: «ein öffentliches Zimmer im Frei-en», ein geschützter Ort des zwanglosen Austauschs.

Das Buch erfordert bei all seinen Quali-täten auch eine Art Trauerarbeit. Wer sieht, wie einfach wirklicher Lebensraum zu ge-stalten wäre und das erreichbare Ideal mit der gebauten Wirklichkeit vergleicht, muss

einfach innere Tränen vergiessen. Aber viel-leicht ist dies der notwendige erste Schritt, um die Kraft zur Nachbarschaft zu entwi-ckeln.

Die «Muster-Sprache» war längere Zeit ver-griffen. Wenn man beim Löcker-Verlag in Wien nach der Lieferbarkeit anfragt, muss sich der freundliche Mensch am Draht gleich eine Zigarette anzünden, so gross waren die Hindernisse auf dem Weg zu einer Neuauf-lage. Im August soll es aber wieder lieferbar sein. Weil der Verlag keine Auslieferung in der Schweiz hat, halten wir für Interessen-ten ab diesem Zeitpunkt einige Exemplare vorrätig. CPChristopher Alexander (et al.): Eine Muster-Sprache – Städte, Gebäude, Konstruktion. Löcker-Verlag, 1995. 1272 S., Geb., Fr. 140.– / Euro 108.–.

Nachbarschaft auf Wanderschaft – eine Ausstellung zeigt, wie wir besser leben können

Das Potenzial von lebenswerten Nachbar-schaften ausloten und sichtbar machen – dies hat sich ein gut dotiertes Team aus Studierenden der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW und jungen In-genieurinnen und Ingenieuren aus allen Kontinenten vorgenommen. Unter dem Titel «Nachhaltiger Alltagsentwurf für (städ-tische) Umgebungen» entsteht ein Beitrag für die World Engineering Conference (WEC11) vom 4.- 9. September in Genf.

Als Wanderausstellung konzipiert, werden in sechs Containern die Nach-barschaften der Zukunft in greifbare Reichweite gebracht. Gezeigt werden Konzepte und Technologien, die den Alltag lebenswert und perspektivenreich machen – konsequent ohne einen Tropfen Erdöl, allein auf der Basis nachwachsender und rezyklierter Ressourcen regionalen Ursprungs. Die «Denkgegenstände» wer-

den mit internen und externen Partnern an der «Community for Sustainability» der FHNW entwickelt und zu Ausstellungs-themen gebündelt. Sie geben innovative und realistische Antworten auf Fragen der Energiegewinnung, des Lernens, des Arbeitens und des Kommunizierens, des Bauens, der Ernährung, der Mobilität, der Produktion des Lebensnotwendigen, der Gesundheit, des geselligen Umgangs und der Erholung.

Naheliegenderweise stehen die Nach-barschaften im Zentrum, denn sie sind die einzige, wirklich zukunftstaugliche und realistische Form der geforderten Ernäh-rungs- und Produktionssouveränität, wo auch immer auf der Welt.

Nach Genf geht die Ausstellung der FHNW auf Schweizreise und verbindet sich vor Ort, Nachbarschaft für Nachbarschaft, entlang einem Weg der Nachhaltigkeit mit

den lokal bereits realisierten Nachhaltig-keitsprojekten. In den Herkunftsländern der Mitglieder der internationalen Projekt-gemeinschaft werden ähnliche Tourneen zur Präsentation der lokalen Nachbar-schaftskonzepte ausgelöst.

Nachbarschaftsengagierte sind herzlich zur Mitwirkung in der FHNW Community for Sustainability eingeladen. Kontakt ist Prof. Martin Klöti, Hochschule für Technik der FHNW, [email protected], Tel. 056 462 43 62.

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entscheiden & arbeiten

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Geldschöpfung:

dIe wahrheIt Ist offIZIellGeld wird als Kredit aus dem Nichts geschöpft und gegen Zins verliehen – ein zweifelhaftes Bombengeschäft. Seit Jahren wiederholen wir diese einfache Tatsache und stossen damit auf Unglauben und Kopfschütteln. Wer tief genug gräbt, stösst aber auch in offiziellen Quellen auf die nackte Wahrheit. In einem Schulbuch erklärt sogar die Deutsche Bundesbank, wie die Geldschöpfung wirklich funktioniert. Auszüge aus «Geld und Geldpoli-tik» der Deutschen Bundesbank:

Auszug aus dem Schulbuch «Geld und Geldpolitik» der Deutschen Bundesbank

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geld entsteht durch «Geldschöpfung». Sowohl staatliche Zentralbanken als auch private Geschäftsbanken können Geld schaffen. Im Eurosystem entsteht Geld vor allem durch die Vergabe von

Krediten, ferner dadurch, dass Zentralbanken oder Geschäftsbanken Vermögenswerte ankaufen, bei-spielsweise Gold, fremde Währungen, Immobilien oder Wertpapiere. Wenn die Zentralbank einer Ge-schäftsbank einen Kredit gewährt und den Betrag auf dem Konto der Bank bei der Zentralbank gutschreibt, entsteht «Zentralbankgeld». Die Geschäftsbanken be-nötigen es zur Erfüllung ihrer Mindestreservepflicht, zur Befriedigung der Bargeldnachfrage und für den Zahlungsverkehr.

geldschöpfung der geschäftsbankenDie Geschäftsbanken können auch selbst Geld schaf-fen, das sogenannte Giralgeld. Der Geldschöpfungs-prozess durch die Geschäftsbanken lässt sich durch die damit verbundenen Buchungen erklären: Wenn eine Geschäftsbank einem Kunden einen Kredit ge-währt, dann bucht sie in ihrer Bilanz auf der Aktivsei-te eine Kreditforderung gegenüber dem Kunden ein – beispielsweise 100 000 Euro. Gleichzeitig schreibt die Bank dem Kunden auf dessen Girokonto, das auf der Passivseite der Bankbilanz geführt wird, 100 000 Euro gut. Diese Gutschrift erhöht die Einlagen des Kunden auf seinem Girokonto – es entsteht Giralgeld, das die Geldmenge erhöht.

Das so geschaffene Giralgeld kann der Bankkun-de nutzen, um den Kauf von Waren und Dienstlei-stungen zu bezahlen. Auf den ersten Blick könnte man meinen, der Kreditkunde sei durch die Geld-schöpfung reicher geworden. Doch dem ist nicht so. Denn seinem durch die Kreditaufnahme entstan-denen Guthaben steht eine gleich hohe Verbindlich-keit gegenüber, nämlich die Pflicht, den Kredit wieder zu tilgen. Zudem muss er für den Kredit fortlaufend Zinsen zahlen.

(Anmerkung der Red.: Leider schreibt die Bundes-bank nicht, dass das zur Zinszahlung erforderliche Geld mit dem Kredit nicht geschaffen wird, sondern erst mit neuen Schuldnern, die Kredite aufnehmen. Dies ist der systemische Grund für Wachstumszwang.)

Im Zwang zur Zinszahlung liegt ein starker Anreiz, Kredit nur aufzunehmen, wenn die damit verbun-denen Mittel auch tatsächlich benötigt werden. Für ein Unternehmen bedeutet dies, dass es mit dem Kre-dit produktiv umgehen muss, damit es einen Ertrag erzielt, aus dem zumindest der Zinsaufwand gedeckt werden kann. Kreditvergabe und damit verbundene Geldschöpfung führen so zu Investitionen, erhöhter Produktion und volkswirtschaftlicher Wertschöpfung. Allerdings ist diese Wertschöpfung nicht auf den Akt

der Geldschöpfung selbst zurückzuführen, sondern vielmehr – angeregt durch den Zins – durch den produktiven, wertschöpfenden Einsatz des Kredits.

Wie bei dem Kreditnehmer erhöhen Kreditvergabe und Giralgeldschöpfung auch bei der Geschäftsbank die Aktiva und Passiva in genau gleichem Ausmass. Auch bei ihr kommt es durch den Akt der Giral-geldschöpfung für sich genommen nicht zu einem Gewinn. Die Bank verdient aber an den Provisionen der Kreditvergabe sowie den laufenden Zinserträgen. Dieser Aussicht auf Gewinn steht allerdings das Ri-siko gegenüber, dass ein Kunde seinen Kredit nicht zurückzahlt. Dann erleidet die Bank einen Verlust. Dieses Risiko gibt der Bank einen Anreiz, bei Kre-ditvergabe und Giralgeldschöpfung Vorsicht walten zu lassen. Einmal geschaffen, zirkuliert das Geld in der Wirtschaft. Entweder fliesst es von Konto zu Konto, wenn beispielsweise per Überweisung gezahlt wird. Oder es wird in bar vom Konto abgehoben und geht dann in Form von Banknoten und Münzen von Hand zu Hand. Wird der Kredit getilgt und nicht durch einen neuen ersetzt, dann wird das durch ihn geschaffene Geld dem Kreislauf wieder entzogen. Im Fachjargon wird dies als «Geldvernichtung» be-zeichnet.

grenZen der geldschöpfungDie obige Beschreibung könnte den Eindruck ent-stehen lassen, dass die Geschäftsbanken in der Lage sind, unendlich viel Giralgeld zu schöpfen. Wäre dem tatsächlich so, könnte dies inflationär wirken. Die Zentralbank nimmt daher Einfluss auf das Ausmass von Kreditvergabe und Geldschöpfung. So verpflich-tet sie die Geschäftsbanken zur Haltung der Mindest-reserve. Um das Prinzip zu erläutern, wird hier das einfache Beispiel aus dem vorhergehenden Abschnitt weitergeführt (in Wirklichkeit sind die Vorgänge et-was komplizierter): Hat die Geschäftsbank durch die Kreditvergabe ihre Kundeneinlagen um 100 000

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Euro erhöht, so muss sie auf ihrem Konto bei der Zentralbank auch ihr Mindestreserve-Guthaben erhö-hen. Da der Mindestreservesatz im Eurosystem derzeit zwei Prozent beträgt, benötigt sie in diesem Beispiel 2 000 Euro an zusätzlichem Zentralbankgeld.

Zentralbankgeld können sich die Geschäftsbanken typischerweise nur dadurch beschaffen, dass die Zen-tralbank ihnen Kredit gewährt. Für diese Kredite müssen die Geschäftsbanken der Zentralbank einen Zins zahlen. Erhöht die Zentralbank diesen Zins, den «Leitzins», werden die Geschäftsbanken meist auch ihrerseits die Zinssätze anheben, zu denen sie selbst Kredite vergeben. Es kommt zu einem allge-meinen Anstieg des Zinsniveaus. Das aber dämpft in der Tendenz die Nachfrage von Unternehmen und Haushalten nach Krediten. Durch Anhebung oder Senkung des Leitzinses kann die Zentralbank somit Einfluss auf die Nachfrage der Wirtschaft nach Kre-diten nehmen – und damit auch auf Kreditvergabe und Giralgeldschöpfung.

(Anmerkung der Red.: Die Hebelwirkung der Leit-zinsen der Zentralbanken ist minimal, da er nur zwei Prozent der neu geschöpften Geldmenge betrifft.)

Die Geschäftsbanken benötigen Zentralbank-geld nicht nur für die Mindestreserve, sondern auch um den Bargeldbedarf ihrer Kunden abzude-cken. Jeder Bankkunde kann sich sein Guthaben auf dem Bankkonto in Bargeld auszahlen lassen. Sollten die Bestände der Banken an Bargeld knapp werden, kann nur die Zentralbank Abhilfe schaffen. Denn nur sie ist befugt, zusätzliche Banknoten in Umlauf zu bringen. Um den Bargeldbedarf ihrer Kundschaft zu decken, muss die Geschäftsbank somit gegebenen-falls bei der Zentralbank einen Kredit aufnehmen. Es kommt zur Schöpfung von Zentralbankgeld. Das so beschaffte Guthaben an Zentralbankgeld kann sich die Geschäftsbank in Bargeld auszahlen lassen. So

kommt das Bargeld in Umlauf: Von der Zentralbank zu den Geschäftsbanken und von diesen zu den Bankkunden.

Zentralbankgeld wird zudem zur Abwicklung des unbaren Zahlungsverkehrs benötigt: Überweist ein Kunde aus seinem Guthaben Geld an einen Kunden bei einer anderen Bank, führt dies in vielen Fällen dazu, dass die überweisende Bank Zentralbankgeld an die empfangende Bank übertragen muss. Das Zentralbankgeld wandert dann von einer Bank zur anderen.

Auch durch den Akt der Schöpfung von Zentral-bankgeld wird niemand reicher: Die Aktiva und Passiva in den Bilanzen der Geschäftsbanken sowie der Zentralbank nehmen jeweils im Gleichschritt zu. Die Zentralbank erhält anschliessend Zinsen, die die Geschäftsbanken für die Kredite zahlen müssen. Der Zinsertrag geht in den Gewinn der Zentralbank ein. Dieser Gewinn wird an den Staatshaushalt ausge-schüttet und kommt damit letztlich der Allgemeinheit zugute.

In normalen Zeiten versorgt das Eurosystem das Bankensystem über die wöchentlichen Refinanzie-rungsgeschäfte gerade mit so viel Zentralbankgeld, wie die Geschäftsbanken zur Abdeckung von Min-destreserve und Bargeldbedarf insgesamt benötigen. Es kommt dann allenfalls kurzfristig und in kleinerem Umfang dazu, dass im Bankensystem überschüssige Liquidität vorhanden ist. Benötigt eine Geschäfts-bank kurzfristig Zentralbankgeld – beispielsweise weil ein Kunde einen grossen Betrag an eine dritte Bank überwiesen hat –, tritt sie als Nachfrager an den sogenannten Geldmarkt. Normalerweise findet sie dann eine andere Bank, die gerade über einen Über-schuss an Zentralbankgeld («Liquidität») verfügt und bereit ist, ihr den benötigten Betrag zu leihen. Sollte es im Bankensystem insgesamt kurzfristig zu einem

In der Schweiz sollen die privaten Banken kein Geld mehr schöpfen können. Dies fordert der Entwurf einer Volksinitiative, deren Trägerschaft sich zur Zeit bildet. Es könnte die wichtigste Volksinitiative seit Jahrzehnten werden. Das Ziel des vorgeschlagenen neuen Verfassungsartikels ist eine Geldordnung, in der allein die Nationalbank gesetzliches Zahlungs-mittel in Umlauf bringt. Bis jetzt wird der grösste Teil der Geldmenge durch die Kreditvergabe der privaten Banken geschöpft – mit erheblichen Nachteilen für die wirtschaftliche Stabilität. In Zukunft müssen sich die Banken die gesamten Mittel, die sie verleihen wollen, bei der Nationalbank beschaffen. Heute benötigen

sie dazu eine Mindestreserve von ein paar wenigen Prozent. Grundlage der Initiative ist das so genannten «Vollgeld», das in den USA der 30er Jahre als «100-percent-money» heftig diskutiert, aber nicht eingeführt wurde. Die Idee zur Initiative ging von einigen Mit-gliedern der INWO (Initiative für eine natürliche Wirt-schaftsordnung aus. Am Verfassungsentwurf beteiligt sind u.a. die Professoren Philippe Mastronardi, Peter Ulrich, Hans-Christoph Binswanger und Joseph Huber.

Die Initiativgruppe stellt den Entwurf am 13. Mai an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissen-schaften in Winterthur vor und will damit eine breite Diskussion zum Thema anstossen, die schliesslich zur

Lancierung der Volksinitiative führen soll. Gleichzeitig findet die Gründung des Trägervereins «Monetäre Modernisierung» statt, dessen Mitgliedschaft wir allen Zeitpunkt-Lesern sehr empfehlen. Trotz allgegenwär-tigen Reformbedarfs und teilweise auch -willens sind Vorstösse für echte Veränderungen mit Chancen auf Verwirklichung selten. Dies ist einer. CP

Öffentliche Veranstaltung zur Schweizer Vollgeldreform. Freitag, 13. Mai Zürcher Hochschule für Angewandte Wissen-schaften, Technikumstr. 9, 8400 Winterthur, Hörsaal TL 202. 13.15 bis 18.00 Uhr. Mit Referaten von Prof. W. Kallenberger, Prof. Hans-Christoph Binswanger, Prof. Joseph Huber, Prof. Philippe Mastronardi. Info und Anmeldung www.monetative.ch

Vollgeldreform – die wichtigste Volksinitiative seit langem in den Startlöchern

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Quelle: Geld und Geldpolitik – Schülerbuch für die Sekun-darstufe II. 2009, deutsche Bundesbank. «Geld und Geldpolitik» ist zwar als Schulbuch gedacht, eignet sich gemäss Bundesbank aber auch als «Nachschlagewerk für Studenten und jeden Interessierten».Link: www.bundesbank.de/bildung/bildung_schuelerbuch_gg.php

Überschuss oder einer Knappheit an Zentralbankgeld kommen, stehen dem Eurosystem zur Bereinigung dieser Marktlage zusätzliche Instrumente zur Verfü-gung, beispielsweise Refinanzierungsgeschäfte mit eintägiger Laufzeit.Nach dem Ausbruch der Finanzkrise im Sommer 2007 war der Geldmarkt zeitweise schwer gestört. Der ansonsten übliche Liquiditätsausgleich zwischen den Geschäftsbanken über den Geldmarkt fand nicht mehr statt. Denn wegen des allgemeinen Misstrauens scheuten sich viele Geschäftsbanken, überschüssige Liquidität an andere Banken auszuleihen. Andere Banken waren deshalb nicht in der Lage, ihren Be-darf an Zentralbankgeld abzudecken. Um der so bedingten «Liquiditätsnot» zu begegnen, stellte das Eurosystem dem Bankensystem über zusätzliche Re-finanzierungsgeschäfte in grossem Stil Zentralbank-geld zur Verfügung.

Der Bestand an Zentralbankgeld im Bankensystem überstieg dadurch den Bedarf, der sich aus Mindestre-serve und Bargeldumlauf ergab. Dieser überschüssige Betrag, die sogenannte Überschussliquidität, wird von der Zentralbank nicht verzinst. Doch haben die Geschäftsbanken die Möglichkeit, überschüssiges Zentralbankgeld über Nacht auf einem besonderen Konto bei der Zentralbank anzulegen. Auf Guthaben in dieser «Einlagefazilität» zahlt die Zentralbank einen Zins – der allerdings vergleichsweise niedrig ist.

Die Geschäftsbanken können den Überschuss an Zentralbankgeld auch dazu nutzen, zusätzliche Kre-dite an Unternehmen und Haushalte zu vergeben.

Wie bereits geschildert, ergibt sich aus der Vergabe zusätzlicher Kredite ein zusätzlicher Bedarf an Zen-tralbankgeld – der in dieser besonderen Situation grosser Unsicherheit unter den Banken durch die bereits bestehende Überschussliquidität abgedeckt werden kann. Die überreichliche Liquiditätsversor-gung entlastet eine Bank, die einen Kredit vergeben will, von der ansonsten üblichen Erwägung, wie viel Zentralbankgeld sie nach der Vergabe von Krediten benötigen wird, wie es zu beschaffen ist und zu wel-chen Kosten. Mithilfe des sogenannten Geldschöp-fungsmultiplikators lässt sich abschätzen, wie gross das Potenzial für die zusätzliche Kreditvergabe ist.

Ein Beispiel verdeutlicht dies: Angenommen die gesamtwirtschaftliche Überschussreserve betrage 100 Milliarden Euro. Angenommen sei zweitens, dass die Geschäftsbanken bei der Zentralbank eine Min-destreserve in Zentralbankgeld halten müssen, die zwei Prozent der Einlagen ihrer Kunden entspricht. Angenommen sei drittens, dass Kunden von neuge-schaffenem Giralgeld im Durchschnitt 20 Prozent als Bargeld abheben.

Mithilfe des Geldschöpfungsmultiplikators lässt sich berechnen, dass das Bankensystem insgesamt rund 463 Milliarden Euro an zusätzlichen Krediten vergeben könnte. Denn nach den Annahmen wür-den davon rund 92,6 Milliarden Euro als Bargeld abgehoben. Auf die erhöhten Guthaben von 370,4 Milliarden Euro müssten die Geschäftsbanken zu-sätzlich 7,4 Milliarden Euro an Mindestreserve bei der Zentralbank unterhalten.

Dieses Buch ist ein Hammer. Da erklärt ein Banker der Europäischen Investitionsbank in Form eines Romans, wie unser Geld wirklich funktioniert und dringt dabei in die okkulten Sphären der Herren dieses Systems vor. Der Titel des Buches ist Programm: «Divina Insidia – le piège divin», die göttliche Falle.

Wer sich fragt, was die wirklich Vermögenden antreibt, die ihre Macht über Jahrhunderte aufgebaut haben und so kolossal reich sind, dass sie in keiner Liste mehr Platz finden, der findet in diesem Roman des Belgiers Pascal Roussel eine verstörende Antwort. Hauptperson ist die Journalistin Anne Standfort, die in den «planète financière» eindringt, die Geldschöpfung aus dem Nichts und die verheerende, exponentielle Wirkung des Zinses erkennt, die letztlich alle Macht zu den grössten Vermögen verschiebt.

Standfort macht im Verlaufe ihrer Recherchen Bekanntschaft mit dem Mitglied einer superreichen Familie und bekommt Erstaunliches zu hören: «Sobald wir die sichtbare Welt beherrschen, werden wir eine

Stufe höher steigen und die unsichtbare Welt domi-nieren.»

Roussel erklärt in einem Interview, noch vor zehn Jahren sei er überzeugt gewesen, dass okkulte Praktiken in den Reihen der Superreichen die Ausnah-me seien. Heute ist er aufgrund historischer Studien, der Auswertung seltener Quellen, Begegnungen und Gesprächen mit Superreichen überzeugt: Okkultismus ist Standard. Es herrscht auf dieser Ebene eine ganz besondere Vorstellung vom Kampf zwischen Gut und Böse, der sich u.a. in Programmen zur drastischen Reduktion der Weltbevölkerung äussert. Allzu tief dringt Roussel allerdings nicht ein in diese Welt, weil sie, wie er sagt, «zu unwahrscheinlich» klinge. Zudem habe er alle unsicheren und spekulativen Elemente eliminiert. Immerhin: Adam Weishaupt, der Gründer der Illuminati kommt vor, die Bilderberger, die Trilate-rale Kommission und einige andere.

Roussel erwartet eine weitere Verschärfung der Finanzkrise. Wer sich machtlos fühle, brauche aber

nicht sofort die Revolution auszurufen. Sich Fragen zu stellen, einschlägige Bücher zu lesen und mit Bekannten darüber zu sprechen verändere schon das kollektive Bewusstsein.

Wer die Funktion unseres Geldsystems kennt, weiss: Wir sitzen in der Falle. Unser Geld ist Kredit, der nie zurückbezahlt wird, letztlich also quasi wertlos ist. Aber: Die Erkenntnis dieser Wahrheit zerstört gleichzeitig unser Geld und alle Rechtsbeziehungen, die darauf aufbauen, also so ziemlich alles, was die vom Menschen geschaffene Welt ausmacht. Ohne Bewusstseinssprung werden wir diesen Schritt nicht schaffen. Christoph Pfluger

Pascal Roussel: Divina Insidia – le Piège Divin. Editions Romaines, 2011. 18.– Euro; ISBN 978-2-9535735-2-7Mehr zum Buch: http://librairieromaine.biz/?p=261Pascal Roussels Website: www.pascalroussel.net/

Geld und Geist, eine okkulte Tragödie

Die Wahrheit ist offiziell

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«damIt der mensch neIn sagen kann»600 Menschen legten Mitte März an einem Kongress in Zürich zum Thema «Grundeinkommen» die Basis für eine Volksinitiative. Die Veranstalter von der Stiftung «Kulturimpuls Schweiz» hatten den Mut zu einer kontroversen Veranstaltung und dürften mit einer landesweiten Diskussion belohnt wer-den. Am Grundeinkommen wird die Politik nicht mehr vorbeikommen.

«man spürt einen wahnsin-nigen Lebenshunger in die-sem Saal», konstatierte die Schriftstellerin Judith Gio-vanelli-Blocher. In der Tat:

600 bestens gelaunte Menschen aus allen Schichten, die dem bedingungslosen Grundeinkommen, einem Bürgergeld für alle Menschen in der Schweiz auf die Sprünge helfen wollen – so etwas hat das Kongress-haus Zürich wohl noch nie gesehen. Dass der perfekt organisierte Kongress seit Wochen ausgebucht war, ist wohl dem Umstand zuzuschreiben, dass die Teilnahme dank der Stiftung Kulturimpuls Schweiz kostenlos war. Da sieht man, was ein bisschen Geld möglich macht.

Die Idee eines Grundeinkommens ist mindestens 150 Jahre alt und erlebte seither immer wieder klei-ne Renaissancen. Die gegenwärtige, die vom deut-schen Milliardär Götz Werner, Besitzer der Droge-riemarkt-Kette, vor rund zehn Jahren angestossen wurde, dürfte allerdings die intensivste sein. Das liegt einerseits an der finanziellen Potenz des grossen Förderers, andrerseits an der intelligenten Vernet-zung der anthroposophisch orientierten Trägeror-ganisationen und vor allem an den ökonomischen Verhältnissen. Die kontinuierliche Umverteilung von den Arbeitenden zu den Besitzenden und der Arbeit von den Menschen zu den Maschinen stürzt immer mehr Menschen ins Prekariat. Das bedingungslose Grundeinkommen will jedem Menschen ein beschei-denes Leben ermöglichen. Es wird nicht ausgerichtet, um nicht arbeiten zu müssen, sondern damit man arbeiten kann, was man sinnvoll findet.

Götz Werner, der charismatische Sponsor der Idee des Grundeinkommens, hat grosse Erwar-tungen an die Schweiz. Zum einen schreibt er ihr als

eine Art «Mini-EU» eine zentrale Bedeutung in Europa zu. Zum anderen hält er viel von ihren direkt-de-mokratischen Einrichtungen, die über eine Initiative auch eine Volksabstimmung zum Grundeinkommen ermöglichen. Dass eine solche stattfindet, ist denn auch sein grosser Traum. Der frühere Vizekanzler Oswald Sigg sieht die Einführung des Grundeinkom-mens als «Mondlandung» und die Volksinitiative als «Rakete» dazu. Es dürften aber mehrere Volksabstim-mungen nötig werden.

Das Grundeinkommen soll gemäss Werner die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen schaffen, damit der Einzelne «den Menschheitstraum ‹Freiheit› verwirklichen und sich in die Gesellschaft einbringen kann». Dass bei einem Grundeinkommen niemand mehr arbeiten würde, hält er für das Produkt eines irrigen zweifachen Menschenbildes, das wir in uns tragen: eines humanistischen von uns selber und das eines determinierten Reiz-Reaktionswesens von anderen. Konkret: Während wir selber mit einem Grundeinkommen sinnvoller und tendenziell mehr arbeiten würden, nehmen wir von anderen an, sie legten sich auf die faule Haut.

In einem Satz, resümierte Werner den Sinn des bedingungslosen Grundeinkommens, «sollen immer mehr Bürger Nein sagen können». Eine starke Vision mit enormer heilsamer Wirkung, wenn man bedenkt, wie viele Menschen aus materiellen Gründen in einer Tretmühle stecken, keine echten Werte schaffen, son-dern bloss das Bruttosozialprodukt steigern.

Spannend, aber leider nicht wirklich schlüssig wurde der Kongress mit der Frage der Finanzierung des Grundeinkommens. Anton Gunzinger, Informa-tikprofessor und Gründer und Leiter der Supercom-puting Systems AG, zeigte, wie

Der charismatische Götz Werner umschiffte spielend alle kritischen Fragen zum Grundeinkommen. Nicht zuletzt dank ihm wird in der Schweiz eine Volksinitiative lanciert.

von Christoph Pfluger

weiter im Text auf Seite 44

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Zeitpunkt 113 43

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Actares: den Kapitalismus von innen verändernDie Die Dosis ist homöopathisch, aber die Wirkung stark. Actares, die Vereinigung der «AktionärInnen für nachhaltiges Wirtschaf-ten» vertritt zwar nur ein paar Promille des Kapitals, aber sie erreicht viel in der Welt der Konzerne. Dort, wo aus juristischen Gründen nicht der Mensch entscheidet, sondern das Geld, können Menschen durch-aus etwas erreichen, wenn sie gemeinsam vorgehen. Die protokollierbaren Erfolge an den Generalversammlungen sind zwar rar, aber die Wirkung ist da. Als Actares 2005 die Doppelmandate bei Nestle statutarisch verbieten lassen wollte, setzte sich der Ver-waltungsrat zwar mit 51 Prozent der Kapi-talstimmen durch. Aber kurz darauf erklärte Nestle-Chef Brabeck, er würde nach zwei Jahren auf das Doppelmandat verzichten und trat gleichzeitig aus dem wichtigen Ver-gütungsauschuss zurück.

Ein anderes Beispiel: 2002 veröffentlich-ten nur gerade sechs Schweizer Unterneh-

men einen Nachhaltigskeitsbericht. Heute gehört er bald zum guten Ton.

Das heisst allerdings nicht, das Ziel einer nachhaltigen Wirtschaft sei erreicht, keines-wegs. Um beim Klimaschutz oder den Boni etwas zu erreichen – den beiden Haupt-zielen von Actares für das laufende Jahr –, müsste vermutlich die Dosis etwas erhöht werden. Konkret bedeutet dies mehr Mit-glieder. Je besser die Geschäftsstelle dotiert ist, desto mehr können sich die kritischen Aktionäre zu einer Kraft entwickeln, mit der immer zu rechnen ist, nicht nur in beson-ders heiklen Fragen.

«Mit unserer Stimmkraft machen wir nie-mandem Angst», sagt Actares-Geschäfts-führer Roby Tschopp. «Aber wir werden gehört.»

Wer denkt, Aktionärsdemokratie betreffe nur Kapitalisten, liegt leider falsch. Über die AHV und unsere Guthaben bei den Pensi-onskassen sind wir alle Aktionäre. Ganz

abgesehen davon, dass wir, ob Kunde oder nicht, von der Politik der Konzerne betrof-fen sind.

Die vor elf Jahren gegründete Actares be-treibt keine Systemkritik, sondern arbeitet auf der Grundlage der nachhaltigen Werterhal-tung. Die Bosse täten denn auch gut daran, besser auf die kritischen Stimmen unter den eigenen Anteilseignern zu hören. In Deutsch-land, wo alternative Aktionärsvereinigungen schon eine 25-jährige Tradition haben, waren es die «Kritischen Aktionäre Daimler» die als einzige rechtzeitig vor der desaströsen Fusion mit Daimler gewarnt hatten. Fazit: Kritik kann auch ganz gut fürs Geschäft sein. Wenn sie nur gehört wird. CP

Kontakt: ACTARES, AktionärInnen für nachhaltiges Wirtschaf-ten, Postfach, 3000 Bern 23. Tel. 031 371 92 14. www.actares.ch

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44 Zeitpunkt 113

durch eine faire Abgeltung der Nutzung von Ge-meingütern wie Ruhe oder Luft bereits ein guter Teil des Grundeinkommens finanziert werden könnte. Oder konkreter: Lärm verursacht ungedeckte Kosten von 2 630 Franken pro Person und Jahr, die Luftver-schmutzung von 3 200 Franken. Insgesamt stehen für das Grundeinkommen nach den Berechnungen von Anton Gunzinger durch die faire Abgeltung von Gemeingütern 6 000 bis 12 000 pro Person zur Verfü-gung. Damit diese Gelder fliessen können, müssen sie allerdings beim Verursacher erhoben werden.

Dann versuchten Daniel Häni, der Pionier des Grundeinkommens in der Schweiz und Christian Mül-ler, einer der Organisatoren des Kongresses, zum Kern der Finanzierung vorzudringen. Daniel Häni machte zunächst deutlich, dass bereits heute praktisch jedem Menschen ein Einkommen gezahlt wird, entweder als Lohn oder als Rente für geleistete Arbeit oder als Sozialhilfe oder als Arbeitslosenunterstützung im Be-darfsfall. Nach Christian Müllers Berechnungen liegt bei einem Grundeinkommen von 2 500 Franken pro Erwachsenen und 1 000 Franken pro Kind der Ge-samtbedarf bei 200 Mrd. Franken oder einem Drittel des Bruttoinlandprodukts. 170 Milliarden würden be-reits auf verschlungenen Wegen über das Sozialsystem ausbezahlt und für die verbleibenden 30 Milliarden sollte sich eine Finanzierung finden.

Die Kapitaleinkommen, dies zum Vergleich, be-trugen 2008 267 Milliarden Franken. Sie sollen aber nach Ansicht der Initianten des Grundeinkommens nicht angetastet werden.

Den Stimmungshöhepunkt erreichte der Kon-gress zweifellos mit dem Streitgespräch zwischen Klaus W. Wellershoff, dem ehemaligen UBS-Cheföko-nomen als Befürworter und Weltwoche-Chefredaktor Roger Köppel als Gegner des Grundeinkommens.

Köppel bezeichnete das Grundeinkommen als «Soft-Sozialismus», das den notwendigen Druck auf den Menschen, produktiv zu sein, aushebeln würde. Für Wellershoff mochte auf diese «fundamental negative Sicht» nicht eingehen, sondern empfahl seinem Kon-trahenten unter Applaus, doch seinen Bruder, einen Psychoanalytiker, aufzusuchen. Viel mehr als einen scharf geführten verbalen Schlagabtausch brachte das Gespräch allerdings nicht. Dazu war Köppel, der sich nur auf sein liberales Gewissen berief und die Lähmung der Eigenverantwortung heraufbeschwor, schlicht zu schlecht vorbereitet. Dabei gibt es nicht zuletzt auch aus anthroposophischen Kreisen ernst-zunehmende Kritik.

Einiges davon kam im Publikumsgespräch am Ende des Kongresses zum Ausdruck. Ein Teilnehmer wies darauf hin, dass die Begriffe Bank, Zins und Kapitalis-mus während des ganzes Tages (mit Ausnahme eines literarischen Intermezzos von Peter Schneider) nie fie-len. Und ein anderer meinte, ohne Infragestellung des Zinssystems könne das Grundeinkommen gar nicht ausreichend finanziert werden. Dazu entgegnete der Moderator Enno Schmidt, Co-Autor eines Films zum Thema, das Grundeinkommen würde viele Probleme mit dem Zinsgeld lösen; Reiche und Arme sollten gemeinsam nach Wegen suchen und nicht «mit den läppischen Kampfgeschichten weiterfahren». Es ist zu hoffen, dass er Recht behält, und sich eine gerechte Welt ohne Kampf realisieren lässt.

Wenn das Ziel der Tagung darin bestand, Fragen zu stellen, wie Götz Werner eingangs feststellte, dann ist es mit Sicherheit erreicht worden. Die Frage des be-dingungslosen Grundeinkommens wird uns auch an der Urne gestellt werden. In einem Jahr soll die Unter-schriftensammlung zu einer Volksinitiative beginnen.

Links: www.grundeinkommen.tv • www.grundeinkommen.chhttp://grundeinkommen-news.blogspot.com/

Die Diskussion um das Grundeinkommen hat einen grossen Mangel: Sie befasst sich nicht mit den Ursa-chen der Missstände, die sie beheben will. Immer mehr Menschen werden arbeitslos oder schlechter bezahlt, weil unter dem Zinsgeld eine kontinuierliche Umvertei-lung von den Arbeitenden zu den Besitzenden statt-findet, die mit dem vielen Geld, das ihnen zuströmt, Arbeitsplätze wegrationalisieren. In jedem Preis, den wir bezahlen, verstecken sich im Durchschnitt Kapital-kosten von rund 40 Prozent – eine versteckte Steuer, die unser Kreditgeldsystem den Besitzenden zuführt, zu Lasten der Arbeitenden. Das ist nicht nur eine grosse Ungerechtigkeit, sondern auch nicht nachhaltig. Unsere Wirtschaft strebt auf einen Punkt zu, an dem ein alles

Besitzender die grossmächtige Maschine kontrolliert, die alle Güter dieser Welt herstellt. Der Mensch wird zu einem fremdbestimmten Wesen.

Natürlich wird die Entwicklung dieser apokalyp-tischen Big-Brother-Welt vor Erreichen dieses imagi-nären Punktes durch eine Revolution gestoppt werden. Aber wir alle spüren den ungeheuren Zugriff des Kapitals auf unser Leben schon heute.

Die Linderung, die das bedingungslose Grundein-kommen in dieser Situation verspricht, ist denn auch dringend nötig. Alle Menschen sollen von den Seg-nungen der Automation profitieren, die sie mit Arbeits-losigkeit ja mitfinanzieren. Aber das Grundeinkommen ist kein Ersatz für ein gerechtes Wirtschaftssystem.

Wenn wir unter einem zinsfreien Geld mit einem Drittel der Arbeitszeit einen vergleichbaren Lebensstandard halten können – was durchaus realistisch ist –, dann stellen sich viele Probleme, die das Grundeinkommen löst, erst gar nicht. Zudem herrschen dann Verhält-nisse, in denen sich ein echtes Grundeinkommen leicht finanzieren lässt.

Die Promotoren des Grundeinkommens müssen die zinsbedingten Ursachen der Missstände thematisieren, die sie beheben wollen. Tun sie dies nicht, könnte man ihnen mit guten Gründen vorwerfen, das Grundein-kommen diene der Beruhigung der Massen und der Erhaltung der bestehenden Verhältnisse. Christoph Pfluger

Das Grundeinkommen darf kein Ersatz für Gerechtigkeit sein

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Wir sind die PioniereGeorges BucherBereichsleiter IT

«Die Nachhaltigkeit unserer Anlagen, die guten Anstellungs -bedingungen, die Transparenz unseren versicherten Betriebengegenüber und natürlich die Mitbestimmung.»

Darin sind wir Pioniere – seit 25 Jahren. www.nest-info.ch

die ökologisch- ethische Pensionskasse

Demokratische Bank – Österreich will konkret werdenStatt über Raffgier und Machtwahn bestehender Banken zu klagen, muss die Zivilgesellschaft selber etwas Besseres schaffen. Attac Österreich will jetzt eine «Demokratische Bank» gründen – nicht gewinnorientiert, sozial verantwortungs-bewusst, ohne Zins.

«Heute ist Geld ein Mittel der Macht über andere, das trennt und schafft In-stabilität. Morgen sollte Geld ein Mittel der gemeinsamen Gestaltungsmacht im Zeichen der Menschlichkeit, der gegenseitigen Hilfe und Solidarität werden», so Christian Felber, Buchautor mit Spezialgebiet Finanzalternativen. Nur eine schöne Illusion? Derzeit werden Anteilseigner genossenschaftlicher Basis gesucht, die ein Startkapital von fünf bis zehn Millionen Euro zusammen tragen. Zunächst soll es nur eine Bank unter vielen sein. Die Vision ist aber: Durch Volksabstimmung soll daraus die öffentliche Bank des Gemeinwesens werden. Das Modell könnte auch in anderen Ländern Schule machen.

Sowohl im Umgang mit Mitarbeitern als auch bei der Auswahl der finanzierten Projekte wird auf soziale und ökologische Standards geachtet. Jeder Wohnbürger erhält ein kostenloses Girokonto. Die Spareinlagen sind unbeschränkt garantiert. Revolutionär ist auch das Prinzip, dass Zinsen weder verlangt noch gewährt werden – von der Deckung der tatsächlichen Kosten der Bank und einem Inflationsausgleich abgesehen. RRWebseite der Initiative: www.demokratische-bank.at

Finanzblase auch bei MikrokreditenDas Versprechen bei den Mikrokrediten heisst «Wohlstand», das Gebot «Wachstum». Ihr Erfinder, Muhammad Yunus, verkündete in den 1980ern das baldige Ende der Armut und erhielt für die Idee der Mikrokredite 2006 den Friedensnobelpreis.

Die weltweite Mikro-Finanzindustrie hat derzeit ein Volumen von 60 Milliarden Dollar; manche Mikrokreditfonds versprechen Renditen von zwölf Prozent. «Aberwitzig!», sagt Gerhard Klas im Interview mit «Surprise». Das erfordert Wucherzinsen von 20 Pro-zent und mehr. Für sein Buch «Die Mikrofinanz-Industrie – die grosse Illusion oder das Geschäft mit der Armut» hat der deutsche Journalist in Indien und Bangladesch recherchiert.

Er stellt der Branche ein miserables Zeugnis aus. Nicht Wohlstand hätten die Mikrokredite vielen Frauen gebracht, sondern Über-schuldung. «Das Finanzkapital ist immer auf der Suche nach neuen Anlagemöglichkeiten. Ohne permanentes Wachstum funktionieren Mikrokredite genau so schlecht wie jeder andere Bereich der kapi-talistischen Wirtschaft.» Schulden können häufig nur mit weiteren Schulden zurückbezahlt werden; in Bangladesch sind 70 Prozent der 30 Millionen Schuldnerinnen von mehr als einem Finanzinstitut abhängig. Die Realwirtschaft hinkt zwanghaft hinter der Finanzwelt her. «Die Blase wird irgendwann platzen.» Surprise/MH

Gerhard Klas: Die Mikrofinanz-Industrie – die grosse Illusion oder das Geschäft mit der Armut. Verlag Assoziation A, 240 S., Fr. 24.50/Euro 16,00. Erscheint im Mai 2011.

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Die Schweiz müsste eigentlich das El-dorado für Demokraten sein. Warum aber gibt es so viele Politikverdrossene in dem Land, das als das demokratischste der Welt gilt? Die Hälfte der Stimmberechtigten geht gar nicht erst abstimmen. Die Mühlen der direkten Demokratie drehen vielen zu lang-sam: Endlose Debatten im Parlament und Abstimmungskämpfe mit populistischen Pa-rolen, die auf Medienwirksamkeit abzielen und nicht auf Lösungen ausgerichtet sind, blockieren den Wandel. Dem Volk werden Vorlagen über Detailfragen unterbreitet, de-ren Ausgang meist durch die Empfehlungen des Bundesrates vorbestimmt ist. Initiativen, wie die Abzockerinitiative von Thomas Min-der, die «ans Eingemachte» gehen, werden endlos verschleppt und in ihrer politischen Aussage verdünnt. Damit soll nun end-lich Schluss sein. Änderung verspricht der Berner Grünenpolitiker Lukas Harder mit seinem Projekt «Heute Selbstbestimmung».

Die für Volksinitiativen nötigen Unter-schriften sollen mit wenig Geld und in kur-zer Zeit gesammelt werden können. Der dafür gegründete «Verein zur Förderung von Bürgerinitiativen» schafft ein Netzwerk, des-sen Mitglieder sich online über neue Initiati-ven informieren und sofort ihre Unterschrift abgeben können. Mit einem Mausklick sol-len künftig auch Nachbarn und Freunde zum Unterzeichen eingeladen werden kön-nen. «Die Volksinitiative muss wieder in die Hände der Bürger gelangen. Es darf nicht sein, dass das stärkste demokratische In-strument meist nur noch von finanzstarken Verbänden und Parteien ergriffen werden kann», erklärt Lukas Harder sein Projekt. Er sammelt bereits heute mit einem Team von rund hundert Leuten Unterschriften für diverse Volksbegehren. Wer also die verkru-steten Strukturen der direkten Demokratie neu beleben will, sollte sich der Bewegung anschliessen. MAG www.heute-selbstbestimmung.ch

Neue Partei mit einer Politik «aus der Intelligenz des Herzens»Die Schweiz müsste eigentlich das Eldorado für Demokraten sein. Warum aber gibt es und gleichzeitig als Bewegung gegründet. Die IP orientiert sich an einem Menschenbild mit vier Ebenen, der physisch-materiellen, der emotionalen, der mentalen (Vernunft) und der seelisch-spirituellen Ebene, mit gleichwertigen, aber unterschiedlichen Be-dürfnissen. Sie strebt eine Überwindung des Materialismus an, Chancengleichheit und Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit sowie Regeln, die eine Selbstregulierung des Marktes ermöglichen. Als Massnahmen schlägt sie u.a. vor:• die gleichmässigere Verteilung der Ar-

beits- und Kapitaleinkommen • die Neugestaltung des Sozialsystems • die Verteilung grosser Vermögen nach

dem Ableben wohlhabender Personen

• die Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen

• die Reduktion wirtschaftlicher Machtkon-zentration.

Eine Politik mit umfassendem Anspruch wird es in der politischen Arena nicht leicht haben. Die Grenzen, bzw. Hindernisse dieses Ansatzes zeigen sich zum Beispiel im Abschnitt «Friedensförderung und Sicher-heitspolitik» des Grundlagenpapiers der IP: «Jeder Mensch muss seine persönlichen Ver-letzungen durchleuchten, verarbeiten und versöhnen, also integrieren und transfor-mieren, um ein zufriedenes und kraftvolles Wesen zu sein.» So etwas lässt sich natürlich mit unseren politischen Institutionen nicht umsetzen.

Die IP macht aber auch konkrete Vor-schläge für eine zukunftsfähige Schweiz:

Konsum statt Arbeit besteuern, ein Jahr Zi-vildienst für alle, Förderung von Unterneh-men mit Gemeinwohlbilanzen, Quartierräte zur Sicherung der generationenübergreifen-den Selbsthilfe, freie Schulwahl und vieles mehr. Man darf gespannt sein, wie sich die Politik «aus der Intelligenz des Herzens» ent-wickelt. CP

Zum Parteigründungsfest vom 7. Mai im Bürenpark in Bern sind auch Interessenten eingeladen, wobei an der Generalversammlung nur Mitglieder mitbestimmen können. Am Morgen gibt es einen Erfahrungsaustausch über politische Aktionen und ein Plenum zur nach wie vor diskutierten Frage Partei oder Bewegung? Nach der GV findet dann am Nachmittag ab 15.15 die eigentliche Gründungsfeier statt. Weitere Informationen und Anmeldung: www.integrale-politik.ch

Gestern: Abstimmung – heute: Selbstbestimmung

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Am Ende der Welt: selber denken!Die Welt, die wir seit dem Zweiten Weltkrieg kannten, war die des Kapitalis-mus’, eines scheinbar unverbrüchlichen Glaubenssystems, dem sich die gesamte westliche Gesellschaft unterordnete. Der Glaube ans ewige Wachstum ist seither gebrochen, eine Neuorientierung unumgänglich. Harald Welzer, Sozialpsychologe und Kulturwissenschaftler, und Claus Leggewie, Politikwissenschaftler, haben unter dem Titel «Das Ende der Welt, wie wir sie kannten» ein Buch geschrieben mit einfachen Fragen und Beispielen, wie die Lügen des Welttheaters aufgedeckt werden können.

Wachstum sei unabdingbar für eine gesunde und prosperierende Gesellschaft. Das war das Credo und der Fetisch der Wirtschaftselite und – zugegeben – die meisten von uns haben daran geglaubt. Wie falsch diese Annahme war, zeigen die heute kranken Finanzinstitute und Volkswirtschaften und die protestierenden Massen auf den Strassen. Innerhalb eines Jahres versagten zwei High-Tech-Systeme – mit unabsehbaren Folgen: Die Bohrinsel im Golf von Mexiko und das AKW in Fukushima. Nach einer ehrlichen Ursachen-Wirkungsanalyse müssten wir unsere Lebensweise radikal in Frage stellen. Doch die meisten Menschen wollen (noch) nicht hinschauen und die an sich logischen Schlüsse ziehen, geben Welzer und Leggewie zu bedenken.

Ob stetes Wachstum bei endlichen Ressourcen möglich sei, ob AKWs sicher sein können, das sind die einfachen Fragen, die gestellt werden müssen, und die ebenso einfachen Antworten darauf lauten immer wieder «Nein».

Zehn Empfehlungen für einen Wertewandel weg vom Wachstum, hin zu mehr Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit (nach Harald Welzer):1. Selber denken (nicht fremddenken lassen) – zu viel wird einfach nachge-

plappert.2. Trauen Sie Ihrem Gefühl und nicht der Illusion, die Ihnen zur Erhaltung der

bestehenden Ordnung vorgespielt wird.3. Stellen Sie Kinderfragen wie: Warum werden Schulden grösser, obwohl

gespart wird?4. Suchen Sie zusammen mit Freunden und Gleichgesinnten nach Antworten.5. Wo immer Sie zu beunruhigenden Antworten kommen, versuchen Sie aus

dem jeweiligen System auszusteigen.6. Hören Sie auf, Europapolitikern und Wirtschaftsforschungsinstituten zu

glauben. Und glauben Sie erst recht nicht, es gäbe keine Alternativen. Die gibt es immer, besonders in einer Demokratie.

7. Jetzt müssen Sie nicht mehr jeden Blödsinn tolerieren. Nutzen Sie Hand-lungsspielräume und geniessen Sie den Luxus, der Ihnen auf der Sonnensei-te der Welt geschenkt wurde.

8. Mögliche Ideen dafür: Arbeiten Sie weniger, verweigern Sie sich dem Wachstumszwang, kaufen Sie lokal und fair ein, fragen Sie, woher der Fisch kommt, ändern Sie die Pausenthemen, produzieren Sie nach dem Cradle-to-cradle-Prinzip und wenn Sie sich für intellektuell halten, riskieren Sie was!

9. Zukunftsfähig zu sein ist das Gegenteil von «Business as usual». Machen Sie endlich bei Dingen und Gruppen mit, auf die Sie stolz sein können.

10.Warten Sie nicht auf Veränderung von «oben» und vergessen Sie das Weltgemeinschafts-Gerede und Lösungen könnten nur global sein. Freuen Sie sich darüber, selbst die Zukunft in die Hand zu nehmen und beginnen Sie mit Ihrem Leben, Ihren Liebsten und Ihrem Land verantwortungsvoll und nachhaltig umzugehen – das genügt völlig.

Claus Leggewie und Harald Welzer: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Fischer Verlag, 2011, 288 S., gebunden, Fr. 30.50, Euro 19.95

Grosse Banken, grosse RisikenJe grösser eine Bank, desto mehr Risiken geht sie ein. Zu die-

sem Schluss kommt eine internationale Studie des britischen

National Institute of Economic and Social Research (NIESR).

Sie hat die Grösse von 700 Banken in 14 Industriestaaten mit

den jeweiligen Abschreibungen und Zahlungsausfällen ver-

glichen. Grosse und schnell wachsende Banken verzeichnen

proportional höhere Ausfälle auf ihren Krediten als kleine

Banken. Bevor sie die Daten überprüften, gingen die Verfasser

der Studie davon aus, dass Grossbanken von einer breiten

Risikostreuung profitierten und somit sicherer wären. Für

das gegenteilige Ergebnis haben sie nun zwei Erklärungen:

Entweder stellt die implizite Staatsgarantie den Grossbanken

einen Freipass zum Risiko aus, oder Grösse und Komplexität

erschweren es ihnen, die eigenen Geschäfte zu kontrollie-

ren. MHRay Barrel et al.: Is there a Link from Bank Size and Risk Taking? www.niesr.ac.uk/pdf/dp367.pdf

MenschenStrom: Das wird die grösste Atom-Demo seit langemDer «MenschenStrom gegen Atom» wächst. Drei Aktivisten (darunter zwei Zeitpunkt-Leser) hatten im Januar 2010 die Idee einer grossen Demowanderung gegen Atomkraftwerke. Im Mai 2010 folgten rund 5 000 ihrem Aufruf und sorgten für eine eindrückliche Willenskund-gebung.

Der «MenschenStrom» wird natürlich auch dieses Jahr wieder durch-geführt. Schon vor Fukushima sind 90 Organisationen der Trägerschaft beigetreten, darunter neben den grossen Umweltorganisationen auch die SP Schweiz, Bündnis 90 / Die Grünen aus Baden Württemberg sowie «Sortir du nucléaire France, die Dachorganisation von 875 atomkritischen Organisationen aus Frankreich. Es dürfte ein ziemlich grosses politisches Fest für die Erneuerbaren und gegen die Atomkraft werden. Die Zeit der grossen friedlichen Atom-Demos ist wieder da, und diesmal werden sie ihr Ziel erreichen.

Zog sich die Wanderung letztes Jahr von Aarau am AKW Gösgen vorbei nach Olten, wird heuer im Kernland der Kernenergie, in der Region von Beznau und Leibstadt demonstriert. Die Route liegt noch nicht definitiv fest, einige Bewilligungen sind noch hängig. Reservieren Sie sich auf alle Fälle den 22. Mai für ein politisches Familienfest der Sonderklasse mit einer Botschaft, die endlich erhört werden muss: Aussteigen aus der Atomenergie, einsteigen in die Erneuerbaren! CPAktuelle Informationen: www.menschenstrom.ch

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der ehemalIge ZukünftIge könIgSoll die Thronbesteigung von Prinz Charles verhindert werden? William und Kate heiraten, und bald werden die Bilder eines putzigen Babys die Adelsgazetten schmücken. Der ewige Thronfolger wird dadurch erst recht alt aussehen. Freilich, der Prinz hat die «beliebteste Frau der Welt» ehelich betrogen. Der wahre Grund für seine medial gepushte Unbeliebtheit ist aber ein anderer: Charles wäre ein unbequemer König, der dem Establis-ment die Leviten liest.

der Mythos, Charles könne bei der Thron-folge übersprungen und William zum direkten Nachfolger der Queen erkoren werden, wurzelt in den Andeutungen eines Racheengels. Diana hatte in ihrem

berühmten Panorama-Interview (1995) die Eignung ihres Exmannes für den Thron angezweifelt. «Der Top-Job, wie ich es nenne, würde ihm enorme Beschrän-kungen auferlegen. Ich weiss nicht, ob er in der Lage wäre, damit zurecht zu kommen.» Nach Dianas gewalt-samem Tod 1997, den viele indirekt Charles anlasteten, wurden die Stimmen, er dürfe nie König werden, laut. Erst recht wollte man keine Königin Camilla sehen. Denn die spröde wirkende Ehebrecherin eignete sich bestens für die Rolle der «Hexe» im Märchen um eine schöne, traurige Prinzessin.

Der Hass auf Charles ist seither verflogen, die Briten haben sich an das «unattraktive» Thronfolgerpaar ge-

wöhnt. Noch immer spre-chen sich bei Umfragen aber über 60 Prozent für William als nächsten Kö-nig aus. Plötzlich kommen Kritiker sogar auf die Idee, die Monarchie in Frage zu stellen. So warf der Krebs-forscher Michael Baum dem Prinzen in einem Brief vor: «Ihre Macht und

Autorität basieren auf dem Zufall Ihrer Geburt.» Grund für diesen Aufstand: Charles hatte öffentlich eine alter-native Krebstherapie empfohlen, die bei Schulmedizi-nern als unseriös gilt. Es ist natürlich richtig, dass das

Königshaus keine demokratische Institution ist. Dage-gen schien aber nichts einzuwenden, solange Royals nur Füchse jagten, uniformiert in Afghanistan herum-liefen oder als wandelnde Kleiderständer die Hoch-glanzmagazine zierten. Erst Charles brachte bestimmte Kritiker gegen sich auf, weil er an den Denkgrundlagen unserer zerstörerischen Zivilisation rüttelt.

Der Noch-Thronfolger lässt keine Gelegenheit aus, vor Genfood, Nanotechnologie und Regen-waldvernichtung zu warnen. Er legte sich mit der anglikanischen Kirche an, indem er ankündigte, als König «Verteidiger aller Konfessionen» zu sein, statt tra-ditionsgemäss «Verteidiger des Glaubens». Der britische «Guardian» berichtet, Charles habe in den letzen Jahren an acht Ministerien geschrieben, um für seine Ansichten zu werben. Zu Themen wie Ökolandwirtschaft, Kli-mawandel und moderne Architektur. In seinem neuen Buch «Harmonie» schrieb er: «Die Banken und Finanz-institute mögen zwar glauben, dass ihre Geschäfte kaum Auswirkungen auf die Umwelt haben (…), dabei sind sie es, die einen Grossteil der Zerstörung dieser lebensnotwendigen Wälder durch ihre Darlehen und Investitionen finanzieren.»

Mit seinen Angriffen gegen Schulmedizin, Kir-che, industrielle Landwirtschaft, Banken und Kirche berührt der Prinz Pfründe und massive Ge-schäftsinteressen. Der Publizist Max Hastings, Unter-stützer der Conservative Party, schrieb einen kräftigen Verriss von Charles Buch: «Wer das Buch liest, wird kaum dran zweifeln, dass die Hauptgefahr für unsere royalen Institution in den kommenden Jahrzehnten in

von Roland Rottenfußer

Die Anti-Charles-Stimmung wird vor allem angeheizt durch einen zynischen, neoliberalen Journalismus, dem die Werte des Prinzen zutiefst fremd sind: Spiritualität, Nachhaltigkeit, Naturnähe und ein menschliches Mass in der Städteplanung.

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Charles’ wohlmeinendem, wirrem, schwammigem Kopf steckt.» Nach der Lektüre des Buches muss ich jedoch sagen: Charles hat mit fast allem Recht. Es scheint, als ob Queen Elisabeth angesichts der drohenden Amts-übernahme durch diesen weit blickenden Mann we-der sterben noch abtreten dürfe. Aus Sorge um die herrschende Kultur des technokratischen Materialismus will sie so lange durchhalten, bis William zu einem gestandenen Familienvater herangereift ist. Angesichts eines vom Warten verhärmten Opa Charles würde sich die Thronbesteigung des blühenden Paares erst recht aufdrängen.

Charles’ Unbeliebtheit ist das Ergebnis einer Kam-pagne wie die gegen Oscar Lafontaine oder Andrea Ypsilanti in Deutschland. Wie überall in Europa ist auch in England die Boulevard-Presse tief im neoliberalen Establishment verwurzelt. Auch wenn das Image des Prinzen durch private Ereignisse der 90er-Jahre Schaden genommen hat: Die Anti-Charles-Stimmung wird vor allem angeheizt durch einen zynischen Journalismus, dem die Werte des Prinzen zutiefst fremd sind: Spiritu-

alität, Nachhaltigkeit, Naturnähe und ein menschliches Mass in der Städteplanung. BILD charakterisierte ihn so: «Er ist schlimmer denn je – meckert über alles, wettert gegen das moderne Leben, und niemand kann es ihm recht machen.»

Warum so viel publizistisches Gift? Der smarte Prinz William ist einfach ein besserer «Mitspieler». Es braucht ja eine bestimmte Mentalität, um sich in einer ständig Krieg führenden Nation länger als nötig seiner militä-rischen Karriere zu widmen. Charles und Diana haben trotz charakterlicher Macken, jeder auf seine Weise, versucht zu heilen und zu helfen. William dagegen lässt keine Gelegenheit aus zu verkünden, wie stolz er ist, Teil dieser Armee zu sein. Die Diskussion um die Thronfolge, die nach der Heirat von Charles und Camilla abgeflaut ist, dürfte jetzt wieder aufflammen. Leicht ist es nicht, einen rechtmässigen Thronfolger auszuhebeln. Vielleicht geht aber Max Hastings Wunsch in Erfüllung, den er in einem anonymen Zitat versteckt: «Die beste Hoffnung für das Königtum ist, dass Prinz Charles vor der Queen stirbt.»

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Der ehemalige zukünftige König

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Anti-Atom,�Anti-WTO,�Anti-Faschismus;�die�Liste�von�Demos,�die�sich�gegen�etwas�richten�ist�lang...�aber�haben�sie�schon�mal�von�einer�Anti-Öko-Demo�gehört?�Genau�zu�einer�solchen�rief�Mitte�März�im�südfranzösischen�Montpellier�das�Kollektiv�Pol-lueurs�Sans�Frontière�anlässlich�der�semaine�de�l’environnement�auf.�Rund�100�Personen,�darunter�Grossaktionäre,�Petrolmagnaten�und�Monsanto-Saatgutzüchter,�verteidigten�ihr�Recht�auf�Um-welt-Verschmutzung�und�ihren�Glauben�an�das�

heilige�Wirtschaftswachstum.�Parolen�wie�écologie�partout�–�croissance�nulle�part�oder�polluer�plus,�pour�ganger�plus�versetzte�so�manche/n�PassantIn�ins�Staunen,�Grübeln�und�Innehalten.�«Genau�da,�wo�die�PassantInnen�nicht�wissen,�was�genau�vor�sich�geht,�öffnet�sich�die�Frage�über�das�Thema»,�ist�Anne�Benetos,�Aktivistin�des�Kollektivs,�überzeugt.�Denn:�Das�Ziel�der�Aktion�war�es,�auf�ironische�Weise�ökologische�Meinungen�und�Feindbilder�zu�karikieren�und�sie�theatralisch�in�Szene�zu�setzen.�So�wurden�in�Reden�für�genetische�Produkte�gewor-ben,�beim�Büro�der�Partei�europe�écologie�die�feh-lende�Freiheit�angeprangert,�die�Umwelt�verschmut-zen�zu�dürfen�und�am�Ende�der�Demo�ein�Panda�unter�frenetischem�Applaus�gehängt.�

Die�Aktionsform�einer�falschen�Demonstrati-on�wie�die�Anti-Öko-Demo�tauchte�in�Frankreich�erstmals�nach�der�Jahrtausendwende�auf.�Vorwie-gend�Künstler�und�Komödianten�inszenierten�so�genannte�manifs�de�droite.�Später�organisierten�diverse�Greenpeace-Gruppen�mehrere�manifs�anti-écolo.�Im�deutschsprachigen�Raum�findet�sich�bei�Google�nichts�Vergleichbares�zu�diesem�Thema.

� Pascal Mülchi

Für Fleischkonsum und gegen Umweltschutz: Anti-Öko-Demo

Ausschaffung: Das Echo auf Hohlers Gegenvorschlag«Die Eidgenossenschaft gibt ihrer Freude darüber Ausdruck, dass die Auslände-rinnen und Ausländer mit ihrer Tätigkeit das Leben in unserm Lande ermöglichen und heisst sie als Teilnehmer dieses Lebens willkommen.»

Das ist ein Ausschnitt aus Franz Hohlers Gegenvorschlag zur Ausschaffungsiniti-ative. Wäre da nicht von «Freude» die Rede, könnte man ihn glatt für geschriebenes Gesetz halten. «Realistisch ist der Artikel in dieser Form natürlich nicht», sagt Franz Hohler, «dennoch ist er ernst gemeint. Ein poetischer Gegenvorschlag.»

Das juristische Gedicht wurde in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt, nicht zuletzt dank Leuten, die Geld und Unterschriften für die Publikation sammelten. «Meine Mailbox füllte sich so schnell, dass mir der Provider den Speicherplatz erweiterte; die Rückmeldungen rührten an mein Herz.» Er habe fast keine bösen Reaktionen erhalten. Wenn doch, dann bezichtigten sie ihn, die Ausländerkriminali-tät zu ignorieren. «Ich streite das Problem gar nicht ab, aber der Fokus der Debatte ist zu eng. Die Plakate vor der Abstimmung habe ich als Umweltverschmutzung empfunden; unsere Wände wurden zugepflastert mit ‹bösen Ausländern›… Wir dürfen Ausländer nicht als Feinde betrachten. Unser Land würde zusammenbre-chen ohne sie.» Eine «Dankbarkeitsinitiative» wird Franz Hohler trotzdem nicht starten, das verraten bereits die «Übergangsbestimmungen» seiner Gesetzesän-derung: «Der Gegenvorschlag tritt für jedermann vom Moment an in Kraft, wenn er dessen Richtigkeit erkannt hat.» MH

Zum Gegenvorschlag: www.franzhohler.ch/files/gegenvorschlag.html

Strickgraffiti – die neue MascheGraffiti ist (manchmal) schön. Aber sie ist schwer wieder zu ent-fernen und wird deshalb von vielen als Sachbeschädigung emp-funden. Das liegt Ute Jonetat fern. «Ich will nur etwas Farbe in die Stadtteile bringen», sagt sie und verziert mit Vorliebe Verkehrs-schilder. Begonnen hatte alles, als die 61-jährige einen gros-sen Baum sah, dessen Stamm mit Strickwerk umwickelt war: «Baumwolle». Mittlerweile hat die Dame im Ruhrgebiet einen Strickclub gegründet. Nächstes Projekt: 100 Meter einer Auto-bahn-Leitplanke sollen verziert werden. Strickgraffiti, eine Be-wegung, die wieder aus den USA zu uns herüber schwapp-te, ist meist unpolitisch. Aber nicht immer. Was wollten uns z.B. Aktivisten sagen, die einen ganzen Panzer mit rosa Wolle umstrickten? RRQuelle: www.derwesten.deBild: www.handmade.blog.de

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von Christopf Pfluger

Programm13. Mai Palace | 20.00 Uhr

Podiumsdiskussion Wer bisch? Woher chunsch? Identität in der globalen Gesellschaft

14. Mai14. Mai GBS Schulhaus Kirchgasse 15

10.00 - 12.00 Workshops 12.00 - 13.45 Kultur am Mittag 13.45 - 15.45 Workshops 16.00 - 17.30 Kundgebung 18.30 - 22.00 Strassenfest

Die Workshops sind anmeldepflichtig. Anmeldung und weitere Informationen auf www.sufo.chAnmeldung und weitere Informationen auf www.sufo.ch

Menschenstr M gegen At M

Boldern-Forenmit Mittagessen

Sonntag, 15. Mai, 10.00 – ca. 13.30 UhrKlimawandel – Vom Umgang

mit dem UnabwendbarenDr. Gina Schibler (Pfarrerin, Erlenbach)

liest aus ihrem Roman «Mene-Tekel» und Referat «Realität und Kunst: Kann

Literatur aufrütteln?», Dr. Bettina Spoerri (Literaturwissenschaftlerin, Zürich)

Sonntag, 10. Juli, 10.00 – ca. 13.30 UhrWelchen Wohlstand brauchen wir?

«Gut leben in einer Post- wachstumsgesellschaft»

Vortrag und Diskussion mit der Referentin PD Dr. Irmi Seidl, Eidg. Forschungsanstalt für

Wald, Schnee und Landschaft, Birmensdorf

Auskunft / AnmeldungBoldern • Evang. Tagungs- und Studienzentrum

Boldernstr. 83, 8708 MännedorfTel. 044 921 71 71 • [email protected]

www.boldern.ch

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hIer gIbt’swas Zu essen

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vollwertig leben

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Meret Bissegger geniesst, was andere bekämpfen: Unkraut. Wie man das Richtige sammelt, wäscht, schneidet und kocht, verrät sie in ihrem neuen Buch «Meine wilde Pflan-zenküche». Wer die Natur kennt, hat immer genug zu essen.

pfaffenkopf, Saurüssel, Augenmilch, Ei-erkraut, Teufelsblume. Die Volksnamen klingen gegensätzlich wie Himmel und Hölle, obwohl alle ein und dieselbe Pflanze benennen: den Löwenzahn. «Ich

merke mir immer die lateinischen Namen, um Ver-wechslungen vorzubeugen», erklärt Meret Bissegger, die als Köchin, Kursleiterin und Kräuterfrau jedes Jahr vier bis fünf neue Pflanzen ins Repertoire aufnimmt. «Taraxacum officinalis» heisst der Löwenzahn. «Lange ist es her, seit die Menschen in der Schweiz die Wild-pflanzen kannten. In Italien ist es anders, da gehört es zur Kultur, dass Leute, oft auch Männer, suchend durch die Felder streifen.»

schätZe Im nIemandslandWir haben fast immer fast alles. Aber was wir brau-chen, um mit Wildpflanzen zu kochen, fehlt uns ständig: Zeit und Geduld. Der Lohn dafür ist Ge-nuss. Auf Meret Bisseggers Speiseplan stehen etwa ein russischer Löwenzahnsalat oder Klatsch-Mohn-Crêpes, gefüllt mit Ziegenmilch-Ricotta. In ihrem Buch sind mehr als hundert Rezepte aus über sechzig Wildpflanzen dokumentiert, alle beschrieben mit Er-kennungsmerkmalen und illustriert mit wunderbaren Bildern. «Ich liebe Brachflächen, verwahrloste Orte, die vom Menschen vorübergehend nicht in Ordnung gehalten werden.» Wildpflanzen zu bestimmen, ist ein langwieriger Prozess; um die richtige im richtigen Moment zu erwischen, muss man ihren gesamten Lebenszyklus beobachten, manchmal über Jahre hinweg, «Man soll nur pflücken, was man kennt.» Auch wenn man dicke Pflanzen-Lexika gewälzt hat, verraten sich die meisten Gewächse schlussendlich doch an einer Kleinigkeit. Der Spitzwegerich etwa schmeckt nach Champignon, hat längs gerippte Blät-ter und seine Blüten sehen aus wie Mondraketen mit Weltall-Antennen. «Kein Buch ersetzt Eselsbrücken. Das Glaskraut klebe ich mir zum Beispiel an den Pulli, wie in der Kindheit.»

von Michael Huber (Text) und Hans-Peter Siffert (Bilder)

Unglaublich, wie die Natur duftet – Meret Bissegger in ihrer Kursküche

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lebensschule wIldnIsMeret Bissegger ist im Tessin aufgewachsen; ihre Eltern hatten Reben und pflanzten so viel Gemüse an, dass es beinahe zur Selbstversorgung reichte. Ihr Spielplatz war die Natur. Bald testete sie Heilpflan-zen, doch ihre wilde, grosse Leidenschaft für die Naturkost entdeckte sie erst, als sie in ihren Zwanzi-gern zwei Sommer lang auf einer Alp arbeitete. «Ich konnte mir nicht vorstellen, ohne Gemüse zu leben; da habe ich das Gemüse halt in der Umgebung zu-sammengesucht, um mir und den Sennen Eintöpfe zu kochen.» Es war ein hartes Leben. Abends spürte sie manchmal ihre Hände nicht mehr vom Melken – sie hatten 210 Ziegen und 43 Kühe. «Die Natur kennt keinen Sonntag, mein Körper musste sich da-ran gewöhnen.» Aber sie wird nie vergessen, wie ihr die Gämsen zuschauten, wenn sie am Morgen die Ziegen eintrieb.

Später experimentierte sie in ihrem Ristorante Ponte dei Cavalli in Cavigliano im Centovalli mit den Wild-pflanzen. «Jeden Abend schrieb ich die Speisekarte um.» Sie hält sich selten an die gedruckten Rezepte und hat sich das meiste selbst beigebracht. «Im Rück-blick ist es ein Glück, dass ich nie Köchin gelernt habe.» Ihr Weg war fruchtbar, aber steinig; mehrmals erschrak sie, wenn sie Pflanzen miteinander ver-wechselte und feststellen musste, dass sie doch nicht alles wusste über die Wildpflanzen. «Wahrscheinlich wird mir das noch oft passieren, je mehr ich über die Botanik lerne.»

glücklIch mIt grenZenZwischen den Wildpflanzen kniend, lernte sie ihre Grenzen kennen. Es sind Grenzen der Menschheit. Allmachtsphantasien zerplatzen wie Seifenblasen, wenn man im Januar nach dem Wohlriechenden Veilchen sucht – man wird keines finden, weil es erst ab Mitte Februar spriesst. «Die Natur hält nicht immer alles so bereit, wie wir es gerne hätten.» Me-ret Bissegger sammelt immer nur so viel, wie sie braucht, denn das Land verträgt nicht unendlich viele und masslose Wildsammler. «Früher glaubte ich, der Löwenzahn sei nicht auszurotten, aber die Realität

lehrte mir das Gegenteil.» Ein Gärtner aus Zürich er-zählte ihr von einer Wiese, die früher gelb vor lauter Blüten war und heute grün und öde sei, weil Leute die Pflänzchen samt Wurzeln ausrissen. «Da wurde mir bewusst, wie viele Menschen es gibt und wie mächtig wir sind.»

Der menschlichen Freiheit sind Grenzen gesetzt, aber ein Verlust ist das nicht. «Ich erkenne, wie weit wir gehen können, aber ich merke auch, wie ich mir die Natur zu eigen machen kann.» Erst in der Demut sieht sie den Reichtum. In ihrem Garten wachsen mehr Unkräuter als Gemüse, etwa der Klatsch-Mohn, und doch lässt sie sie wuchern. In ihren Kursen spricht sie manchmal bewusst von Unkräutern statt von Wildkräutern, damit ihre Schüler merken, dass viele Unkräuter besser schmecken als manch über-züchteter Salat. Hat eine Pflanze erst einmal dem Gaumen geschmeichelt, ist ihr unsere Zuneigung ge-wiss. «Wenn die Leute sagen, sie hätten keine Feinde mehr im Garten, habe ich gewonnen, dann beenden sie ihren Krieg. Unser schweizerisches Bild von Ord-nung ist naturfeindlich. Man soll kommen lassen, was kommt.» Und essen, was schmeckt. Wenn dadurch unser schiefes Weltbild ins Wanken gerät – umso besser! Dann bringt die Teufelsblume auf dem Teller ein heilsames Chaos in die Köpfe.

Meret Bissegger: Meine wilde Pflanzenküche – Bestimmen, Sammeln und Kochen von Wildpflanzen. Mit Fotos von Hans-Peter Siffert. AT Verlag 2011, 320 S., Fr. 49.90/Euro 34,90

Meret Bissegger bietet im Tessin mehrtägige Sammel- und Kochkurse an; das Programm unter www.meretbissegger.ch. 2011 erscheint im Schweizer Fernsehen zu jeder Jahreszeit ein Dokumentarfilm über ihre Kochkunst. Der Film zum Frühling befasst sich mit der wilden Pflanzenküche. Er ist auch auf DVD erhältlich unter www.nzzformat.ch. Suche: «Meret Bissegger».

Mmmmh (vlnr.): Gemüseplatte mit Saueramp-fersauce als Dip, Tortilla mit Gutem Heinrich, Brennnessel-Linden-Salat

Kalte Sauerampfersauce100 g Seidentofu (oder frischer Bioto-fu mit etwas Wasser) 1 EL Senf 3 EL Tamari4 Handvoll Sauerampferblätter3 EL Olivenöl

Die Hälfte davon im Dampf 1 Minute garen und auskühlen lassen. Die andere Hälfte fein schneiden. Zu-sammen mit den anderen Zutaten im Mixer zu einer cremigen Konsistenz pürieren schwarzer Pfeffer Würzen. Bei laufendem Mixer in die Sauce einarbeiten.

Tipp: Die Sauce passt zu geräucher-tem Forellenfilet oder zu anderem mariniertem Fisch, auch sehr gut zu Kartoffeln in der Schale oder als Dip zu rohem Gemüse (siehe Foto).

hier gibts was zu essen

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vollwertig leben

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Das GenerationenHaus in Ernen ermöglicht älteren Mitmenschen, sich ihren Fähigkeiten gemäss einzubringen. Es entsteht eine Begegnungsstätte, die Raum, Ruhe und Anregung bietet und verschiedene Generationen sowie Wertschätzung und Wertschöpfung unter einem Dach vereint.

• Förderung einer gemeinsamen Lebensform verschiedener Generationen • Lebenssinn und -inhalte bieten, persönliche Weiterentwicklung und Selbstverwirklichung fördern• Erhaltung echter Werte, Steigerung der Lebensqualität• Bauwerk mit organischer Architektur, die sich in Umgebung und Natur optimal einfügt • Das Konzept fördert Austausch ebenso wie Privatsphäre• Geplant sind 10 Doppelzimmer, 5 Wohnungen, Gemeinschafts- und Arbeitsräume

Eine sinnvolle Investition!

Für dieses ambitiöse Projekt sind wir auf Fremdkapital und Investoren angewiesen. Wir suchen Gönner,Freunde und Unterstützung! Menschen, die unseren Ideen vertrauen, die unsere Visionen verstehen und teilen, sind jederzeit herzlich willkommen.

Mehr Informationen finden Sie hier: www.berglandhof.ch

Beachten Sie die Rückantwortkarte im Umschlag dieses Hefts.

Ihre Ansprechpartner:Ingrid Schmid BirriTel. 027 971 17 42

Ruedi SchweizerTel. 027 971 23 60

Guten Morgen, Sinnenschein!Das GenerationenHaus Ernen, Oberwallis.

In jeder Hinsicht ein sinnvolles Projekt.

Anz_BerglHof_Zeitpunkt_194x135.qxd:Layout 1 11.4.2011 10:33 Uhr Seite 1

Historisch: Mehr Sonnen- als AtomstromDer 22. März war ein historischer Tag:

Zum allerersten Mal produzierten in Deutschland solare Kraftwerke mehr Strom als die Atomkraftwerke. Um 12:30 Uhr war es soweit: Wie der Wechselrichterhersteller SMA ermit-telte, waren 12,1 Gigawatt Sonnen-strom-Kapazität am Netz. Die ver-bliebenen neun Atomkraftwerke am deutschen Netz brachten es nur auf 12 Gigawatt.

«Noch 1993 prognostizierten die Stromkonzerne, dass auch langfristig mit Sonne, Wasser und Wind nicht mehr als vier Prozent unseres Strom-bedarfs gedeckt werden könnten», er-klärt Raimund Kamm, Sprecher der «Bayern Allianz für Atomausstieg und Klimaschutz». Demnächst würden schon 20 Prozent unseres Stromver-

brauchs aus regenerativen Kraftwer-ken gedeckt, im Jahr 2020 können das bereits 50 Prozent sein.

Allerdings hielt der solare Vorsprung nicht lange: Um 17 Uhr waren gerade noch 3,8 Megawatt Sonnenkraftwerks-kapazität produktiv. Nach der Daten-lage der Arbeitsgemeinschaft Energie-bilanzen wurden 2010 in Deutschland 140,5 Milliarden Kilowattstunden Strom in Atomkraftwerken produziert – 22,6 Prozent. Die Regenerativkraft-werke lieferten 16,5 Prozent. Aktuell sind acht deutsche AKW vom Netz.

Nick Reimer, klimaretter.infoWas an dieser Nachricht auch be-merkenswert ist: Sie wurde von den Massenmedien so gut wie totge-schwiegen. Wir sollen offenbar nicht wissen, dass es auch ohne Atom-strom geht, selbst in einem sonnen-armen Land wie Deutschland. Red.

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wahre Werte

Am Anfang war das Hochwasser. Die Kraft der ansteigenden Suhre brachte Andreas Steinmann auf eine Idee: Wenn dieser stark verbaute Fluss mehr Platz und Luft bekommen würde, liesse sich seine Naturkraft mit einem Wasserwirbelkraft-werk zur Stromerzeugung nutzen. Dazu gründete Steinmann die Genossenschaft Wasserwirbelkraft-werke Schweiz (GWWK). Das erste davon wurde am 25. September 2010 durch Dr. Bertrand Piccard feierlich eingeweiht.

Das Prinzip ist einfach: Ein Einlaufkanal führt das Wasser zum Rotationsbecken. In der Mitte gibt es einen Abfluss, wie in einem Waschbecken. Durch die Schwerkraft – das Wasser überwindet eine Höhen-differenz von 1,7 Metern – beginnt das einfliessende Wasser zu rotieren, ein Wasserwirbel entsteht. In diesem dreht sich langsam ein Rotor und wandelt die Rotationsenergie in elektrische Energie um. Der Erlös aus der Stromproduktion beträgt bis zu 0,35 Fr. pro Kilowattstunde (kWh), wird vom Bund unterstützt und über 25 Jahre garantiert.

Theoretisch könnten in der Schweiz 17 000 Was-serwirbelkraftwerke an renaturierungsbedürftigen

Flüssen gebaut werden. Im Durchschnitt könnten pro Anlage jährlich 300 000 kWh, insgesamt also 5 Milliarden kWh Strom erzeugt werden. Genug für eine Million Haushalte. Im Januar 2011 erhielt die GWWK die prestigeträchtige Auszeichnung Watt d’Or des Bundesamtes für Energie.

Schon 120 potenzielle Standorte sind dokumentiert und über 30 konkrete Projekte gestartet. Das Schwei-zer Wasserwirbelkraftwerk könnte zum Exportschlager für saubere Energiegewinnung werden. Es liefert zu 97 Prozent CO2-freie und erneuerbare elektrische Energie.

Wer sich beteiligen will, kann Genossenschafter und/oder Darlehensgeber zu attraktiven Konditionen werden: www.gwwk.ch

Ab ins Bio-Paradies!

Der Bio Marché in Zofingen ist bekannt für seinen rie-sigen Verkaufsmarkt. Hier informieren sich jedes Jahr rund 35 000 Konsument/innen, aber auch Fachleute über Produktneuheiten, kaufen Spezialitäten und Raritäten ein.

Rund 150 Aussteller aus dem In- und Ausland bieten vom 17. – 19. Juni 2011 an weit über 100 Ständen Bio-Produkte aus aller Welt zum Verkauf und zum Probieren. Viele lassen es sich nicht nehmen, per-sönlich hinter dem Marktstand zu stehen, denn die Aussteller schätzen genau wie die Besucher den direkten Kontakt. Am Bio Marché kommt man gerne ins Gespräch, und die Besucher erhalten Infos aus erster Hand.

Der «grösste Bioladen der Welt» bietet in seiner Vielfalt (fast) alles, was das Herz begehrt: Vor allem die Fans von lukullischen Genüssen kommen auf ihre Kosten, die Palette reicht aber bis zu Naturkosme-tik, Textilien, Möbeln und Baustoffen. Mitten in der Altstadt wird eigens ein Bio-Garten angelegt.

Das vielfältige Musikprogramm bietet von Folklore über Jazz bis Latin für jeden etwas. Tagsüber lassen Strassenkünstler, Musikanten und Gaukler in den Gassen entspannte Ferienlaune aufkommen. Jeder Bio-Marché-Tag wird bei der Markthalle stimmungs-voll mit einem Konzert beschlossen. Der Streichelzoo ist ein Platz zum Entspannen. Das liebevoll betreute Kinderparadies mit Kinderprogramm und das beliebte muskelbetriebene Karussell werden Kinderaugen zum Leuchten bringen.

Der Bio Marché bietet alles, was zu einem richtigen Festival gehört. Unglaublich vieles gibt‘s zu geniessen und entdecken – bei freiem Eintritt, versteht sich!

Besucher wie Aussteller finden weitere Informationen unter www.biomarche.ch.

Informationen unserer Inserenten

Ökologische Mode für Gross und Klein

Grün ist im Trend: Doch nachhaltige und sozialver-antwortliche Modelabels haben in der Schweiz noch wenig Fuss gefasst. Diese Lücke will die Einkaufs-plattform grünewelle.ch schliessen: mit exklusiven und trendigen Online-Angeboten für Grüngesinnte jeden Alters. Bei uns gibt es Kleider, Schuhe und originelle Geschenkideen für Gross und Klein. Wir führen Ökolinien von bekannten Marken. Unsere Auswahlkriterien: ökologische Ausgangsmaterialien, faire Produktionsbedingungen, möglichst kurze Transportwege, modische Schnitte, frische Farben und angenehmer Tragekomfort.

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Suchen Sie ein extrem kompaktes oder in Sekunden faltbares Velo? Soll es ein hochwertiges Touren-Faltrad, ein leichter Flitzer oder ein alltagstaugliches «Citybike»? Ein Faltvelo für Pendler oder eines für die Freizeit? Brauchen Sie einen Rahmen nach Mass oder träumen Sie von einem faltbaren Tandem, Liegerad oder Elektrovelo? Wir bieten eine grosse Auswahl an Typen und Marken. Besuchen Sie uns in der Bieler Altstadt, und wir finden bei einem guten Espresso das Faltrad, das Ihre Bedürfnisse optimal befriedigt.

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vollwertig leben

58 Zeitpunkt 113

Tüfteln fürs Leben

Bionade, jetzt ohne Prickeln«Jede Revolution beginnt mit einem Prickeln.» Mit diesem pfiffigen Slogan ist die Bionade, «das offizielle Getränk einer besseren Welt» so gross geworden, dass sie vom Dr. Oetker-Konzern geschluckt wurde, der Ende 2009 siebzig Prozent an der BIonade GmbH erwarb. An der Verwendung von Rohstoffen aus Biolandwirtschaft wird zwar nichts geändert, aber die prickelnde Revolution dürfte trotzdem zu Ende sein. Mit der Unterstützung des genkritischen «Rock for Nature»-Konzertes (dieses Jahr im Anschluss an die «Wir-haben-es-satt»-Demo in Berlin) ist zum Beispiel Schluss. Das Sponsoring der Bionade will sich in Zukunft auf «Kinder und Jugendliche mit dem Fokus Sport, Bewegung, Gesundheit und Kultur» konzentrieren. CP

Lesen: Online und Papier im Vergleich

Lesen am Bildschirm ist für viele alltäglich geworden. Zwar kann dadurch viel Papier gespart werden, doch ist online auch umweltfreundlicher? Diese Frage hat ‹umwelt & bildung› untersucht, eine österreichische Zeitschrift mit 44 Seiten Umfang Recyclingpapier.

Dabei wurden die Papierherstellung, der Druck, der Energieaufwand in der Redaktion, der Transport, sowie der Energieverbrauch der Online-Leser berücksichtigt. Letztlich entscheidet die Lesezeit. Liegt sie im Fall von ‹umwelt & bildung› unter 2 Stunden 15 Minuten, ist der ökologische Fussabdruck bei der Online-Lektüre geringer. Gemütliche und gründliche Leser greifen also besser zum Papier, den anderen ist im Hinblick auf den Energieverbrauch das Online-Lesen geraten. Die Untersuchung berücksichtigt jedoch nicht die Auswirkungen, die das Lesen am Bildschirm auf die Gesundheit und die Konzentrations- und Aufnahmefähigkeit hat. Papier&Umwelt/Sam

Das Tüftellabor «Tülab» ist ein einzigartiges Atelier in Zürich, in dem junge Pippi Dü-sentriebs und Daniel Langstrumpfs basteln, experimentieren, scheitern und wieder neu beginnen können. Das Tülab empfiehlt sich für pfiffige, eigenwillige, selbständige, ide-ensprudelnde Kids, denen an anderen Or-ten eher zu viel dreingeredet wird. Es bietet ihnen Infrastruktur, kundige und respekt-

volle Anteilnahme, Beratung/Belehrung auf Anfrage, natürlich auch Absicherung, vielleicht kurz: Coaching oder Begleitung, aber nicht Anleitung.

Initiant dieser wunderbaren Kreativwerk-statt ist der Ingenieur Martin Flüeler. Ein paar hundert Kids sind eingeschriebene «Tüftlis», rund 50 kommen regelmässig. Fi-nanziell getragen wird das Tülab von einer namhaften Spende eines Menschen, der die Einzigartigkeit dieses Projekts erkannt hat. Diese Mittel gehen aber in der nächsten Zeit zur Neige. Die Behörden halten sich bis jetzt vornehm zurück, was vielleicht auch zur Eigenständigkeit des Tülabs beiträgt.

Nach zwölf Jahren Projektarbeit und zehn Jahren Leitung hat Martin Flüeler di-ese Funktion Ende März an Robert Kettler weitergegeben. Damit die neue Leitung Tritt fassen könne, sei es «wichtig, dass ich vor-erst mal lang und gründlich nicht da bin», schreibt Martin Flüeler. Am 30. Oktober, beim Fest zum zehnjährigen Jubiläum, will er dann wieder mit neuen Kräften im Tülab

einsteigen, nicht mehr als Leiter, sondern als «Balüt» – so heissen die Betreuer, die den Kids mit ihrer Erfahrung zur Seite stehen.

Wenn wir uns beim Zeitpunkt weniger auf die krachenden Bäume dieser Welt kon-zentrieren wollen, sondern auf die still vor sich hinwachsenden Wälder, dann ist das Tülab ein Musterbeispiel dafür. Ist es ein Zufall, dass die drei Gründer der Stiftung im Jahre 2 000 allesamt Zeitpunkt-Abonnenten waren? Ohne grosses Medienecho und mit wenig Unterstützung etablierter Instituti-onen hat sich an der Wallisellenstrasse 301 eine kleine Welt entwickelt, in der Kinder und Jugendliche ihren Entdeckungsdrang ausleben und lernen können, Hindernisse mit Geduld und Phantasie zu überwinden. Robert Kettler, gelernter Velo- und Motor-radmechaniker, wünschen wir in seiner neuen Funktion viel Erfolg und Befriedi-gung. Im Tülab hat es übrigens noch Platz für weitere Tüftlis und auf dem Konto Platz für Spenden. CP

Tülab Stiftung, Wallisellenstr. 301, 8050 Zürich, Tel. 044 321 9 123. www.tuelab.ch. Postkonto: 87-238 195-6

Martin Flüeler (rechts), der Gründer des «Tülab» in Zürich über-gibt die Leitung der famosen Werkstatt an Robo Kettler und wird nach einer Auszeit ein ganz gewöhnlicher «Balüt».

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vollwertig leben

Zeitpunkt 113 59

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vollwertig leben

60 Zeitpunkt 113

Schwarzerde macht Boden gutSchwarz ist die fruchtbare Erde. Vor 500 Jahren florierte die indigene Landwirt-

schaft im Amazonasgebeit – wahrscheinlich vor allem dank der Preta do Indio,

der Indianerschwarzerde. Heute könnte die Schwarzerde den Welthunger und die

Klimaerwärmung lindern, denn sie ist die Alternative zu Kunstdünger und bindet

Kohlenstoffdioxid. «Die mächtigste Klimaschutzmaschine, die wir haben», sagt der

australische Umweltprofessor Tim Flannery.

In den 1980er Jahren entdeckten Archäologen, dass zehn Prozent der Fläche

Amazoniens mit teils meterdicken Schichten der Schwarzerde bedeckt war. Das

Erstaunlichste daran: Die Bodenform war nicht natürlich, sondern von Menschenhand

erschaffen worden. Indios verwandelten die nährstoffarmen Böden des Regenwaldes

in fruchtbarste Erde, indem sie ihre Siedlungsabfälle unter Luftabschluss einige

Monate fermentieren liessen und mit Holzkohle vermischten.

2006 ist es einem Forscherteam um den Bodenexperten Joachim Böttcher ge-

lungen, das Verfahren nachzuahmen; seither verbreitet sich die uralte Kulturtechnik

in Mitteleuropa. Im Vergleich zur üblichen Abfallverrottung spart Schwarzerde 95

Prozent Treibhausgase. Zudem könnte Schwarzerde bedrohte Bauern vor der

Abhängigkeit von Agrarkonzernen retten. Sie belebt selbst trockene Böden, wie

erste Experimente in der Sahara belegen, und lässt die Pflanzen grösser, resistenter

und ertragreicher wachsen als Kunstdünger. MH/taz

Weitere Infos: www.das-gold-der-erde.de

Codecheck entlarvt Umweltsünden schon beim EinkaufDie UNO weiss es, die Welternährungsorganisation (FAO) weiss es, die EU weiss es. Doch weiss der Konsument, dass die Bestände von Seelachs, Dornhai oder der Dorade so stark überfischt sind, dass sie vielleicht bald aussterben? Wer die Codecheck-App auf seinem iPhone/Android hat, kann dies seit Kurzem bereits beim Einkauf er-fahren: Ein einfacher Strichcode-Scan mit der Handy-Kamera, und in Sekundenbruchteilen erscheinen die Informationen zum Fischpro-dukt auf dem Display. Auch übers Internet kann man seinen Ein-kauf prüfen und weiss über www.codecheck.info schnell, wovon man beim nächsten Mal bes-ser die Finger lässt.

Betrieben und wei-terentwickelt wird die preisgekrönte Plattform mit ihrer im deutschen Sprachraum grössten unabhängigen Produktdatenbank (über 92 000 Produkte, v.a. Nah-rungsmittel und Kosmetika) und 55 Millionen Seitenaufrufen jährlich von einem gemeinnützigen Verein mit Sitz in Zürich. Bei seiner Arbeit verlässt sich das junge Team von Spezialisten nicht nur auf die Expertise eines Netzwerkes von unabhängigen Gesundheits-, Konsumentenschutz- und Umweltorganisationen, sondern auch auf eine aktive Community, die selber Produkte erfasst, bewertet und Produktdaten überprüft. Weitere Infos: www.codecheck.info

Keinkaufswagen: Bringt Gemüse ins RollenIm November 2010 bot sich aufmerk-samen Kleinbaslern ein ungewöhn-liches Bild: 10 frisch bepflanzte Gartenbeete rollten – getarnt als ge-wöhnliche Einkaufswagen – durch die Clarastrasse. Die Freude über den geglückten Streich musste den jungen Hobbygärtnern – pardon, Urban Gar-deners – im Gesicht gestanden haben, als die verwirrten Blicke der Pas-santen sie trafen. Der eigentliche Start-schuss der Aktion Keinkaufswagen

steht aber noch bevor. Unter dem Motto «ern-ten wo man isst», will Projektlei-terin Tilla Künzli «die Möglich-keit einer essbaren Stadt the-matisieren». Am 14. Mai

sollen auf dem Kasernenplatz 200 ausrangierte Einkaufswagen zu neu-em Leben erweckt werden. Für 20 bis 40 Franken ist man dabei: Unter fach-kundiger Anleitung staffiert man sein «Wägeli» mit Folie aus, befüllt es mit gesunder Erde und pflanzt acht Deme-ter-Gemüsesetzlinge hinein. Nach dem gemeinsamen Umzug durch die Stadt, fährt jeder mit seinem Keinkaufswa-gen nachhause. Das man dabei den ÖV benutzt ist Ehrensache – im «Drämmli» jedenfalls, dürften einem noch einige interessante Gespräche bevorstehen. SLwww.keinkaufswagen.ch

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vollwertig leben

Zeitpunkt 113 61

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vollwertig leben

62 Zeitpunkt 113

dIesen fIlm dürfte es eIgentlIch gar nIcht gebenDass «Der Sommer im Winter» am 14. Mai in Badenweiler bei Freiburg Pre-miere hat, verdankt er über 2 000 Menschen, die zu den Produktionskosten beigetragen haben. Der Film zeigt die grossartige Arbeit von vier Bäue-rinnen aus dem Hochschwarzwald, die mit überliefertem Wissen Gärten pflegen, die man in dieser Höhenlage kaum für möglich hält.

«Der leise Film» ist das Markenzeichen des deutschen Dokumentarfilmers Karl-Heinz Heilig. Die langen Einstellungen, die Mo-mente des Schweigens während der Inter-views und die geduldige Beobachtung ent-falten eine Magie, wie man sie im Kino sonst nie zu sehen bekommt, und am Fernsehen erst recht nicht.

Mit Dokumentarfilmen im harten Film-geschäft eine ausgeglichene Rechnung zu erreichen, ist heute nicht mehr möglich. Deshalb würde es diesen Genre ohne För-derung gar nicht geben.

Damit in Deutschland ein Film aber an Fördergelder herankommt, muss er bei ei-ner grossen TV-Anstalt einen Sendeplatz erhalten. Und um einen Sendeplatz zu er-

langen, müssen strenge Vorgaben eingehal-ten werden, damit die Zuschauer ja nicht wegzappen: Schneller Schnitt, viel Action, verschärfte Konflikte, emotionaler Druck und eine Tendenz zum Voyeurismus. Karl-Heinz Heilig illustriert dies an einem Bei-spiel: Wenn geweint wird, geht die Kamera in einem marktgerechten Dokumentarfilm nah heran und zeigt die Tränen möglichst noch in Grossaufnahme. Er dagegen wendet die Kamera ab und lässt den Zuschauer seine eigenen Bilder entwickeln. Wie beim Lesen.

Heiligs Filme entwickeln eine eigene Intensität. Sie erklären wenig, lassen die Figuren erzählen. Die zurückhaltende Ar-beitsweise lässt seine Protagonisten Aussa-

gen machen, nach denen man mit einem Drehbuch gar nicht fragen könnte.

Damit Karl-Heinz Heilig und seine Partne-rin Ulla Haschen ihre Filme zum weiten The-ma «gelebte Menschlichkeit» drehen können, haben sie eine Fördergemeinschaft mit zur Zeit mehr als 2 000 Sponsoren aufgebaut. Ih-nen werden die neuen Projekte vorgestellt, die nach der Sicherung der Finanzierung realisiert werden. So sind schon sechs gros-se Dokumentarfilme entstanden.

Auch bei der Vorführung gehen Heilig und Haschen neue Wege. Da ihre Filme nicht im Verleih sind, organisieren sie ihre Vorführungen selber, in Begegnungszen-tren, Sälen und Kirchen, meist in Zusam-menarbeit mit Leuten vor Ort.

Nach vier Produktionsjahren hat der neue Film «Der Sommer im Winter» nun am 14. Mai in Badenweiler bei Freiburg i.Br. Pre-miere. Er handelt von vier älteren Frauen, die im Hochschwarzwald auf kargem Boden und trotz klimatischen Nachteilen Gärten mit er-staunlicher Fruchtbarkeit kultivieren. Hunder-te von Menschen werden zur Premiere dieses Films kommen, den wir bis Redaktionsschluss noch nicht sehen konnten. Trotzdem empfeh-len wir Ihnen den Ausflug ins Markgräflerland – nicht nur, weil der Zeitpunkt Medienspon-sor ist. Christoph Pfluger

Der Sommer im Win-ter. Dokumentarfilm von Karl-Heinz Heilig und Ulla Haschen. Premiere: 14. Mai 2011, 19.00 Uhr Kurhaus Badenweiler, Kaiserstr. 5, Badenweiler. Eintritt 35 Euro. Mit grossem Festprogramm.

Im Rahmenprogramm tagsüber: Fotokurs mit der Lochkamera, Kochkurs eines Drei-Gang-Kräutermenus und Skizzieren auf dem Skulp-turenweg in Badenweiler. Infos und Anmeldung: Karl-Heinz Heilig, Film- und Medienproduktion:Tel. +49 (0)441 - 73456. www.heilig-film.de

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vollwertig leben

Zeitpunkt 113 63

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durchs schweIZerIsche unterholZ

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Zeitpunkt 113 65

nun steht sie also, diese widerborstige Etappe von Willisau nach Zug. Wäre ich nicht so ein eisernes Naturell, hät-te mich längst Niedergeschlagenheit oder Schweiz-Phobie eingeholt. Was

mühen wir uns ab mit skeptischen Bauern, paranoi-den Grundeigentümern und übereifrigen Gemeinde-behörden? Was ist so besonders an diesem letztlich viel zu verbauten Land? Immerhin gibt es Regionen in Frankreich, Polen oder Kroatien, wo man durch kaum endenwollende Landschaftsräume bummeln kann, wo Schilder nach Gutdünken angebracht werden und wo Grundeigentümer Wichtigeres zu tun haben, als harmlosen Velofahrern nachzustellen.

Aber so ist sie eben, die Schweiz, dieser knuf-fige Igel, dessen Stacheln mehr nach innen als nach aussen zeigen. Wehe dem, der gerne etwas verändert. Die ganze Langeweile zivilisatorischen Überdrusses wird ihn treffen.

Drittes Telefon mit der Gemeindeverwaltung Hü-nenberg. Die Bewilligung zur Durchfahrt ist noch immer hängig. Es geht um ein Fahrverbotsschild eines Eigentümers, das er scheinbar unrechtmässig vor etwa zwanzig Jahren auf seinem Flurweg ange-bracht hat. Hat bisher niemanden gestört. Uns stört das Schild auch nicht, wir würden einfach ein wei-teres mit dem Rat hinhängen, das obige nicht allzu ernst zu nehmen. Der Grundeigentümer findet das eine originelle Lösung.

Der Gemeindeverwalter nicht. Es braucht ein neues Schild, samt gerichtlicher Verfügung. Wir wagen nicht zu fragen, warum wir das regeln sollen, nachdem es die Verantwortung seiner Gemeinde und sein be-willigungstechnisches Versäumnis ist. Doch Demut ist eine Kernkompetenz des Routenbeschilderers. Wir ziehen uns kratzfüssig zurück – unsere Rou-tenführung hängt an einem seidenen Faden. Noch einmal an unseren Eigentümer zu gelangen, könnte dessen Gutmütigkeit und der geplanten Herzroute ein unschönes Ende bereiten. Ein wichtiger Wegab-schnitt könnte sich für Generationen dem Velover-kehr verschliessen. Welch schreckliche Vision. Rote Alarmlampen blinken auf. Wir müssen zu unserer Geheimwaffe greifen.

Die Geheimwaffe ist Special Agent E., weiblich, gross, blond und mit berndeutschem Dialekt. Das

ist, da wir uns in der Innerschweiz befinden, ein Vorteil. Ihre Mission: Die Kohlen aus dem Feuer ho-len, den Eigentümer zu einem weiteren Kompromiss überreden und der Velowanderwelt zu einem histo-rischen Durchbruch verhelfen. Wir wünschen ihr Glück und rufen den heiligen Radolfius, Schutzpatron aller Speichenjünger, an.

Special Agent E. hält sich tapfer. Die Witterung will es, dass unser Eigentümer in vorfrühlingshafter Laune zusammen mit seinen Spezis bei einem Kaffee mit hochprozentigem Zusatzinhalt sitzt und über das Leben philosophiert. Da es sich nur um Männer im fortgeschrittenen Alter handelt, löst der Anblick von Special Agent E. eine gewisse Aufgeschlossenheit aus, die in diesen Gefilden der Schweiz und in die-ser Altersklasse von Männern eher selten ist. Nach mehreren Versuchen, die Problematik der derzeit hier endenden Herzroute zu erläutern, wächst die versam-melte Gemeinschaft zu einer herzhaften Annäherung, unterstützt durch wiederholte Portionen des braunen Koffeinsaftes samt beigemischtem Verdünner.

Irgendwann führt die soziale Dynamik zu einem allseits begrüssten Statement des Eigentümers, noch-mals ein Zugeständnis nachzulegen, auch wenn er in seiner Ahnenreihe dereinst wohl als Weichei dastehen könnte, indem er Fremdlingen das Durchfahrtsrecht auf seinem strategisch bedeutenden Böschungsweg zur Reuss hinunter gewährt. Die Herzroute, so unsere

leicht angesäuselte Agentin in ihrem Schlussplädoyer, könne diesen innerschweizerischen Schulterschluss gar nicht genug würdigen und werde den Ruf dieses bisher kaum bekannten Zipfels Urschweiz in alle Welt hinaustragen (was hiermit geschehen ist). Bevor sie in ihrem Aston Martin entschwindet, macht man noch ein jährliches Treffen genau an dieser Stelle in Gedenken an den geschichtsträchtigen Akt ab. Wir schreiben den 14. Februar 2011 und die Herzoute-Zentrale liegt in lallender Glückseligkeit.

Weniger fidel waren die Weggenossen im unwei-ten Menznau, einer idyllischen Gemeinde im Kan-ton Luzern. Ihnen gehört seit einer nicht mehr be-

Uns stört das Verbotsschild nicht, wir würden einfach ein weiteres mit dem Rat hinhängen, das obige nicht allzu ernst zu nehmen.

Die Herzroute, der schönste Velowanderweg des Landes, erobert ein Stück Innerschweiz. Welche Mühen und Hindernisse überwunden werden muss-ten, um von Willisau nach Zug bummeln zu können, erzählt Special agent P, der Bahnbrecher des sanftesten Velovergnügens der Schweiz.

durchs schweIZerIsche unterholZ

von Paul Dominik Hasler

Immer auf der Suche nach dem stimmigen Weg: Der Autor unter-wegs an der Herzroute mit seinem Arbeitsgerät. (Bild: AvR)

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66 Zeitpunkt 113

kundbaren Landnahme ein kleiner See im idyllischen grünen Landwirtschaftsland. Später wurde der See auf scheinbar wenig legale Weise mit Eigenheimen umbaut, was ihm seither eine etwas unschöne Seite beschert hat, die sich bei geschickter Blickführung aber ausblenden lässt.

Ebendiese Eigenheimbesitzer hatten sich an die-sem Samstagmorgen bei winterlichen Temperaturen im Saal des Restaurants Lammbock (Name typähn-lich) versammelt, um über den gewagten Antrag der Herzroute, ihre Seestrasse mitnutzen zu dürfen, zu befinden. Wie bereits im Vorfeld vermutet, war die Stimmung nicht wirklich sonnig und die Anwesenden wenig erbaut über das Thema Velo. Man begann die Diskussion mit dem Hinweis, dass das Velo ein Wolf im Schafspelz sei, bei perfider Handhabung Menschen totfahren könne und letztlich nichts an einem friedlichen und notabene privaten See wie dem ihrigen zu suchen habe. Gegen diese Haltung war schwer anzukommen, da die Einwände zutrafen, wenn auch in leicht verzerrter Weise. Die Eigentümer nutzten die Seestrasse schliesslich selber mit ihren Autos, was bisher aber noch nicht zu einem dra-matischen Bevölkerungsrückgang in ihrer Siedlung geführt hatte.

Special Agent K., berühmt für seine versöhnenden Reden und verbindenden Allegorien, holte ein letztes Mal zur alles einschliessenden Laudatio auf See, Land und Leute aus. Auch das nützte nichts. Der See müsse geschützt werden vor touristisch verzückten Sub-jekten, die gar ans Baden denken könnten und damit der Fischereiwirtschaft dieses Sees einen empfind-lichen Schlag versetzen und den daran hängenden lokalen Landadel in den Ruin stürzen könnten. Diese

Perspektive schockierte selbst uns, was uns zu einer spontanen Sympathiekundgebung mit dem ebenfalls anwesenden Landadel trieb. Man kann nicht einer-seits die Schweiz zeigen wollen und sie gleichzeitig ruinieren. Das leuchtete uns ein.

Nach erlittener Niederlage kehrten wir schul-terhängend in unsere Basis, die Eigenheimler in ihre Eigenheime zurück, wobei sich ein Schwarm Privatfahrzeuge wieder ins kaum tausend Meter ent-

Die Schweiz bräuchte deutlich mehr Blondinen, um zu sich selber zu finden.

Kleine Strässchen, versteckte Kleinode, weiter Bllick und viel Himmel, das bringt der neue Abschnitt der Herzroute von Willisau nach Zug. Weil der Genuss auch die eine oder andere Steigung nötig macht, empfiehlt es sich, für alle Abschnitte ein e-Bike zu mieten. (Fotos: Paul Dominik Hasler)

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Zeitpunkt 113 67

fernte Seeanwesen zwängte. Die Schweiz, dieses originelle Land.

Special Agent K. und ich gestanden uns unsere Niederlage ein und blickten neidisch auf den his-torischen Erfolg von Special Agent E. Die Schweiz bräuchte deutlich mehr Blondinen, um zu sich selber zu finden.

Umgekehrt feierten wir den Freundschaftspakt mit den Waldbesitzern, die uns vor einem Jahr mit ähn-lichem Charme in ihrem Wald aufgelauert hatten. Auch da schien es unmöglich, Velos durch den Wald fahren zu lassen, ohne dass er daran zu Grunde ginge, oder Zustände einkehrten, die den ohnehin

geplagten Waldarbeitern die Ausübung ihres red-lichen Berufes verunmöglichten. Es drohte, richtig dramatisch zu werden, und erst das beherzte Eingrei-fen von K. hatte Schlimmeres verhindert.

Mehrere Flaschen Wein und einige verständigende E-mails haben uns an die Waldbesitzer angenähert, und sie an uns. Sie verzichten darauf zu behaupten, der Wald sterbe, wenn man ihn mit dem Velo durch-fährt, wir verbreiten nicht weiter Geschichten von sa-distischen Baummördern mit Kettensägen. Überhaupt hat die Annäherung erstaunliche Gemeinsamkeiten zu Tage gefördert. Beide Seiten lieben den Wald, beide erholen sich prima darin und beide glauben daran, dass man unsere Schweiz schützen soll vor weiterer Verbauung und motorisierter Zerfurchung.

Die Basis also war gelegt, Special Agent K. bekam das eiserne Verdienstkreuz (sein 32stes) und wir grün-deten zusammen mit den Privatwaldbesitzern den Fonds «Wald und Tourismus», der dort helfen soll, wo eine Annäherung zwischen Waldwirtschaft und Tourismus gut täte.

Ob all der Widerborstigkeit erstaunt es mich zunehmend, dass wir in diesem Land je fähig waren, Atomkraftwerke und Autobahnen zu bauen, die sicht-lich mehr Konfliktpotential mit Landschaft, Mensch und Eigenheim bieten als ein Veloweg. Vielleicht war es ein Zeitfenster voller unschweizerischem Zu-kunftsglauben. Und vielleicht leidet die Herzroute unter einem Sättigungseffekt, hervorgerufen durch den damaligen Übermut. Wirklich sicher sind wir uns aber nicht.

7.3 Kilometer und 264 Anrufe später befinden wir uns bei Bauer Hodel im Vorgarten und haben soeben geklingelt. Er schaut oben zum Fenster hinaus, die kräftigen Arme auf dem Sims. Wir erzählen ihm von der putzigen Veloroute, die gerne seinem Haus ent-lang geführt würde und machen uns auf eine Ladung Mist samt hinterher hechelndem Hofhund gefasst. Aber Herr Hodel findet die Idee nicht verkehrt und freut sich auf sonnige Velofahrer, die vor seinem Haus durchfahren. Auch das Schild dürfen wir an seine Scheune schrauben, mit echten Schrauben, ohne rich-terliche Verfügung. Wir fragen uns, was der Mann im Leben richtig gemacht hat, nachdem uns sein Nachbar eben vom Hof gescheucht hat mit allerlei Unterstel-lungen, die kaum noch etwas mit Velofahren zu tun haben. Aber auch das ist die Schweiz: Die Enge hat Löcher wie ein Käse, darin spriesst die Freiheit auf kleinstem Raum.

Auch das ist die Schweiz: Die Enge hat Löcher wie ein Käse, darin spriesst die Freiheit auf kleinstem Raum.

Die Herzroute wächst diesen Frühling um weitere 70 Kilometer zwischen Willisau und Zug. Sie bietet damit fünf Tagesetappen auf total 300 Kilometern Strecke und führt durch die schönsten Ecken dieses Landes zwischen Bern und der Zentralschweiz.

Um die relativ häufig vorkommenden Hügel meis-tern zu können, lassen sich an den 6 Etappenorten E-Bikes der Marke «Flyer» mieten. Die Flyer kosten Fr. 58.- pro Tag, Akkus können kostenlos entlang der Strecke gewechselt werden. Inhaber von Gene-ral- und Halbtax-Abos erhalten Ermässigung auf die Mietpreise.

Die Herzroute ist durchgängig ausgeschildert als Veloroute Nr. 99 und ist ohne Pfadfinderkenntnisse zu finden. Bei Übernahme des Flyers erhät man einen reich bebilderten Etappenprospekt mit allen Hinweisen auf Verpflegung, Hotels und Sehenswürdigkeiten. Der

Veloverleih ist von 1. April bis 31. Oktober in Betrieb, die Route selber ist das ganze Jahr fahrbar (Winterrei-fen und Schneeketten empfohlen).

Casting:Special Agent E. arbeitet zu hundert Prozent für die Herzroute, ist unsere touristische Leiterin und hört zivil auf den Namen Evelyne Hollenstein. Sie sorgt dafür, dass die Route nicht nur aus Wegen und Schildern besteht, sondern auch Erlebnis und Gastronomie bie-tet. Dafür vernetzt sie die Herzroute mit Partnern und versucht sie mit dem Herzroute-Virus zu infiszieren.Special Agent K. hört im zivilen Leben auf den Namen Kurt Schär und ist Geschäftsführer der FLYER-Firma Biketec AG. Er hat die Herzroute vor acht Jahren aufgesucht, mit der absurden Idee, Elektrovelos an Touristen zu vermieten. Er wurde vom eigenen Erfolg

überrollt und muss seither dafür büssen. Er ist Herz-route-Partner und Mit-Initiant. Special Agent P. bin ich, habe die Herzroute 1989 entdeckt (als Mission in mir drin) und bin entzückt, dass sie sich Stück um Stück realisiert. Ich versuche, die absolut schönste, eindrücklichste und char-manteste Veloroute der Schweiz in Gang zu bringen. In diesem Sinn bin ich als Agent ein Versager, weil man mir diese unmögliche Intention immer anmerkt. Eiserne Verdienstkreuze verdiene ich mir am ehesten mit romantischen Werbetexten zur Herzroute.

Die Herzroute wird 2012 ein weiteres Stück Schweiz erobern, diesmal in gänzlich anderen Gefilden, 100 km zwischen Lausanne und dem bernischen Laupen.

Weitere Infos und Buchungsmöglichkeiten: www.herzroute.ch

Der Weg des Herzens

durchs schweizerische Unterholz

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68 Zeitpunkt 113

das kreatIVe unIVersumEvolution ist mehr als Daseinskampf und Wettbewerb. Moderne Wissen-schaftler entdecken in der Natur Elemente von Schönheit, Spiel und Frei-heit. Offenbar spontan bringt das Leben immer neue Formen hervor. Was das Ziel der Evolution sein könnte, darüber können wir nur spekulieren – und staunen!

was machen Tiere eigentlich, wenn sie nicht gerade kämpfen, fressen oder ihren Nachwuchs aufziehen? Gibt es für sie freie Zeit, in der sie einfach da sind und sich des Le-

bens freuen? Naturfilme reduzieren Tiere gern auf die Notwendigkeiten des Überlebenskampfs: Der Gepard jagt die Gazelle. Affen streiten miteinander um die Früchte des Feigenbaums. Seekühe kopulieren und weiden bald darauf mit ihren Kälbern das Seegras der Flüsse ab. Ganz selten erhascht man eine Ahnung von Spiel und Lebenslust. Im Elsass, als der Morgen-nebel noch über den Wiesen lag, beobachtete meine Lebensgefährtin einmal den übermütigen Tanz eines Eichhörnchens, das im Garten unseres Ferienhauses herumhüpfte. Die Bewegungen folgten keinem er-kennbaren Zweck.

Der Biologe Stephan Harding schrieb seine Dok-torarbeit über den asiatischen Muntjak-Hirsch. Was er dabei beobachtete, passt in kein wissenschaftliches Raster: «Beim Kauen des Grases verfiel das Tier in einen meditativen Zustand totaler Entspannung. Ich war überrascht von dieser Qualität des Friedvollen, die wie unsichtbarer Rauch aus ihm emporstieg.» Diese Beobachtungen legen den Schluss nahe: Tiere verhalten sich auch zweckfrei – und sie geniessen es. Zweifellos gibt es in der Natur auch Revierkampf, Fressen und Gefressenwerden, die verzweifelte Gier nach Nahrung. Aber diese Aspekte werden aus ideo-logischen Gründen oft zu einseitig betont. Darwin führte die Entwicklung des Gehirns darauf zurück, dass man mit seiner Hilfe besser töten kann: «Feinde zu vermeiden oder sie mit Erfolg anzugreifen, wil-de Tiere zu fangen und Waffen zu erfinden und zu formen, erfordert die Hilfe der höheren geistigen

Fähigkeiten.» Aber taugt ein Gehirn nicht auch dazu, Ackerbau zu betreiben, sich in andere Menschen einzufühlen oder ein Bild zu malen?

dIe natur VermeIdet konkurrenZSchon Anfang des 20. Jahrhunderts regte sich gegen Darwins einseitiges Kampf-Paradigma Widerstand. Der Anarchist Peter Kropotkin veröffentlichte 1902 sein Buch «Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Men-schenwelt». Er entwarf darin ein sanfteres Bild der Natur: «Glücklicherweise ist Konkurrenz weder im Tierreich noch in der Menschheit die Regel. In dem grossen Kampf ums Dasein – für die möglichst grosse Fülle und Intensität des Lebens mit dem geringsten Aufwand an Kraft – sucht die natürliche Auslese fortwährend ausdrücklich die Wege aus, auf denen sich die Konkurrenz möglichst vermeiden lässt.» Dies bestätigen auch einfache Naturbeobachtungen: Der Krokus konkurriert nicht mit der Herbstzeitlose um bestäubende Insekten. Beide blühen in verschie-denen Jahreszeiten. Hyänen konkurrieren nicht mit Löwen, sie verwerten deren Reste. Spechte konkur-rieren nicht mit Maulwürfen. Die einen suchen in den Rinden der Bäume nach Kleingetier, die an-deren wühlen unter der Erde. Jede Art sucht sich eine Nische, eine einzigartige Ernährungsweise und Fortpflanzungsstrategie.

Zweifel an Darwin werden gern mit dem religi-ösen Fundamentalismus in den USA in einen Topf geworfen. «Kreationisten» versuchen Darwin mit einer Mischung aus Teilwahrheiten und Bibeltreue auszu-hebeln. Kennzeichen des Fundamentalismus ist stets der Verweis auf eine unantastbare «Heilige Schrift». Zu Recht lehnt die Wissenschaft eine Ideologie ab, die auf einen Zirkelschluss hinausläuft: Warum soll

von Roland Rottenfußer

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ich an Gott glauben? Weil es in der Bibel steht. Und warum soll ich der Bibel glauben? Weil sie das Wort Gottes ist.

Vernünftige Darwin-Kritiker weisen auf Lücken im Schulbuchdarwinismus hin und stellen intelligente Fragen, ohne sogleich die Pauschalantwort «Gott» zu geben. Sie vertreten eine moderne Naturbetrachtung, die anerkennt, was an Darwin richtig war und zu-gleich über ihn hinausweist. Der ausgezeichnete Do-kumentarfilm «Das kreative Universum» von Rüdiger Sünner präsentiert Theorien des Neuen Denkens und interviewt einige seiner Protagonisten. Der Film stellt die Frage, was die Evolution vorantreibt und ob dabei eine schöpferische Intelligenz eine Rolle spielt.

dIe entstehung der formenBeispiel «Kambrische Revolution»: In einem relativ kurzen Zeitraum, vor ca. 540 Millionen Jahren, ent-standen fast alle «Baupläne der Tierwelt», die Vor-läufer unserer heutigen Lebewesen. «Wie von einem Künstler im Drogenrausch geschaffen, entstanden hunderte von bizarren Kreaturen», formuliert es Re-gisseur Rüdiger Sünner. Man fand keine Fossilien von Vorläufern der betreffenden Lebensformen. Trat das Leben also «plötzlich» auf die Bühne der Evolution, und wenn ja: Steht dahinter ein Schöpfer?

Beispiel «Kristallwachstum»: Jedes Eiskristall hat eine individuelle Form, seine sechs Arme sind jedoch exakt gleich. Es muss also etwas geben, was das Wachstum der Arme koordiniert, eine übergreifende Ordnung.

Beispiel «Morphogenese»: Tierisches und mensch-liches Leben entsteht aus einer Zelle, die sich mehr-fach teilt. Woher weiss die Zelle, ob sie Leberzelle oder Hautzelle werden soll?

Rupert Sheldrake schuf aufgrund solcher Überle-gungen seine Theorie vom «Morphogenetischen Feld» (Formen schaffenden Feld). Ein Feld ist quasi ein Rah-men, innerhalb dessen sich Organismen bewegen. Dieser Rahmen ist aber nicht (wie ein Magnetfeld) neutral, er ist intelligent. Er enthält Information und vermag sie auf Zellen und Lebewesen zu übertragen. Der Materialismus denkt deterministisch. Alles ist für ihn aus einer Kette von Ursachen und Wirkungen erklärbar. Man kann aber die erwachsene Form eines Organismus – Frosch, Känguru oder Mensch – nicht aus der Zellteilung erklären. Niemand kann in der Anfangsphase einer Kristallisation vorhersehen, zu welcher Form sich ein Eiskristall auswachsen wird. Vor allem konnte Leben von Wissenschaftlern bis jetzt nicht erschaffen werden. Zwar wurden bei Ex-perimenten organische Moleküle hergestellt, nie ent-stand dabei aber die Grundform des Lebens, die Zel-le. Die moderne Wissenschaft muss also in dreifacher Hinsicht vor dem Leben kapitulieren. Es ist nicht erklärbar, nicht vorhersehbar, nicht nachahmbar.

das unIVersum erblIckt sIch selbstHerumliegende Bauteile allein erklären nicht die Ge-stalt eines Hauses, sagt Rupert Sheldrake Dazu bedarf es eines Plans, einer gestaltenden Intelligenz. Auch die Theorie der morphogenetischen Felder hat die Grundfrage der Schöpfung nicht gelöst. «Es bleibt das Rätsel, dass die Formen der Natur nicht einfach aus ihren Genen oder Molekülen ableitbar sind. Diese brauchen eine Information, um sich zu einer Ge-stalt zu gruppieren. Informationen aber sind etwas Nichtstoffliches, Geistiges.» (Rüdiger Sünner) Kann man sich Geist aber vorstellen, ohne sich zugleich ein geistiges Wesen vorzustellen? Ein einfaches

Jedes Spinnennetz ist einzig-artig. Einem Plan folgend, der auf ‹Fang› aus ist, nutzt jedes Spinnlein individuell das vorhandene, und keine wird erneut exakt dasselbe Netz anlegen.

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70 Zeitpunkt 113

Beispiel zeigt, wie unwahrscheinlich es ist, dass aus Zufall auch nur primitive Lebensformen entstehen. Hacken Sie einmal ein paar Minuten lang mit ge-schlossenen Augen wild auf Ihrer Tastatur herum. Wie viele solche Versuche müssten Sie anstellen, da-mit aus der Kombination der Buchstaben durch Zufall ein Gedicht von Rilke entsteht? Schon ein Einzeller enthält aber unendlich viel mehr Informationen als ein solches Gedicht. Dies ist noch kein «Gottesbe-weis», es liegt aber nahe, an eine schöpferische In-telligenz zu denken.

Im Kleinen kann der Mensch nicht vorhersehen, was als nächstes passiert; im Grossen scheint die Evolution aber einer Entwicklungslinie zu folgen. Sie führt vom Einfachen zum Komplexeren, von Einschränkung zu mehr Beweglichkeit, von Unbe-wusstheit zu Selbstwahrnehmung und Selbstreflexi-on. Augen haben sich in der Evolution z.B. mehrmals unabhängig voneinander entwickelt. Wirbeltiere wie Oktopusse entwickelten das Kameraauge, das ih-nen eine genauere Weltwahrnehmung ermöglichte. Über Jahrmillionen war die Innovation «Auge» zuvor vorbereitet worden, z.B. durch die Entstehung eines Nervensystems. Der Paläontologe Simon Conway Morris behauptet: «Das Universum hat lange daran gearbeitet, sich selbst endlich anschauen zu können.» Das Auge führte nun einerseits zu Selektionsvorteilen (Gefahren früher erkennen), andererseits erlaubte es, Schönheit wahrzunehmen.

überschuss an schönheItMit der Schönheit kommt aber auch eine Wahrneh-mungs- und Empfindungsinstanz ins Spiel. Sie ist nicht auf den Menschen beschränkt. Betrachten wir z.B. das Federkleid eines Pfaus. Ein Darwinist wür-de sagen, es diene der Selektion von Erbgut. Das prächtigste Männchen wird vom Weibchen erhört und darf sich fortpflanzen. Fortpflanzung ist aber auch bei sehr unscheinbaren Vögeln wie der Dros-sel möglich. Warum also diese Farbenpracht, diese geradezu künstlerische Gestaltung der Federn? Und zeigt nicht der Balztanz eines Ziervogels, dass auch dessen Weibchen ein ästhetisches Empfinden besitzt? Rüdiger Sünner sieht in der Natur einen «ungeheuren Überschuss von Schönheit und Spiel» am Werk. Wer einmal einen Fotoband durchgeblättert hat, in dem

viele Vogelarten abgebildet sind, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ungezählte Varianten bezaubernder Schönheit in Farbe und Form. Auch andere Naturbeobachtungen können Ehrfurcht, ja Liebe hervorrufen: Das Auge eines Hirsches. Spie-lende Fuchsjungen. Der Sprung eines Eichhörnchens von Baum zu Baum. Aufblühende Waldblumen im Vorfrühling.

Die Schönheit dieser Welt, so das Resümee von «Das Kreative Universum», geht weit über das für den Überlebenskampf Notwendige hinaus. «Es scheint in der Natur eine Art unentgeltliche Produk-tion von Schönheit zu geben.» (Sheldrake) Den Tanz eines Vogelschwarms am Himmel, der im Film ge-zeigt wird, nennt Rüdiger Sünner eine «betörende Himmelsskulptur, gewoben aus Koordination und Unvorhersehbarkeit». Die Schöpfung selbst scheint mehr einem Tanz als dem vorhersehbaren Ablauf einer Maschine zu gleichen. Die Natur erweist sich als grösste aller Künstlerinnen. Wir leben in einem schöpferischen Universum – unabhängig davon, ob wir an einen Schöpfer glauben. Gestandene Wissen-schaftler geraten da ins Schwärmen und betonen, wie der Neurobiologe Joachim Bauer, das «Schöpferisch-Selbstzweckhafte in der Biologie».

ehrfurcht – eIn ökologIsches gefühlWenn «Fürsorge, Ehrfurcht und Verehrung» (Sünner) angemessene Haltungen gegenüber der Natur sind, so entsteht daraus auch ein ökologischer Impuls. Der Sinn für das Heilige ist der beste Naturschutz. Wobei der Begriff «heilig» zweifellos über eine wissenschaft-liche Betrachtungsweise hinausgeht. Ob man ihn verwenden möchte, hängt von der Mentalität eines Naturforschers ab. Ich behaupte aber, dass eine tiefer gehende, meditative Betrachtung der Natur bei fast jedem «Andacht» hervorrufen kann. Der Astronom und Priester George Coyne meint gar, die innere Motivation der Schöpfung erkannt zu haben: «Gott wollte ein Universum, das nach und nach Lebewesen hervorbringt, die Gott ihrerseits lieben können.»

Rüdiger Sünner: Das Kreative Universum – Naturwissenschaft und Spiritualität im Dialog. Absolut Medien, 2011. 83 Min., Euro 12,99

Naturfilme zum Staunen:Alastair Fothergill: Planet Erde – die komplette Serie. BBC, 2006. 775 Min., Euro 31,99

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5. 8. – 11. 8. Yogaferien im Tessin11. 8. – 14. 8. FineArt Printing & Imaging14. 8. – 20. 8. Sommergarderobe selber nähen18. 9. – 24. 9. Zeit zum Paar-Sein

8.10. – 15.10. Malwoche: Vom Motiv zum Bild15.10. – 16.10. Heissi Marroni – mit E. Bänziger16.10. – 22.10. Wandern in ital. Atmosphäre

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72 Zeitpunkt 113

frankoskopDie Décroissance-Bewegung verschärft ihren Ton

Die französischen Wachstumsver-weigerer rund um die französische Zeitschrift «La Décroissance» führen seit 2007 im Zweijahresrhythmus so genannte «Contre-Grenelle» durch.

Diese Veranstaltungen sind der Vorbereitung einer Gesellschaft ohne Wachstumszwang gewidmet. Sie richten sich gegen die aggressive Greenwashing-Po-litik von Sarkozy. (Details dazu, insbesondere zum Namen «Contre-Grenelle», finden sich im Frankoskop von «Zeitpunkt» 103 und im Archiv, das online zu-gänglich ist.) Sarkozy ist im Begriff, in Umwelt- und sozialen Fragen das letzte Quäntchen seiner Glaub-würdigkeit zu verlieren. Seine Umweltministerin Nathalie Kosciusko-Morizet versucht gegenwärtig, die Bevölkerung auf den Gedanken einzustimmen, dass Frankreich sich an die katastrophale Umwelt- und Klimasituation anpassen müsse, statt Klima und Umwelt auf Kosten der Wirtschaft zu schützen. Nicht glaubwürdiger als der rechthaberische Sarkozy sind übrigens die beiden bekanntesten Persönlichkeiten, die vermutlich 2012 in den Wahlen gegen ihn oder ei-nen anderen Vertreter seiner neoliberalen Partei UMP antreten werden: die in Wirtschaftsfragen ebenfalls neoliberale Marine Le Pen vom Front national und der kaum weniger neoliberale Dominique Strauss-Kahn vom Parti socialiste.

In diesem deprimierenden politischen Klima fand am 2. April 2011 in Vaulx-en-Velin bei Lyon die dritte «Contre-Grenelle» statt. Wer den Weg in die weit vom Lyoner Stadtzentrum entfernte Vorstadt – sie gilt als drittärmste Stadt Frankreichs – gefunden hatte, erlebte in einem zum Bersten gefüllten Saal mit 900 Plätzen eine Art geistige Revitalisierungskur. Ungefähr zwei Dutzend prominente Décroissance-Autorinnen und -Autoren legten in Kurzvorträgen dar, was sie unter Widerstand verstehen. Die ganze Vortragsreihe fand ohne Powerpoint statt – wie wohltuend! – und wurde durch gepfefferte Kabaretteinlagen aufgelockert.

Alle Vortragenden versuchten, folgende Frage zu beantworten: Was können wir tun angesichts des allgemeinen Zusammenbruchs in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur? Durch die ganze Veranstaltung hindurch liessen sich drei Konstanten feststellen: erstens eine Verschärfung des Tonfalls in der Auseinandersetzung mit der wachstumsgläubigen Gegenseite; zweitens die Erkenntnis, dass die mul-tiple Krise menschengemacht ist und folglich durch Menschen überwunden werden kann; drittens die Weigerung, vor systemgegebenen «Sachzwängen» zu kapitulieren.

von Ernst Schmitter

Frankoskop

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Zeitpunkt 113 73

Aus der Fülle von Vorschlägen, Anregungen und Hinweisen greife ich vier heraus: 1. Der Bauer Raoul Jacquin – er nennt sich Bauer, nicht Landwirt – wies auf eine gut verdrängte Tatsache hin: Die französischen Landwirte haben eine sehr hohe Selbstmordrate. Jährlich halten in Frankreich 400 Bauern dem systembedingten Rentabilitätszwang nicht mehr stand und nehmen sich das Leben. Was ist nach Raoul Jacquins Meinung zu tun? Man sollte die «intellektuelle Verarmung» der französischen Be-völkerung bremsen und die Zahl der Bauernhöfe drastisch vergrössern! 2. Der Philosoph Fabrice Flipo wies auf die Notwendigkeit hin, die Werbung, wo immer möglich, einzudämmen und zu bekämpfen, weil Werbung der Aufklärung im Wege steht. 3. Die Ärztin Catherine Levraud gab der Zuhörerschaft un-gefähr zwanzig Tipps für ein gesundes Leben und sagte zum Schluss: «Eine solche Lebensweise bringt das System in Gefahr. Aber das macht nichts!» 4. Die für mich erstaunlichste Aussage des ganzen Tages habe ich vom Ingenieur Philippe Bihouix, Autor eines Buchs über die dramatisch wachsende Knappheit von Metallen, gehört. Er wies auf die verhängnis-volle Rolle von positiven Rückkoppelungen hin, zum Beispiel dieser: Bei der Metallgewinnung brauchen wir wegen der immer ungünstigeren Ressourcenla-ge immer mehr Energie; und bei der Beschaffung von fossiler Energie benötigen wir aus dem gleichen Grund immer mehr Metalle. Aber dann fügte er bei, positive Rückkoppelungen hätten auch ihr Gutes. Unser Wirtschaftssystem sei nämlich nicht, wie man sich vorstellen könnte, einem schwerfälligen Ozean-dampfer zu vergleichen, sondern eher einem Auto mit übersteuernder Lenkung. Richtungsänderungen in der guten Richtung könnten rasch eine über Erwarten günstige Wirkung haben: Eine Verminderung unseres Rohstoffverbrauchs würde auch die Nachfrage nach Energie vermindern. Eine Umstellung auf biologische Landwirtschaft bedeute eine drastische Abnahme des Verbrauchs von Kunstdünger. Damit nehme auch der Energieverbrauch ab. Und so weiter.

Wer sich genau über «Contre-Grenelle 3» informie-ren möchte, kann im Buch zum Kongress alle Beiträ-ge nachlesen: Contre-Grenelle 3 – Décroissance ou barbarie, éditions Golias, Villeurbanne 2011.

Zu berichten ist noch über ein Grundlagenwerk zum Thema Décroissance. Wer sein Wissen in die-sem Bereich vertiefen will, wird – ausreichende Fran-zösischkenntnisse vorausgesetzt – von der Lektüre pro-fitieren: Gilbert Rist, L‘économie ordinaire entre songes et mensonges (Die Mainstream-Ökonomie zwischen Traum und Lüge), Paris 2010. Der Autor, emeritierter Professor in Genf, hat die Grundlagen untersucht, auf der die Wirtschaftswissenschaft aufbaut – Grundlagen, die normalerweise nicht hinterfragt werden, schon gar nicht von den Ökonomen. Er kommt in seiner 230 Seiten starken, sehr detaillierten Studie zu einem ver-nichtenden Urteil: Die physikalischen und anthropolo-gischen Grundlagen der an unseren Universitäten ge-lehrten Wirtschaftswissenschaft sind seit Jahrzehnten als Irrtümer entlarvt, zum Teil sogar seit Jahrhunderten. Dennoch verkauft sich dieses Fach als Wissenschaft. Dass seine Grundlagen nicht stimmen, nehmen seine Vertreter nicht zur Kenntnis. Ein einziges Beispiel muss hier genügen: Das von den Ökonomen geschaffene Fabelwesen «Homo oeconomicus», das stets nur auf seinen Vorteil bedacht ist, hat nur wenig mit der an-thropologischen Wirklichkeit zu tun.

Eine Kernstelle muss ich erwähnen – eine Zusam-menfassung von Rists Buch ist an dieser Stelle nicht möglich. Auf Seite 166 gibt Rist den Wachstumsver-weigerern unter seiner Leserschaft einen Rat, wobei er sich auf den amerikanischen Psychologen Watzlawick beruft: Wenn man eine gegebene Situation verändern will – also zum Beispiel die Situation einer Gesell-schaft unter Wachstumszwang -, soll man nicht ihr genaues Gegenteil fordern – also in unserem Beispiel Wachstumsrücknahme. Diese Forderung übersieht nämlich, dass es nicht einfach darum geht, in einem gegebenen System einen Richtungswechsel zu vollzie-hen, sondern dass es um einen Wechsel des Systems selbst geht. Wenn wir Wachstumsrücknahme statt Wachstum fordern, akzeptieren wir von vornherein die Notwendigkeit, mit Ökonomen in ökonomischen Kategorien zu diskutieren. Das ist eine Sandkastenü-bung, die sich Wachstumsverweigerer ersparen sollten. Der Name Décroissance darf nämlich nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass ihre Anhänger mehr im Sinn haben als blosse Wirtschaftsschrumpfung: Sie streben einen Ausstieg aus den Denk- und Hand-lungszwängen an, die die meisten Ökonomen uns als unausweichlich darstellen.

Frankoskop

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74 Zeitpunkt 113

11. September 2011 auf dem Bundesplatz: Mitgefühl in AktionDer 11. September 2001 hat die Welt tief gespalten in Gut und Böse. Und je nach Perspektive erschienen jeweils «die anderen» als «die Bösen». Die Folgen waren Krieg, Gewalt und eine weltweit von Angst geleitete Politik.

Zehn Jahre nach 9/11 zeigt sich die Welt verändert und bewegt. Zwar wird immer noch aus Motiven der Angst gehandelt und mit Polaritäten politisiert. Doch Naturkatastrophen, Finanzkrisen und politische Umwälzungen zeigen deutlich auf, dass alle und alles untrennbar miteinander verbunden sind. Viele Menschen spüren einen tiefen Wunsch nach Veränderung, sei es im persönlichen Umgang, sei es in der Gesellschaft, im politischen Engagement.

Wir ahnen, dass es eine Kraft gibt, welche die Welt im Inner-sten zusammenhält, dass es eine Welt gibt, in der alles mit allem verbunden ist. – Und wenn diese Kraft die Liebe wäre?

Wir sind überzeugt: die Welt kann sich nur dann friedvoll wei-terentwickeln, wenn wir den Blick für diese Ganzheit schärfen und im täglichen Leben entsprechend handeln – für EINE Welt, aus Liebe und nicht aus Angst. Es ist Zeit, dies gemeinsam zu bezeugen und in diesem Sinne zu handeln.

Wir möchten am 11. September 2011 einen Geschmack dieser einen Welt vermitteln und versammeln uns auf dem Bundesplatz in Bern. Mit Redebeiträgen, Meditation und Musik feiern wir und setzen gemeinsam ein starkes Zeichen – für eine Welt und zum Wohle aller Wesen. Jacqueline ForsterDie Veranstaltung ist politisch und konfessionell neutral. Organisatoren sind die Villa Unspunnen (www.villaunspunnen.ch) und das Forum Neue Erde (www.forum-neue-erde.org). Die Autorin ist Medienbeauftragte der Veranstaltung.)

Lingua Natura: Naturparks als SchulzimmerSoll ich in den Wald gehen, dem Vogelgezwitscher lauschen, die Sonne geniessen oder meinem Vorsatz gemäss hinter ver-schlossenen Fenstern Französisch büffeln? Dieses Dilemma nimmt uns die Lingua Natura ab. Sie bietet fünftägige Sprach-kurse mitten in Schweizer Naturparks an. In Veglia-Devero lernen Schülerinnen und Schüler Italienisch, im Pfynwald Französisch, in Beverin und Ela Rätoromanisch und im Binn-tal Deutsch. Daneben erkunden sie Silberminen, gehen mit Jägern auf die Pirsch oder suchen mit Strahlern nach verbor-genen Mineralien. Im Graubünden kochen sie mit einheimi-

schen Bäuerinnen auf Rätoromanisch: «Pizzochels cun er-vas tschorras». Das soll das Bewusst-sein für die Natur und regionales Schaffen fördern und wird deshalb vom Staatssekreta-riat für Wirtschaft (SECO) unter-stützt. MHwww.lingua-natura.comFo

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Verschwörungstherapie mit dem Zirkus Lollypop

«Unsere Welt ist beschissen genug», sagt Hanspeter Dörig, «da müssen wir nicht noch überall nach Bösewichten suchen!» Er ist der Direktor des Theaterzirkus’ Lollypop; seine Kritik richtet sich gegen Verschwörungs-theorien, die heutzutage noch zahlreicher sind als die Katastrophen. Wie man sich von ihnen befreien kann, das erfahren die Zuschauer im diesjährigen Stück «Die Ver-schwörungstherapie». Sie dürfen sich aller-dings keine geradlinige Genesung erhoffen. Der Psychiater ist nicht über alle Zweifel erhaben, ein nicht mehr therapierbarer Pre-diger schreit ununterbrochen nach Anarchie und zwei Staatsbeamte wissen nicht, ob sie Polizisten sind oder Ritter. «Meine Stücke haben den Ruf, bis zum Schluss alle zu ver-wirren», gibt Hanspeter zu.

Der Zirkus Lollypop, heimisch im Grau-bünden, ist ein Winzling mit hohen An-sprüchen. «Wir machen keine Unterhaltung. Kultur hat einen politischen Auftrag – alle

unsere Stücke sind politisch unkorrekt.» Den Auftrag erfüllen sie handfest: Jedes Jahr tourt der Zirkus einen Monat durch Osteu-ropa, um mit einheimischen Jugendlichen ein Programm auf die Beine zu stellen. Lohn kriegt in dieser Zeit niemand. «Dafür ist die Dankbarkeit der Jugendlichen umso grös-ser. Sie sind es sich nicht gewöhnt, dass sich jemand um sie kümmert, und sie sind

nicht so konsumverbraucht». In der Schweiz arbeitet der Lollypop mit jungen Menschen in schwierigen Lebenssituationen, veran-staltet Workshops und ist auch einige Male mit seiner Verschwörungstherapie zu sehen. Patientinnen und Patienten lesen bitte die Verpackungsbeilage auf www.lollypop-galaxys.ch. Wir weisen vorsorglich darauf hin, dass die Nebenwirkungen noch nicht erforscht sind. Die Besucher sind die ersten Versuchskaninchen. Der Zirkus Lollypop lehnt jegliche Haftung ab.

Mehr zu kleinen, originellen und ver-rückten Zirkussen erfahren Sie jetzt auf unserer Website und im Zeitpunkt 114 ab Ende Juni. Bereits hier verweisen wir auf die Internetauftritte der Zirkusse, denn: Ehret das heimische Zirkusschaffen! MH

www.circusballoni.ch www.pipistrello.chwww.broadway-variete.ch www.wunderplunder.chwww.cirquedeloin.ch www.fabrikk.chwww.zirkusfahraway.ch www.minicirc.ch

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Horizonte erweitern

Zeitpunkt 113 75

UHURU

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2011

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Religion und Kultur Seit 50 Jahren organisieren wir Pilgerfahrten und Kultur-Reisen. Wir sind der einzige Anbieter von Direktflügen Zürich-Lourdes-Zürich. Mit Begleitung von Redemptoristen-Patres. Unsere Reisepalette bietet u.a. Malta, Jordanien, Heiliges Land, Rom, Türkei, Portugal. Alles auf kirchlicher, gemischter oder rein kultureller Basis. orbis-Spezialität: Organisation von Pfarrei-Reisen.

Ca’stella Gästehaus GarniCH 6676 BignascoTel. 091 754 34 34 / Fax 091 754 34 33www.ca-stella.ch, [email protected]

Das spezielle Gästehaus für besondere MenschenDer Geheimtip im Vallemaggia! Unsere Gäste schätzen die ruhige Lage im alten Dorfkern, die liebevoll eingerichteten Zimmer im historischen Haus, das feine Frühstück in familiärem Ambiente, unsere individuelle Betreuung und echte Gastfreundschaft. Die kulturellen Möglichkeiten und die einzigartige Natur bieten Erlebnisse, Erholung und Inspiration für Familien, Singles, Gruppen und SeminarteilnehmerInnen. Unser Team freut sich auf euch. A presto!

Ayurveda-Pension Le CoconJ. Wäfler und M. DürstRue de la Combe-Grède 332613 VilleretTel. 032 941 61 [email protected], www.lecocon.ch

Ayurvedakuren im JuraLe Cocon, die kleine Kurpension mit familiärer Atmosphäre, ist ein idealer Ort zur Erholung.Mit ayurvedischen Massagen, Anwendungen und naturärztlicher Beratung, sowie mit einer schmackhaften Ayurvedaküche unterstützen wir unsere Gäste, so dass sich Körper, Geist und Seele regenerieren können.Unser Name zeigt unsere Zielsetzung: Le Cocon – von der Raupe zum Schmetterling.

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Horizonte erweitern

76 Zeitpunkt 113

Bet-Lektüre für Gläubige, Suchende und ZweiflerDrei Viertel der Menschen in unserem Kulturkreis beten. Trotz-dem haftet dem Beten etwas Peinliches und irgendwie Altmo-disches an. Lukas Niederberger, gewesener Jesuitenpater und ehemalliger Leiter des Lasalle-Hauses in Edlibach bei Zug tut es doch. Wann beten? Zu wem beten? Wofür beten? Über diese und viele andere Fragen denkt er in seiner «kleinen Bet-Letüre» nach und kommt zu erstaunlichen und vor allem hilfreichen Antworten. Die kleine Bet-Lektüre ist eine Gebetsschule für Menschen, deren Beten in den Kinderschuhen oder in klassischen Formulierungen stecken-geblieben ist und die eine stimmige Form der Kommunikation mit dem Göttlichen praktizieren möchten.Lukas Niederberger: Kleine Bet-Lektüre – Anleitung für Gläubige, Suchende und Zweifler. Grünewald, 2011. 184 S. Fr. 24.90/€ 14.90.

AfroPfingsten: Afrika trifft sich in WinterthurFarbenfrohe Märkte, ein reichhaltiges kulinarisches Angebot, einmalige Street-Art-Künstler und Märchenerzähler prägen das Strassenbild Winterthurs über das Pfingstwochenende. Die Besucher erleben afrikanische Traditionen und andere Weltkulturen hautnah, können aktiv an den vielfältigen Work-shops teilnehmen oder Live-Konzerte renommierter Musiker aus der ganzen Welt in der legendären Halle 53 geniessen. Die Kulturen Afrikas sind mittlerweile über den ganzen Glo-bus verstreut. Aber am Afro-Pfingsten Festival gibt es ein einzigartiges Zusammentreffen in Winterthur.

Der Freitagabend steht im Zeichen von Roots-Reggae: Ein farbenfroher Musik-Mix aus traditioneller und moderner afri-kanischer Musik und karibischen Reggae-Beats erwartet die Besucher. Die international bekannten Ausnahmetalente Ju-lian Marley und Alpha Blondy sorgen für einen fulminanten Festivalauftakt.

Am Samstagabend gibt der für exotisch-orientalische Klang-farben berühmte algerische Sänger Khaled seinen Hit Aïcha zum Besten und mit Papa Wemba gehört auch ein Urvater des afrikanischen Pop zu den Live-Acts.

Der Sonntagabend ist den weiblichen Stimmen gewidmet: Mit der stimmgewaltigen jamaikanischen Sängerin Diana King ist ein energiegeladener Abend garantiert.

Neben dem Unterhaltungsprogramm liegt es Festivalgrün-der Daniel Bühler jedoch am Herzen, auch den tieferen Sinn der Veranstaltung hervorzuheben: «Heutzutage wird der Fo-kus viel zu oft auf die Unterschiede zwischen den Kulturen gelegt. Mit Afro-Pfingsten wollen wir das Gemeinsame her-vorheben: Die Freude an Begegnungen und Entdeckungen von Neuem und Unbekanntem verbindet uns alle. Und die ernsten Themen dürfen nicht zu kurz kommen: So weist zum Beispiel der FairFair-Markt auf globale Missstände hin, schärft das Bewusstsein für Ungleichgewichte und lädt ein, selber Ver-antwortung zu übernehmen und aktiv zu werden.»Infos und Vorverkauf unter www.afro-pfingsten.ch oder bei rund 1 500 Starticket-Vorverkaufsstel-len.

Das grosse Lehmerlebnisecco terra organisiert seit fünfzehn Jahren die etwas anderen Sommerferien für

Experimentierfreudige. Diesen Sommer führt ecco terra ein Lehmerlebnislager für

Familien und ein Camp «Grund-

lagen des Lehmbaus» für Selbst-

bauer durch. Die Wochen finden

im Juli und August auf dem Gelän-

de einer ehemaligen Gärtnerei am

Waldrand bei Lieli AG statt.

Der Ort bietet ideale Möglich-

keiten für Lehmbau- und Spieler-

lebnisse, Skulpturen- und Ofen-

bauen, Gruben- oder Fassbrand,

Baden in einem kühlen Pool, Spie-

len auf der Wiese, Gelegenheit für

Lagerfeuer und Auskundschaften

des nahen Waldes. Fachleute ver-

mitteln den Teilnehmenden prak-

tische und theoretische Kennt-

nisse über Lehmbau und wie man

die richtige Lehmmischung her-

stellt, Lehm stampft, Weidenruten

zu einem Grundgerüst verflechtet,

den aufbereiteten Lehm auf die Konstruktionen aufträgt, verputzt, modelliert und

verziert. Die Teilnehmenden üben sich in Kunst und probieren traditionelle Ar-

beitstechniken aus.

Im Lehmerlebnislager vom 25.– 29. Juli 2011 gestalten die Teilnehmenden mit

Lehm und anderen Naturmaterialien Skulpturen, Wandreliefs oder bauen einen

Lehmofen. Im Camp «Grundlagen des Lehmbaus» ( 1. – 6. August 2011) lernen

die Teilnehmenden Lehm auf die richtige Konsistenz zu prüfen, Wände aus Wei-

dengeflecht mit Strohlehmbewurf zu festigen, Lehm aufzuschlämmen, Verputze

herzustellen und aufzuziehen, Trockenlehmsteine zu fertigen und vieles mehr.

Die Gäste übernachten am Waldrand im eigenen Zelt oder im Matratzenlager.

Der Preis inklusive Lagerbetreuung, fachliche Leitung und Verpflegung beträgt

560 Franken pro Person.

Info und Anmeldung: www.eccoterra.ch

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Horizonte erweitern

Zeitpunkt 113 77

Agenda

12. – 15. mai Die Zeit ist reifInternationaler Kongress

www.kongress-matriarchatspolitik.chTonhalle, St. GallenEintritt: 3 Tage Fr. 220.- / 150 Euro, 2 Tage 160 Fr. / 110 Euro, 1 Tag 100 Fr. / 70 Euro

Wir gehen in eine lebenswerte Gesellschaft

Wir suchen Wege aus der sich jagenden, weltweiten Krisen der patriarchalen Zivilisa-tion. Insbesondere die junge Generation ist auf der Suche nach einer grundsätzlichen Veränderung unserer Lebensweise. Deshalb wächst das Interesse an der matriarchalen Gesellschaftsform überall, die eine gewaltlose, egalitäre Gesellschaftsord-nung hat. Der Kongress ist diesen

Gesellschaften als Erbe der Menschheit, insbesondere der Frauen, gewidmet. Gleichzeitig soll er neue Wege aufzei-gen. Die praktischen Möglichkeiten, die sich aus dem Wissen über matriarchale Gesellschaften ergeben, nennen wir Matri-archatspolitik. Es gibt dazu viele Ideen und neue Handlungsweisen in der feministischen und in anderen alternativen Bewegungen. Aus ihnen kommen VertreterInnen auf dem Kongress zusammen. Was sie über ihre Aktivitäten berichten, ermutigt zum Handeln.

22. Mai Menschenstrom gegen AtomWeitere Informationen auf:www.menschenstrom.ch

Die Zukunft ist erneuerbarWer an der letztjährigen Grossdemonstra-tion gegen Atom teilgenommen hat, kennt die Kraft der Sonne. Rund 5 000 Personen demonstrierten von Niedergösgen nach Olten bei hochsommerlichen Temperaturen gegen den Bau neuer Atomkraftwerke und für eine Energiewende. Dass der Atomalbtraum nicht zu Ende ist, wurde uns in den letzten Wochen in Japan schmerzlich vor Augen geführt. Findet jetzt ein Umdenken statt?

Die nationale Abstimmung 2013 über den Bau von neuen Atomkraftwerken rückt näher. Es braucht eine kraftvolle, bunte, gewaltfreie und lustvolle Bewegung gegen die Atomlobby und für eine erneuerbare Zukunft. Die Zeit ist reif für einen zweiten Men-schenstrom. Ein länderübergreifendes Bünd-nis und ein eingespieltes Organisationsteam sorgen für einen reibungslosen Ablauf. Setzen wir am 22. Mai ein klares Zeichen für eine strahlenfreie Zukunft.

3. – 5. Juni Anarchist BookfairFarelsaalOberer Quai 12, BielEintritt freiwww.buechermesse.ch

2010 fand zum ersten Mal in der zweispra-chigen Stadt Biel/Bienne eine anarchistische Buchmesse statt. Mit gut 500 Besuche-rInnen war die Veranstaltung ein durch-schlagender Erfolg. Auch in diesem Jahr sind über 30 kritische Verlage, Zeitungen und Aussteller präsent und etliche Vorträge, Ausstellungen, Konzerte und Lesungen programmiert. Unter anderen liest Sebastian Kalicha aus: «Von Jakarta bis Johannesburg

- Anarchismus weltweit», Ulrike Bürger aus «Staudamm oder Leben! Indien: Der Wider-stand an der Narmada» und Claude Braun aus der Biografie des Flüchtlingskaplan Cornelius Koch «Ein unbequemes Leben». Für ein Wochenende wird Biel das Zentrum der Anarchie in der Schweiz. Keineswegs ein Grund zur Besorgnis, denn wie der Philosoph Pierre Joseph Proudhon schon sagte: «Anar-chie ist Ordnung ohne Herrschaft».

4. / 5. Juni 4. Permakultur-Tage Erlebnisgärtnerei DietwylerRüfenach (AG)www.permakultur.ch

Permakultur ist eine Methode, um stabile, sich selbst regulierende und sich erhaltende Systeme zu schaffen, indem uraltes Wissen und moderne Erkenntnisse über Mensch und Natur auf möglichst vielen Ebenen zur gegenseitigen Förderung verflochten werden. Vor ca. 40 Jahren von Bill Mollison in Australien entwickelt, wurde sie in Europa durch Sepp Holzer bekannt. In Japan erhielt Masanobu Fukuoka den Alternativen Nobel-preis als Schöpfer der Nichts-Tun-Landwirt-schaft. Permakultur wird weltweit

angewandt: In England vernetzen sich Dörfer zur Selbstversorgung, Gärten entstehen auf Hochhaus-Dächern, in Paraguay hilft sie die Folgen von Entwaldung und Brandrodung abzumildern, in Afrika ermöglicht sie der Be-völkerung zur Selbstversorgung auf kleinem Raum, wo Monokulturen alles Ackerland verschlungen haben.In der Erlebnisgärtnerei Rüfenach werden diese Ansätze umgesetzt – machen Sie mit bei den verschiedenen Workshops ( je Fr. 5.-) und erleben Sie die Permakultur hautnah!

10. – 13. Juni Festival Artisti di StradaStrassenkünstlerfestivalAsconaEintritt freiwww.artistidistrada.ch

Ascona, die Perle im Tessin, mit seiner tropischen Vegetation, seinen schmucken Gässchen, der Seepromenade, umrandet von majestätischen Bergen, lädt zum achten Strassenkünstlerfestival ein.

Während 4 Tagen zeigen Strassenkünstler aus verschiedenen Ländern mehrmals ihre Vorstellungen in allen Winkeln Asconas: Via

Borgo, Seepromenade, Piazza Motta, vor der Gemeinde-Bibliothek und auf der Piazza El-vezia. 100 Vorstellungen mit Mimik, Theater, Jonglage, Musik, Clownerie, usw. Die Künst-ler werden am Ende ihres Spektakels den Hut durch ein begeistertes Publikum reichen.Lachen, bewundern, sich amüsieren, das detaillierte Programm wird ab Mai 2011 verfügbar sein.

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Nachbarschaft

78 Zeitpunkt 113

Kleinanzeigen

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Ayurvedische Panchakarmakur in Zürich: 7-tägige Entschlackungskur mit Abhyanga-Massagen, entsäurender Ernährung, Yoga, Veränderungs-Coaching, Darmreinigung oder Gallenstein-Ausleitung. Mehr Infos: www.pan-chakarmakur.ch, Tel. 044 586 47 27

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Kontaktewww.Gleichklang.ch: Die alternative Kon-takt- und Partnerbörse im Internet für denkende Menschen!

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Bestellformular für KleinanzeigenDie Kleinanzeigen erscheinen ohne Aufpreis auf www.zeitpunkt.ch Keine Chiffre-Inserate!

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Zeitpunkt 113 79

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WohnenMöchten Sie in einer Hausgemeinschaft selbstbestimmt und gemeinschaftsorien-tiert leben? Bevorzugen Sie diese Wohnform als Alternative zum Alleinwohnen? Im Zentrum von Winterthur Seen steht ein neues Minergiehaus mit 16 individuellen Wohneinheiten, ausgestattet mit Kleinküche und Dusche. 3 Wohneinheiten sind noch frei. Vielfältige Gemeinschaftsräume, grosszügige Gemeinschaftsküche, Gästezimmer, grosses Bad sowie ein schöner Garten warten auf zukünftige Bewohnerinnen und Bewohner ab 50 Jahren. (nicht geeignet für Familien mit Kindern) Unter dem Dach der GESEWO (www.gesewo.ch) bestimmen die Bewohnerinnen und Bewohner das Leben im Hause selbst. Sie werden GenossenschafterIn und zeichnen einmalig An-teilsscheinkapital und ein Pflichtdarlehen. Infor-mationen: Hausverein Kanzlei-Seen, 052 242 03 52 oder via Mail an [email protected]

Gemeinschaftswohnen am Jurasüdfuss. Im nördlichen Dorfteil «Im Holz» von Lommis-wil SO entsteht eine generationenübergreifende Gemeinschaftsüberbauung mit Alpenblick, Obst-garten, Quellwasser und Bächlein mit Weiden-kultur im Stockwerkeigentum. Wir laden Euch gerne dazu ein, an natürlich gebauten Holz-Stroh-Lehm-Häusern mit zu gestalten, mit zu wirken und mit Interesse Gemeinschaft zu Leben. Nähere Informationen unter Tel. 032 641 07 25, www.haus-im-holz.ch.

Péry: Maultiere-Esel-Schafe-Ziegen…Dieses an ruhiger, zentraler Lage stehende, mit viel Geschmack total - sanft renovierte, liebliche Bauernhaus (BJ 1850) mit seinem wildromantischem Bio-Garten – euer neues Pa-radies – wird eure Halter vollends entzücken! 1 833 m3 SIA. Wohnfläche: 263 m2. Grundstück: 1 538 m2 (Bauland). CHF 774 000.– SAR ma-nagement, 2554 Meinisberg Tel. 032 378 12 03 – Fax: 032 378 12 04 [email protected] – www.sarimmo.ch

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Auskunft, Detailprogramm:Kurse FPA, Postfach 801, CH–6301 Zug

Tel. 041 710 09 49, Fax 041 711 58 [email protected] · www.arbeitskreis.chwww.fhnw.ch/technik

Bachelor in Energie- und UmwelttechnikDer neue zukunftsweisende Studiengang

Das weitere Studienangebot an der Hochschule für Technik FHNW– Elektro- und Informationstechnik – Mechatronik trinational– Informatik – Optometrie– iCompetence – Systemtechnik (Automation)– Maschinenbau – Wirtschaftsingenieurwesen

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80 Zeitpunkt 113

Leserbriefe

das magIsche wort: null proZent ZInsDownsizing, ZP 112Immer wieder lese ich im Zeitpunkt über das magische Wort 0 Prozent Zins, aber noch nie, wie der nächste Schritt sein soll. Denn die niedrige Zinspolitik, die wir seit einigen Jahren kennen, führt zu mehr Ver-schuldung und mehr Not. Immer wenn der Zins auf dem Markt nach unten fällt, sollte eine höhere Abzahlungsrate für die von den Geschäftsbanken erteilten Hypo-theken und Kredite verlangt werden. Ein Eigenheim oder eine Eigentumswohnung sollte in 30 und nicht erst in 60 bis 70 Jah-ren abbezahlt werden, denn in 30 Jahren stehen Erneuerungen und Renovationen an. Wer schneller die Kredite zurückbezahlen kann, wird auch von den Geldgebern neue Kredite erhalten.

Seit rund 40 Jahren kennen wir die land-wirtschaftlichen Investitions-Kredite, ohne Zins mit einer grossen Abzahlungsrate, die im Laufe von 20 Jahren praktisch ohne Verluste für den Geldgeber zurückbezahlt werden. Warum soll die gleiche Geldauslei-he nicht auch für unsere Handwerker, Un-ternehmer und Hausbesitzer möglich sein? Damit der Zins auf null Prozent fällt, muss dringend eine Geldumlaufsteuer eingeführt werden. Andreas Sommerau, Filisur

beVölkerungsdynamIk dIfferenZIert erklärenDie Bevölkerungsdynamik nur zinsbedingt zu erklären, erscheint mir etwas zu eng. Ich möchte hier auf das ‹enclosure movement› verweisen.

Die Einhegung der Allmende und die wirtschaftliche Verwertbarkeit dieser durch den Adel hat den Menschen damals (bis heute) ihrer Möglichkeit beraubt, subsistent zu leben. Daher waren (sind) sie gezwun-gen, ihr Menschsein auf dem Arbeitsmarkt zu verkaufen, um ihr blosses Überleben si-cher stellen zu können.

Das führt zu einem Reproduktionszwang, um im Alter durch seine (möglichst zahl-

reichen) Kinder versorgt werden zu können (in der 3. Welt heute noch gültig).

Die Bevölkerungskurve steigt historisch auch reziprok zur Intensität des ‹enclosure movements› an.http://en.wikipedia.org/wiki/Enclosure

Lars Lange, Köln

steInIger weg für andersdenkendeDieses «neue Denken» kann sich nur schwer ausbreiten, denn die «Massenverblödungs-waffen», wie Sie die Werbung korrekt be-nennen, sind Handlanger der Politik, Wirt-schaft oder Banker. Erst wenn eine Mehrheit der Bevölkerung sich von der unterwürfigen Autoritätsgläubigkeit verabschiedet, wird sich etwas ändern. Denn dann könnte im ersten Schritt die Abschaffung der parla-mentarischen, staatlichen und diploma-tischen Immunität erreicht werden. Im zweiten Schritt den herrschenden Minder-heiten Arbeitsverträge ausgestellt werden, die jederzeit kündbar sind und in denen der Arbeitgeber (die Bevölkerung) u.a auch die Höhe ihrer Bezüge bestimmt.

Da sich Politiker oder Wirtschaftler jedoch gerne selbst als «Elite» bezeichnen und die Bevölkerung für blöd halten, ist es für an-dersdenkende Minderheiten ein mühsamer, steiniger und teilweise auch gefährlicher Weg, diesen Wahnsinn zu stoppen. Von ei-ner Demokratie sind wir auch in den west-lichen Industrienationen weit entfernt.

Renate Humbel, Fahrwangen

bauchgefühl bestätIgtDas ist bei weitem das Beste, was ich zu dieser Problematik seit Jahren, wenn nicht sogar Jahrzehnten, zu lesen bekam. Hoch-konzentrierter Stoff, der gewiss der ausführ-lichen Diskussion und Erklärung bedarf, der aber grundsätzlich (fast) alles enthält, was dabei zu berücksichtigen ist, die richtigen Erkenntnisse daraus gewinnt und somit auch die (leider) unausweichlichen Konse-quenzen aufzeigt. Ich bin ebenso begeistert darüber, wie dankbar dafür, das bekommen

und gelesen zu haben. Vermutlich auch, weil darin sehr klar dargelegt wird, was mir mein «Bauchgefühl» schon seit längerem «sagt». Martin Dittes

phänomene VerstehenGanz herzlichen Dank für Ihren Artikel ‹die Gier ist es nicht›. Er ist spannend zu lesen, ich erfahre neue geschichtliche Hintergrün-de und es geht nicht darum, einfach alles schlecht zu reden. Ein Versuch, ein Phäno-men zu verstehen, Orientierung zu bekom-men. Ja, Naturgesetze zu verstehen und sie zu akzeptieren, scheint im Falle vom ewigen Wachstum nicht leicht zu sein.

Sehr viel Freude hat mir der Schluss des Artikel bereitet, mit dem Ausblick in die neue Physik und dem Anstoss, bei uns selbst zu beginnen. Wir müssen selbst in unsere Verantwortung kommen und aufhören zu lamentieren. Ueli Hunziker, Winterthur

VIer produktIons-beschleunIger1. Die Bibel: Seid fruchtbar und vermehrt euch.2. Die Erfindung der Sense im Mittelalter: Um eine Kuh in Mittel- und Nordeuropa über den Winter zu bringen, braucht man viel Heu. Mit der Sense leicht und in grossen Mengen herstellbar. Mit den Kühen wiede-rum konnte man mehr Menschen ernäh-ren.3. Die Pest hat in manchen Gegenden Eu-ropas bis zu 50 Prozent der Bevölkerung dahingerafft. Zusätzlich wurden die Weisen Frauen als Hexen vernichtet, wodurch das Jahrtausende alte Wissen der Fruchtbar-keitskontrolle mit vernichtet wurde.4. Die Gründung der Bank of England, wie im Artikel von Christoph Pfluger beschrie-ben. Erhard Birkenstock, Lausanne

gelungenMit ‹die Gier ist es nicht› ist Ihnen ein her-vorragender Artikel gelungen. Es ist nicht einfach, bei diesem Thema nicht in Pole-mik oder Sarkasmus zu verfallen, Sie aber

[email protected]

Page 81: ZP 113 – Der Mensch braucht Nachbarschaft

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Leserbriefe

bleiben sachlich und trotzdem kurzweilig, während Sie die komplexen Stränge des Themas zusammenführen.

Armin Hipper, Neukirch

Vom wohlstand Zum glückstandWenn wir unseren Wohlstand teilen, kom-men wir zum Glücksstand. Als ich dies einer Numerologin sagte, wusste sie sogleich, dass dieses Wort die gleiche Summe hat wie Selbst-heilung! Christina Dieterle, St. Gallen

kommunIkatIon mIt uns selbstDas Negativ, ZP 112Es ist interessant, wie Medien mit uns um-gehen. Ist es aber nicht auch im zwischen-menschlichen Umgang, von Mann und Frau, von Nachbar zu Nachbar, von Erwachsenen zu Kindern, oft auch eine Negativ/Positiv-Kommunikation im Miteinander? Und wie sieht es uns gegenüber aus? Hören wir auf uns, geben wir unseren Bedürfnissen Raum? Sind wir einverstanden mit uns, akzeptieren wir uns vollständig, wie wir sind? Ich denke, genau hier und jetzt kann jeder bei sich an-fangen, ehrlich, tolerant und würdigend mit sich umzugehen. Das ist der erste Schritt für einen besseren Umgang in der Welt.

Michael Sacherer, Freiburg i.Br.

lärm als dauerberIeselungMusik – alles Leben ist Schwingung, ZP 111In Sachen Lärm erneut aufgeschreckt wur-

de ich, als ich las, dass nun sprechende Plakatwände erfunden wurden, dass sich Coop und Migros überlegen, wie man die Kunden in den Läden mit verschiedenem Musikangebot von Abteilung zu Abteilung bei Laune halten will.

Was sicher nicht nur mich stört, ist die dauernde Musikberieselung in den Läden, den Cafés, den Toiletten, den Zahnarztpra-xen. Natürlich kann man reklamieren und verlangen, dass die Musik abgestellt oder leiser gestellt wird, aber meistens bleibt der verständnislose Blick des Personals übrig. Das Nervigste aber ist die «Begleitmusik» in den Informations-Fernsehsendungen, von der ‹Tagesschau› bis zur Medizin-Sendung. Es bleibt mir jeweils nichts anderes übrig, als die Lautstärke so zu reduzieren, dass man den Sprecher gerade noch hört. Ich habe dem Fernsehen zwar schon einmal ein Mail zu dieser Sache gesendet, bis anhin aber keine Antwort erhalten.

Werner Fricker, Recherswil

Zu wenIg radIkalGrundsätzlich bin ich ein Mensch, der die «Lösung», wenn es eine gibt, mit Begriffen wie «Toleranz» oder «Integration» sucht, also auf eine friedliche Art. Wie Ihr. Trotzdem ist mir Eure Publikation zu wenig radikal. Es mag für einige Leute radikal sein, sich nun plötzlich ernsthaft mit einem Thema wie ‹Grundeinkommen› oder ‹Décroissance› zu befassen, mir persönlich geht dies allerdings zu wenig weit. Sandro Burkhart

rIchtIger ImpulsSeit einigen Jahren bin ich begeisterter Zeit-punktleser und damit auch Unterstützer. Als kritischer Zeitgeist habe ich gleich zu Beginn meines Abos bemängelt, dass der Zeitpunkt nicht auf Recyclingpapier gedruckt wird, bzw. dies nicht im Impressum ausgelobt wird. In dieser Ausgabe habe ich mit Freude entdeckt, dass Rebellorecyclingpapier schon genannt wird. Toll! Wenn der Zeitpunkt nun noch seine Gelder nachhaltig verwalten würde (z.B. bei der Ethikbank oder GLS Bank) wäre dies absolut glaubwürdig und ein Impuls in die richtige Richtung. Hannes Butenschön, Wiesbaden

gutes gleIchgewIchtIch finde es supertoll, dass es eure Zeit-schrift gibt. Sie ist zu 100 Prozent ein grosser Mehrwert für unsere Gesellschaft. Super fin-de ich, dass ihr ein sehr gutes Gleichgewicht findet zwischen ‹Esoterik› ‹Religion› ‹Politik› ‹Alternativ› ‹Öko› und all diesen Schubladen-Bezeichnungen, die es gibt. Für mich ist der Zeitpunkt eine lebensnahe Zeitschrift und offen für alles, was in unserer Medienwelt keinen Platz findet. Gratulation! Bleibt euch treu. Eure Vielfalt ist die Würze.

Raffael Gasparini, Richterswil

aufgewühlt und dankbarAls seit Jahren begeisterte Leserin bin ich je nach Beitrag beglückt – ermuntert – aufge-wühlt – zweifelnd – dankbar immer, dass es den Zeitpunkt gibt. Verena Wälti, Ligerz

VerlagsmitteilungDer

nächste Zeitpunkt

«Der Sprung ins Kalte Wasser»

ist das Schwerpunkthema des

nächsten Heftes mit vielen Mutmacher-

Geschichten – vielleicht auch Ihrer?

Schicken Sie uns ein paar Stichworte

oder eine Kurzfassung. Wir nehmen

dann Kontakt mit Ihnen auf und schrei-

ben die Geschichte für Sie auf. Die Idee

dahinter: Mut ist ansteckend und ins

kalte Wasser müssen wir immer wie-

der mal springen – das nächste

Mal Ende Juni am Kiosk oder

im Briefkasten.

Wenn Michael Huber diese Zeilen liest, wird er wohl irgendwo in der Türkei sein, unterwegs zu einer Um-rundung des Kaspischen Meeres per Velo. Zwei Jahre hat er mit einem Teilpensum den Zeitpunkt bereichert, zuerst als Praktikant, dann als zeich-nender Redaktor. Er wird im Herbst bestimmt etwas zu erzählen haben – und Sie hoffentlich etwas zu lesen.

An seine Stelle ist Samanta Siegfried gerückt, die in Basel Medienwissen-schaften und Ethnologie studiert. In ihrer Bewerbung schrieb sie: «In ei-ner Zeit des Alles-Einbeziehens, fehlt meiner Meinung nach eine ‹selektive

Vernunft›.» Der Zeitpunkt sei ein gutes Beispiel, wie mit der Informationsfül-le umzugehen sei und deshalb möchte sie gerne auf der Redaktion arbeiten. Nachdem sie mich mit der selektiven Vernunft überzeugt hat, muss sie jetzt nur noch Sie überzeugen. Bei dieser schwierigen Aufgabe wünsche ich ihr viel Erfolg.

Bis Ende Juli wird sie noch einige Arbeiten unserer Verlagsassistentin Hannah Willimann übernehmen, die für ein Semester ihres Master-Studi-ums in Germanistik nach Mainz ge-zogen ist.

Christoph Pfluger, Herausgeber

Page 82: ZP 113 – Der Mensch braucht Nachbarschaft

82 Zeitpunkt 113

Erklärungen zur Zeitgeschichte

Geni Hackmann

Motto: Es ist fast unmöglich, die Fackel der Wahr-heit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu versengen.

Lichtenberg

Zuerst hielt man ihn für Sarkozys Krieg. Doch: Der französische Präsident kann zwar einen Krieg wollen, aber nicht durchsetzen. Dazu braucht es noch immer die Zustimmung der Amerikaner, und die führen Kriege nur

um Ressourcen. Humanitäre Gründe oder Bedrohungen durch Terror oder Massenvernichtungswaffen dienen als Vorwand. Das ist auch in Libyen so. Hunderte von westlichen Militärberatern, Geheimdienstleuten und Propagandisten trafen schon Wochen vor Beginn der Kriegshandlungen in Libyen ein und bereiteten sich auf das Startsignal aus dem Sicherheitsrat vor.

Vorher musste der Krieg aber noch der Weltöffent-lichkeit verkauft werden, und wie immer leistete ein neuer Begriff wunderbare Dienste: die Flugverbotszone. Ich weiss nicht, was sich der von den Medien weich gespülte Mensch unter einer Flugverbotszone alles vor-stellen mag, ein Fahrverbot für Flugzeuge oder eine Abschrankung vielleicht. Aber ganz sicher nicht das, was es ist: nämlich Krieg, mit allen Folgen.

Ein ganz anderes Begriffsproblem haben die Mäch-tigen dieser Welt mit Fukushima: Wie lässt sich die Atomtechnologie retten? Zunächst muss sichergestellt werden, dass die berüchtigte «Kernschmelze» nicht ins öffentliche Bewusstsein eindringt. Dafür sorgen seit Aus-bruch der Katastrophe eine Fülle von unerheblichen Er-folgsmeldungen und schwer verständlichen Messungen: «Fukushima hat wieder Strom» oder «1 000 Millisievert gemessen». 1 000 Millisievert, das klingt nach wenig, ist aber das Millionenfache des Strahlengrenzwertes. Ob der Gewöhnungseffekt eintritt und die Atomlobbyisten je wieder von «Brückentechnologie» sprechen können ohne Wahlen zu verlieren, ist zur Zeit noch unklar. Denn die Kernschmelze, die unkontrollierbare Erhitzung der Brennelemente, ist eingetreten. Damit dies die Weltöf-fentlichkeit nicht merkt, haben hilflose Feuerwehrleute tagelang Wasser in die glühenden Ruinen gespritzt und bestenfalls eine leichte Verlangsamung des Desasters erreicht. Warum die Kühlung von Brennelementen nicht mehr funktionieren kann, wenn der Druck im System einmal zusammenbricht, das erklärt ein Effekt, den der deutsche Naturwissenschaftler Johann Gottlob Leiden-frost vor 255 Jahren beschrieben hat.

Jeder, der schon einmal einen Wassertropfen über eine heisse Herdplatte hat tanzen sehen, kennt den Lei-denfrost-Effekt. Anstatt sofort zu verdampfen, schwebt der Tropfen berührungslos auf einer feinen Dampf-schicht. Dieser Effekt ist in Atomkraftwerken höchst unerwünscht, da er die Kühlwirkung des Wasser um das 233-fache verschlechtert. Sobald an der Reaktor-oberfläche eine Dampfschicht entsteht, und sei sie noch so dünn, kann nicht mehr richtig gekühlt werden, egal wie viel kaltes Wasser hineingepumpt wird.

Um den Leidenfrost-Effekt zu verhindern, wird das Kühlwasser unter hohem Druck gehalten. In Fukushima waren es rund 70 bar. Zum Vergleich: Ein Autoreifen hat einen Druck von 2,5 bar. Sobald der Druck in einem Siedewasserreaktor allerdings abreisst (z.B. wegen Riss, Alterung, Erdbeben, Messfehler, Flugzeugabsturz etc.) wird das 275 Grad heisse Wasser schlagartig dampf-förmig und die Kühlwirkung sinkt dramatisch. Ab 800 Grad entsteht dann nicht mehr nur Wasserdampf, son-dern auch Wasserstoff und Sauerstoff, eine Knallgas-Explosion ist die Folge.

Fazit: Eine Notkühlung kann nur erfolgreich sein, wenn der Druck im zerstörten Containment eines Re-aktors wiederhergestellt werden kann, und das ist unter den Bedingungen einer Nuklear-Katastrophe so gut wie unmöglich. Dazu kommt: Steigt die Temperatur im Reaktor, sind wesentlich höhere Drücke nötig. Bei 263ºC sind es 50 bar, bei 311ºC 100 bar, bei 342ºC 150 undsoweiter. Unkontrollierbar!

Auch der Fukushima-Effekt ist für die Politik noch unkontrollierbar. Bis sie eine neue Strategie ausgeheckt hat, hält sich die Atomlobby in der Defen-sive und an bewährte Begriffe wie «Stromlücke» und «Kernkraft», während der Volksmund «Atomenergie» sagt. Wer von «Kern» spricht, gibt sich zuverlässig als Lobbyist zu erkennen, so auch unsere Umwelt- und Energieministerin. In einem Interview mit dem Tages-Anzeiger vom 26. März 2011 brauchte Doris Leuthard dreizehn mal das Wort «Kernenergie» oder «Kernkraft» und nur ein einziges Mal das Wort «Atom», und zwar um zu sagen, es sei «Unsinn», sie als «Atomlobbyistin» zu bezeichnen. Unglücklicher kann ein Dementi fast nicht ausfallen.

Brennende Bärte