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  • 271Anz. Ver. Thring. Ornithol. 6 (2009)Anz. Ver. Thring. Ornithol. 6, 271-286 Dezember 2009

    Zur Biologie und kologie des Raubwrgers Lanius excubitorim Thringer Becken und im Kyffhuser-Unstrut-Gebiet.

    2. Teil: Nahrung und Nahrungserwerb

    HerBert Grimm*Mit 14 Abbildungen und 3 Tabellen

    Zusammenfassung

    Zusammensetzung und jahreszeitliche Vernderung im Nahrungsspektrum des Raubwrgers in der Agrarlandschaft des Thringer Beckens aus dem Zeitraum 1992-2008 wurden anhand von 3423 Gewllen und 665 Rupfungen un-tersucht. Aus ihnen wurden 15689 Beutetiere isoliert. Davon sind 13 799 Individuen Wirbellose (88 %) mit einer Biomasse von 3132 g (8 %) und 1890 Wirbeltiere (12 %) mit einer Biomasse von 36125 g (92 %). Fr den Zeitraum Mrz bis Oktober wurde fr jede Beutetiergruppe und Pentade ein Beutewert nach nicolai errechnet. Dieser schwankt fr die einzelnen Taxa entsprechend dem jahreszeitlichen Beutetierangebot, dessen Erreichbarkeit und dem physiologischen Status der Vgel (Brutzeit, Mauser etc.). Der Beutewert der Wirbellosen kann kurzzeitig bis zu 85 % erreichen. Die in den Wintermonaten nahezu unbedeutende Wirbellosennahrung steigt ab Mrz kontinuierlich bis kurz nach dem Schlpfen der Jungen an, wird danach nahezu vollstndig von Wirbeltierbeute (vor allem Vgel und Whlmuse) abgelst, um ab Ende Juni/Anfang Juli erneut deutlich anzuwachsen. In der ersten Septemberhlfte werden erneut Beutewerte der Wirbellosen von 85 % erreicht. Ursachen fr die wechselnde Nahrungspalette und unterschiedliche Schwankungen der Beutewerte im Jahresverlauf werden diskutiert. Unter der Wirbeltierbeute dominieren Whlmuse. Vogelbeute bleibt weitgehend auf die Zeit der Jungenaufzucht beschrnkt, kann dann aber sehr hohe Werte erreichen. Die Zahl der erbeuteten Jungvgel ist deutlich hher als diejenige adulter Vgel. Unter den Wirbellosen dominieren mit saisonalen Unterschieden Laufkfer (Carabidae) und Hymenopteren. Die besondere Bedeutung von Carabus auratus und Hummeln (Gattung Bombus) in der Raubwrgernahrung wird auf-gezeigt. Einige Beobachtungen zum Beuteerwerb werden angefhrt.

    Summary

    The biology and ecology of the Great Grey Shrike Lanius excubitor in the Thringen Basin and the Kyffhuser-Unstrut area. Part 2: food and foraging

    The composition and seasonal variation of the dietary spectrum of the Great Grey Shrike in the agricultural landscape of the Thringen Basin during the period 1992-2008 were studied on the basis of 3423 pellets and 665 prey remains. From these, a total of 15 689 prey animals could be isolated and identified: 13 799 individual invertebrates (88 % by number) with a biomass of 3132 g (8 % by weight) and 1890 vertebrates (12 %) with a biomass of 36125 g (92 %). For the time period March to October, a prey value (following nicolai) was calculated for each prey animal group and pentade. For the individual taxa, this varied according to seasonal prey supply and availability, as well as the physiological condition of the birds (breeding season, moult, etc.). The prey value of the invertebrates can briefly reach up to 85 %. The invertebrate share of the diet is almost negligible in the winter months, but after March rises steadily until the time just after the hatching of the young, when it is abruptly and almost completely replaced by vertebrate prey (birds and voles above all), only to rise substantially again at the end of June/beginning of July. In the first half of September invertebrate prey values of up to 85 % are attained once more. The causes of the changing dietary spectrum and the fluctuations in prey value in the course of a year are discussed. The vertebrate share of the diet is dominated by voles. Bird prey is generally limited to the time when young are being raised, but their share of the vertebrate diet can reach very high values. The number of young birds taken is clearly greater than that of adults. The invertebrate prey items are dominated, with seasonal variations, by the ground beetles (Carabidae) and the Hymenoptera. The particular importance of Carabus auratus and of bumble bees (genus Bombus) in Great Grey Shrike diet is emphasized. Some observations of prey capture techniques are described.

    Keywords: Lanius excubitor, phenology, foraging, dietary spectrum, central and northern Thringen.

    * H. Grimm, Naturkundemuseum Erfurt, Groe Arche 14, D-99084 Erfurt; e-mail: [email protected]

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    1. Einleitung

    Fr den Rckgang oder grorumige Bestands-schwankungen des Raubwrgers in weiten Teilen Europas werden vielfach Nahrungsengpsse oder abnehmende Abundanzen ehemals hufiger Beutetiere vermutet (u. a. Bauer & BertHold 1996). Vor allem dort, wo sie die intensiv genutz-te Kulturlandschaft bewohnen, sind die Wrger stndigen und raschen Vernderungen ausgesetzt, die weit weniger vom Klimawandel als von der Landwirtschaftspolitik der EU diktiert werden. Dabei knnen die Wechselwirkungen zwischen den Vgeln, ihrer Beute und dem Lebensraum sehr eng sein. Selbst Angehrige der gleichen Population nutzen unabhngig vom Geschlecht aufgrund phnotypischer Unterschiede unter-schiedliche Nahrungsnischen, wie Hromada et al. (2003) zeigen konnten. In der vorliegenden Studie werden die Ergeb-nisse von Nahrungsuntersuchungen anhand von Gewllen und Rupfungen aus dem Zeitraum von 1992 bis 2008 vorgelegt. Sie stammen smt-lich aus der in Teil 1 umschriebenen Landschaft Thringens (Grimm 2008), aus der bereits eine frhere, kleinere Nahrungsliste publiziert ist (Grimm & HaenSel1991).

    2. Methode

    Die in die Auswertung einbezogenen Gewlle wur-den unter den Sitzwarten der Raubwrger aufgesam-melt (Abb. 5). Diese Pltze sind whrend der Brutzeit leicht auszumachen und werden von den Vgeln ber einen lngeren Zeitraum genutzt. In einigen Fllen wurden zustzliche knstliche Sitzwarten in Nestnhe ausgebracht, was das Auffinden der Gewlle erleichterte. Wesentlich schwieriger ist es, Nahrungsreste auerhalb der Brutzeit zu erhalten, wenn die Bindung an einen eng begrenzten Raum nicht besteht und die Wrger z. B. wegen des aktu-ellen Nahrungsangebotes, dessen Verfgbarkeit oder aus Grnden der Konkurrenz- oder Feindvermeidung ihre Aufenthaltspltze hufiger wechseln. An solchen Orten wurden nur nach lngerer Beobachtungszeit und in unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang Gewlle aufgesammelt, um solche anderer Arten (Turmfalke, Rabenvgel) auszuschlieen. Das fhr-te zu einer ungleichen jahreszeitlichen Verteilung der Nahrungsproben und zu einer sehr geringen Stichprobenzahl im Winterhalbjahr (Abb. 1). Fr die-sen Zeitraum ist eine Auswertung auf der Grundlage eines feinen zeitlichen Rasters (Pentaden) nicht mglich; in Abbildungen 2 und 3 bleibt er deshalb unbercksichtigt. Da jedoch im Winter die Nahrung recht einheitlich und stark von der Feldmaus domi-

    H. Grimm: Biologie und kologie des Raubwrgers im Thringer Becken & Kyffhuser-Unstrut-Gebiet

    Abb. 1. Anzahl und zeitliche Verteilung der untersuchten Raubwrger-Gewlle.

  • 273Anz. Ver. Thring. Ornithol. 6 (2009)

    Abb. 2. Beutewerte von Wirbeltieren und Wirbellosen in der Nahrung thringischer Raubwrger Lanius excubitor zwischen Mrz und Oktober (1992-2008).

    Dunkle Flche: Wirbeltiere (Vertebrata), helle Flche: Wirbellose (Avertebrata).

    Abb. 3. Beutewerte der vier wichtigsten Beutetiertaxa in der Nahrung thringischer Raubwrger Lanius excubitor von 1992 bis 2008.

    niert ist, beeinflut das die Gesamtaussage nur we-nig. Die Aufsammlungen erstrecken sich ber einen Zeitraum von 17 Jahren, wobei jedoch knapp 85 % aller Proben in den Jahren von 1992 bis 1999 gesam-

    melt wurden. Durch diese lange Zeitspanne werden in der Summe temporre Ereignisse (musereiche bzw. musearme Jahre, Maikferjahre) weitgehend geglttet. Allerdings fallen in diesen Zeitraum auch

  • 274 H. Grimm: Biologie und kologie des Raubwrgers im Thringer Becken & Kyffhuser-Unstrut-Gebiet

    Abb. 4. Typisches Gewlle ( cm lang) vom Raubwrger Lanius excubitor mit hohem Insektenanteil. 14. 5. 1994 nrdlich Seehausen/Kyffhuser. - Fotos: H. Grimm.

    starke Umweltvernderungen, z. B. die nahezu voll-stndige Zerstrung der Lebensrume an Feldwegen durch deren Ausbau zu asphaltierten Wirtschafts- oder Radwegen mit nachfolgenden massiven St-rungen. Damit ist die gegenwrtige Situation nur noch bedingt mit jener zu Beginn der vorliegenden Untersuchung vergleichbar. Zur Verfgung standen 3423 Gewlle sowie 665 Rupfungen. Aus ihnen konnten insgesamt 15689 Beutetiere isoliert werden. Die Nahrungsreste wur-den bis auf das kleinste mgliche Taxon determi-niert. Die Anzahl der Beutetiere wurde nach quan-titativ klar zu definierenden Krperteilen (Kpfe, Flgelgelenke, Beine, Hinterleibsanhnge usw.) bestimmt. Bei Sugetieren diente dazu die Zahl der Schdel. Da der Kopf immer zuerst und oft sofort nach dem Klemmen oder Spieen gefressen wird, kann deren Anteil dadurch leicht berreprsentiert sein, weil in einigen Fllen deponierte Beute von an-deren Arten (besonders Elstern Pica pica) abgesam-melt wird. Fr jede Pentade wurde fr die einzelnen Nahrungsbestandteile ein Beutewert (nicolai 1992a, 1992b) bestimmt. In die Berechnung des Beutewertes gehen sowohl die Biomasse der einzel-nen Nahrungsindividuen als auch deren Hufigkeit als ein Ma ihrer Verfgbarkeit, den Aufwand fr Fang und Bearbeitung, Beliebtheit usw. mit ein. Der Beutewert (BW) wird nach folgender Formel be-rechnet:

    Dabei sind: Ba die Gesamtheit der taxonomischen Einheit a, na die Anzahl der Proben mit Beute a, N die Anzahl untersuchter Proben und k die Anzahl (ausgewerteter) taxonomischer Einheiten. Die Angaben zur Biomasse der Wirbeltiere sind

    der bersicht bei Glutz von BlotzHeim & Bauer (1980: 232-234) entnommen. Da hnliche Angaben fr Wirbellose weitgehend fehlen, wurden 375 Insek-tenindividuen von 143 Arten im frischtoten Zustand mit einer Genauigkeit von 0,0001 g gewogen und eine mittlere Biomasse fr jede Art bestimmt (Gri