zum seelsorgerlichen umgang mit ungewöhnlichen erfahrungen ... · ramtha-esoterik: zum kino-start...

44
MATERIALDIENST Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen 68. Jahrgang 11 / 05 ISSN 0721-2402 H 54226 Kontakt zu Toten Zum seelsorgerlichen Umgang mit ungewöhnlichen Erfahrungen Psychotherapie des Bewusstseins Ein Kongress der Akademie Heiligenfeld Bald erste „humanistische Schule“ in Deutschland? Quantenphysik, Gehirnforschung und Ramtha-Esoterik: Zum Kino-Start von „Bleep” Sri Chinmoy auf World-Harmony- Concert-Tournee Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen

Upload: others

Post on 01-Sep-2019

6 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

MAT

ERIA

LDIEN

ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen

68. Jahrgang 11/05IS

SN 0

721-

2402

H 5

4226

Kontakt zu TotenZum seelsorgerlichen Umgang mit ungewöhnlichen Erfahrungen

Psychotherapie des BewusstseinsEin Kongress der Akademie Heiligenfeld

Bald erste „humanistische Schule“ in Deutschland?

Quantenphysik, Gehirnforschung undRamtha-Esoterik:Zum Kino-Start von „Bleep”

Sri Chinmoy auf World-Harmony-Concert-Tournee

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

umschlag11.qxd 18.10.05 11:48 Seite 1

Ulrike Wagner-RauKontakt zu TotenSeelsorgerlicher Umgang mit spiritualistischer Religiosität im Trauerprozess 403

Angelika Koller / Michael UtschPsychotherapie des BewusstseinsEin Kongress der Akademie Heiligenfeld 415

Christian RuchDer Vatikan und VassulaNeue Nuancen in der Bewertung des Privatoffenbarungswerkes „Das wahre Leben in Gott“ 419

Ki-BewegungenFeng Shui kommt zu akademischen Ehren 423

ParapsychologieInternet-Lexikon der Paranormologie 424

Freigeistige BewegungAuf dem Weg zur ersten „humanistischen Schule“ in Deutschland 424

EsoterikDie aktuelle Debatte um Andrew Cohen 425

Quantenphysik, Gehirnforschung und Ramtha-Esoterik: Zum Kino-Start von „What the Bleep do we know!? Ich weiß, dass ich nichts weiß” 430

Apostolische GemeinschaftenZum Bericht „Braucht die Kirche noch Apostel?“ 432

HinduismusSri Chinmoy auf World-Harmony-Concert-Tournee 433

In eigener SacheFachtagung „Weltethos und Weltfrieden“ 435

INHALT MATERIALDIENST 11/2005

IM BLICKPUNKT

INFORMATIONENBERICHTE

INFORMATIONENINFORMATIONEN

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 401

Harald LamprechtNeue RosenkreuzerEin Handbuch 436

Bernd Wedemeyer-Kolwe„Der neue Mensch“Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik 437

Annekatrin PuhleDas Lexikon der GeisterÜber 1000 Stichwörter aus Mythologie, Volksweisheit, Religion und Wissenschaft 438

INFORMATIONENBÜCHER

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 402

403MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

1. Alle Trauernden haben Kontakt zu den Verstorbenen

Trauernde haben auf die eine oder andereWeise Kontakt zu den Menschen, derenVerlust Ursache ihrer Trauer ist. Zugespitztkann man sagen: Der Trauerprozess istnicht nur ein Geschehen, das die Trauern-den selbst betrifft, sondern eine spezifi-sche Beziehungsform zu verlorenen Men-schen. In dieser Beziehung gibt es viel-fältige Möglichkeiten des Kontaktes, beidenen die Hinterbliebenen nicht immerscharf unterscheiden können oder wollen,welche Realität den Begegnungserfahrun-gen zuzuschreiben ist, oder es den Trau-ernden zuweilen fraglich ist, ob die Initia-tive dazu ausschließlich von ihnen selbstausgeht oder auch die Toten aktiv sind.Direkt nach dem Tod ist der Kontakt nochunzweifelhaft greifbar und leiblich mög-lich. Man kann bei den Verstorbenenwachen, sich um sie versammeln. Mankann sie waschen und bekleiden. Mankann sie in den Sarg legen und ihnen be-ziehungsvolle Gegenstände an die Seitegeben. In all diesen Handlungen, abereben auch über sie hinaus sind die Totenpräsent in Gedanken und in Empfindun-gen, in Erinnerungen, in Phantasien undTräumen1 und in den zahllosen Erzählun-gen über die Vergangenheit. Nicht seltenhalten die Trauernden noch lange an denLebensgewohnheiten fest, die sie mit den

Verstorbenen verbunden haben, deckenden Tisch so, als äße man noch gemein-sam an ihm, beharren auf dem leeren Bettan ihrer Seite, an den Kleidern imSchrank, an der unveränderten Ordnungim verwaisten Zimmer. Häufig unterliegensie Sinnestäuschungen, meinen den Toten/die Tote flüchtig in einer Menschenmengewahrzunehmen, hören den bekanntenSchritt auf der Treppe, empfinden denGeruch, der aus jahrelangem Kontakt ver-traut und lieb geworden ist. Aber überdiese Phänomene der Erinnerung und dergeistig-emotionalen Präsenz der Totenhinaus gibt es auch immer wieder Erschei-nungen, die als Verweise auf eine anders-artige Realität der Toten gelesen werdenkönnen: Trauernde haben Visionen oderAuditionen, in denen die Toten sich ihnenzeigen. Sie beobachten Veränderungen imHaus und im Lebensumfeld, die sie an eingeheimnisvolles Eingreifen der Verstorbe-nen denken lassen. Sie empfangen Bot-schaften über Dritte, die so detailliert aufTatsachen zurückgreifen, die eigentlichnur die verlorenen Menschen kennenkönnen, dass es sich nahe legt, den Ab-sender dieser Botschaften in einer ande-ren Welt neben der uns bekannten zu ver-muten. Alle, die Trauernde auf ihrem Weg be-gleiten, werden mit Erfahrungen undPhänomenen2 konfrontiert, die auf einebleibende Möglichkeit der Präsenz der

Ulrike Wagner-Rau, Marburg

Kontakt zu TotenSeelsorgerlicher Umgang mit spiritualistischer Religiosität im Trauerprozess

IM BLICKPUNKT

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 403

404

Toten in der Welt der Lebenden hin-zudeuten scheinen. Für die Trauerndenselbst sind solche Erfahrungen oft höchstambivalent: Die Freude und Aufregung, mitdem verlorenen, vermissten Menschen inKontakt zu treten, mischt sich mitSchrecken. Denn dass die Toten tot sindund nicht mehr erreichbar für die Leben-den, ist ebenso eine schmerzliche Er-fahrung wie auch eine basale Annahmedes westlichen Wirklichkeitsverständnis-ses. Wenn diese Annahme erschüttert wird,löst das nicht nur Staunen, sondern auchBeunruhigung und Erschrecken aus. DerErdwurf am Grab, Bestandteil einerchristlichen Bestattung, verweist symbo-lisch schon auf die Ambivalenz, die eineErscheinung von Toten auslöst: Die Erdeauf den Sarg zu werfen und ihr Poltern aufseinem Deckel zu hören, vermittelt einer-seits die bittere Einsicht, dass nicht wieder-kommt, wer unter diesem Deckel begrabenwird. Zugleich bestätigt der Erdwurf dasauch: Wer hier liegt, bleibt dort.3 Manmuss ohne ihn leben, das ist die eine Seite.Man kann aber auch sicher sein, dass ernicht wiederkehrt; man ist frei von ihm.Das ist die andere Seite. Das Hinabwerfender Erde hat aggressive Anteile, ohne dieMenschen sich nicht voneinander trennenkönnen. Wenn Tote – auf welche Weiseauch immer – den Kontakt zu den Leben-den suchen, so erfüllt sich darin nicht nureine Sehnsucht der Trauernden, sonderndie Erfahrung hat auch bedrohliche Seitenfür sie, weil nicht mehr klar ist, was gilt.

2. Pluralisierung der Deutung des Todes

In den letzten drei Jahrzehnten haben sichdie Deutungen des Todes in Europa plu-ralisiert. Es gibt keine gesellschaftlich do-minierende religiöse oder philosophischeAussage darüber, was nach dem Tod zuerwarten sei. Und die Deutung des Todeshat sich individualisiert: Sie ist für viele

Menschen nicht mehr eingebunden inden Zusammenhang einer Sozial- undGlaubensgemeinschaft, in der gemein-same Überzeugungen geteilt und auch rituell dargestellt werden, sondern siemuss je individuell angeeignet und plausi-bilisiert werden. Die Trauer- und Bestat-tungskultur verändert sich in diesem Zu-sammenhang, der das kirchliche Handelnin Seelsorge und Bestattungsritual vorneue Herausforderungen stellt. Dabeischeint mir wichtig zu sein, was in einemDiskussionspapier der EKD zum Themaherausgestellt wird4: Die Individuali-sierungsprozesse haben nicht nur prob-lematische Erscheinungen zur Folge, son-dern bewirken auch in vielen Fällen eineengagierte persönliche Auseinanderset-zung mit dem Sterben und der Gestaltungdes Abschiedes von den Toten. Die Ten-denz, die Sorge für die Sterbenden unddie Toten den professionellen Agenten zuüberlassen, wird durch die Bemühung umdie individuelle Sterbebegleitung und umdie persönliche Gestaltung der Trauerfeierwie in dem Bestehen auf dem je eigenenWeg der Trauer produktiv unterbrochen. Die christlichen Vorstellungen über Todund Sterben und die aus ihnen erwach-sene Frömmigkeitspraxis geraten im Kon-text unterschiedlicher religiöser Vorstel-lungen und vielfältiger individueller Le-benssituationen in einen Prozess der Neu-orientierung. Dabei spielt eine wichtigeRolle die Auseinandersetzung damit, dassmit der religiösen Pluralisierung und Indi-vidualisierung sich auch im Westen Reli-gionsformen verbreitet haben, die mit un-terschiedlichen Ausprägungen der Lehrevon der Wiedergeburt5 verbunden sind.Oft wird in diesen religiösen Kulturen dieVorstellung gepflegt, dass ein Kontakt zuToten möglich bzw. sogar – wie derSpiritismus verspricht – aktiv herzustellensei.6 Empirische Untersuchungen zeigendie beachtliche Verbreitung solcher Vor-

MATERIALDIENST DER EZW 10/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 404

stellungen. Ein großer Anteil der deut-schen Bevölkerung (52,5 Prozent) neigtzwar der Vorstellung zu, dass mit dem Todalles aus sei. 43 Prozent aber glauben anein Leben nach dem Tod, 52,6 Prozent anein Weiterleben der Seele. 29 Prozent ver-trauen auf die Auferstehung der Toten,25,7 Prozent stimmen der Vorstellung derReinkarnation zu. Ähnliche Ergebnisseliegen auch für andere europäische Län-der und die USA vor: Ungefähr ein Viertelder Bevölkerung ist mehr oder wenigerüberzeugt von der Lehre der Seelenwan-derung.7 Auch viele Kirchenmitgliederzählen zu denen, die sich mit Vorstellun-gen einer Seelenwanderung identifizie-ren. Die persönlichen Überzeugungenwerden ergänzt durch kulturelle Erzeug-nisse und Angebote, die eine Welt derToten inszenieren, die nur durch einedünne, durchlässige Wand von der Weltder Lebenden getrennt ist: Filme, Bücher,Workshops, Therapien beziehen sich aufdie Möglichkeit, Kontakt zu Toten her-zustellen, legen nahe, selber Erfahrungenan der Schwelle des Todes zu machen,und sprechen davon, dass Erinnerungenan frühere Leben zu aktivieren seien.8Dass es möglich sei, hinter die Grenzender Geburt zurück- bzw. über die desTodes hinauszukommen, ist ein vielfältigvariiertes Thema. Fast erscheint es, als obdie wachsenden medizinisch-technischenMöglichkeiten, das Leben vor der Geburtzu manipulieren und die Spanne bis zumTod immer weiter hinauszuschieben, soetwas wie eine geistig-religiöse Rückseiteentwickeln. Rüdiger Sachau hat in seinerAnalyse westlicher Reinkarnationsvorstel-lungen überzeugend argumentiert, dassein wesentlicher Reiz dieser Vorstellungendarin liege, dass sie auf moderne Fragenund Problematiken antworten: Auf dasProblem der überfordernden Vielfalt anLebensmöglichkeiten, die in einem Lebennicht auszuschöpfen ist, würden sie ant-

worten mit dem Konzept vieler aufeinan-der folgender Leben. Die Möglichkeit, injedem Leben neu zu lernen, schaffe Ent-lastung von den Grenzen dessen, was ineinem Leben zu erreichen sei. Und die fürdas moderne Individuum beunruhigendeVorstellung, dass es ein Ende mit ihmhaben könne, werde durch das Ver-sprechen der Wiederkehr in anderer Ge-stalt, aber mit einer dennoch sichdurchziehenden Identität gelöst.9Dieser Aufweis eines funktionalen „Pas-sungsverhältnisses“ von individualisierterModerne und neuen Religionsformen istaufschlussreich. Ebenso wichtig ist es, dieintensive religiöse Suchbewegung wahr-zunehmen, die sich in der Auseinander-setzung mit unterschiedlichen Vorstellun-gen im Zusammenhang von Sterbe- undTrauererfahrungen ausdrückt. Weil vieleoffene Fragen und Ratlosigkeit im Hin-blick auf die Deutung des Todes unter denMenschen lebendig sind, werden viel-fältige Antwortmöglichkeiten gesucht undim kulturellen Diskurs angeboten. Auchfür Menschen, die sich selbst nicht aktivoder nur am Rande mit neureligiösenVorstellungen befassen, liegen sie dochpotentiell nahe, weil sie kulturell präsentsind. Sie können aufgegriffen werden,wenn die Lebenssituation eine Affinität zuihnen erzeugt. Wer einen Menschen verloren hat, hateine solche Affinität. Denn Trauernde sindauf der Suche nach Deutungen und Verar-beitungsmöglichkeiten dessen, was ihnenwiderfährt. Sie fragen danach, wohin mandie Toten denken kann, ob man in Angstum sie sein muss. Sie sehnen sich danach,sie zu erreichen. Wenn Erfahrungen ge-macht werden, dass die Toten nicht immertot bleiben, sondern sich Erfahrungen inder Lebenswirklichkeit der Trauerndenmanifestieren, die „übernatürlichen“,spirituellen Charakter zu haben scheinen,werden diese Fragen dringlicher und zu

405MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 405

wesentlichen Themen der seelsorgerlichenBegleitung. Die Seelsorge hat eine spezifische Per-spektive auf die Wirklichkeit, die aus ihrerOrientierung an der Beziehung zum lei-denden Menschen resultiert. Sie richtet ihrWahrnehmungsinteresse nicht primär aufdas, was man wissenschaftlich begründenkann. Sie bewegt sich auch nicht zu-allererst in der Auseinandersetzung mitFragen der dogmatischen Orientierungdes Glaubens. Beide Zugriffe auf dieWirklichkeit sind zwar alles andere als be-deutungslos vor allem in der Theorie derSeelsorge, weil sie die Wirklichkeits-wahrnehmung strukturieren. Aber in derPraxis der Seelsorge treten sie eher zurückhinter die Aufmerksamkeit für das, was inder subjektiven Perspektive der Trauerndenwirklich ist und wirkt und sich in derBeziehung zum Seelsorger/zur Seelsorgerinabbildet. Die Modelle und Hypothesen derTheorie sind durch diese Perspektive derlebendigen Erfahrung immer wieder zuüberprüfen und zu korrigieren. Wenn ein trauernder Mensch von einemErlebnis berichtet, das auf einen Kontaktzu Verstorbenen verweisen könnte, danngeht es also zunächst nicht um ein Urteildarüber, ob es so etwas nachweislich gibt– das gilt sogar dann, wenn diese Fragevielleicht gestellt wird – oder ob einesolche Begebenheit mit den christlichenÜberzeugungen vereinbar ist. Wesentlichist vielmehr die Frage nach der Bedeutungdes Erlebten für die Person selber: Als einaufwühlendes Erlebnis hat es eine starkeemotionale Bedeutung. Es drückt etwasaus über die Beziehung des trauerndenMenschen zum/zur Verstorbenen. Undschließlich ist es bedeutungsvoll im Hin-blick auf die Notwendigkeit der Hinter-bliebenen, sich im eigenen Leben neu zuorientieren. Oft ist es bereits hilfreich, dass das Erlebteerzählt werden kann, ohne dass dadurch

Befremden, Widerspruch oder auch Zu-stimmung ausgelöst werden. Das subjek-tiv unbestreitbar Vorhandene will einfachsein dürfen, ohne in seiner Wirklichkeitangezweifelt zu werden. Es will sich aus-drücken und als möglich und wirklich imErleben der Trauernden akzeptiert wer-den. Es gibt Freiheit, wenn zunächst ein-mal offen bleiben kann, wie das Erlebtezu verstehen ist, dass man sich Zeit damitnehmen kann. Denn welcher Art dieWirklichkeit dessen ist, was sie erlebthaben, ist ja für die Trauernden selbstmeist unklar. Oft fühlen sie sich befremdetvon der Heftigkeit ihrer emotionalen Re-aktionen und den auch sie selbst verstö-renden und irritierenden Widerfahrnissen,die sie nicht erklären können. Nicht seltenleben sie in der Sorge, verrückt zu wer-den. Einen Menschen zu finden, der auchzunächst vielleicht ungewöhnliche Erleb-nisse anhört und gelten lässt, schafft einenRaum, in dem mit der emotionalen undkognitiven Valenz dieser Erlebnisse kon-struktiv umgegangen und sie in gedeuteteErfahrungen verwandelt werden können,die den Weg der Trauerarbeit unter-stützen.

3. Die Verstorbenen und die Auseinan-dersetzung mit ihnen suchen

Wenn man Trauererfahrungen betrachtet,stellt man fest, dass der Kontakt zu denVerstorbenen bzw. der Wunsch, ihnen –auf welche Weise auch immer – wiedernahe zu kommen, ein häufiger Bestandteildieser Erfahrungen ist.10 „Trauer, das, waseinem Zurückbleibenden bleibt, hat eineSehnsucht: ‚.. da wo du bist, da will ichsein.’ Das ist, wie ich selber erfahrenhabe, ganz naiv örtlich gemeint.“11 Sobeschreibt Wolfgang Teichert profes-sionelle und persönliche Erfahrungen mitTrauer in den Worten eines alten nieder-ländischen Madrigals. So sehr es stimmt,

406 MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 406

dass der Tod einen radikalen und unge-mein schmerzlichen Beziehungsabbruchbedeutet, so sehr ist es zugleich richtigund angemessen, davon auszugehen, dassdie Beziehung in anderer Weise über denAbbruch hinausreicht. Denn Trauer istnicht nur zu verstehen als Reaktion aufdas Ende einer Beziehung, sondern zu-gleich Ausdruck ihrer notwendigen Ver-wandlung.12 Sie ist ein Prozess13, indessen Verlauf Trauernde auf vielfältigeWeise in Verbindung zu den Toten stehen.Im Laufe der Zeit, die nach dem Verlustvergeht, verändert sich die Art und Weisedieser Verbindung, sie verliert an Inten-sität, wird weniger dominierend, gibtRaum frei, in dem neue Bindungen undBeziehungen entstehen können. Aber oftbleibt sie als eine innere Realität erhalten,die sich auf je individuelle Art und Weiseauch äußerlich Ausdruck verschafft. In der Forschung besteht Einigkeit, dassdie intensive Suche nach den verlorenenMenschen ein häufig zu beobachtenderAusdruck der Trauer ist. Zur Erklärungdieses Phänomens hat der Psychoana-lytiker John Bowlby wesentliche Einsich-ten beigetragen. Trauer wird in seinemAnsatz erklärt im Zusammenhang einerBindungstheorie, die psychoanalytischeund ethologische Perspektiven integriert.14

Die Bindung an einzelne, besonders sig-nifikante Personen zu erhalten, so führtBowlby aus, ist den Menschen von Geburtan unbedingt zu eigen, weil sie nur insolchen von liebevoller Fürsorge be-stimmten Bindungen überleben können.Bowlby sieht den Ursprung dieses Stre-bens in einem Instinkt. Seine individuelleGestalt aber erhält die Suche nach Bin-dung durch kulturelle Prägung: In derGeschichte der frühkindlichen Kommu-nikationserfahrungen entwickelt sich dasfür jeden Menschen spezifische Bindungs-und entsprechend auch Trennungsverhal-ten.15 Weil Bindung so ein fundamentales

menschliches Bedürfnis ist, aktiviere um-gekehrt der Verlust eines wichtigen Men-schen auch bei Erwachsenen den früh-kindlichen Impuls, diese katastrophaleEntwicklung möglichst zu vermeiden oderungeschehen zu machen. Trauerverhaltensei zudem davon geprägt, wie die lebens-geschichtlich frühen Trauererfahrungenbewältigt und verarbeitet wurden. Bei er-wachsenen Trauernden kann man wie-derfinden, was Bowlby u.a. im Kontextdes Trauerprozesses von Kleinkindern, diez. B. durch einen Klinikaufenthalt vonihren wichtigsten Bezugspersonen ge-trennt wurden, beobachtet haben: Ein Ver-halten, das von der wütenden Bemühungbestimmt ist, die verlorene Person zusuchen und wiederzugewinnen, um demunabweisbaren Bedürfnis gerecht zu wer-den, sich mit der verlorenen Bindungs-figur erneut zu vereinigen.16

Unruhe und Suchverhalten sind beiTrauernden häufig zu beobachten: Schein-bar ungerichtete unruhige Verhaltens-weisen wie Hin- und Herlaufen, zielloswirkende Handlungen, Schlaflosigkeit,Weinen usw. werden von Bowlby als De-rivate solchen Suchens verstanden. Un-mittelbarer in ihrer Intention zu identi-fizieren sind das Aufsuchen wichtigerOrte, die mit dem/der Verstorbenen in Be-ziehung stehen, das Festhalten an gemein-samen Gewohnheiten, der Weg zumGrab, das Wachrufen der Erinnerungen inErzählungen und Phantasien usw.17 Insge-samt konzentrieren Trauernde ihre Wahr-nehmung auf eine Perspektive, die sie se-hen, erfahren, erinnern lässt, was sie mitdem verstorbenen Menschen in Be-rührung hält.18 Nicht selten hört man imSeelsorgegespräch, dass es schließlichsogar als schmerzlich und bedrohlichempfunden wird, wenn die Trauer nach-lässt, weil dieses Gefühl immer wieder dieIntensität der Verbindung zum/zur Verstor-benen hergestellt hat. Dass Trauer eine

407MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 407

eigene Art der Bindung darstellt, gegenderen Verlust Menschen sich wehren, ob-wohl sie doch so viel Pein bereitet, ver-mittelt auch das Gedicht „Über alleGräber“ von Friedrich Rückert:

Über alle Gräber wächst zuletzt das Gras,alle Wunden heilt die Zeit, ein Trost ist

das,wohl der schlechteste, den man kann

erteilen:armes Herz, du willst nicht, dass die

Wunden heilen.Etwas hast du noch, solang es schmerz-

lich brennt;Das Verschmerzte nur ist tot und

abgetrennt.19

Es liegt nahe, das Suchverhalten in derTrauer als einen wesentlichen Hinter-grund der Widerfahrnisse anzunehmen, indenen Menschen über Kontakte zu Ver-storbenen berichten. Es ist hier nichtmöglich, begründete Aussagen darüber zuentwickeln, ob die verzweifelte und sehn-süchtige Suche nach dem/der VerlorenenMenschen offener macht für Wahrneh-mungen und Erlebnisse, die anderen ver-schlossen bleiben, oder ob das Suchen inspezifische Konstruktionen der Wirklich-keit hineinführt, die anderes für möglichhalten, als gemeinhin angenommen wird.Beides erscheint mir nicht ausgeschlos-sen. Die in der esoterischen Szene häufiganzutreffende Behauptung allerdings,dass die Realität einer zuweilen unsereWirklichkeit berührenden Totenwelt undder Wiedergeburt mittlerweile wissen-schaftlich nachgewiesen sei, ist intellek-tuell und religiös nicht akzeptabel: In-tellektuell ist sie nicht überzeugend, weildie „Beweise“ bei genauer Betrachtungeben doch Zweifel lassen.20 Und religiösist sie nicht angemessen, weil das Glau-ben ja gerade eine Wahrnehmung derWirklichkeit impliziert, die nicht auf ratio-

nalem Beweis, sondern auf geschenkterund erfahrener Gewissheit beruht und diezugleich offen bleibt für den Zweifel undden Abgrund der Gottesferne. Eben darumist die Religion zum Ausdruck ihrer tiefs-ten Erfahrungen und Überzeugungen aufsymbolische Formen angewiesen, dieVieldeutigkeit und Spiel ermöglichen. Etwas von einer solchen Sichtweise, dieSinn für symbolische Repräsentanzenzeigt und insofern nicht christlich, aberpotentiell religiös offen ist, findet sich ineiner Äußerung der schwarzen amerika-nischen Schauspielerin Halle Berry ineinem Interview mit einer deutschenFernsehzeitschrift: „Wenn ein Menschstirbt“, so sagt sie, „kann ich mir einfachnicht vorstellen, dass damit alles vorbeiist. Mir gefällt der Gedanke viel besser,dass geliebte Menschen, die verstorbensind, mich von Zeit zu Zeit besuchen,wenn ich sie brauche... Dabei ist es völligegal, ob es wirklich passiert oder nicht,sondern wie stark mein Gefühl ist... Be-weise brauche ich dafür nicht, aber ichspüre eine Energie, die mich umgibt, undich will daran glauben, dass sie noch im-mer bei mir sind.“21

Die Äußerung ist Ausdruck eines – für un-sere Zeit sicher typischen – privatisiertenUmganges mit den Erinnerungen an dieToten. Berry braucht weder religiöse Au-toritäten noch wissenschaftliche Beweise.Für sie gilt als richtig und wichtig, was ihrGefühl als richtig und hilfreich signali-siert. Das reicht. Dabei weiß sie um densymbolischen Charakter ihrer Aussagen.Die Wirklichkeit der Präsenz der Toten istfür sie eine offene, in gewisser Weise un-geklärte: Ob sie die Energie der Toten alsetwas von ihr Unterschiedenes vorfindetoder ob sie diese Wahrnehmung erfindet,bleibt unentschieden. Es ist diese Un-entschiedenheit zwischen subjektiv Er-schaffenem und Vorgefundenem, die nachD.W. Winnicott den Wert des Übergangs-

408 MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 408

objektes, in dem die Fähigkeit zum Sym-bolisieren einen entwicklungspsycholo-gisch frühen Ausdruck findet, ausmacht.Zwischen innen und außen kann es alssymbolische Repräsentanz von etwaswirken, das mehr ist als Ich, aber dennochnur subjektiv realisiert werden kann.22

Diese Unentschiedenheit, die nicht auf-gelöst werden darf, sondern deren Reich-tum gerade in der Vieldeutigkeit liegt, istauch signifikant für religiöse Aussagen.23

Anders jedoch als die privatisierten reli-giösen Aussagen, die Halle Berry überihre Beziehung zu den Toten macht, wirddie christliche Hoffnung auf die Auferste-hung von den Toten von einer Glaubens-gemeinschaft geteilt und sie ist in ihrer Be-deutung durch die Geschichte vieler Men-schen bewährt. Aber auch der Mehrwertder christlichen Eschatologie ist nur insymbolischer Rede und Anschauung zu-gänglich, weil auch im Glauben niemandim eigentlichen Sinn wissen kann, washinter der Grenze des Todes wartet.Insofern ist die Seelsorge, wenn es um dieFrage nach einer möglichen Präsenz derToten geht, auf die symbolische Redeangewiesen. Das heißt zugleich: Frucht-bar ist eine Perspektive, die sich – wie dieBerrys in dieser Hinsicht – nicht fesselnlässt durch die Frage, „ob es wirklichpassiert (ist) oder nicht“, sondern dieSprechweisen zwischen objektiver undsubjektiver Realität findet und erfindet.Dann wird vieles möglich.Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht zu-nächst, dass eine Begegnung mit einemtoten Menschen, wie auch immer sie imeinzelnen beschrieben wird, ein ge-fühlsstarkes Erlebnis für die Trauerndendarstellt, das sie mit dem Verlorenen inKontakt bringt. Der Kontakt ist wichtig,weil es tröstlich ist zu spüren, dass dieToten nicht ganz entzogen sind, sondernauf irgendeine Weise Teil des Lebensbleiben. Aber die Begegnung setzt nicht

nur hilfreiche Energien frei, sondernzuweilen ist sie auch beängstigend, aktua-lisiert ungelöste Konflikte und gefährdetdie Fortsetzung des eigenen Weges. Dannkann es zum wichtigen Thema des seel-sorgerlichen Gesprächs werden, sich mitden Toten auseinanderzusetzen, von de-nen die Trauernden besucht und zuweilenauch heimgesucht werden, und „uner-ledigte Geschäfte“ mit ihnen zu erledigen.Auch Toten kann man im intermediärenRaum symbolischer Beziehung nochsagen, was bisher unausgesprochen blieb– oder dem Seelsorger/der Seelsorgerin anihrer Stelle. Auch von Toten kann aufvielfältige Weise eine Botschaft empfan-gen werden. Auf diese Weise können of-fene Auseinandersetzungen abgeschlos-sen werden, kann man Vergebung für eineSchuld erbitten oder selbst verzeihen.Man kann in der Seelsorge über die an-dernorts erlebten Kontakte zu den Totensprechen, aber man kann auch Begegnun-gen oder Dialoge mit ihnen in der seel-sorgerlichen Situation inszenieren, wennein Anlass dafür vorhanden ist, und dabeidie heftige emotionale Besetzung solcherSituationen erfahren, die das seelischeEmpfinden signifikant beeinflusst.24 Auchwenn die Verstorbenen nicht mehrlebendig anwesend sind, so sind sie esdoch mindestens in den Phantasien undden Erlebnissen der Trauernden. Mitdieser Realität kann und soll man einenDialog aufnehmen. Häufig ist es so, dassdas Erscheinen eines Verstorbenen vonden Trauernden als Signal einer Botschaftaufgefasst wird, die für sie allerdings oftnicht unmittelbar verständlich ist. Esbraucht eine Auseinandersetzung damit,die erst dann abgeschlossen ist, wenn siefür den Trauernden/die Trauernde selbstsubjektiv plausibel geworden ist. Dazukann Seelsorge helfen. Helfen kann dasseelsorgerliche Gespräch auch, wenn dieToten sich tyrannisch verhalten, sie die

409MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 409

Lebenden über den Tod hinaus ver-pflichten wollen und ihnen die Freiheit inder Gestaltung ihres Lebens zu verwehrendrohen. Mit der theologischen Prämisse,dass Gott Herr über Lebende und Tote sei,erhalten solche Bemächtigungsversucheeine korrigierende Perspektive: Es istmöglich, mit den Toten in einen Konflikteinzutreten, so, wie man es mit den Le-benden tut, und sie in ihre Grenzen zuverweisen.25

Diese Prozesse lassen sich theoretischähnlich verstehen wie die Auseinanderset-zung mit z.B. den Elternfiguren in einemtherapeutischen Prozess: Auch hier gehtes nicht nur um die Auseinandersetzungmit den realen Eltern, sondern um dieAuseinandersetzung mit den Imagines,die Teil der eigenen Psyche gewordensind und die Beziehung und Selbstver-ständnis stark beeinflussen. Schöbe mansie mit einem entwertenden „das sinddoch alles nur Phantasien“ beiseite,würde man ihre Bedeutsam- und Wirk-samkeit stark unterschätzen. AlleBeziehungen, in denen wir leben, sindebenso von der Realität unseres Gegen-übers wie auch von den dadurch inspirier-ten Phantasien und Erinnerungen be-stimmt. Vielleicht kann man entsprechendin aller Vorsicht und in achtungsvollerWürdigung der Erfahrungen Trauerndersagen: Der Kontakt zu Toten ist min-destens auch von unserer Phantasie undunserer Beziehungsgeschichte bestimmt.Mit den Gestalten in diesen Phantasienkann man sehr real umgehen und erleben,dass sie sich in diesem Prozess verwan-deln.

4. Ein Desiderat protestantischer Theologie und Frömmigkeitspraxis

Die protestantische Theologie und Fröm-migkeitspraxis ist geprägt von der pole-mischen Front der Reformation gegen die

katholischen Riten für die Toten. Hans-Martin Gutmann hebt in seiner Auseinan-dersetzung mit der 27. und 28. TheseMartin Luthers überzeugend hervor, dassein wesentlicher Aspekt dieser Polemiksich gegen spezifische pervertierte Kom-munikationsweisen zwischen Lebendenund Toten richtete, die auf der größen-wahnsinnigen Suggestion beruhten, dassüber Geld das Geschick der Toten zu be-einflussen sei.26 Die polemische Frontgegen die mittelalterlichen Riten für dieToten war eine wesentliche Ursachedafür, dass die Reformation keine Kulturder Totenbegleitung bzw. des rituellenKontaktes zu den Toten entwickelt hat.Allerdings muss der Perspektive Gut-manns hinzugefügt werden, dass die Auf-fassung der Reformation den Toten ge-genüber nicht nur in dieser Polemikwurzelte, sondern auch einen Reflex derRechtfertigungstheologie darstellte. So,wie man für die eigene Erlösung im Lebennichts tun und bewirken kann, sondernangewiesen ist auf die Gnade, so sindauch für die Toten die frommen Werkenutzlos, das „Gauckelwerk, für die Totengetrieben, abgethan“ und die Kirchennicht mehr „Klageheuser und Leidestete...sondern... Schlaffheuser und Rugestete“,wie Luther in der Vorrede zur Sammlungder Begräbnislieder notiert27. Bis hin zurFrage der Fürbitte für die Toten zeigtediese neue Haltung dem Tod gegenüber,die Tote und Lebende voneinander dis-tanzierte, ihre Auswirkungen. Calvinlehnte das Gebet für die Toten strikt ab.Auch Luther sah nur in der privaten An-dacht einen Raum dafür: „daheim inseiner Kammer“ dürfe man wenige Malefür die Toten beten.28

Die theologische Orientierung der Bestat-tung war deutlich an den Lebenden orien-tiert. „Nicht, um den Toten zu begehen,sondern um sich ihres Glaubens zu ver-sichern, versammeln sich die Lebenden

410 MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 410

411MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

um den Sarg... In menschlicher Perspek-tive sind Lebende und Tote voneinandergetrennt, vor Gott sind sie miteinanderverbunden. Und diese Verbindung wirddurch den Glauben realisiert.“29 Die theo-logische Neubestimmung des Verhält-nisses von Lebenden und Toten und damitauch des Verhältnisses zum eigenen Todhat nicht nur eine kirchenpolitische,polemische Orientierung zur Vorausset-zung, sondern ist auch Ausdruck „einesneu entwickelten reflexiven Bewusstseins,in dem die Lebenden den Toten und sichselbst gegenübertreten“.30 Diese reflexiveDistanz ist die Grundlage, auf der Freiheitvon den Toten und von der Furcht vordem eigenen Tod gewonnen wird, indemman ihnen nicht unmittelbar ausgeliefertist, sondern sie in der Gewissheit desGlaubens von einem dritten Ort her be-denken kann. Zugleich mit dem Gewinn dieser Freiheitist die Unmittelbarkeit dem Tod und denToten gegenüber verloren gegangen, einVerlust, der heute angesichts der institu-tionellen Verdrängung des Todes und derToten wieder neu thematisiert wird. DieAufmerksamkeit dafür, dass Beziehungenmit dem Tod nicht abgeschlossen sind,wächst. Es wird wahrgenommen, dasssich individuell sehr unterschiedlicheVerbindungen zwischen Lebenden undToten fortsetzen, die zu beachten theolo-gisch bedeutungsvoll ist. Es ist das zu un-terstützende Anliegen Gutmanns, daraufden Akzent zu legen. Auch die protes-tantische Theologie und seelsorgerlicheund rituelle Praxis kann sich nicht damitbegnügen, die Toten Gott zu überlassen,eben weil sie ja auf unterschiedliche Wei-se für die Lebenden präsent sind. Aller-dings lässt sich die verlorene Unmittel-barkeit im rituellen Kontakt zu den Totennicht einfach wiederherstellen, die mo-derne Unterscheidung von fiktionaler undrealer Wirklichkeit nicht aufheben.

Vielmehr bleibt die Darstellung der Be-ziehung zu den Toten eine symbolischeWirklichkeit, die nicht immer im Erleben,wohl aber vom dritten Ort der Selbstre-flexivität her auch als eine solche er-kennbar wird und es gerade darum zu-lässt, sie in ihrer Bedeutung so oder auchanders zu verstehen.31

Das sei vorausgesetzt. Dann aber ist eswichtig, dass sich neben der seelsorger-lichen Aufmerksamkeit für das Themaauch Ansätze einer neuen rituellen Praxisim Umfeld des Todes zeigen, und es istproduktiv, diese Ansätze weiterzuent-wickeln: Die Segnung der Toten und dieFürbitte für sie bei der Bestattung wird inihrem Recht nicht mehr bestritten. DieRiten um Tod und Bestattung herum –Abendmahl im Angesicht des Todes, An-dacht im Trauerhaus, Aussegnung, Ab-kündigung am folgenden Sonntag, 40-Tages-Gedenken – finden in den Agendenund in der pfarramtlichen Praxis mehrAufmerksamkeit. Die Gottesdienste amLetzten Sonntag des Kirchenjahres ent-wickeln sich vielerorts zu einem liturgischvielfältig gestalteten Totengedenken, beidem die Namen der Verstorbenen genanntund/oder in ein Buch geschrieben, Kerzenentzündet und andere symbolische Hand-lungen vollzogen werden. Es wird ein ri-tueller Kontakt mit den Toten inszeniert,man weckt Erinnerungen an sie und ruftGefühle wach. Trauernde machen dabeiErfahrungen, die für sie auf ihrem Wegvon großer Bedeutung sind.32 Der Gangauf den Friedhof kann als ein spirituellerWeg erlebt werden, auf dem die Totennoch einmal nahe kommen. Mit Blumen,Wasser und dem sich zunehmend verbrei-tenden Brauch, ein ewiges Licht auf dasGrab zu stellen, gibt man ihnen etwas,das mehr ist als diese Dinge selbst, undvielleicht reißt man mit Unkraut undabgestorbenen Pflanzenresten zuweilenauch sich selbst etwas aus dem Herzen.

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 411

So verstanden, geben sich Bräuche amGrab zu erkennen als symbolisches Han-deln, das eine konfliktreiche Erfahrunghilfreich strukturiert. All dies sind Orteund Anlässe, um mit den Toten umzuge-hen, ihnen zu begegnen und in ihrerGegenwart allmählich zu verstehen undanzunehmen, was von ihnen im eigenenLeben wirklich und wesentlich sein undbleiben will.Auch im Kontext einer christlichen Reli-gionspraxis entstehen so liturgische undseelsorgerliche Räume, in denen der Kon-takt zu den Toten nicht abgewehrt werdenmuss, sondern gestaltet werden kann. Allesind bewahrt in Gott. Man muss nicht umdie Toten fürchten, und man muss sichnicht vor den Toten fürchten. Etwas vondiesem Glauben soll sich in der Seelsorgeabbilden, indem sie offen ist für die Vor-stellungen und Erfahrungen, die Men-schen an sie herantragen und über die siereden wollen. Eine solche dialogischeHaltung erscheint mir wichtig vor allemim Hinblick auf die Vielen, die religiös aufder Suche sind. Wem die christlicheLebensdeutung fremd geworden oder wernie in sie hineingewachsen ist, ist deswe-gen religiös noch nicht in einem anderenHaus angekommen. Oft fehlen Vorstellun-gen, Sprachen, Ausdrucksformen gerade,um mit den aufwühlenden Erfahrungen anden Grenzen des Lebens umzugehen.Dann ist ein Gegenüber wichtig, das nichtstarr und rechthaberisch auftritt, sonderndie symbolischen Schätze des Christen-tums anbietet als Gefäß, das die Erfahrun-gen der Menschen aufnehmen und ihneneine Gestalt geben kann, die es möglichmacht, mit ihnen zu leben.Die Schriften des Neuen Testamentes be-richten, wie Jesus in der Zeit nach demTag der Auferstehung den Seinen er-scheint, sich ihnen zeigt, mit ihnen sprichtund isst und wieder entschwindet. 40Tage lang, so heißt es in Apg 1,3, dauerten

diese Erscheinungen. Dann verschwan-den sie. Die Anwesenheit des Aufer-standenen unter den Menschen muss seit-her anders erkannt und benannt werden.Entsprechendes kann man in Trauerpro-zessen heute beobachten: Anfangs sindErscheinungen der Toten bzw. die Offen-heit für religiöse Angebote, die solche Er-scheinungen für möglich halten oder so-gar versprechen, bei manchen Trauerndenwichtig und dominierend. Dann brauchensie Austausch und Gespräch darüber,manchmal auch Unterstützung gegen dieToten und Hilfe, um sich mit ihnen aus-einanderzusetzen. Irgendwann treten dieErscheinungen in den Hintergrund, unddie Toten ziehen sich gewissermaßen inentferntere Räume zurück. Auch die Toten, so schreibt Hans-MartinGutmann, müssten – z. B. auch durch dasBestattungsritual – „lernen, dass sie totsind“, und den ihnen entsprechendenWeg zu gehen, der sie von den Lebendenentfernt.33 Diese Formulierung darf nichtkonkretistisch so verstanden werden, alsob die Lebenden die Macht hätten, denWeg der Toten zu bestimmen. Aber wennman sie als eine Perspektive der Trauern-den hört, klingt es plausibel, dass dieToten etwas zu lernen haben: Ist doch dieTrauer der Hinterbliebenen nicht zuletztdavon bestimmt, durch den Kontakt unddie Auseinandersetzung mit den Totendiesen einen anderen Ort in ihrem Lebenzu geben. Trauer sei „zunächst nichts an-deres als die Anstrengung der Überleben-den, ihre Toten aus dem verwundeten in-nersten Nahbereich in einen weiter ge-spannten befriedeten Nähe-Ring zu trans-portieren“34, lautet eine treffende For-mulierung Peter Sloterdijks. Bei dieserAnstrengung, die ohne einen wie auchimmer gearteten Kontakt zu den Totenund die Arbeit an der Beziehung zu ihnennicht möglich ist, soll die Seelsorge inGespräch und rituellem Handeln helfen.

412 MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 412

Anmerkungen

1 Vgl. die besonders eindrucksvollen Traumsequen-zen in den Fallstudien von Verena Kast, Trauern.Phasen und Chancen des psychischen Prozesses,Stuttgart 1982, die die Verwandlung der Beziehungzu den Toten dokumentieren. Aber manchmal istdas Erscheinen der Toten im Traum auch eine Fes-sel, die das Leben der Hinterbliebenen schwer be-lastet. Martin Weimer, Dass Seele sich nicht rechne.Kirchliche Beratung im gesundheitspolitischen Kon-text, in: Nordelbische Stimmen, April 2004, 2f, hier:2, berichtet aus der Arbeit der kirchlichen Be-ratungsstelle: „Sie kommt, weil sie vor Ängstennicht mehr schlafen kann. Der Durchfall, dasHerzrasen. Aus dem Haus kommt sie kaum noch.Ihre Arbeit schafft sie kaum noch... Nachts ruft ihreMutter nach ihr. Die ist tot seit ihrem fünftenLebensjahr... Heulend und schreiend wacht sie aufaus so einem Traum. Dann ist sie wach.“

2 Vgl. die Zusammenfassung der Phänomenologieder Trauer bei Kerstin Lammer, Den Tod be-greifen.Neue Wege in der Trauerbegleitung, Neukirchen/Vluyn 2003, 176f.

3 So auch Yorick Spiegel, Der Prozess des Trauerns.Analyse und Beratung, München 1973, 112: „Diestärkste Bekräftigung des Todes ist das Versenkendes Sarges und der erste Erdwurf...“

4 Vgl. Herausforderungen evangelischer Bestat-tungskultur. Ein Diskussionspapier, hg. vom Kir-chenamt der EKD, Hannover 2004, 7f, 17f.

5 Die Reinkarnationslehre hat unterschiedliche Wur-zeln einerseits in den östlichen Religionen, anderer-seits in der europäischen und amerikanischen Geis-tesgeschichte, die sich gegenwärtig in sehr vari-ablen und unterschiedlichen Vorstellungskom-plexen niederschlagen. Vgl. dazu HermannKochanek (Hg.), Reinkarnation oder Auferstehung.Konsequenzen für das Leben, Freiburg/Br. 1992;Perry Schmidt-Leukel (Hg.), Die Idee der Reinkarna-tion in Ost und West, München 1996; RüdigerSachau (Hg.), Weiterleben nach dem Tod. Warumimmer mehr Menschen an Reinkarnation glauben,Gütersloh 1989, GTB 988; Panorama der neuen Re-ligiosität. Sinnsuche und Heilsversprechen zu Be-ginn des 21. Jahrhunderts, hg. v. Reinhard Hempel-mann u.a., Gütersloh 22005, 317ff.

6 Vgl. Panorama der neuen Religiosität, 240ff.7 Vgl. Sachau, Weiterleben nach dem Tod, 21.8 Einflussreich sind in diesem Zusammenhang die

Veröffentlichungen von Elisabeth Kübler-Ross, dieihr Leben lang und in vieler Hinsicht anregungs-und segensreich das Thema Sterbebegleitung undTrauer zu dem ihrigen machte. Immer stärker hatsie in diesem Zusammenhang auch religiöseÜberzeugungen über Tod und Weiterleben ent-wickelt, die vor allem deshalb fragwürdig sind, weilsie nicht als subjektive Erfahrungen und Überzeu-gungen präsentiert, sondern mit dem Anspruch wis-senschaftlicher Autorität gemacht werden. Vgl. z.B.Elisabeth Kübler-Ross, Über den Tod und das Leben

danach, Melsbach/Neuwied 21984. Der hervorra-gende Film „Elisabeth Kübler-Ross – Dem Tod insGesicht sehen“ des Schweizer Regisseurs StefanHaupt (2003) verdeutlicht, dass diese OrientierungKübler-Ross’ durch den Kontakt zu neureligiösenGruppen geprägt war, durch die sie sich währendeiner Lebensphase auf problematische Weise ver-einnahmen ließ.

9 Vgl. Sachau, Weiterleben nach dem Tod, 129ff.10 Auch die erhöhte Suizidgefährdung Trauernder (vgl.

Lammer, Den Tod be-greifen, 181f) hat eine mög-liche Ursache in dem Wunsch, sich mit dem ver-lorenen Menschen wieder zu vereinen.

11 Vgl. Wolfgang Teichert, Trauer als Raum. Eine An-frage an das Phasenmodell, in: PTh 91 (2002), 403-410, hier: 403.

12 Dieses Anliegen als ein auch theologisch sinnvollesund berechtigtes speziell im evangelischen Ver-ständnis des Todes neu zur Geltung zu bringen, ver-folgt Hans-Martin Gutmann, Mit den Toten leben –eine evangelische Perspektive, Gütersloh 2002.

13 Dieser wesentliche Begriff, mit dem Yorick Spiegeldie Trauerarbeit qualifiziert, zeigt, dass er selbstsein Phasenmodell als lebendiges Geschehen ver-standen hat und gerade nicht als zwingende undformalisierte Abfolge von Stadien der Trauer.

14 Vgl. zum Folgenden John Bowlby, Das Glück unddie Trauer. Herstellung und Lösung affektiverBindungen, Stuttgart 1982 (engl. Originalausgabevon Kap. 1-7 unter dem Titel „The Making and theBreaking of Affectional Bonds“, Tavistock Publica-tions 1979).

15 Vgl. John Bowlby, Das Trauern in der Kindheit undseine Implikationen für die Psychiatrie, ebd., 62-88.

16 Vgl. John Bowlby, Trennung und Verlust innerhalbder Familie, ebd., 105-129.

17 Vgl. ebd., 109.18 Die wirklichkeitsbestimmende Kraft dieser Wahr-

nehmungseinstellung zeigt der Fall einer jungen Pa-tientin Bowlbys, deren Vater unerwartet nach einerOperation gestorben war: „In den auf den Tod ihresVaters folgenden Wochen ... hatte sie in der halbenÜberzeugung gelebt, dass das Krankenhaus sich inder Person geirrt hätte und dass sie anrufen würden,um ihr zu sagen, dass er am Leben und bereit sei,nach Hause zurückzukehren. ... Noch jetzt, zwölfMonate später, hatte sie diese Gedanken und Ge-fühle. Sie erwartete immer noch halb eine Nach-richt aus dem Krankenhaus... Ferner traf sie heim-lich immer noch Vorkehrungen, um ihren Vater beider Rückkehr empfangen zu können. Das erklärte,warum sie so böse auf ihre Mutter geworden war,als diese die Wohnung, in der die alten Leute zu-sammengelebt hatten, renoviert hatte und warumsie selbst die Renovierung ihrer eigenen Wohnungimmer hinausgeschoben hatte: Sie hielt es für wich-tig, dass ihr Vater, wenn er schließlich zurück-kehrte, eine vertraute Umgebung vorfände.“ (Ebd.,120f) Dieses Beispiel macht auch deutlich, wie

413MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 413

wichtig es ist, die Phantasien und Vorstellungen inBezug auf die Toten ins Gespräch zu bringen, damitsie nicht als inneres Geheimnis erstarren, sondernsich im lebendigen dialogischen Prozess verwan-deln und verändern können.

19 Friedrich Rückert, in: Ludwig Reiners (Hg.), Derewige Brunnen, München 1982, 286.

20 Vgl. Johannes Mischo, Methodenprobleme der em-pirischen Reinkarnationsforschung, in: Kochanek,Reinkarnation oder Auferstehung, 134-158; Eber-hard Bauer, Lässt sich Reinkarnation wis-senschaftlich beweisen?, in: Schmidt-Leukel, DieIdee der Reinkarnation in Ost und West, 152-176.Beide Beiträge sind trotz ihres kritischen Urteils gleichzeitig durchaus von einem positiven Interessean der Lehre der Reinkarnation bestimmt.

21 „All dieser Wahnsinn zu Hause“. Interview mitHalle Berry, in: rtv Nr.12/2004, 6.

22 Vgl. Donald W. Winnicott, Übergangsobjekte undÜbergangsphänomene, in: ders., Von der Kinder-heilkunde zur Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1983,200-319, hier: 315f.

23 Vgl. dazu auch Hartmut Raguse, Der Raum desTextes. Elemente einer transdisziplinären theologi-schen Hermeneutik, Stuttgart 1994, 187ff.

24 Eine besonders eindrucksvolle Vorstellung davon,wie eine solche Inszenierung aussehen kann, gibtdie Fallbeschreibung des „unheimlichen Besu-chers“ in: Kurt Lückel, Begegnung mit Sterbenden,„Gestaltseelsorge“ in der Begleitung sterbenderMenschen, München 1981, 93-101.

25 Die spiritualistische Auffassung eines Zugriffs derToten auf die Lebenden impliziert hingegen oft diehöhere und unabweisbare Autorität der Toten,wenn sie sich den Lebenden zeigen. Vgl. z.B.Kübler-Ross, Über den Tod und das Leben danach,

38ff, die berichtet, wie die Erscheinung einer Totensie darauf verpflichtet, die bisherige Arbeit über Todund Sterben fortzusetzen, die sie eigentlichaufgeben wollte.

26 Vgl dazu Gutmann, Mit den Toten leben, 160f.27 WA 35, 478f.28 Vgl. Friedemann Merkel, Art. Bestattung IV. His-

torisch, in: TRE, Bd. 5, 743-749, hier: 748.29 Vgl. Wolfgang Steck, Speculum vitae. Die Bedeu-

tung der Reformation für die Entwicklung einesneuzeitlichen Todesbewusstseins, in: Hans-MartinMüller/Dietrich Rössler (Hg.), Reformation undPraktische Theologie, FS für Werner Jetter, Göttin-gen 1983, 247-289, hier: 270.

30 Ebd., 266.31 Insofern ist der Rekurs Gutmanns auf die rituelle

Gemeinschaft von Lebenden und Toten im zaristi-schen Russland, in Mexiko, im alten Israel und immittelalterlichen Totentanz zwar interessant und an-regend. (Vgl. Gutmann, Mit den Toten leben, 156ff.)Aber er lässt die Frage offen, auf welche Weisedenn unter den Bedingungen der Moderne dieseBeziehung rituell sinnvoll darstellbar ist, ohne in dieGefahr zu geraten, eine Faktizität der Begegnung zuunterstellen, die ihrer symbolischen Qualität nichtangemessen wäre. Spätestens wenn Gutmann amSchluss des Buches in einer Beerdigungsansprachedie Tote direkt anspricht, ohne ein „als ob“ solcherRedeweise kenntlich zu machen, erscheint mir dieGefahr einer konkretistischen Verwechselung derWirklichkeiten gegeben zu sein. (Vgl. ebd., 224.)

32 Vgl. Petra Zimmermann, Der Gottesdienst amTotensonntag, in: PTh 88 (1999), 452-467.

33 Vgl. Gutmann, Mit den Toten leben, 214.34 Peter Sloterdijk, Sphären 2, Frankfurt a.M. 1998,

170.

414 MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 414

Angelika Koller, München / Michael Utsch

Psychotherapie des BewusstseinsEin Kongress der Akademie Heiligenfeld

415MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

BERICHTE

Anfang Juni 2005 veranstaltete die in BadKissingen ansässige „Akademie Heiligen-feld“ ebendort zum dritten Mal einenKongress, diesmal über „Psychotherapiedes Bewusstseins – Spirituelle und trans-personale Dimensionen der Psychothera-pie“. Die Veranstalter wollten erneut dasbreite Spektrum der Transpersonalen Psy-chologie und Psychotherapie (TP) dar-stellen und deren Vertreter miteinanderins Gespräch bringen. Die zwanzigVorträge hielten meist Psychologen undPsychotherapeuten (Bosch, Brunnhuber,Büntig, Emrich, Dorothea und JoachimGaluska, Peciccia, Peseschkian, vanQuekelberghe, Riedel, Bettina Schroeter,Michael Schröter-Kunhardt, Gabrielle St.Clair, Stauss, Walach, Walch), aber auchandere kamen zu Wort, wie Andrew Co-hen (Herausgeber der Zeitschrift „What IsEnlightenment?“), der Kommunikations-Wissenschaftler Eurich, der Sozialwis-senschaftler Orlinsky und der Physikerund Parapsychologe von Lucadou. Dar-über hinaus wurden vierzig Nachmittags-seminare mit Workshopcharakter ange-boten. Bereits während des Kongresseswaren zahlreiche Vorträge auf Kassette,CD, DVD oder Video erhältlich. Im Herbstsollen wichtige Beiträge in Buchform er-scheinen.Neben knapp 800 angemeldeten Besu-chern versammelten sich noch gut 200Tagesgäste. Im Publikum fanden sichMediziner, Therapeuten, Lehrer oder Pa-

tienten, die von ihren Therapeuten aufden Kongress geschickt worden warenoder die dort einem bestimmten Thera-peuten begegnen wollten. Ein hoher An-teil jüngerer Leute fiel auf.In vielen Veranstaltungen wurde der „Szientismus“ beklagt und Alternativeneingefordert. Bereits im Eröffnungsvortragberührte Joachim Galuska, der Direktordes expandierenden Heiligenfeld-Projek-tes, die Problematik einer wissenschaft-lichen Psychologie, die nur vom psychi-schen Apparat ausgehe und die Seele alsirrational und unpräzise abtue. Er forderteMethodenvielfalt und einen Perspektiven-wechsel, wie ihn Ken Wilber – eines derVorbilder der TP – mit seinen integralenAnsätzen versuche. Auch müsstenPhilosophie, Religion, Ethnomedizin,Kunst und Poesie in Psychotherapie undWissenschaft berücksichtigt werden, umdem vieldimensionalen Wesen des Men-schen gerecht werden zu können.Der renommierte PsychotherapieforscherDavid Orlinsky von der Universität inChicago bedauerte, dass „die meisten na-turalistischen oder wissenschaftlich-klini-schen Theorien“ die spirituelle Dimensionvernachlässigten. Sein Vortrag „Die Spiri-tualität von Psychotherapeuten“ infor-mierte über eine Umfrage unter 2000Praktikern in den USA, Kanada, Großbri-tannien und Neuseeland: 20 Prozent derTherapeuten vertraten eine „säkulare Mo-ralität“, 9 Prozent eine „traditionelle Reli-

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 415

giosität“, 51 Prozent eine „persönlicheSpiritualität“ und 20 Prozent eine „spiri-tuelle Religiosität“. Mit Max Weber ver-wies er auf die gesellschaftliche Bedeu-tung kreativer Menschen, Propheten undCharismatiker und die deutliche Ver-schiebung von institutioneller Religiositäthin zu individueller Spiritualität.Ergänzt wurde Orlinsky durch aktuelleempirische Befunde des Freiburgers Ha-rald Walach, der über „Spiritualität inWissenschaft und Psychotherapie“ refe-rierte. Mit dem Hinweis, 93 Prozent derMitglieder der amerikanischen NationalAcademic Society glaubten nicht an Gott,unter den 7 Prozent Gläubigen fändensich überwiegend Mathematiker undPhysiker, jedoch kaum Psychologen, illus-trierte Walach eine Zwei-Kulturen-These.Der „rationalen Wissenschaft“, die oft alsErsatzreligion fungiere, stellte er die „re-ligiöse Kultur“ gegenüber, die transra-tional und inneren Erfahrungen ver-pflichtet sei. Diese laufe Gefahr, lediglicheine „Krücke für Unsichere“ zu werden.Walach hoffte mit Skepsis auf eine „Über-brückung der Spaltung“, die mehr um-fasse als eine „Gegenkultur“ (wie man siegerade in den Heiligenfelder Institutionenerfahren kann). Als Lichtstreifen am Hori-zont erschienen ihm neuere Ansätze wiedie Aufmerksamkeit für Achtsamkeits-schulungen, aber auch die Resultate einerUmfrage unter 900 Therapeuten, von de-nen 38 Prozent der Spiritualität eine großeBedeutung beimaßen, 37 Prozent eigenespirituelle Erfahrungen angaben und 10Prozent mit der Hälfte ihrer Patienten überSpirituelles sprachen. Andererseits ver-wies Walach auf die Dominanz der are-ligiösen globalen Großmächte „Holly-wood und Ökonomie“.Mit Beispielen aus seiner langjährigentherapeutischen Praxis veranschaulichteKonrad Stauss in seinem Vortrag dieNotwendigkeit, Spiritualität in die thera-

peutische Praxis zu integrieren. Der Be-gründer und ehemalige Leiter der Klinik inBad Grönenbach verwies auf eine De-pressionsstudie, wonach persönlicherGlaube und positive Spiritualität ambesten vor einem Rückfall in falscheDenkmuster schützen. Es sei heute einewichtige Aufgabe der Therapie, die spiri-tuellen Ressourcen eines Patienten zu ent-decken und zu fördern. Psychische Stö-rungen können zum „Herzblut desLebens“ werden, wenn verstanden werde,dass sich darin transpersonale Grund-bedürfnisse wie Bezogenheit zum Abso-luten oder Suche nach Sinn artikulierten.Ein transpersonaler Therapeut könne abernur ein Fenster öffnen und müsse sich da-vor hüten, diese Sehnsucht mit religiösenInhalten zu füllen. Die Psychologie dürfekeine metaphysischen Dogmen verbrei-ten. Nur die Theologie wisse, wohin sichder Mensch transzendiere. Der Dortmunder Claus Eurich, Professoram Institut für Journalistik, bezichtigte imReferat „Mystik und Erkenntnis“ den Szientismus, andere Entwicklungen zublockieren. Er plädierte für den Fortschrittder Erkenntnis mit anderen Mitteln als demrationalen Denken: Unverzichtbar seiendie Schulung im sinnlichen Zugang, in Em-pathie, mystischer Kontemplation, „heiligerWeisheit“, schweigender „Resonanz derSeele mit der Weltseele“ und die Integra-tion von Liebe, Ästhetik oder Trauer.Die Forderung nach Alternativen wurde inmannigfaltige Anregungen zur Selbstre-flexion und Besinnung umgesetzt:

• Die Kongressleitung verteilte anfangsbunte Blätter, auf die jeder Antworten aufdie Fragen „Welches Anliegen habe ich?Was wünsche ich dem Kongress? WelcheBotschaft soll von diesem Kongress ausge-hen?“ schreiben sollte. Diese Blätter wur-den im Foyer wie tibetische Gebetsfähn-chen ausgehängt.

416 MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 416

• Joachim Galuska interpretierte RainerMaria Rilkes Gedicht „Siehe, ich wusste,es sind / solche, die nie den gemeinsamenGang / lernten ...“ im Sinne einer posi-tiven Unangepasstheit, Bereitschaft zurRebellion und „Liebe zum Leben“ in derTP. Es gab täglich weitere Rilke-Rezitatio-nen als spirituelle Impulse für das Pub-likum. • Die Besucher hatten jeden Morgen dieMöglichkeit, im „Raum der Stille“ unterAnleitung zu meditieren – was tagsübereine oft fröhliche Wissenschaft undabends Konzerte und Tanz ergänzten.

Eine der Meditationen leitete Andrew Co-hen. Da er zudem den ersten Plenumsvor-trag hielt („Evolutionäre Erleuchtung –Spiritualität im 21. Jahrhundert“) und sichfür sein Seminar 130 Personen eingetra-gen hatten, avancierte er zu einer derHauptfiguren des Kongresses. Galuskawies darauf hin, dass die Akademie Heili-genfeld gefragt worden sei, warum manden wegen seiner Guru-Methoden um-strittenen Amerikaner (vgl. MD 1/2005,12ff) eingeladen habe. Er sprach von „An-feindungen gegen Cohen“ und stellte sichdemonstrativ hinter diesen.Cohen bezeichnete seine Generation als„Babyboomer“. Wohlstand, Bildung undFreiheit machten sie zur glücklichsten derGeschichte. Sie bestünde bei näheremHinsehen aber aus unglücklichen, genuss-unfähigen Egozentrikern, denen wegenihrer „Individuation“ das Bewusstsein fürgrößere Kontexte abgehe. Individualismusund Narzissmus sind dabei, so scheint es,für Cohen identisch. Psychotherapie de-klassierte er als unzulängliche Selbst-suche. Er forderte mit Wilber die Entwick-lung des „sensitiven Selbst“. Wer heuteeine adäquate Erleuchtung erreiche, ver-lange nicht, dass sich Gott zu jedem per-sönlich in Beziehung setze (Cohen: „Godwould be very busy ...“). Außerdem habe

man festgestellt, da oben sei niemand,außer den Satelliten. Der heutige Menschhabe göttliche Macht zum Erschaffen wiezum Zerstören, könne aber nicht mit ihrumgehen, weil ihm die Moral fehle. Cohen schloss optimistisch, der nächsteEvolutionsschritt werde über das Ego hin-aus zu einem trans-individuellen ethi-schen Kontext führen. Gott sei aus demHimmel gefallen und offenbare sich beieinigen Menschen aus dem wahrenSelbst. Gott könne sich ohne den Men-schen nicht erkennen, nur im erwachen-den Menschen werde die Schöpfungs-energie sich ihrer selbst bewusst: „Warumbin ich hier: das Universum zu kreieren.Ich bin die Energie, die das All erschuf.“Cohen sprach Englisch. Sein Vortrag littunter Mikrofon- und Übersetzungsproble-men. (Insgesamt muss man der Kon-gressleitung für die logistische Perfektionjedoch danken.) Cohens Veranstaltungenpolarisierten die Zuhörer. Es regte sichebenso Beifall wie Widerspruch gegen di-verse Pauschalurteile. Insbesondere Ingrid Riedel ging in ihremReferat zur „Spiritualität C. G. Jungs“ kri-tisch auf Cohens „leeren Himmel“ einund rehabilitierte den Begriff derIndividuation im Sinne Jungs. Ihre pro-funde, anregende Darstellung machtezum Abschluss bewusst, an welchegroßen Traditionen und Persönlichkeitendie Transpersonale Psychologie anknüp-fen könnte. Die große inhaltliche Spannbreite war einHauptmerkmal des Kongresses, die sichauch in dem sehr durchmischten Pub-likum widerspiegelte. Neben hochesoteri-schen Spekulationen standen differen-zierte Überlegungen, wie die spirituelleDimension behutsam und verantwortlichin Beratung und Therapie integriert wer-den kann. Welche „Fraktion“ sich auf län-gere Sicht durchsetzen wird, erscheintderzeit offen.

417MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 417

Breiten Raum ließ der Kongress den Prak-tikern der TP, angefangen mit GaluskasVortrag. Der Ärztliche Leiter der Heiligen-felder Kliniken nannte zwei Wirkrichtun-gen der TP: Im Unbekannten nach demHeilungskonzept zu suchen, sowie etwasvöllig Neues zu entwickeln. Dabei solleder Therapeut nichts forcieren, das Leiddes Einzelnen jedoch nicht nur persönlichnehmen, sondern als Teil seines Mensch-seins akzeptieren. Die Pflege des Be-wusstseins verlange jedoch mehr als Psy-chohygiene. Pflege meine auch Ästhetik,Caring, Trösten, Anregungen geben, denEinbezug Gottes und des Mysteriums. Ein Beispiel für transpersonale Praxislieferte Nossrat Peseschkian (Wiesbaden)mit seiner „Positiven Psychotherapie“, dieauf „transkulturelle Bewusstseinser-weiterung“ setzt, auf den Vergleich vonOrient und Okzident. Erwähnt sei auchder italienische Psychiater Maurizio Pe-ciccia. Er veranschaulichte die „Psycho-therapie von religiösem Wahn“, bei der ergänzlich verstummten Patienten das Ange-bot nonverbaler Kommunikation mache.So lässt er den Patienten etwas malen undmalt ein Antwortbild. Peciccia machtedeutlich, was eine intensive religiöse Er-fahrung vom religiösen Wahn unterschei-det. Zwar ähnelten sich beide im Drang,das Ich zu annullieren, doch gebe derPsychotiker das Ich nicht vollständig auf,erlebe deshalb auch keine Wiedergeburt,sondern Spaltung, Zwang, Isolation, Ohn-macht und Hass. Beim Mystiker erfolgehingegen eine befreiende Symbiose mitdem absoluten Objekt. Peciccia holt denPatienten dort ab, wo sich dieser befindet,ob bei der Jungfrau Maria oder bei UFO-Göttern. Der Patient wird angeleitet, sichseiner eigenen Spiritualität bewusst zuwerden, muss nicht die des Therapeutenimitieren.Workshops, die direkte Erfahrungen mitder Praxis und persönlichen Gewinn ver-

hießen, schienen dem Publikum wohlbesonders attraktiv. Viel besuchte Semi-nare waren u.a.: St. Clair/Plesse: Eros,Präsenz und das Eine, Cohen: Evolu-tionäre Erleuchtung, Kesper-Grossmann:Die heilende Kraft der Achtsamkeit, Chris-tian Meyer: Spirituelle Therapie und dasAufwachen und Dorothea Galuska: Visio-nen erden. Anna Gammas Jerusalem-Workshopstellte das Engagement des SchweizerLasalle-Instituts für eine gemeinsame Ver-waltung der Stadt durch Israelis undPalästinenser vor, doch griff in Bad Kissin-gen die Jerusalem-Symbolik nicht. Durchkollektive Gebete sollte ein „Feld“ bzw.„Lichtkreis“ gebildet werden. Das Ritualbewegte sich zwischen Sheldrake undGebetsmagie unter Anrufung der Gottes-mutter als „kosmische Maria“, des Erzen-gels Michael und zahlreicher Gestaltenaus Judentum, Christentum und Islam.Die verwendeten Texte waren z.T. vongroßem Pathos. Der Workshop mutiertezwischenzeitlich aufgrund der niedrigenGästezahl zum Ort der Problemverar-beitung von Personen mit politisch be-lasteten Familienangehörigen aus der NS-Zeit. Einer Tendenz der im Kongress präsentenTP entsprach offensichtlich das Seminarvon Lama Drima Öser und ElisabethReisch. Sie boten „Politik und Meditation“unter dem Aspekt der politischen Dimen-sion des Nichts-Tuns an, wobei weniger dieWu-wei-Idee der Taoisten eine Rolle spielteals schlichte buddhistische Meditation.Typisch für die Kritik an einer dogma-tisierten Religion war die Darstellungchristlicher Gottesvorstellungen durchden Theologen Ludwig Frambach. Der„alte Mann mit dem Bart“ aus dem Schul-buch habe ausgespielt, ebenso das patri-archalische Gottesbild. Er zitierte Bon-hoeffers „Einen Gott, den es gibt, gibt esnicht!“ und schlug transkulturell den Bo-

418 MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 418

gen zum „Nichts“ des Buddhismus, dasder Zenmeister Hisamatsu „Der Nichts“nenne, der auch „die Fülle“ sei.Gibt es eine durchgängige Haltung derTranspersonellen Psychologie zum Chris-tentum? Beim Kongress wollte man „die“Religionen integrieren. Das klingt vielver-sprechend, bleibt aber notgedrungenoberflächlich, wenn man die einzelnenReligionen nicht gründlich nach ihren

spezifischen Elementen befragt unddanach, was sie heutigen Zeitgenossen zugeben vermögen. Zen-Meisterin AnnaGamma, der Christliches nicht fern ist,formulierte immerhin eine „interreligiöseLeitlinie“: „Wir lassen die Unterschiedezu und feiern sie!“ Dazu sollte man jedeReligion allerdings gut genug kennen undvermeiden, bestehende Klischees fortzu-schreiben.

419MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

Literatur

Transpersonale Psychologie und Psychothera-pie, Heft 1/2005 (Jubiläumsband „Transper-sonale Orientierung: Aktuelle Trends undSchwerpunkte“ mit Beiträgen von W. Bel-schner, M. v. Brück, S. Graf, E. Zundel u.a.)

M. Utsch, J. Fischer (Hg.), Transpersonale Psycho-logie und christlicher Glaube, Münster 2003

H. Walach, Spiritualität als Ressource, in: S. Ehm /M. Utsch (Hg.), Kann Glauben gesundmachen? EZW-Texte 181, Berlin, 2005, 17-40

Christian Ruch, Zürich

Der Vatikan und Vassula Neue Nuancen in der Bewertung des Privatoffenbarungswerkes„Das wahre Leben in Gott“

Immer wieder sieht sich die römisch-katholische Kirche veranlasst, zu sogenannten „Privatoffenbarungen“ Stellungzu nehmen, die einen nicht unerheb-lichen Teil der Gläubigen anzusprechenscheinen. Im Gegensatz zu den protes-tantischen Kirchen gesteht der Katholizis-mus zu, dass sich Gott, Jesus oder Mariaauch heute noch auf direktem Wege, d.h.in Form von schriftlichen oder münd-lichen Kundgaben mitteilen können. DerBegriff „Privatoffenbarung“ weist jedochschon darauf hin, dass die römisch-katholische Kirche den Inhalt solcher Of-fenbarungen nicht als allgemein verbind-

liches Glaubensgut betrachtet, und diesgilt selbst für kirchlich anerkannteBotschaften wie jene von Fatima undLourdes. Ohnehin ist die Kirche mit derAnerkennung von „Privatoffenbarungen“sehr zurückhaltend, wenn nicht sogar ten-denziell eher ablehnend.Zu den schon seit einiger Zeit besonderspopulären Privatoffenbarungsmedien gehörtdie Griechin Vassula Ryden (*1942). Nacheinem laut eigenen Angaben „mondänen“Leben als professionelle Tennisspielerin er-fuhr die Ehefrau und Mutter zweier Söhne1985 durch einen Engel namens Daniel ihrBekehrungserlebnis, das sie von nun an

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 419

Gottes Stimme hören und das Gehörteniederschreiben ließ. Diese Kundgabenwerden unter dem Titel „Das wahre Lebenin Gott“ veröffentlicht und sind mittlerweilein 40 Sprachen übersetzt worden.Der große Anklang, den die KundgabenFrau Rydens auch und vor allem unterKatholiken finden, führte dazu, dass sichauch die vatikanische Glaubenskongrega-tion mit ihnen befasste. In einer so ge-nannten „Notifikation“ kam sie im Oktober1995 zu dem Schluss, dass die Bot-schaften Vassula Rydens „im Licht derkatholischen Lehre als negativ betrachtetwerden müssen. Abgesehen davon, dassder verdächtige Charakter der Art undWeise, mit der diese angeblichen Offen-barungen geschehen, im Auge zu haltenist, ist es geboten, auch einige in ihnenenthaltene doktrinäre Irrtümer hervor-zuheben. Unter anderem wird in zwei-deutiger Ausdrucksweise von den Perso-nen der Heiligsten Dreifaltigkeit gespro-chen. Das geht so weit, dass die kenn-zeichnenden Namen und Funktionen dergöttlichen Personen verwechselt werden.In diesen angeblichen Offenbarungenwird eine drohende Periode der Vorherr-schaft des Antichristen innerhalb derKirche angekündigt. In chiliastischerWeise wird ein entscheidendes und glor-reiches Eingreifen Gottes prophezeit, derim Begriff sei, auf Erden noch vor derendgültigen Ankunft Christi ein Zeitalterdes Friedens und des allgemeinen Wohl-ergehens zu errichten. Im Übrigen wird innächster Zukunft eine Kirche erwartet, dieeine Art pan-christlicher Gemeinschaftwäre im Gegensatz zur katholischenLehre. Die Tatsache, dass in den späterenSchriften der Ryden die oben genanntenIrrtümer nicht mehr erscheinen, ist einZeichen dafür, dass es sich bei den angeb-lichen ‚himmlischen Botschaften’ nur um die Frucht privater Meditationen han-delt.

Im Übrigen ruft Frau Ryden, die gewöhn-lich an den Sakramenten der katholischenKirche teilnimmt, obschon sie griechisch-orthodox ist, mancherorts in katholischerUmgebung nicht wenig Verwunderunghervor. Sie scheint sich über jede kirch-liche Jurisdiktion und jede kirchen-rechtliche Regelung zu stellen und verur-sacht faktisch eine ökumenische Unord-nung, die bei nicht wenigen Autoritäten,Geistlichen und Gläubigen ihrer eigenenKirche Missfallen hervorruft, da sie sichaußerhalb der Disziplin dieser Kirchestellt. In Anbetracht dessen, dass, trotzeiniger positiver Aspekte, die Aktivitätenvon Vassula Ryden sich negativ aus-wirken, ersucht diese Kongregation, dassdie Bischöfe einschreiten, ihre Gläubigenangemessen informieren und in ihrenDiözesen keine Ausbreitung der Ryden-schen Ideen gestatten. Sie fordert schließ-lich alle Gläubigen auf, die Schriften unddie Interventionen von Frau Vassula Ryden nicht als übernatürlich zu be-trachten und den Glauben, den der Herrder Kirche anvertraut hat, rein zu be-wahren.“1

Da sich Vassula Ryden und ihre Anhängerimmer als besonders kirchentreu ein-gestuft haben, war die Enttäuschung überdas harsche Urteil aus Rom verständ-licherweise sehr groß, und Frau Rydenzeigte sich konsequenterweise nicht bereit,die Angelegenheit damit einfach auf sichberuhen zu lassen. Im Juli 2000 wandtesie sich an Kardinal Ratzinger und er-reichte, dass sich die Glaubenskongrega-tion nochmals mit ihren Offenbarungenbeschäftigte und deshalb Frau Ryden imApril 2002 aufforderte, zu den strittigenPunkten klärend Stellung zu nehmen. DerVatikan bat insbesondere um Ausführun-gen zum Charakter ihrer Offenbarungen,ihrer Sicht des Papsttums und der christ-lichen Einheit, den Aussagen zur Trinität,Protologie und Eschatologie sowie zu den

420 MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 420

organisatorischen Strukturen ihrer An-hängerschaft.2 Vassula Ryden antwortetein einem sehr ausführlichen Schreibenzwei Monate später (26. Juni 2002). Es istinsofern sehr aufschlussreich, als es nichtnur Einblicke in den Offenbarungsvor-gang als solchen und die Aktivitäten derBewegung „Wahres Leben in Gott“ ge-währt, sondern ganz offensichtlich unterMitwirkung eines oder mehrerer versierterkatholischer Theologen abgefasst wurde. Auf die Frage nach dem Charakter ihrerKundgaben, antwortete Frau Ryden ganzim Sinne des römisch-katholischen Privat-offenbarungsverständnisses, dass sienichts neues, über die Bibel Hinausge-hendes verkünde: „Ich erwarte nicht vonden Lesern vom WLIG [Wahren Leben inGott], dass sie die Botschaften für wich-tiger halten als die Heilige Schrift…“ IhrWerk füge „dem Glaubensgut nichtshinzu“.3 Sie empfange „diese Mitteilun-gen … auf zwei Arten. … 1. Durch dasAufkommen innerer Worte, d.h. Ein-sprechungen. Die Worte, die ich ver-nehme, sind wesenhaft und viel deut-licher, als wenn ich sie über die Ohrenhören würde“, 2. „durch ein Licht des Ver-ständnisses in meinem Verstand, ohne ir-gendein gesprochenes Wort. Es ist, wiewenn Gott Seinen Gedanken in meinenüberträgt. … Später wurde mir hier inRom gesagt, dass die heilige Birgitta vonSchweden ihre Botschaften auf ähnlicheWeise niederschrieb.“4

Auf die Frage nach ihrer Stellung zumPapsttum antwortete sie: „Mein Ruf ist es,die Bedeutung des Papstes zu bekräftigenund seinen Stuhl gegen all jene zu vertei-digen, die dazu neigen, ihm nicht zugehorchen und sich gegen ihn aufzu-lehnen, und zugleich soll ich die Errich-tung und Stärkung der inneren Strukturder Einheit anregen. … Die Mehrheit vonuns ist dieser Trennung [in verschiedeneKonfessionen] überdrüssig, weil sie nicht

dem Gesetz der Liebe unseres Herrnentspricht.“5 Sie selbst sei zwar grie-chisch-orthodox und „ihrer Kirche vollverpflichtet“, dennoch sehe sie sich alsberechtigt an, die römisch-katholische Eu-charistie zu empfangen, wie dies durchdas Dekret „Orientalium Ecclesiarum“ desZweiten Vatikanischen Konzils ermöglichtwerde.6Zu ihrem Trinitätsverständnis führte FrauRyden aus: „Von Anfang an habe ich nieden Vater, den Sohn und den heiligenGeist miteinander vermischt. … Wenn ichJesus an einer Stelle ‚Vater’ nannte, dannaufgrund der väterlichen Art, in der Er zumir sprach. … Manchmal ist es Gott Vater,der spricht, und jedem Leser, der dieHeilige Schrift kennt, ist klar, dass es tat-sächlich der Vater ist, der spricht, da ErWorte gebraucht wie ‚Mein Sohn Jesus’usw. Dann kann es vorkommen, dassmich später am gleichen Tag Christus ruft,die Botschaft fortzusetzen, und Erspricht.“7 Was die Protologie betrifft,grenzt sich Vassula Ryden scharf von derReinkarnation und dem New Age-Ge-danken ab, die Jesus in einer Kundgabe ansie als „Lehren Satans“ bezeichnet habe.Und wenn in den Kundgaben Ausdrückewie „Neuer Himmel“, „Neue Erde“ oder„Zweites Pfingsten“ fielen, so seien diesenicht eschatologisch, sondern „metapho-risch zu verstehen“.8Zum Schluss kommt Frau Ryden auf dieOrganisierung ihrer Anhänger zu spre-chen: „Das Wahre Leben in Gott ist keineBewegung, noch hat es eine Geschäfts-stelle.“ Es gebe in mittlerweile 60 LändernGebetsgruppen, außerdem existieren inmehreren Staaten unter dem Namen„Beth Myriam“ auf Spendenbasis fi-nanzierte Einrichtungen für Bedürftige wieetwa Waisenhäuser.9 „Wenn es in man-chen Ländern Vereine vom ‚WahrenLeben in Gott’ gibt, dann lediglich auf-grund rechtlicher Umstände im Zusam-

421MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 421

menhang mit der Förderung der Evangeli-sation und dem Druck der Bücher. …Doch ich dachte nie daran, eine Bewe-gung zu gründen.“10

Offenbar gelang es Frau Ryden, mit ihrertheologisch sehr fundierten Stellungnah-me die Verantwortlichen im Vatikan dazuzu bewegen, von ihrer ablehnenden Hal-tung abzurücken; jedenfalls versandteKardinal Ratzinger am 10. Juli 2004 andie Vorsitzenden der Bischofskonferenzenvon Frankreich, der Schweiz, Uruguay,den Philippinen und Kanada einSchreiben, in dem Vassula Rydens Er-läuterungen als „hilfreiche Darstellungen“bezeichnet wurden. Hatte die Notifikationvon 1995 die Bischöfe noch dazu aufge-fordert, gegen die Aktivitäten der An-hänger des „Wahren Lebens in Gott“ Stel-lung zu beziehen und einzuschreiten,hieß es nun: „Was die Teilnahme an denvon Frau Ryden organisierten ökumeni-schen Gebetsgruppen betrifft, so solltendie katholischen Gläubigen dazu ange-halten werden, den Anordnungen derDiözesanbischöfe Folge zu leisten“11 –wobei nicht näher ausgeführt wurde, wiediese Anordnungen auszusehen haben, esalso offenbar nun den Bischöfen frei-

gestellt ist, welche Position sie Vassula Ry-den gegenüber beziehen. Es versteht sich von selbst, dass der Kurs-wechsel des Vatikans propagandistischeVerwertung findet, und dies nicht nur sei-tens klerikaler Vassula Ryden-Anhänger12,unter denen sich auch hochrangige Wür-denträger wie der philippinische Erz-bischof Ramon C. Arguelles befinden. Of-fenbar trifft Frau Ryden, der von eher li-beraler Seite vorgeworfen werde, sie sei„katholischer als die Katholiken“13 mitihren kirchenpolitisch wie theologisch ab-solut „romtreuen“ Aussagen auch auf denFührungsebenen der römisch-katholi-schen Kirche zunehmend auf Interesseund Zustimmung. Dies darf jedoch nichtdarüber hinwegtäuschen, dass sie trotzder wohlwollenderen Haltung der Glau-benskongregation natürlich nach wie vorsehr weit von einer kirchlichen Anerken-nung der Kundgaben entfernt ist, dieohnehin erst nach Frau Rydens Tod bzw.einem Ende ihrer Privatoffenbarungen er-folgen könnte. Insofern ist auch die neueTonlage alles andere als eine Einverständ-niserklärung des Vatikans, auch wenn sievon Rydens Anhängern zukünftig sicherals eine solche dargestellt werden dürfte.

422 MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

Anmerkungen

1 Text der Notifikation in L’Osservatore Romano(deutsche Ausgabe), 44/1995, 4.

2 Siehe dazu die Dokumentsammlung „WahresLeben in Gott – Klärungen mit der Kongregation derGlaubenslehre“, o.O. 2004, 16f.

3 Ebd., 19f.4 Ebd., 21f.5 Ebd., 28.6 Ebd., 30.

7 Ebd., 33f.8 Ebd., 36f.9 Ebd., 39ff.

10 Ebd., 42.11 Ebd., 11.12 Siehe z.B. http://www.tlig.org/cdf3.html.13 Dokumentsammlung „Wahres Leben in Gott –

Klärungen mit der Kongregation der Glaubens-lehre“, 25.

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 422

KI-BEWEGUNGEN

Feng Shui kommt zu akademischenEhren. (Letzter Bericht: 2/2005, 52ff) FengShui, chinesisch „Wind“ und „Wasser“,die alte chinesische Lehre, ein Gebäude,eine Landschaft oder eine stadträumlicheSituation in Einklang mit den traditionel-len Vorstellungen des Taoismus „richtig“zu gestalten, ist seit Anfang der 90er Jahreauch in Europa populär. So gehören FengShui-Kurse längst zum Repertoire vonVolkshochschulen und eine stattliche An-zahl von Feng Shui-Beratern bieten ihreDienste bei Fragen der Einrichtung vonWohn-, Geschäfts- oder Büroräumen, beider Anlage von Garten- oder Parkanlagenund bei der Gestaltung von Gebäudenoder kompletten Siedlungsprojekten an.Neu ist hingegen, was ab Oktober 2005an der Donau-Universität Krems (Nieder-österreich) auf dem Lehrplan steht. Dortstartet nämlich im Fachbereich Umwelt-und Medizinische Wissenschaften amZentrum für Management und Qualität imGesundheitswesen der erste und bishereinzige Universitätslehrgang für „LO (Le-bensraumoptimierung)-Feng Shui (ULLO)“im deutschsprachigen Raum. Die 1994 gegründete Donau-UniversitätKrems ist spezialisiert auf universitäreWeiterbildung und bietet im Wintersemes-ter 05/06 111 Universitätslehrgänge an.Der „LO-Feng Shui“-Lehrgang, dessen Vo-raussetzungen zur Zulassung die Hoch-schulreife oder mehrjährige Berufserfah-rung in raumgestaltenden Berufsspartensind, wendet sich an „Architekten, Baubio-logen, Innenarchitekten, Gärtner, Deko-rateure, Tischler, Floristen, aber auch Ärzte,Masseure, Therapeuten und jene Berufs-gruppen, die sich mit der Gesundheit desMenschen beschäftigen und die sich auf

eine berufsbegleitende bzw. hauptberuf-liche Ausübung vorbereiten wollen.“1

Bemerkenswert sind die Lehrgangsziele:„Die AbsolventInnen erlernen mit ihren 5Sinnen Situationen zu erkennen und dar-aus Schlüsse zu ziehen. … Ein weitererVorteil dieser Ausbildung ist die tief-greifende Auseinandersetzung mit demeigenen Ich, so kann sich jeder Studentsein sicheres Umfeld aufbauen, um vondort aus erfolgreich zu sein.“2 Die Initia-toren sehen in der „ursprünglichen Wis-senschaft Feng Shui eine neutrale Betrach-tung und Befundungsmöglichkeit fürZustände auch in der heutigen Zeit“.3Der ganze Lehrgang wird über 3 Semestergeführt und umfasst 450 Unterrichtsein-heiten oder 60 ECTS Punkte (EuropeanCredits Transfer System) und schließt mitdem vom österreichischen Bundesminis-terium für Bildung, Wissenschaft und Kul-tur genehmigten Titel „Akademischer Ex-perte LO- Feng Shui“ ab. Der Lehrplan umfasst neben Veranstaltun-gen zu „klassischen“ Feng Shui-Inhaltenwie den 5 Elementen, Baqua, Trigrammeoder Kompasslehre, naturwissenschaft-liche Fächer wie Meteorologie, Bioklima-tologie oder Theoretische Physik.Mit diesem Lehrgang, der nach Eigen-beschreibung der Universität die „Absol-ventInnen bei der Planung und Errichtungöffentlicher Gebäude wie Kindergärten,Schulen und Krankenhäuser qualifiziert“,haben die Universität und Lehrgangsver-antwortlichen ihr Reichtumseck gut be-stellt. Schließlich kostet dieser Lehrgangstattliche 7485 Euro.

1 Universitätslehrgang LO-feng shui (ULLO) mit derVertiefung Lebensraumoptimierung, Lehrgangsin-formation, 2 (Stand Mai 2005) www.donauuni.ac.at/imperia/md/content/studium/umwelt_medizin/zqsg/lo-fengshui/info_1.pdf.

2 Ebd., 3.3 Ebd.

Stefan Lorger-Rauwolf, Wien

423MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

INFORMATIONEN

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 423

PARAPSYCHOLOGIE

Internet-Lexikon der Paranormologie.Seit kurzem sind die ersten Artikel des„Lexikons der Paranormologie“ im Inter-net unter der Adresse http://info.uibk.ac.at/c/cb/cb26/lexikon/ lesbar. Der ver-antwortliche Autor, Direktor des Institutsfür Grenzgebiete der Wissenschaft (IGW)in Innsbruck, Prof. DDr. P. Andreas Resch(Jg. 1934), hat den Begriff „Paranormolo-gie“ im Jahr 1969 als neutrale Bezeich-nung für die „Wissenschaft der paranor-malen Phänomene“ eingeführt. Mit demBegriff Paranormologie möchte er die Er-forschung auf den Gesamtbereich derGrenzgebiete der Wissenschaften ausdeh-nen. Reschs Lexikon der Paranormologiehat zum Ziel, diesen Gesamtbereich so-weit wie möglich begrifflich abzuklären,„angefangen von den Grenzgebieten derPhysik über jene der Biologie, Medizin,Psychologie, Geschichte und Religions-wissenschaft bis hin zu Volks- und Völ-kerkunde, Mythologie und Mystik, ver-bunden mit Informationen über einschlä-gige Personen, Institutionen, Gemein-schaften und Praktiken“. Die einzelnen Artikel weisen folgendeStruktur auf: Begriff – Definition – Ge-schichte – Aktuelle Bedeutung – Literatur.Wie Resch mitteilt, sind die Vorarbeitenhierzu weitgehend abgeschlossen. Bislangsind nur die Artikel von A bis Ataxe onlinezugänglich. Das Internet-Lexikon soll kontinuierlicherweitert werden. Geplant ist auch eineDruckausgabe. Resch schreibt hierzu: „Dadie Arbeit im Bemühen um Vollständigkeitmehrere Bände umfassen wird, sollen hierüber das Internet schon jetzt die erstelltenBegriffe angezeigt werden, um vor einerendgültigen Fassung ergänzende Anre-gungen aufzugreifen und fehlende Be-griffe einzufügen.“

Matthias Pöhlmann

FREIGEISTIGE BEWEGUNG

Auf dem Weg zur ersten „humanistischenSchule“ in Deutschland. (Letzter Bericht:10/2005, 388) Im Frühjahr 2004 be-antragte der Humanistische VerbandNürnberg (HVD-Nürnberg) die Genehmi-gung zur Einrichtung einer Ersatzschule(Grundschule) in Fürth. Dieser Antragwurde Ende Dezember 2004 abschlägigbeschieden. Begründet wurde dieEntscheidung u.a. damit, dass kein„besonderes pädagogisches Interesse“ aneiner solchen Schule bestünde. In einerPresseinformation vom Sommer 2005äußerte der HVD-Bundesverband denVerdacht, dass die mittelfränkische Regie-rung das Projekt aus weltanschaulichenGründen zu vereiteln versucht. Zu dieserAnsicht war der HVD-Nürnberg nachKenntnisnahme der Akten gelangt: „Beider unlängst erfolgten Akteneinsichtzeigte sich, dass wahrscheinlich ganz an-dere als pädagogische Gründe bei dieserEntscheidung eine Rolle gespielt haben.Vielmehr wurde die Eignung des HVD alsSchulträger aus religiösen Gründen her-aus bezweifelt. Diese, intern umfangreichvorgetragenen Überlegungen der Regie-rung von Mittelfranken wurden unsgegenüber freilich nie thematisiert, son-dern verborgen gehalten. Als weltlich-hu-manistische Vereinigung nicht-religiöserMenschen sei unsere Eignung als Schul-träger in Bayern sehr zu bezweifeln, heißtes dort. Auch wurde unterstellt, dass derHVD-Nürnberg nicht in der Lage sei, Reli-gionsunterricht an seiner Schule anzu-bieten, obwohl der HVD-Nürnberg diesausdrücklich erklärt hat. Weiterhin wurdeohne jede Grundlage unterstellt, derHVD-Nürnberg betreibe mit seinem An-trag in Wirklichkeit die Gründung einer sogenannten ‚Weltanschauungsschule’ (inAnalogie zu den christlichen Bekenntnis-schulen). Grundsätzlich wurde der Artikel

424 MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 424

131 der Bayerischen Verfassung gegenden HVD-Nürnberg geltend gemacht,nach dem das ‚oberste Erziehungsziel’ anbayerischen Schulen die ‚Ehrfurcht vorGott’ zu sein habe. Nachdem der HVD-Nürnberg als Verband dieses Ziel nichtteilt, komme er schon aus grundsätzlichenErwägungen heraus nicht als Schulträgerin Frage.“Gegen die Ablehnung hat der HVD-Nürn-berg Klage erhoben. Man sieht hier einenVerstoß gegen das Grundgesetz der Bun-desrepublik Deutschland und die Chartader Grundrechte der Europäischen Union.Der HVD-Nürnberg hofft, dass die Richter„die Regierung in (die) Schranken ver-weisen“ werden. Der HVD-Geschäfts-führer erklärte dazu: „Es wird Zeit, dassendlich der Weg freigemacht wird fürunser modernes, zukunftsgerichtetes undkindgerechtes Reformprojekt. Wir sindjetzt von der Regierung und ihrem vor-demokratischen Glaubenskämpfertumlange genug behindert worden.“Der Schule soll ein modernes, reformpäd-agogisches Konzept zugrunde gelegt wer-den, zu dessen Besonderheiten gehörtu.a. die Mitarbeit einer Sozialpädagoginals zweiter Lehrkraft in jeder Gruppe,Gruppengrößen von maximal 25 Kindernunterschiedlicher Jahrgänge, Fremd-sprachenunterricht ab dem 5. Lebensjahr,die Beurteilung der Schüler nicht mitNoten, sondern in Form eines Portfolios,Einbezug der Eltern in verschiedene Un-terrichtsthemen, Vernetzung mit demGemeinwesen, demokratische Beteiligungder Schüler am Schulleben und anderesmehr. Ein weiteres Charakteristikum sollder „umweltpädagogische Tag“ sein, d.h.ein fester Tag in der Woche, an dem derUnterricht gemeinsam mit qualifiziertenUmweltpädagog/inn/en im Freien statt-findet. Schließlich soll es an der geplantenSchule das (für Bayern neue) SchulfachHumanistische Lebenskunde als Wahl-

pflichtfach für nicht-religiöse Kinder inErgänzung zum katholischen und evange-lischen Religionsunterricht geben. Der HVD-Nürnberg hofft auf eineEntscheidung in den nächsten Monaten,damit die neue Einrichtung zum Schuljahr2006/2007 ihre Arbeit aufnehmen kann.Sollte das gelingen, wäre dies die erstefreidenkerische Schule – nach eigenemSprachgebrauch „die erste humanistischeSchule“ – Deutschlands, die eröffnet wird(vgl. www.humanistische-schule.de).

Andreas Fincke

ESOTERIK

Die aktuelle Debatte um Andrew Cohen.Der Amerikaner Andrew Cohen (vgl. MD1/2005, 12ff) ging Mitte der 80er Jahrevon der hinduistischen Lehre des AdvaitaVedanta aus, die er inzwischen als „prä-modern“ abqualifiziert. Heute vertritt der49-Jährige eine postmoderne Theorie der„evolutionären Erleuchtung für das 21.Jahrhundert“. Unter dem Titel „Der Guruund der Pandit“ debattiert er diese in einerEndlos-Serie mit Ken Wilber, einem Idolder „integralen Philosophie“, im spiri-tuellen Hochglanzmagazin „What Is En-lightenment?“ (WIE), dessen Herausgeberer ist. In Foxhollow bei Lenox/Massachu-setts hat Cohens spirituelle Gemeinschaft,die sich Impersonal Enlightenment Fel-lowship (IEF) nennt, ihren Hauptsitz. An-dere Zentren bestehen in Großbritannien,Dänemark, Frankreich, Australien und inden Niederlanden. Die Guru-Praxis, diedas Leben in diesem internationalen Netz-werk prägt, wird seit einiger Zeit heftigkritisiert.Nachdem bereits Cohens Mutter LunaTarlo nach drei Jahren die „Community“ihres Sohnes verließ und in „The Motherof God“ dortige „faschistoide“ Auswüchseanprangerte, beschrieb André van der

425MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 425

Braak, früher WIE-Chefredakteur, seine Er-lebnisse mit den Repressionen bei Cohenin „Liegestütz zur Erleuchtung“ (Win-terthur 2004). Nach elf „Lehrjahren“gelang dem Niederländer der Ausstiegund ein Neuanfang als Philosophie-Dozent an der Universität Amsterdam.Verschiedene englischsprachige Internet-Foren bestätigen die Aktualität des Be-richts van der Braaks, ohne dieses detail-reiche Buch zu ersetzen. Zwischen August2004 und Juli 2005 fand ein intensiverDialog im „Factnet Message Board / Reli-gious Cults and Sects“ statt, aus demeinige Beispiele zitiert seien:

• Zunächst fragte eine „Annie“ nach In-formationen zur Cohen-Gruppe: „MeineSchwester ist dort Mitglied und scheintsehr stark involviert. Ich fühle mich sehrunsicher, da sie Probleme mit ihrer geisti-gen Gesundheit hat.“• Ein Anonymus antwortete zwei Tagespäter, Cohen werde zwar von Wilber undanderen „New-Age-Autoritäten“ begüns-tigt, doch habe niemand von diesen in derGruppe gelebt. Cohen locke die Leutedurch WIE an, rekrutiere über offeneKurse Jünger, dann beginne die „echteGefahr“, wenn jemand in eine seiner Ge-meinschaften einziehe. Annie wird gera-ten, alles zu tun, um den Kontakt zu ihrerSchwester aufrecht zu erhalten, dieser je-doch nur Sachgeschenke, keinesfalls Geldzu schicken, weil das in der Gruppe ver-schwinde. Cohen verstehe es, durch einäußerst eindrucksvolles Setting sensiblenLeuten sehr mächtige Erfahrungen zu ver-mitteln. Diese würden ermutigt, an dieVollkommenheit des Gurus zu glaubenund daran, dass es ohne ihn keinen spiri-tuellen Fortschritt gebe. Dabei sei das Le-ben in den Cohen-Zentren hektisch, lassekeine Zeit zu eigenständiger Reflexion.Wolle jemand sich verabschieden, werdeihm beigebracht, dass er ein Versager sei.

• Im Dezember 2004 warnt der Ex-Cohen-Jünger „sonam7“ Annie und erzählt,er habe Cohen nach jahrelangem Aushar-ren aus vielen Gründen den Rücken ge-kehrt, vorrangig aber wegen „abuse“. Die-ses Wort taucht bei vielen Kritikern aufund lässt sich vielfältig ins Deutsche über-setzen, so mit Beleidigung, Beschimp-fung, Missachtung, Missbrauch, Miss-handlung, Schändung oder Übergriff, wo-bei im Fall dieses Gurus vermutlich weni-ger sexueller Missbrauch als psychischeRepressalien und Körperstrafen gemeintsind. So fährt „sonam7“ fort: „Ich habe er-fahren, wie niederdrückend, tyrannischund entmutigend Cohen und seine Ge-meinschaft sind. Cohen benutzt extremeErniedrigungen, psychischen Druck undMissachtung, um jedermann in Furcht,Ungleichgewicht und Misstrauen gegen-über den Mitschülern zu halten, damit erdie absolute Macht und Kontrolle ausübenkann. Es schaudert mich, wenn ich an dasElend denke, dem ich und andere sich beiihm aussetzten. Er täuscht sich gravierendselbst darüber, wer er wirklich ist.“

Auf der Internetseite „whatenlighten-ment.blogspot.com“, die sich seit Januar2005 als ein Forum für den „unzensiertenBlick auf den selbst-ernannten ‚Guru’ An-drew Cohen“ definiert, werden diesegenerellen Vorwürfe konkretisiert. Dortmelden sich zahlreiche Mitglieder der Cohen-Community zu Wort, die bis zu 15Jahre mit dem Guru verbrachten. Teilsverteidigen sie ihn, teils lassen sie Mildewalten. Etliche Stimmen warnen jedochvor den Risiken der Cohen-Jüngerschaft.• Ihre Selbsteinschätzung als Erleuchtetedankt Roberta Andersson Cohen auchjetzt noch, räumt inzwischen aber ein, siehabe vom hohen Ross steigen müssen, daes „tatsächlich über die Maßen viel an al-tem Spuk, Grausamkeit und Menschen-verachtung“ gegeben habe. Sie betrachtet

426 MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 426

den Mangel eines pädagogischen Modellsals Cohens Schwachpunkt und kommt zuder Bilanz: „Zwang, Herrschaft und Kon-trolle wurden ziemlich nazi-ähnlich.“• Anastasi Mavrides alias Ernest kämpfte15 Jahre als „Senior Student“ für den Er-leuchtungsprediger, leitete Gruppen in TelAviv, Stockholm, London und Foxhollow.Er bezeichnet sich als „engen Freund“ Co-hens. Heimlich flüchtete er im Mai 2003.Seine Analyse hält fest, Andrew sei von einer Garde umgeben, die ihn täglich inseiner Selbsttäuschung als „lebenderBuddha“ bestätige, seine persönlichenSchwächen, Wunden und Spinnereien alsAusdruck von Vollkommenheit darstelle.Ernest gesteht: „Ich hinterfragte Andrewszahllose Befehle nicht, Leute für ihn zuschlagen und zögerte nicht, solche Be-fehle auszuführen ... und ich wurde selbstzum Empfänger etlicher solcher ‚Nach-richten’ Andrews.“ Mavrides arbeitet jah-reland ohne Bezahlung für Cohens Publi-kationsmaschinerie und kann das Geld fürteure „Retreats“ nicht aufbringen. Cohenbietet ihm daraufhin an, ihm Geld zu lei-hen, aber von einem Gehalt ist nie dieRede. Im Gegenteil: Wenn ein „SeniorStudent“ den „Guru“ „beleidigt“, verlangtdieser ohne Rücksicht auf die finanzielleSituation des Jüngers eine „karmischeWiedergutmachung“ in Höhe von 20.000Dollar. Mavrides zahlt zunächst mit ge-borgtem Geld. Nachdem auch seine Ehelängst gescheitert ist und er beim Guruwiederholt in Ungnade fällt, setzt er sichab. Cohen will ihn zurückholen, schreibtselbst Briefe und lässt Gruppenmitgliederbei Verwandten von Mavrides anrufen.Dieser fordert inzwischen sein Geldzurück, erhielt aber bislang lediglich vonCathy Snow, der Sekretärin der Imperso-nal Enlightenment Fellowship, eine Ab-fuhr: „Wir haben deine Forderung geprüftund beschlossen, sie abzuweisen. Wirwünschen dir das beste.“

• Hal Blacker steuert den Löwenanteil zuWhatenlightenment.blogspot.com bei.Nach seinen Aussagen seien 20.000-Dollar-Spenden die Regel, Cohen erreichedurch psychischen Druck, dass jemandseine „Vergehungen“ gegenüber Guruund Gruppe durch Zahlungen von bis zu80.000 Dollar „büßt“, um in der Commu-nity bleiben zu dürfen. Blacker zählt De-personalisierungsmethoden und Sankti-onstechniken auf: Schüler müssen sichmit Spottnamen (Mad Dog, Sherma theTank, Mephisto etc.) vorstellen und anre-den. Wer als Versager gilt, hat sich denKopf zu scheren oder bekommt blutroteSchmierereien an die Zimmerwände, diedas „Blut des Gurus“ symbolisieren.„Übeltäter“ werden so sichtbar gebrand-markt. Mehr als einmal habe Cohen selbstLeute geschlagen, abgesehen davon, dasser Schläge anordne. In einem Fall müssenmindestens 15 Männer mehrere Tage langim Winter rund um Cohens Haus in Fox-hollow stehen, ohne sich zu bewegen. Ei-nige urinieren in die Hose. Der Gurulacht sie aus. In einem anderen Fall wer-den 20 bis 30 Frauen in einen Raum ge-sperrt und müssen rund um die Uhr denFilm „To Die For“ anschauen bzw. BobDylans Song „Just Like a Women“ hören.In einem Raum im Cohen-Zentrum wer-den Frauen, obwohl sie Jobs außerhalbder Gruppe ausüben und für die Commu-nity unentgeltlich arbeiten, zeitweisequasi kaserniert. Die Wände sind mit Ka-rikaturen bemalt, die bestimmte Frauenals Dämonen diffamieren, welche denGuru sexuell quälen oder verstümmeln.Cohen „erlaubte“ laut Blacker schließlichbußfertigen Frauen, sich im Novembereine Stunde lang im Laurel-See auf demFoxhollowgelände zu baden. Mehrere derFrauen erkrankten dadurch. EinzelneGruppenmitglieder werden von CohensGattin Alka abgestraft. So wird „Donna“kübelweise mit Farbe übergossen und ver-

427MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 427

lässt daraufhin die Gruppe. Donnas Toch-ter Sophia wird im Gegenzug von Cohenselbst darüber aufgeklärt, dass die Mutterden Vater betrogen habe. Blackers Bei-spiele, wie Leute, die gehen möchten,traumatisiert werden, sind besonders ein-drucksvoll. Cohen wirft ihnen Verrat vor,droht ihnen, sie verlören die Chance derErleuchtung, verteufelt sie, lässt sie jagen.Einer Frau, die Fluchtgedanken hat, lässtder Guru Papiere und Kreditkarten weg-nehmen. Sie liefert Kopien aus und machtsich mit einem Mietwagen aus dem Staub.Als sie das Auto in einer anderen Stadtzurückgibt, steht bereits eine Cohen-Ab-geordnete beim Leihwagenbüro ...• Brook Stone, die von 1988 bis 1993 beiCohen das Heil suchte, schreibt, CohensGruppe sei „auf Scham erbaut“. Sie er-kennt einen anhaltenden Prozess der Ver-schlimmerung der Repressalien: „Als ichabhaute, handelte es sich um kleine Kar-toffeln, verglichen mit dem, was nun ge-schieht, obwohl die Samen für das allesschon existierten. Ich wurde beschämtund beschimpft und zum Feigling erklärt,als ich ging, aber nicht physisch angegrif-fen. ... Heute schlägt er Leute oder lässtsie schlagen und praktiziert anderes, wasabuse ist [vgl. hierzu meine Anm. oben;A.K.], welches Maß man auch anlegt.“Stone appelliert an die Prominenz derSzene, deren positives Urteil Cohen stärkt:„Ich möchte denen in der akademischenGemeinschaft mitteilen, etwa Ken Wilber:Bitte, lasst euch nicht zum Narren haltenoder beschwichtigen. Im gegenwärti-gen kulturellen Kontext, in dem Wahrheiteine Konstruktion ist, die zu einem ge-wünschten Image passen muss, erscheintes als besonders wichtig, dass wir in pro-gressiven Gemeinschaften einen offenenDialog haben, Kritikfähigkeit und die Frei-heit, einen Führer zu hinterfragen, pfle-gen. Idealismus sollte nicht zu Blindheitführen.“

Interessant sind schließlich die Angabenzu Besitz und Mitgliederstärke der Cohen-Gemeinschaft, die sich bei Blacker finden.2003 habe das Gesamtvermögen der Im-personal Enlightenment Fellowship an die7 Millionen Dollar entsprochen. LautSteuererklärung habe die IEF 4,3 Millio-nen Dollar Einnahmen erzielt, was netto2,2 Millionen Dollar ausmache. Zur Zeitgebe es allerdings nur 400 Schüler undpraktizierende Mitglieder weltweit.Diese Zahlen mögen erklären, weshalbCohen seit 2004 seine Bemühungen zu in-tensivieren scheint, sich in Deutschlandein größeres Publikum zu schaffen. So prä-sentierte er sich Anfang Juni als „Spiri-tueller Lehrer“ beim Kongress „Psycho-therapie des Bewusstsein“ in Bad Kissingeneinem großen Publikum (vgl. dazu indiesem Heft, 415ff). Danach trat er imMünchner Goethe-Forum auf. Offensicht-lich benutzt Cohen gerne seriöse Veranstal-ter wie das Goethe-Institut oder die BadKissinger Kongressleitung, um seine Repu-tation zu steigern. Dass das Goethe-Forumzwar dem Goethe-Institut untersteht, abervon jedem angemietet werden kann,wusste bestimmt nicht jeder Besucher.Cohens internationale Zeitschrift What IsEnlightenment? (WIE – die deutsch-sprachige Ausgabe führte bis 2003 den Ti-tel Was ist Erleuchtung?) steigerte jüngstihren Erscheinungsrhythmus von zweiHeften pro Jahr auf vier. Auch das ist einAnzeichen für eine offensivere Vorgehens-weise dieser Bewegung. Die deutsch-sprachige WIE-Ausgabe hat laut eigenerAuskunft eine Auflage von 7000 bis10.000 Stück und liegt in rund 50 Buch-handlungen in Deutschland, Österreichund der Schweiz aus, dazu in Bahnhofs-und anderen Großkiosken. WIE wirktdurch das professionelle Layout geradeauf jüngere Leute und Intellektuelle at-traktiv und kann durchaus als Einstiegs-portal in eine Sektenkarriere dienen.

428 MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 428

Von deutschen Cohen-Anhängern warenbislang noch keine Vorwürfe der Art zuhören, wie sie van der Braak und die In-ternetforen erheben. „Liegestütz zur Er-leuchtung“ provozierte jedoch eine Reihevon Reaktionen in der einschlägigenPresse. Auf Christian Salvesens Cohen-kri-tische Buchbesprechung (Connection6/2004) antwortete Tom Steininger, seitsieben Jahren der leitende Redakteur derdeutschen WIE-Ausgabe. Er beschriebseine persönliche Entwicklung unter Cohens Einfluss als einen zehnjährigenProzess zu kollektiver Erleuchtung. Der„konfrontative Lehrer“ vermittle Men-schen der narzisstischen Generation einenBegriff von Würde und wahrer Ethik (Con-nection 4/2005, 44-46). Zu bedenken istallerdings, dass Steininger völlig integriertin der Cohen-Community lebt: Kann erobjektiv sein, oder steht er gar unterirgendeiner Form von Druck?Gerühmt wird Cohen auch in dem Artikel„Fundamentalismus oder spirituelle Evo-lution“ des Anthroposophen Jens Heis-terkamp. Als Negativ-Folie dient dem Ver-fasser dabei der Vatikan, der als Instanz,die das aktuelle „Werte-Vakuum“ funda-mentalistisch zu füllen drohe, abgeurteiltwird. So wird denn auch Papst JohannesPaul II. unmittelbar neben Osama binLaden abgebildet. Die amerikanischenVordenker der „spirituellen Evolution“Don Beck, Ken Wilber und Andrew Cohen beschreibt Heisterkamp hingegenals Heroen, die der Menschheit zu Zu-kunftsreife verhelfen (vgl. Info3 04/2005,35-38). Die Verfasser beider Artikel er-wähnen die Cohen-Kritiker mit keinemWort. Stattdessen bauen sie den „grobenBurschen der Gottes-Erfahrung“ (Wilberüber Cohen, zit. nach Connection4/2005, 44) als Hoffnungsträger für denspirituellen Sucher auf.Unter verschiedensten Aspekten betrach-tet Advaita, das Journal des spirituellen

Lehrers Om C. Parkin und seiner Ham-burger „Allionce“, im Sommer-Heft 2005das Thema Meister-Schüler-Beziehung.Die Ausgabe ist der „Suche nach der ver-lorenen Autorität“ gewidmet. Einige Bei-träge fragen nach dem Missbrauch vonSchülern durch Lehrer und umgekehrt.Entsprechend rezensiert Ulrike Porep vander Braaks „Liegestütz zur Erleuchtung“zusammen mit Cohens „Himmel und Erdeumarmen“ und fragt: „Wer missbrauchthier wen? ... Beide Autoren zeigenwichtige Aspekte der Suche und der Verir-rung in den ewigen Kreislauf der Suche.Es ist gut, beide auf sich wirken zu lassen“(Advaita 12/2005, 66-67). Dahinter stehtdas Dogma des Advaita-Vedanta, dass esimmer nur das Ego sei, das missbrauchtoder sich über andere beschwert. DiesesEgo aber gelte es schließlich zu über-winden. Daneben finden sich in dieserZeitschrift Artikel, die Guru-Gewalt unre-flektiert als Mittel zum Zweck verteidigenund damit „What Is Enlightenment?“ nahekommen. Anama Frühling oder RanvaGörner etwa stellen Zen-Meister alsleuchtende Vorbilder hin, die ihre Schülerquälten, töteten oder verstümmelten (vgl.Frühling, Missbrauch in der Schüler-Leh-rer-Beziehung, Advaita 12/2005, 56-60;Görner, Milarepa, ebd. 63-65; Phipps, IsGod a Pacifist? WIE 26/2004, 54-83). Die Erleuchtungssucher lassen hier dienötige Distanz zur Historie vermissen. Wosich heute ein Meister-Schüler-Verhältniskonstituiert, sollten die gegenwärtig adä-quaten Standards gelten, etwa die Men-schenrechtserklärung oder die staatlichenGesetze. Wer die Evolution des Bewusst-seins propagiert, kann nicht mittelalter-liche Meister, die Jungen den Finger ab-hacken, verklären! Om C. Parkin, einerder bekanntesten Repräsentanten der Ad-vaita-Richtung in Deutschland, wird ineinem Interview gefragt: „Aber es findetdoch konkreter Missbrauch durch spiri-

429MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 429

tuelle Lehrer statt, das ist bekannt.“ Parkinantwortet ausweichend, indem er zwi-schen „wahren“ und „falschen“ bzw. „be-grenzten Lehrern“ unterscheidet, die er als„Gelehrte“ deklassiert. Zu solchen „Ge-lehrten“ zählt er explizit Cohen undWilber mit ihren „Auflistungen inkorrekterHandlungen oder Verhaltensweisen“. Par-kin kommentiert: „Den Missbrauch durcheinen spirituellen Lehrer erkennt man aneiner feinen Spur geistigen Schmutzes. ...Ein falscher Lehrer hinterlässt eine kaumwahrnehmbare Spur des Toten.“ (Parkin,Schüler und Lehrer vereint. Interview, Ad-vaita 12/2005, 13-21, hier 18f). Das State-ment stellt innerhalb eines Umfelds, woman sonst unpersönlich bleibt und keineNamen nennt, eine schwerwiegende Kri-tik dar, die aber auch auf den theoreti-schen Ansatz der Amerikaner zielt.Alle drei zitierten Zeitschriften halten sichmit vorschnellen Urteilen zurück. Es kannhier auch nicht darum gehen, denVertreter einer zeitgenössischen Philoso-phie-Schule wegen irgendwelcher Be-hauptungen zu diffamieren. Zu bedenkenist allerdings, dass sich, seit Braak an dieÖffentlichkeit ging, zunehmend mehr Per-sonen finden, die die Methoden Cohensin Frage stellen. Es wäre leichtfertig, dieseKritiker durch die Bank der Unglaub-würdigkeit zu bezichtigen. So bleibt zuhoffen, dass Szene-Zeitschriften, WIE-Leser oder Cohen-Zuhörer solche War-nungen zur Kenntnis nehmen und darübernachdenken, ob nicht Cohens PraxisGrenzen verletzt, die heute auch für einenGuru gelten, oder ob WIE als Einstiegs-portal in eine Sektenkarriere dienen könn-te. Es wäre wünschenswert, wenn nichtnur die Fachpresse, sondern Publikums-medien über die Cohen-Debatte und dieSchattenseiten der Erleuchtung berich-teten, um das deutschsprachige Publikumfür die Problematik zu sensibilisieren.

Angelika Koller, München

Quantenphysik, Gehirnforschung undRamtha-Esoterik: Zum Kino-Start von„What the Bleep do we know!? Ich weiß,dass ich nichts weiß“. Als neues Werbe-und Kommunikationsmedium für esoteri-sche Überzeugungen wird zunehmendder Kinofilm genutzt. Nach dem Film „In-digo“, der anlässlich des Indigo-Tages2005 gezeigt wurde (vgl. MD 3/2005,111f) und inzwischen auf DVD vertriebenwird, kommt nun im November 2005 derStreifen „What the Bleep do we know“(dt. „Was glauben wir eigentlich zu wis-sen?“) – oder kurz „Bleep“ – in diedeutschen Kinos. In den USA soll er bereitsüber 12 Millionen US-Dollar eingespieltund dort wegen seiner Botschaft auchKontroversen ausgelöst haben. Diedeutsche „Horizon Film Distribution“ mitSitz in 71296 Heimsheim, die den 108-Minuten-Film hierzulande vertreibt, preistihn als „einen der erfolgreichsten Doku-mentarfilme der USA aller Zeiten“. ImZentrum des Streifens stehen Fragen derWissenschaft und der neuen Spiritualität.Zum Inhalt des Films heißt es auf der ein-schlägigen Internetseite: „Wie funktioniertRealität, wer erschafft sie? Was sind Ge-danken? Wo kommen sie her? Warumkehren Krisen und Leid immer wieder?Unsere Beziehungen scheinen sich inihrer Qualität zu wiederholen, woran liegtdas? Warum verändert sich nicht wirklichetwas? Haben wir Einfluss auf das, wasuns passiert oder sind wir Opfer der Um-stände?“ In die Dokumentation, bei der„vierzehn Wissenschaftler und Lehrmeis-ter“ Antworten auf die genannten Fragengeben sollen, sind Spiel- und Animations-szenen eingebaut. Oskar-PreisträgerinMarlee Matlin („Gottes vergessene Kin-der“) spielt darin Amanda, die Protago-nistin der Geschichte. Zusätzliche „Com-puter animierte Visualisierungen von Pep-tiden, Neuronen, Zellen, Energiefeldernund Atomen“ sollen die wissenschaft-

430 MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 430

lichen Aussagen des Films veranschau-lichen.Offensichtlich geht es um eine eigentüm-liche Mischung aus Quantenphysik,Gehirnforschung und die Esoterik-Botschaften der US-Amerikanerin JZKnight, die sie seit 1978 über Channelingvon einer 35000 Jahre alten Geistwesen-heit Ramtha empfangen soll. Es ist sicher-lich kein Zufall, dass die drei Produzentendes Films (William Arntz, Betsy Chasseund Mark Vicente) allesamt Ramtha-Schüler sind und auch JZ Knight im Filmals spirituelle Weisheitslehrerin auftritt.Obwohl versichert wird, es würde sichkeinesfalls um einen Werbefilm fürRamtha handeln, ergeben sich massiveZweifel an der behaupteten wissen-schaftlichen Objektivität des Projekts.Hier ist nicht der Ort, um dem im Einzel-nen nachgehen zu können. Immerhin hatdie Internet-Enzyklopädie Wikipedia zudem kontrovers diskutierten Film bereitswichtige Erkenntnisse zusammengetragen(http://en.wikipedia.org/wiki/What_the_Bleep_Do_We_Know%3F!; 6.10.2005).Und auch von Seiten eines im Film inter-viewten Wissenschaftlers wurde Kritik laut.So hat sich vor kurzem David Albert, Pro-fessor an der Columbia Universität, öf-fentlich darüber beklagt, dass seine Aus-sagen für die Intention der Filmemachervereinnahmt worden seien, obwohl er vorlaufender Kamera sein Unbehagen übereine Kombination von Quantenphysik undBewusstsein artikuliert hatte. Nachträglichbedauert er seine Mitwirkung, weil er zu-dem in den Verdacht geriet, Knights„Ramtha’s School of Enlightenment“ zuunterstützen (www.salon.com/ent/feature/2004/09/16/bleep/index1.html; 6. Oktober2005). Wäre ihm die intendierte Botschaftdes Films klar gewesen, hätte er seineMitwirkung sicherlich nicht zugesagt.Auf der deutschen Internetseite www.bleep.de heißt es zum holistisch-spiri-

tuellen Anliegen des Films: „Die im Filmgetroffenen Aussagen decken sich zumgrößten Teil mit denen großer Meister undGlaubensvertreter(n) sowie anerkannte(r)Physiker(n), Mystiker(n), Psychologen,Theologen usw. mit Rang und Namen.Auch in anderen Religionen(,) wie z.B.dem Buddhismus, werden fast die glei-chen Erkenntnisse offenbart.“ Es verwun-dert daher nicht, wenn „Gespräche mitGott“-Autor Neale Donald Walsch (vgl.MD 10/2000, 348ff) oder die deutscheEsoterikerin Bärbel Mohr („Bestellungenbeim Universum“; vgl. MD 12/2002, 353f)den Film wärmstens empfehlen. KritischePositionen zum geschickt inszeniertenweltanschaulichen Holismus spart der Filmoffenbar aus. Zu diesem Schluss kommtman, wenn man die skeptischen Berichtevon Zuschauern in Internetforen liest odersich die Liste der Interviewpartner im Film„Bleep“ genauer ansieht. Da finden sichneben seriösen Wissenschaftlern wie demerwähnten David Albert auch Personenwie besagte JZ Knight, des Weiteren ein„Gründer und Direktor für Parapsychologieund Medizin sowie des Institutes derGeistigen Wissenschaften“ und Personen,die in geistiger Nähe zu dem EsoterikerDeepak Chopra stehen. Sie alle werden unterschiedslos wegenihres wissenschaftlichen und spirituellenRenommees auf der deutschen Internet-seite hoch gelobt. So beispielsweise auchJohn Hagelin, ein „weltbekannter Quan-tenphysiker, Hochschullehrer, Autor undder Minister für Wissenschaft und Tech-nologie des Globalen Landes des Welt-friedens“. Hagelin ist ein Anhänger derTranszendentalen Meditation (TM) des in-dischen Gurus Maharishi Mahesh Yogiund ließ sich im Wahljahr 2000 in denUSA als Präsidentschaftskandidat der TM-nahen Naturgesetzpartei aufstellen. Dabeisoll er gemeinsam mit anderen Kandi-daten angeblich Millionen von Stimmen

431MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 431

für seine „wissenschaftlich erprobten,fortschrittsorientierten, nachhaltigen Lö-sungen für Amerikas drückende soziale,ökonomische und Umweltprobleme“ er-halten haben. Die Kontroverse, die dieser Film in der Öf-fentlichkeit ausgelöst hat, bezog sich ins-besondere auf den spirituellen Hinter-grund der Filmproduzenten und darauf,dass hier Wissenschaft und Esoterik in un-zulässiger Weise vermengt wurden, sodass der nicht von der Hand zu weisendeEindruck entstand, es handle sich bei„Bleep“ um einen reinen Werbefilm fürRamthas Botschaften. Inzwischen habendie drei Filmemacher ihrem Ärger überdie angebliche Intoleranz der US-ameri-kanischen Medien in einem offenen BriefLuft gemacht und ihr eigenes spirituellesAnliegen noch einmal dargelegt. Daringestehen sie auch zu, dass sie sich demRamtha-Gedankengut durchaus verbun-den wissen. Der Brief ist im Internet unterder Adresse http://anon.salon.speedera.net/anon.salon/media/2004/09/response.pdf ver-öffentlicht.Es bleibt abzuwarten, zu welchen Reak-tionen der Film in Deutschland führenwird. Auf Esoterik-Seiten im Internet gilt„Bleep“ als Geheimtipp, auch wenn erhierzulande vermutlich nur in kleinerenKinos zu sehen sein wird. Der Film trifftoffenbar den Nerv der Zeit, denn er greiftmithilfe einer geschickten Inszenierungein nach wie vor aktuelles Anliegen derEsoterik-Szene und ihrer Suche nach derEinheit der Wirklichkeit auf – eine Suche,die sich fernab von den großen religiösenTraditionen und in einer dezidiert nicht-religiösen Sprache vollzieht. Im Mittel-punkt dieser esoterischen Weltsicht stehteine Kombination aus angeblich wis-senschaftlichen Erkenntnissen der moder-nen Quantenphysik und Gehirnforschungsowie neuer, meist über Channeling ver-mittelter spiritueller Impulse geistiger

Lehrer. Doch die Wirklichkeit ist viel kom-plexer als sich dies manche aus der Eso-terik-Szene eingestehen wollen. Insofern istder auf Sokrates zurückgehende deutscheUntertitel des Films lediglich schmücken-des Beiwerk, denn die Filmemacher trans-portieren die unterschwellige Botschaft,letztlich doch mehr zu wissen. Sie habenihre Vision – und ihre Mission. Anderelassen sich davon anstecken. Die deutscheVertriebsgesellschaft ruft Interessierteschon dazu auf, sich dafür einzusetzen,dass der Film in möglichst vielen Kinosläuft: „Auf unserer Web Site finden Sie im-mer aktuell alle Spielorte. Sollte Ihre Stadtnicht dabei sein, scheuen Sie sich nicht, IhrKino auf den Film aufmerksam zu machenund unterstützen Sie uns darin, dass auchIhr Kino bleept!“

Matthias Pöhlmann

APOSTOLISCHE GEMEINSCHAFTEN

Zum Bericht „Braucht die Kirche nochApostel?“. Im Artikel „Braucht die Kirchenoch Apostel?“, der von der Begegnungder unterschiedlichen apostolischen Ge-meinschaften auf dem Studientag inHalle/Saale berichtet (MD 9/2005, 331ff),gab es eine missverständliche Formulie-rung (332), die es auszuräumen gilt. HerrWolfgang Hähnel von der katholisch-apostolischen Gemeinde in Berlin wider-sprach den Ausführungen von Dr. AlbrechtSchröter nicht, sondern knüpfte in seinerSelbstvorstellung vielmehr an dessen Fest-stellungen an, indem er die ökumenischeGrundausrichtung der katholisch-apos-tolischen Tradition unterstrich. Hinzuzufügen ist allerdings, dass dieNeuapostolische Kirche (NAK) mit dieserökumenischen Tradition zugunsten einesexklusiven Selbstverständnisses gebro-chen hat.

Harald Lamprecht, Dresden

432 MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 432

HINDUISMUS

Sri Chinmoy auf World-Harmony-Con-cert-Tournee. „World Harmony“ ist dasneue Stichwort der Sri-Chinmoy-Bewe-gung, auch der ehemalige World PeaceRun, der ebenfalls dieses Jahr stattfand,wurde entsprechend umbenannt. Aktivi-täten im sportlichen wie auch künst-lerischen Bereich sowie Meditation mityogischen Elementen stellen den Aktions-radius dieser „spirituellen Friedensbewe-gung“ dar. Dabei werden die BereicheSport und Kunst als spirituelle Aktivitätenbegriffen.Im September tourte der „Maestro“ miteinem World Harmony Concert durchDeutschland und absolvierte am 14. 9. inFreiburg, am 15. 9. in Mannheim, am 16.9. in Nürnberg, am 17. 9. in München(zweimal!), am 18. 9. in Dresden, am 19.9. in Berlin, am 20. 9. in Dortmund undam 21. 9. in Hamburg, je an hervorragen-den Veranstaltungsorten (ICC, Westfalen-halle etc.) mit Mieten bis zum 5-stelligenBereich (allerdings Rabatt wegen desnichtkommerziellen Charakters). Die auf-fällige Plakatierung blieb nur wenig hinterder Bundestagswahlwerbung zurück. Vordem Eingang des ICC am Berliner Funk-turm werden an die Berliner BesucherHandzettel mit Maharishi-Werbung ver-teilt, im ICC werden die Besucher vonuniformiertem ICC-Personal sowie von SriChinmoy-Anhängern betreut, letztere dar-an erkennbar, dass die Frauen farbenfroheindische Saris tragen, die Männer weißePolo-Hemden und weiße Hosen (was imProgrammprospekt erklärt wird). Im Foyerfinden sich einige Stände zur Informationüber die S.C.-Aktivitäten, sie werden mo-derat umlagert. CDs werden angeboten,auch der Beitritt, allerdings nur denen, dieihrerseits auf die Stände zugehen. Diemeisten Gäste strömen schnell in RichtungHauptsaal und haben offenbar vorrangig

das Anliegen, sich ihren Platz zu sichern.Es wird fast voll, und die gesamte Logistikist vom Besten. Die Bühne wird von dreiKameras erfasst, mit einer synchronen Pro-jektion auf die große Bühnenleinwand.Willkommensvorspruch mit der Bitte, nurin den ersten Minuten und nur ohne Blitzzu fotografieren und erst ganz am Schlusszu applaudieren, um die meditative At-mosphäre nicht zu stören. Ein einführender Film bringt den Maestronäher, die unvermeidlichen Begegnungenmit Mutter Teresa, Nelson Mandela, Mi-chail Gorbatschov, UN-Generalsekretären,Stemmen von Elefanten und anderenschweren Angelegenheiten, und im Ab-spann eine Liste mit dem Œuvre vonTausenden von Büchern, Liedern, Gemäl-den, Gedichten, Marathonläufen etc. Manist beeindruckt oder auch nicht. Einige S.C.-Gemälde, vielleicht unter die Kategorie„Gebrauchs- und Kleinkunst“ zu sortieren,werden an die Bühnenleinwand projiziert,wann immer auf der Bühne Leerlauf ist.Eine Ouvertüre mit Sängerin, Querflöte undeinem indischen Saiteninstrument bringtprofessionelle Musik zu Gehör, das einzigeMal an diesem Abend.Sri Chinmoy steht nun ein Sortiment ausca. 15 bis 20 Instrumenten zur Verfügung,die er im Laufe von ca. 100 Minuten ab-spielt. Mit tapsigen Schritten, unter dervollen Last von 74 Jahren, findet er seinenWeg zu einer Sitzgelegenheit in der Mitteder Bühne. Das jedoch, was als medita-tive Musik angekündigt worden ist, waslaut Prospekt dem Hörer ans Herz greifensoll, eine „große innere Kraft verkörpert“und eine „Verbindung von östlicher undwestlicher Musik“ darstelle, entpuppt sichals kindliches Improvisieren, als Klim-pern, als ein Spiel mit der Geduld desPublikums. In der Tat lebt auch indischeMeditationsmusik, etwa der Raga-Moodauf der Sitar, aus der freien Improvisation,allerdings aus dem langjährig geübten

433MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 433

professionellen Spiel. Welche spirituelleBedeutung auch immer das Brechen diver-ser quantitativer Rekorde und das Hebenvon tonnenschweren Gewichten habenmag, mit meditativer Musikalität hat das,was der von Instrument zu Instrumentwechselnde Sri Chinmoy bietet, nichts zutun. Dass er sich gelegentlich beim Singenräuspert oder das Spiel unterbricht, ummit einer Hand eine Fliege zu vertreiben,ist das geringste Problem. Das schon imProgramm-Prospekt als furioses Finaleangekündigte Traktieren des Synthesizersabsolviert Sri Chinmoy mit den Fäusten,nur eine simple Abschlussmelodie wirdmit einzelnen Finger dargeboten, den Restbesorgt die Technik dank der unterschied-lichen Registrierungen. Jedes bereits be-spielte Instrument wird von der Bühnegeräumt, so dass die Hörer eine Art „Sand-uhr“ vor Augen haben und sich ausrech-nen können, was noch durchzustehen ist.Fast jeder Instrumentenwechsel wird be-gleitet vom Geräusch hochklappender Sitzevon Gästen, die den Saal verlassen.Was man von der Ernennung zum Ehren-doktor eines russischen Psychologie-Insti-tuts durch einen ebensolchen Professorhalten soll, die an Ort und Stelle kurz vordem Finale inszeniert wird, sei da-hingestellt. Immerhin lässt eine unüber-setzte russische Ansage vor Beginn der Veranstaltung ahnen, dass ein großerTeil der Besucher aus Osteuropa bzw.Russland kommt. Aus dem vielsprachi-gen Stimmengewirr der Chinmoy-An-hänger/innen ist zu vermuten, dass einegroße internationale Traube von Getreuen

ihn auf dieser Tournee begleitet, insbeson-dere sein Chor, schlicht und schön, mitMelodien, die keine große komposi-torische Phantasie erfordern, aber dochimmerhin ausnahmsweise meditativ sind.Weder war (abgesehen von den Informa-tionsständen) eine offensive Werbeaktivi-tät zu beobachten, noch hatte das Ganzeeinen spürbaren religiösen Gehalt, ein„hinduistischer“ Anspruch wurde undwird allemal von der S.C.-Bewegung nichterhoben, auch wenn S.C. seine spirituelleHerkunft bei dem neohinduistischen Klas-siker Sri Aurobindo hat. Allerdings stelltsich dem Beobachter die Frage, was ineiner spirituellen Bewegung vorgeht, diesich eine solche Ausstellung vonsubstanzarmer Selbstinszenierung ihresGurus gefallen lässt und dafür recht tief indie Tasche greift. Über den Stellenwertund Wahrheitsgehalt von Aussteiger-berichten kann gestritten werden (An-schuldigungen von Alexander Kahr, sieheMD 4/2003, 150f), aber überdimensionalbeworbene Konzerte sind der gesamtengewogenen und kritischen Öffentlichkeitzugänglich. Diese hatten offensichtlichdie Funktion einer Selbst-Affirmation derS.C.-Bewegung und waren je mit persön-lichen Begegnungen der Anhänger undAnhängerinnen mit dem Meister verbun-den (die ihnen sonst nur durch eine kost-spielige Reise nach New York vergönntsind). Nicht-Mitglieder und distanzierteBeobachter blieben eher ratlos zurück –die Werbewirksamkeit der Tournee istdurchaus zweifelhaft.

Ulrich Dehn

434 MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 434

435MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

IN EIGENER SACHE

Fachtagung „Weltethos und Weltfrieden“. Am 1. Dezember 2005 findet eine öf-fentliche Fachtagung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Evangeli-schen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) zum Thema Weltethos und Welt-frieden statt. Die Tagung wird verantwortet von Dr. Johannes Kandel, Friedrich-Ebert-Stiftung, und Dr. Reinhard Hempelmann, EZW, und hat folgendes Programm:

9.30 Eröffnung und BegrüßungDr. Roland SchmidtGeschäftsführendes Vorstandsmitglied der Friedrich-Ebert-Stiftung

Dr. Reinhard HempelmannLeiter der EZW

9.45 – 10.30 Kein Weltfriede ohne Religionsfriede. Das Projekt Weltethos alsAntwort auf die These vom „Zusammenprall der Kulturen“Prof. Dr. Hans KüngTübingen

10.30 – 10.45 Pause

10.45 – 13.00 Kommentare aus religiöser, philosophischer und politischer Sicht

Prof. Dr. Christof GestrichHumboldt-Universität zu Berlin

Dr. Heiner BielefeldtDirektor des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Berlin

Wolfgang ThiersePräsident des Deutschen Bundestages und Vorsitzender der SPD-Grundwertekommission

DiskussionModeration:Dr. Johannes KandelFriedrich-Ebert-StiftungDr. Reinhard HempelmannLeiter der EZW

13.00 Imbiss

14.00 Ende der Veranstaltung

Um Anmeldung wird gebeten. Sie ist zu richten an die Friedrich-Ebert-Stiftung, Hiroshi-mastraße 17 in 10785 Berlin, Telefon (030) 26935-912 – Fax (030) 26935-952 – [email protected].

Andreas Fincke

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 435

Harald Lamprecht, Neue Rosenkreuzer.Ein Handbuch, Reihe: Kirche – Konfession– Religion, Bd. 45, Göttingen 2004, 350Seiten, 59,– €.

Um die Entstehung und Geschichte derRosenkreuzer ranken sich bis heute vieler-lei Mythen und Legenden. In der popu-lären Literatur findet sich über ihre Entste-hung viel Fantastisches, und esoterischesWunschdenken, das von einer einheit-lichen Traditionslinie angeblich uraltenÜberwissens ausgeht, lässt sich von außennicht leicht als solches durchschauen. Re-ligiöse und weltanschauliche Aufklärungtut not. Die vorliegende von Helmut Obst betreutetheologische Dissertation des Beauftragtenfür Weltanschauungs- und Sektenfragender sächsischen Landeskirche, HaraldLamprecht, gibt einen gut systematisiertenÜberblick über die knapp 400-jährigeGeschichte des Rosenkreuzertums. Inseiner Einleitung (13ff) unterscheidet erdrei Phasen, wobei die Gruppen esote-risch-okkulter Provenienz des 19. und 20.Jahrhunderts – die sog. modernen Rosen-kreuzer – den eigentlichen Schwerpunktder Untersuchung bilden. Die Arbeitgliedert sich in fünf Kapitel. Die ana-lysierende Darstellung setzt mit den An-fängen des Rosenkreuzertums im frühen17. Jahrhundert ein und untersucht imEinzelnen das initiatorische (79-166),theosophische (167-248) und gnostischeRosenkreuzertum (249-296). Am Endekonzentriert sich der Verfasser in seinenSchlussfolgerungen auf Vergleichsaspekteund theologische Fragestellungen (297-314).Lamprecht sieht in den Manifesten der „äl-teren Rosenkreuzer“ keinesfalls his-torische Berichte, sondern vielmehr eine

literarische Fiktion (41f). Dennoch fandendiese, besonders in England, ein nach-haltiges Echo. Die sog. „mittlerenRosenkreuzer“ – profilierte Einzelperso-nen, die sich auf die Tradition der Rosen-kreuzer bezogen (Robert Fludd, MichaelMaier) – sind von den sog. „Spätrosen-kreuzern“, dem Orden der Gold- undRosenkreuzer, zu unterscheiden, derenWurzeln im Hochgradsystem der deutschenFreimaurerei zu suchen sind. Im Lehrsys-tem vereinigten sich christliche Fröm-migkeit mit kabbalistischen, magischenund alchemistischen Elementen (59). MitGründung der Societas Rosicruciana inAnglia 1888 in London zeichnete sich eineVermischung von esoterischen mit frei-maurerischen Anliegen ab. Das in denUSA entstandene initiatorische Rosen-kreuzertum versuchte eine eigene Tradi-tion herauszubilden und gab vor, auf ältereVorläufer zurückzugehen. Am bekann-testen dürfte in diesem Zusammenhangdie Gründung des Antiquus MysticusOrdo Rosae Crucis (AMORC) durch Harvey Spencer Lewis (1883-1939) imJahre 1915 sein. 1951 nahm AMORCseine Aktivitäten in Deutschland auf,zunächst in München, seit 1963 in Baden-Baden. Er beruft sich auf altes ägyptischesMysterienwissen. In Deutschland exis-tieren 39 Städtegruppen mit etwa 3000Mitgliedern. In einem weiteren Schritt widmet sichLamprecht dem von der TheosophischenBewegung inspirierten Rosenkreuzertum.Hier erhält der Leser einen interessantenEinblick in die Wirkungs- und Rezeptions-geschichte systemesoterischer Entwürfe imZeichen des Rosenkreuzes. Das Spektrumreicht von Rudolf Steiner, der im Rosen-kreuzertum einen spezifisch westlichenEinweihungsweg erblickte (191ff), bis hinzu Max Heindel (1865-1919) und dieRosicrucian Fellowship (205ff), die ein eso-terisches Christentum anstreben möchte.

436 MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

BÜCHER

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 436

Im Zusammenhang eines gnostischenRosenkreuzertums untersucht er einge-hend das Lectorium Rosicrucianum, dasim Jahr 1935 unmittelbar aus einer nieder-ländischen Studiengruppe der RosicrucianFellowship hervorgegangen ist (250-286)und in seinem Lehrsystem sich auf die spät-antike Gnosis und die Katharer beruft. Ausdem Lectorium Rosicrucianum sind wie-derum verschiedene Abspaltungen her-vorgegangen. Im abschließenden Teil arbeitet LamprechtVergleichsaspekte und Unterschiede zwi-schen den modernen rosenkreuzerischenRichtungen heraus. Gleichzeitig beschrei-tet er den Weg einer differenzierten theo-logischen Kritik (307ff) und leistet damiteinen wichtigen Beitrag zur Unterschei-dung der Geister. Er konzentriert sichdabei insbesondere auf die Themen:Rosenkreuzertum als Einweihungsweg,Karma und Gnade, Magie und Macht. Die Stärke dieses Buches liegt zweifels-ohne in der gründlichen Darstellung derhistorischen Genese sowie in der konzen-trierten Darlegung der jeweiligen weltan-schaulichen Grundlagen. In den Texteingestreute Schaubilder und Grafiken ver-anschaulichen die oft komplizierten Zu-sammenhänge und Einflüsse, die auf dieunterschiedlichen Rosenkreuzergruppeneingewirkt haben. Hilfreich ist auch dieErklärung der spezifischen Symbole undLogogramme der diversen Richtungen unddas abschließende Sach- und Personenre-gister. Dieses benutzerfreundliche Handbuch,dem zweifelsohne der Charakter einesStandardwerkes zukommt, sei daher allenempfohlen, die sich über die oft ver-wirrende Geschichte und Vielgestaltigkeitder modernen Rosenkreuzer einen fun-dierten Überblick verschaffen möchten.

Matthias Pöhlmann

Bernd Wedemeyer-Kolwe, „Der neueMensch“. Körperkultur im Kaiserreichund in der Weimarer Republik, Königs-hausen & Neumann, Würzburg 2004, 519Seiten, 68,– €.

Körper und Religion – zwei Welten? Odergar zwei Gegenwelten? Angesichts desmeist distanzierten Verhältnisses beiderDimensionen in der Christentumsge-schichte mag man schnell zustimmen.Aber diese Gleichung geht mitnichten auf,wie der Sporthistoriker Wedemeyer-Kolwezeigt. Er hat eine Geschichte der „Kör-perkultur“ zwischen Turnen, Sport, Tanzund Yoga vom Wilhelminischen Kaiser-reich bis 1945 geschrieben und damit einePionierarbeit vorgelegt, in der sich ohnegroße Theoriedebatten die Wendung derpolitischen Geschichtswissenschaft zurKulturgeschichte – hier: zur historischenAnthropologie – spiegelt. Dabei ist er aneinem Punkt sensibel, für den seineVorgänger in der Forschung, sofern es siegab, oft blind waren: für die religiöse Ein-färbung der Körperkultur.Wedemeyer-Kolwe hat den gigantischenMaterialberg seiner Habilitationsschrift invier Bereiche unterteilt: 1. „Rhythmus“,wozu er die „harmonische Gymnastik“,aber auch den Ausdruckstanz zählt(dessen Eigenheiten dabei unterbelichtetwerden); 2. „Reinkarnation“ mit der Re-zeption asiatischer Praktiken, insbeson-dere des Yoga; 3. „Licht und Luft“, v.a. inGestalt der Freikörperkultur (FKK); 4.„Kraft und Schönheit“ mit dem Bodybuil-ding und der Fitnessbewegung. Dabei istunglaublich viel Material von sozialstatis-tischen Daten der Mitglieder über die Or-ganisationsgeschichte von Vereinen biszur Beschreibung von Körperpraktikenzusammengekommen. Leider sind vieleInformationen zerstückelt und versteckt(etwa biographische Daten), aber Registerhelfen hier weiter. Dieses Buch ist ein ein-

437MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 437

drucksvolles Zeugnis stupender, wissen-schaftlicher Arbeit. Religionsgeschichtlich spannend ist zumeinen die Passage über die Rezeption asia-tischer Religionen. In Kapiteln zu Yoga,Mazdaznan, Neugeist und Runengymnas-tik wird klar, dass die Anstöße, Körper-erfahrung und religiöse Erfahrung zuverbinden, nicht aus der christlichen Tradi-tion kamen. Die religiöse Körperkultur wareine alternativreligiöse Welt, und mankann überlegen, wieweit dies bis heutefortwirkt. Zum andern besaßen die Körper-praktiken aller vier Bereiche eine implizitereligiöse Grammatik in der Utopie eines„neuen Menschen“: Der Körper, der zueinem hochgeschätzten Ort der Identitäts-bildung wurde, sollte auch eine neues Be-wusstsein hervorbringen, und häufig, vorallem in der FKK-Bewegung, sah manauch das „Heil“ einer neuen Gesellschafts-ordnung in einer neuen Körperkulturgrundgelegt. In diesem Fortschrittsdenkenfeierte die Evolutionstheorie des 19. Jahr-hunderts ihre Triumphe. Dahinter dürfteaber eine eigene „Theologie“ stecken, derVitalismus – dies ist ein Forschungsfeld fürkünftige Studien.In einem Ausblick auf die Jahre zwischen1933 und 1945 zeigt der Autor, dass dieNationalsozialisten letztlich chaotisch aufdie Körperkulturbewegung zugriffen. Ins-besondere die hoch organisierten Vereinewurden gleichgeschaltet, während man andie individualisierten Körperpraktik-ker kaum herankam. Die Gegenwart ist nicht mehr Thema dieses Buches, aberes hinterlässt spannende Fragen, etwanach den religiösen Implikaten des aktuellen Wellness- und Fitnessbooms.Vielleicht steht heute wirklich zumeist diekörperliche Gesundheit im Mittelpunkt –aber nach der Lektüre dieses Buchs wirdman nicht mehr leichtfertig vermuten, diessei alles.

Helmut Zander, Bonn

Annekatrin Puhle, Das Lexikon der Geis-ter. Über 1000 Stichwörter aus Mytholo-gie, Volksweisheit, Religion und Wis-senschaft, Atmosphären Verlag, München2004, 383 Seiten, 24,90 €.

„Geister sind lebendig, auch wenn vielevon ihnen Verstorbene widerspiegeln.“(11) So lautet der erste Satz des Vorworteszu Annekatrin Puhles „Lexikon der Geis-ter“. Die Autorin betrachtet in ihrem Buchdie unterschiedlichen Formen von Geister-erscheinungen und versucht die Fälle her-auszustellen, die als Beweise für Erschei-nungen dieser Art gelten. In ihrer Darstel-lung beruft sie sich auf eine wissen-schaftlich fundierte Arbeit und greift aufnamhafte Wissenschaftler, wie z.B. AlbertEinstein, zurück.Annekatrin Puhle selbst hat Anthropolo-gie, Ethnologie und indoeuropäischeSprachwissenschaft an der Freien Univer-sität in Berlin studiert. Nach der Promotionwandte sie sich den so genannten Grenz-wissenschaften zu. Am Freiburger Institutfür Grenzgebiete der Psychologie und Psy-chohygiene befasste sie sich mit der Kul-turgeschichte von Geistererscheinungen.Heute ist sie Doktor der Philosophie undGesundheitsberaterin. Die Autorin des„Lexikon der Geister“ lebt in Göteborg/Schweden und in Berlin, führt eine Be-ratungspraxis für Gesundheitsvorsorge,Lebensfragen und Grenzerfahrungen undhält Seminare und Vorträge.Puhle erwähnt, dass das Lexikon, das aufdem neuesten Stand der Forschung erar-beitet wurde, aktuelles internationales Ma-terial und nützliche Website-Adressen ent-hält sowie Literaturhinweise gibt. Gezeigtwerden meistdiskutierte sowie bislang un-veröffentlichte Geisterfotos. Das Buch um-fasst, nach Aussage der Autorin, einen„repräsentativen, wenn auch bescheidenenAusschnitt aus der unermesslichen Geister-welt“. (13) Wissen über Geister findet sich in

438 MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 438

den unterschiedlichsten Disziplinen, wiez.B. der Medizin, Theologie und Philoso-phie, aber auch und vor allem in der Volks-weisheit. Puhle versucht diese unterschied-lichen Bereiche miteinander in Beziehungzu bringen und sie zu verknüpfen. Zu Beginn wird die Frage geklärt, wasGeister überhaupt sind. Das setzt natürlichvoraus, dass die Existenz von Geisternnicht angezweifelt wird. Es gibt sie und siesehen, näher betrachtet, auch rechtfreundlich aus, meint die Autorin. (16)Trotzdem sind sie keine messbare Einheit,da sie auch unsichtbar sein können und oftals Nebel oder Schatten auftreten. Auch fürdieses Phänomen findet Puhle eine Erklä-rung. Handfeste Beweise für die Existenzvon Geistern gibt es ihrer Meinung nachallerdings nicht, selbst die Fotografie seiauf diesem Gebiet keine Hilfe. (12) Von A wie Aberglaube bis Z wie Zwerg istin diesem Lexikon vieles aufgeführt, wasoftmals erst auf den zweiten Blick oderauch gar nicht rational erklärbar ist. Esgeht nicht darum, den Leser von der Wirk-lichkeit bestimmter Dinge zu überzeugen,sondern zu den aufgeführten Begriffeneine Erklärung zu geben. „Das Lexikon derGeister“ ist ein Buch, das einen umfas-senden Überblick über paranormale Phä-nomene bietet. Darüber hinaus gibt esnützliche Tipps, wie man die Angst vorGeistern überwinden kann, und selbsteine bereichernde Funktion in der Lebens-hilfe wird ihnen attestiert.Obwohl die Autorin eingangs die wis-senschaftliche Fundierung ihrer Arbeit be-tont, wird dem Leser bald klar, dass siediesen Anspruch nicht einlöst. So fällt auf,dass das Lexikon keine Erklärung zum Be-griff „Spiritismus“ enthält. Das Thema, umdas es hier vordergründig geht, nämlichder Kontakt zu Geistern, wird also ankeiner Stelle wissenschaftlich definiert.Wer aber, trotz oder gerade aufgrund derwenig wissenschaftlichen Ausarbeitung,

immer noch Interesse an Geistern undderen Verwandten hat, sollte einen Blick indas Lexikon riskieren.

Nadine Culp, Bodenfelde

Nadine Culp, geb. 1981, B.A. Kulturwis-senschaft mit Schwerpunkt Religion an der Uni-versität Bayreuth, im Herbst 2005 Praktikantinder EZW im Referat Esoterik, Okkultismus,Spiritismus.

Prof. Dr. theol. Ulrich Dehn, geb. 1954, Pfarrer,Religionswissenschaftler, EZW-Referent fürnichtchristliche Religionen.

Dr. theol. Andreas Fincke, geb. 1959, Pfarrer, EZW-Referent für christliche Sondergemeinschaften.

Dr. phil. Angelika Koller, geb. 1955, studierteGermanistik und Katholische Theologie, arbeitetfreiberuflich im Presse- und Verlagswesen sowiein der Erwachsenenbildung, München.

Dr. theol. Harald Lamprecht, geb. 1970, Beauf-tragter für Weltanschauungs- und Sektenfragender Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Ge-schäftsführer des Evangelischen Bundes, Landes-verband Sachsen.

Stefan Lorger-Rauwolf, geb. 1961, kath. Theologe,Mitarbeiter im Referat für Weltanschauungs-fragen der Erzdiözese Wien.

Dr. theol. Matthias Pöhlmann, geb. 1963, Pfar-rer, EZW-Referent für Esoterik, Okkultismus,Spiritismus.

Dr. phil. Christian Ruch, geb. 1968, Historiker,Mitglied der Ökumenischen Arbeitsgruppe„Neue religiöse Bewegungen“, Zürich.

Dr. phil. Michael Utsch, geb. 1960, Psychologeund Psychotherapeut, EZW-Referent für religiö-se Aspekte der Psychoszene, weltanschaulicheStrömungen in Naturwissenschaft und Technik.

Prof. Dr. theol. Ulrike Wagner-Rau, geb. 1952,Professorin für Praktische Theologie an derPhilipps-Universität Marburg.

Dr. Helmut Zander, geb. 1957, Politologe,Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Wis-senschaftsgeschichte am Institut für Geisteswis-senschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.

439MATERIALDIENST DER EZW 11/2005

AUTOREN

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 439

Herausgegeben von der Evangelischen Zentralstellefür Weltanschauungsfragen (EZW), einer Einrichtungder Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD),im EKD Verlag Hannover.

Anschrift: Auguststraße 80, 10117 Berlin Telefon (0 30) 2 83 95-2 11, Fax (0 30) 2 83 95-2 12Internet: www.ezw-berlin.deE-Mail: [email protected]

Redaktion: Andreas Fincke, Carmen Schäfer. E-Mail: [email protected]

Für den Inhalt der abgedruckten Artikel tragen die jeweiligen Autoren die Verantwortung. Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausge-ber wieder.

Verlag: EKD Verlag, Herrenhäuser Straße 12,30419 Hannover, Telefon (0511) 2796-0,EKK, Konto 660000, BLZ 25060701.

Anzeigen und Werbebeilagen: AnzeigengemeinschaftSüd, Augustenstraße 124, 70197 Stuttgart,Postfach 100253, 70002 Stuttgart, Telefon (0711) 60100-66, Telefax (07 11) 60100-76. Verantwortl. für den Anzeigenteil: Wolfgang Schmoll. Es gilt die Preisliste Nr.19 vom 1.1.2005.

Bezugspreis: jährlich € 30,– einschl. Zustellgebühr.Erscheint monatlich. Einzelnummer € 2,50 zuzügl.Bearbeitungsgebühr für Einzelversand. Abbestellungensind nur mit einer Frist von 6 Wochen zum Jahresendemöglich. – Alle Rechte vorbehalten.

Bei Abonnementwunsch, Adressenänderungen, Abbe-stellungen wenden Sie sich bitte an die EZW.

Druck: Maisch & Queck, Gerlingen/Stuttgart.

IMPRESSUM

inhalt11-inhalt.qxd 18.10.05 13:35 Seite 440

MAT

ERIA

LDIEN

ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen

68. Jahrgang 11/05

ISSN

072

1-24

02 H

542

26

Kontakt zu TotenZum seelsorgerlichen Umgang mit ungewöhnlichen Erfahrungen

Psychotherapie des BewusstseinsEin Kongress der Akademie Heiligenfeld

Bald erste „humanistische Schule“ in Deutschland?

Quantenphysik, Gehirnforschung undRamtha-Esoterik:Zum Kino-Start von „Bleep”

Sri Chinmoy auf World-Harmony-Concert-Tournee

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

umschlag11.qxd 18.10.05 11:48 Seite 1