zweiter kurs „unterweisungen von gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in deiner...

89
Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von Lama Lhündrub Croizet, Sommer 2003

Upload: others

Post on 29-Oct-2019

1 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Zweiter Kurs

„Unterweisungen von Gampopa“erläutert von Lama Lhündrub

Croizet, Sommer 2003

Page 2: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Inhalt Zweiter Kurs.............................................................................................................................. 1 „Unterweisungen von Gampopa“.............................................................................................. 1 erläutert von Lama Lhündrub.................................................................................................... 1 Croizet, Sommer 2003............................................................................................................... 1 Erste Unterweisung, 28.07.2003 ............................................................................................... 3 Die Gebete zu Beginn der Unterweisungen s 00 ....................................................................... 3 Die vier Dharmas von Gampopa. .............................................................................................. 4 Der Erste Dharma von Gampopa: ............................................................................................. 6 Die Notwendigkeit von Entsagung ............................................................................................ 6 Zweite Unterweisung, 29.07.2003 ............................................................................................. 9 Tod und Vergänglichkeit Zsung, 29.0 ...................................................................................... 9 Karma ....................................................................................................................................... 10 Dritte Unterweisung, 30.07.2003 ............................................................................................. 16 Das eigene Schicksal bestimmen ............................................................................................ 16 ............................................................................................................................................ 18 Die niederen Daseinsbereiche .................................................................................................. 18 Die höheren Daseinsbereiche ............................................................................................. 19 Vierte Unterweisung, 31.07.2003 ............................................................................................ 22 Die Nachteile von Samsara: Die drei Arten von Leid ...................................................... 22 Die Wahrheit des Leides 02) .............................................................................................. 23 Der zweite Dharma von Gampopa ........................................................................................... 26 Ehrliche Praxis und Verständnis ........................................................................................ 26 ............................................................................................................................................ 29 Der dritte Dharma von Gampopa ............................................................................................. 29 ............................................................................................................................................. 31 Fünfte Unterweisung, 01.08.2003 ............................................................................................ 32 Der vierte Dharma von Gampopa F. 03) ............................................................................ 32 Sechste Unterweisung, 02.08.2003 .......................................................................................... 39 Die Antwort Gampopas auf die Frage von Sangri Räpa S2. 8.20 ) ......................................... 39 Siebte Unterweisung, 03.08.2003 ............................................................................................ 45 Achte Unterweisung, 04.08.2003 ............................................................................................. 52 Kontemplation über Leitsätze von Gampopa ........................................................................... 52 Neunte Unterweisung, 05.08.2003 ........................................................................................... 58 Unsere Motivation Auffrischen ............................................................................................... 58 Kontemplation von Kernsätzen ................................................................................................ 59

2

Page 3: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Zehnte Unterweisung, 06.08.2003 .......................................................................................... 65 Meditation ................................................................................................................................ 65 Elfte Unterweisung, 07.08.2003 .............................................................................................. 70 Meditation ................................................................................................................................ 70 Zwölfte Unterweisung, 08.08.2003 .......................................................................................... 77 Mahamudra–Sichtweise, Meditation und Handlung ................................................................ 77 Dreizehnte Unterweisung, 09.08.2003 ..................................................................................... 82 Abschließende Worte ............................................................................................................... 82 Widmung .................................................................................................................................. 86

Erste Unterweisung, 28.07.2003

Die Gebete zu Beginn der Unterweisungen s 00

Glorreicher, kostbarer Wurzellama, der Du über meinem Kopf auf Lotus und Mond sitzt, bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli­chungen) von Körper, Rede und Geist.

Zu Buddha, zum Dharma und zur höchsten Gemeinschaft nehme ich bis zur Erleuch­tung Zuflucht. Möge ich durch die Praxis von Freigebigkeit und der anderen Para­mitas (Befreienden Qualitäten) zum Wohle der Lebewesen Buddhaschaft verwirkli­chen.

Mögen alle Lebewesen Glück und die Ursachen des Glücks besitzen. Mögen sie von Leid und den Ursachen des Leides frei sein.

Mögen sie niemals vom wahren Glück, das frei von Leid ist, getrennt sein. Mögen sie bei Nah und Fern frei von Anhaftung und Abneigung in großem Gleichmut

verweilen.

In den drei Gebeten, die wir gerade miteinander gesungen haben, ist das Essentielle des Dharmaweges zusammengefasst, das Herz von dem, was Buddha gelehrt hat.

Im ersten Gebet haben wir uns an die Übertragungslinie gewendet. Wir haben die Lamas um ihren Segen gebeten, jene Lamas, die sich seit der Zeit Buddhas in ununterbrochener Über­tragungslinie darum gekümmert haben, dass der Dharma erhalten bleibt und uns auch heute zur Verfügung steht. Ohne sie gäbe es heute keinen Dharma. Sie haben ihn gelebt, praktiziert, an ihre Schüler weitergegeben, diese sind wiederum Lehrer geworden, und so ist es möglich, dass heute gelebter Dharma überhaupt zur Verfügung steht.

Im zweiten Gebet, dem Zufluchtsgebet, haben wir uns an Buddha, Dharma und Sangha als Zuflucht gewandt. Zuflucht bedeutet Quelle der Inspiration, eine Quelle des Schutzes und der Inspiration auf unserem spirituellen Weg bis zur Buddhaschaft. Im zweiten Teil des Gebets haben wir die Bodhisattva-Motivation ausgesprochen, selber tatsächlich bis zur Erleuchtung

3

Page 4: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

zu gehen und allen Wesen zu dieser Erleuchtung zu verhelfen, d.h. immer wiederzukommen bis alle Wesen vollkommen frei sind von allem Leid, von allem Haften.

Mit dem dritten Gebet haben wir diesen Wunsch noch unterstrichen. Es sind die vier grenzen­losen Kontemplationen oder Qualitäten, bei denen wir wünschen, dass alle Wesen das letzt­endliche Glück erfahren mögen, dass sie frei sein mögen von allem Leid, dass sie die große Freude erfahren mögen und in großem Gleichmut verweilen, Gleichmut frei von allen Vorur­teilen, frei von allen Bewertungen, wie angenehm – unangenehm, Freund – Feind, usw.

In diesen drei Gebeten ist eigentlich auch schon alles beschrieben, worum es auch in diesem Kurs geht. Wir werden uns diese essentiellen Punkte einfach immer wieder ins Bewusstsein rufen, und wenn wir in diesen Bereichen, die mit diesen drei Gebeten beschrieben werden, am Ende dieses Kurses kleine Fortschritte gemacht haben, wenn sich diese Gedanken und Haltungen etwas tiefer in uns verwurzelt haben, dann hat dieser Kurs bewirkt, warum wir eigentlich hierher gekommen sind. Es geht nicht um viel Wissen, um große Veränderungen. Es geht um diese kleinen Schritte in Hingabe, Zuflucht, Bodhicitta – den Erleuchtungsgeist, um Liebe, Mitgefühl, Freude, Gleichmut. Das ist das Essentielle.

Die vier Dharmas von Gampopa.

Als Einstieg in den Kurs werden wir die vier wichtigsten Etappen des Weges durchgehen. Sie werden von Gampopa als die Vier Dharmas beschrieben; es sind vier Kernsätze, in denen Gampopa zusammenfasst, was das Wesentliche des Weges ist. Und obwohl diese Vier Dhar­mas bekannt und berühmt sind und häufig rezitiert und erklärt werden, so stand uns bisher kein Text zur Verfügung, aus dem wir hätten entnehmen können, wie Gampopa selbst diese Vier Dharmas erklärt hat. Der Kommentar, den wir hier vor uns haben, ist von Gampopa selbst verfasst worden. Er wurde aus dem Tibetischen abgetippt und dann von mir übersetzt. Er wird uns als Leit­schiene dienen, um den Weg als Ganzes zu beschreiben. In den späteren Teilen dieses Kurses werden wir uns auch mit anderen Zitaten von Gampopa befassen.

Der Titel dieser Unterweisungen ist:Eine nützliche Zusammenfassung der vier Dharmas.

Vier Dharmas – in Tibetisch tschö schi – bedeutet vier Unterweisungen, die hier als Kernsätze vortrefflich zusammengefasst sind, leg so kann als vortrefflich oder nützlich übersetzt werden. Diesen Text muss Gampopa selbst niedergeschrieben haben, denn die Einleitung zu der Textsammlung, in der er sich findet, beginnt mit dem Titel „Von Gampopa selbst ge­schriebene Texte“.Gampopa beginnt mit Namo Guru, das ist Sanskrit und bedeutet Verehrung dem Meister. Da­mit meint er vor allem Milarepa, aber auch seine Kadampa Lehrer wie Nyugrumpa, Tschagri­wa und andere, nicht nur seine unmittelbaren Lehrer, sondern auch die Lehrer, die die Lehrer seiner Lehrer waren, also Marpa, Naropa, Tilopa usw. und bei den Kadampas haben wir Atis­ha und die ganze Linie vor Atisha.

Es heißt, es sei notwendig, dass der Dharma zum Dharma wird, der Dharma dem Weg folgt, der Weg die Täuschung auflöst und Täuschung als das zeitlose Gewahrsein aufgeht.Es scheint so, dass Gampopa diese vier Sätze nicht selbst erfunden hat, sondern dass sie Teil der Übertragungen waren, die er erhalten hat und dass er sie als diese vier Sätze zusammenge­stellt hat. Auf Tibetisch hört der erste Paragraph mit dem Wort sung auf, was bedeutet es

4

Page 5: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

heißt oder manchmal auch Zitat Ende. Normalerweise ist das das Wort für ein indirektes Zitat, was mich annehmen lässt, dass es tatsächlich nicht Gampopa selbst ist, der diese Sätze er­funden hat.

Anhand dieser vier Kernsätze hat er die Unterweisungen für den ganzen Weg gegeben. Er hat den Kommentar dazu geschrieben, seine Schüler darin unterrichtet, und deswegen sind diese Sätze dann so berühmt geworden.

Gampopa sagt: ‚Es heißt, es sei notwendig‘ – und mit notwendig meint er unerlässlich, unum­gänglich, um zur Erleuchtung zu kommen – ‚dass der Dharma zum Dharma wird‘. Der erste Dharma ist also, dass der Dharma zum Dharma wird. Da fällt uns vielleicht etwas auf: Normalerweise heißt es nicht tschö tschö su dro wa sondern lo tschö su dro wa, d.h. dass der Geist zum Dharma wird, unsere Einstellung dem Dharma folgt. So kennen wir die vier Dharmas aus der Milarepa Puja, so kennen wir sie von Gendün Rinpotsche, der sie stets so re­zitiert hat, so werden sie auch z. B. in den Texten von Longtschenpa rezitiert; aber offenbar ist es die ursprüngliche Form, dass der Dharma zum Dharma wird und das hat mit den verschie­denen Bedeutungen des Wortes Dharma zu tun. Dharma wird heute noch in Indien und wurde früher auch im Sanskrit in ganz vielen Bedeutungsnuancen benutzt und eine ganz einfache ist: mein Dharma − das, was ich praktiziere, meine Lebensaufgabe. Möge diese, meine Lebens­aufgabe oder meine Lebenshaltung, zum authentischen Dharma, zum wahren Dharma werden. Das ist die Aussage dieses ersten Satzes, und da sie etwas verschlüsselt ist, haben spätere Meister das erste Wort Dharma wohl durch lo, d.h. durch Geist oder Intellekt oder geistige Einstellung ersetzt. Aber es ist eindeutig, dass Gampopa diese vier Dharmas in dieser Form, so formuliert hat.

Der zweite ist, dass der Dharma dem Weg folgt. Das überrascht uns zunächst, da der Dharma doch der Weg ist, Dharma folgt immer dem Weg. Unsere Überraschung hat damit zu tun, dass wir nicht an die erste Bedeutung von Dharma denken, dass Dharma eigentlich auch die eigene Praxis bedeutet. Hier ist die Bedeutung wieder, dass meine Dharmapraxis, wie ich den Dharma im Leben anwende, dass diese meine Praxis tatsächlich dem von Buddha gelehrten Weg folgt.

Der dritte Dharma ist, dass der Weg die Täuschung auflöst. Der Weg, wie ich ihn mit meiner formellen Praxis gehe und wie ich ihn zwischen den Sitzungen im Alltag anwende − das alles ist der Weg: 24 Stunden am Tag, rund um die Uhr. Möge dieser Weg dann auch tatsächlich die grundlegende Täuschung des Haftens an ein vermeintliches Ich auflösen.

Nachdem der Weg die Täuschung auflöst und also wirklich aktiv wird und Früchte trägt, möge dann – das ist der vierte Dharma – Täuschung als das zeitlose Gewahrsein aufgehen. Das ist zunächst einfach ein Widerspruch. Wie kann Täuschung dieses zeitlose Gewahrsein sein? Das ist eigentlich unmöglich. Täuschung bleibt Täuschung und Gewahrsein ist immer das Gegenteil von Täuschung. Der Schlüssel liegt darin, dass hier die Essenz, die wahre Natur von Täuschung erkannt wird, und dies dann spontan geschieht, ohne willentliches Zutun. Wenn diese Täuschung, das Haften an einem vermeintlichen Ich, als das zeitlose, raumgleiche Buddhagewahrsein aufgeht, dann ist das Erleuchtung.

Der Vorschlag, den Begriff ‚ursprüngliches Gewahrsein‘ in ‚zeitloses Gewahrsein‘ zu ändern, stammt meines Wissens von Lama Henrik aus Dedröl Ling. Das Wort „ursprünglich“ lässt nämlich immer noch das Missverständnis zu, als wäre dieses Gewahrsein sozusagen ein ursprüngliches, reines, ewiges, immer schon bestehendes Gewahrsein. Aber das ist nicht ge­meint. Wenn es im Tibetischen heißt je ne sche pa, was zusammengezogen wird als yeshe, dann bedeutet das ein Gewahrsein, das jenseits von zeitlicher Bedingtheit ist, jenseits von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wenn das Wort ‚ursprünglich‘ in uns eine Idee ent­stehen lässt wie "Das war früher einmal, jetzt ist es zwar anders, aber es ist untergründig

5

Page 6: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

immer da und existiert als etwas Wirkliches“, dann wäre das nicht ganz korrekt. Wir sprechen hier nicht im Sinne von einer ewigen Existenz, deswegen benutze ich ab sofort, sooft wie ich kann ‚zeitloses Gewahrsein‘.

Der Erste Dharma von Gampopa: Die Notwendigkeit von Entsagung

Gampopa schreibt zum ersten Dharma:

Damit der Dharma zum Dharma wird, sollten wir häufig die Vergänglichkeit der äußeren Welt wie auch aller darin lebenden Wesen kontemplieren, um so alle Bindungen an Dinge, Besitz und Beziehungen hinter uns zu lassen und uns dann an irgend einen einsamen Ort zu begeben.Mit diesen wenigen Sätzen ist Gampopa direkt im Herz von Buddhas Unterweisungen: Vergänglichkeit. Die Kontemplation und Meditation über Vergänglichkeit dient nicht nur dazu, Entsagung oder inneres Loslassen hervorzurufen, sondern das Verständnis vertieft sich im Laufe des gesamten Weges, bis dank der Kontemplation von Vergänglichkeit sogar ein Verständnis von Leerheit entsteht.

Hier geht es aber insbesondere darum, uns bewusst zu werden, dass alle Dinge wie Menschen, Tiere usw. vergänglich sind, denn sonst werden wir nie die Kraft und die Motivation haben, uns wirklich hinzusetzen und den Dharma anzuwenden, um aus Samsara auszusteigen.

Gampopa schreibt, dass wir die Vergänglichkeit häufig kontemplieren sollten. Wir könnten wohl sagen, dass es nie genug ist, dass wir Vergänglichkeit nicht nur einmal am Tag kontem­plieren sollten, sondern den ganzen Tag über im Bewusstsein tragen. Dann entpuppt sich Vergänglichkeit für uns als unser Lama. Das Beobachten des Entstehens und Vergehens, das Beobachten dessen, dass die Dinge und Wesen von Vergänglichkeit gekennzeichnet sind, wird zu einem Lehrer für uns. Wir lernen daran, welche Dinge wichtiger und unwichtiger sind. Die Vergänglichkeit zeigt uns sogar, was jenseits von Vergänglichkeit ist. Das Gewahr­sein der Vergänglichkeit rückt alles zurecht. Wir müssen nur die Augen aufmachen und nicht die Augen unserer eigenen Vergänglichkeit und Sterblichkeit gegenüber verschließen. Alles, an dem wir festhalten, ist vergänglich, auch die besten Beziehungen werden der Vergänglich­keit anheim fallen. All das sollte uns bewusst bleiben und wird uns in gewissem Sinne er­nüchtern, wir werden unseren Durst, unser Verlangen nach Samsara verlieren dank der Vergänglichkeit. Dieses fortwährende Nähren der Illusion, dass es im Vergänglichen vielleicht doch noch eine bleibende Freude zu finden gibt, das ist ein Widerspruch in sich. Das Haften an Vergänglichem kann nicht Quelle von bleibender Freude sein, es muss einen anderen Weg geben.

So werden wir dank dieser Kontemplation der Vergänglichkeit den Durst aufgeben. Das ist ein ganz alter Ausdruck, der von Buddha benutzt wurde: der Durst, innerhalb von Samsara, innerhalb unserer Ich-Bezogenheit zu existieren, der immer wieder dazu führt, dass wir in leidvollen Existenzen Geburt annehmen.

Diesen Satz Gampopas, ‚um alle Bindungen an Besitz und Beziehungen hinter uns zu lassen‘, haben wir schon oft erklärt, aber ich sage es wieder: Das bedeutet nicht, dass wir un­verantwortlich handeln und es bedeutet auch nicht, dass wir Liebe aufgeben oder durch­trennen. Wir durchschneiden das Anhaften, die Begierde. Das ist etwas, was ganz schwer zu

6

Page 7: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

verstehen ist. Wenn man zum ersten Mal zu Dharma Unterweisungen kommt, ist es sehr schwierig, zu verstehen, was denn an der Anhaftung so schlimm sein soll − wenn ich je­mandem sage: „Ich hänge an dir! Ich kann ohne dich nicht sein!“ Man denkt vielleicht, das zum Ausdruck bringen von starkem Haften an einen Menschen wäre eine Liebeserklärung, aber eigentlich ist es nur eine Erklärung, die beim anderen – wenn der im Dharma etwas ge­schult ist – gleich eine Reaktion auslösen wird, wie: „Ach du meine Güte, das kann ja nur in Leid enden! Ich kann ja nie dem anderen all seine Wünsche erfüllen!“ Irgendwann wird die Vergänglichkeit zuschlagen und dann wird notwendigerweise Leid entstehen, wenn ich ohne den anderen nicht sein kann und hafte. Liebe ist etwas ganz anderes, es ist eine offene, unter­stützende Geisteshaltung, die den anderen liebt für das, was er ist, wie er ist, so wie er ist und auch dem anderen die Freiheit lässt, dorthin zu gehen, das zu machen, was jetzt gerade das Sinnvollste zu sein scheint. Und wo nur Liebe ist, entsteht kein Leid. Das ist ein Idealzustand, den kennen wir nicht. Wir kennen mehr oder weniger Liebe mit mehr oder weniger Anhaf­tung. Es geht darum, dass die Liebe zunimmt und die Anhaftung abnimmt. Das ist Dharmapraxis.

Übrigens: um das Anhaften zu verringern, damit mehr Liebe im Leben erfahrbar wird, brau­chen wir die Liebe nicht noch extra zu erzeugen. Es reicht, das Anhaften aufzulösen, dann kommt die Liebe von selbst zum Vorschein. Wir können sie noch etwas unterstützen und so­zusagen ermuntern, aber wir brauchen sie nicht zu erzeugen. Sie ist etwas, das ohnehin in uns ist.

Wenn Gampopa sagt, dass wir uns in Zurückgezogenheit begeben, so spricht er aus seiner Lebenserfahrung. Er hat, schon bevor er Milarepa traf und bis zu dem Zeitpunkt, als er be­gann zu unterrichten, all seine Zeit im Retreat verbracht – ich habe es mit Khenpo Tschödrag schon einmal durchgerechnet – es müssen sechzehn Jahre gewesen sein, die er mehr oder weniger im Retreat verbracht hat, bevor seine große Aktivität anfing. Und selbst als er dann in Gampo Dar war, hat er immer in einer Höhe gelebt, oberhalb des Klosters. Im Kloster waren mehrere Tausend Mönche und es waren mehrere Hundert Höhlen in der Nähe, in denen die nächsten Schüler lebten. Gampopa unterrichtete die Schüler in seiner Höhle zwischen den Sitzungen. Deswegen: wenn er davon spricht, dass es wichtig ist, an einem zurückgezogenen Ort zu praktizieren, spricht er aus seiner ganzen Lebenshaltung. Das ist die Aufforderung an uns, nicht zu meinen, wir könnten in der Geschäftigkeit wirklich tief gehen. Das zu hören ist natürlich ein bisschen starker Tobak für uns, wenn wir eine Familie haben und einen Beruf haben. Aber es ist wichtig, das zu hören, um die kleinen Zeiten, wenn die Kinder aus dem Haus sind und wir uns für eine Stunde hinsetzen können, zu nutzen. Dass wir diese Momente für etwas Zurückgezogenheit nützen. Dass wir es uns z.B. auch einrichten, eine Woche oder zwei Wochen in Zurückgezogenheit zu gehen, um mit der Praxis ein bisschen tiefer zu kom­men.

Wir könnten z.B. die Frage kontemplieren: Wo gäbe es in meinem Leben privilegierte Momente der Zurückgezogenheit? Wo könnte ich es mir einrichten, in Zurückgezogenheit zu praktizieren?

Wenn wir uns an so einen Retreatplatz begeben, dann heißt es:

Dabei denken wir daran, dass uns niemand begleitet, der nicht den Dharma praktiziert. Falls wir dann aber nicht den Geist der Nichtgeschäftigkeit hervorbringen, wird unsere Dharmapraxis nie zum Dharma werden.

7

Page 8: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Wenn es da heißt, dass uns niemand begleiten soll, der nicht den Dharma praktiziert, dann ist das nicht, um unsere Verwandten und nächsten Angehörigen auszuschließen und zu kri­tisieren, sondern bloß, um darauf zu achten, dass diese kostbare Zeit auch wirklich gut genützt wird. Wenn wir irgendwohin gehen, um zu meditieren und wir nehmen Begleiter mit, die et­was ganz anderes im Sinn haben, dann wird das Spannungen geben. Wir versuchen, am selben Ort in verschiedene Richtungen zu gehen, und das klappt nicht. Es ist besser zu sagen: „Mach du jetzt Ferien auf deine Art, ich mache sie auf meine Art, dann treffen wir uns wieder und machen etwas gemeinsam!“ Stellt euch vor, ihr geht ins Retreat und nehmt jemanden mit, der den ganzen Tag fernsehen möchte. Das geht doch nicht. Das ist es, was Gampopa hier meinte.

Ein weltlicher Geist wird gar nicht ins Retreat gehen wollen, er wird sich gar nicht zurückzie­hen wollen, weil ihn ganz andere Dinge interessieren; und wenn, dann würde ihn ein Retreat vielleicht interessieren, um viel zu schlafen und nichts zu tun, aber sicherlich nicht, um in­tensiv zu praktizieren und in den Spiegel zu schauen, der uns so deutlich unsere eigenen Feh­ler und Schwierigkeiten zeigt.

Wenn wir ins Retreat gehen und uns zwar niemand begleitet, aber wir nicht diese Geschäftig­keit aufgeben, dann wird das Retreat keinen Nutzen haben, weil wir ständig dabei sind uns abzu­lenken: „Oh, jetzt lese ich noch die Unterweisung, dann kontempliere ich, dann schau ich wieder nach, ob ich es wohl auch richtig gemacht habe, dann rezitiere ich dieses Gebet, ah, da habe ich doch noch eines, das ich rezitieren kann!“ Dann wird der ganze Tag gefüllt und man ist in konstanter Geschäftigkeit und lernt es gar nicht, sich anzuvertrauen, sich führen zu lassen, die Praxis kommen zu lassen. Das ist eine Form von spirituellem Ehrgeiz und auch das müssen wir aufgeben. Aber auch dieses: „Jetzt bin ich im Retreat und muss doch an meine 20 Freunde Kärtchen schreiben, dass es mir gut geht im Retreat!“, oder: „Ich muss meine Tage­buchaufzeichnungen machen!“, oder: „Das ist eine gute Zeit, um mein Hemd zu flicken, um viele, viele kleine andere Sachen zu machen!“. All das muss man loslassen, sonst kommt man nicht zum Wesentlichen.

In der Tschenresi Praxis finden wir in der Beschreibung des menschlichen Bereiches die Zei­le, wo von Geschäftigkeit und Armut gesprochen wird als das Hauptmerkmal des Leidens im menschlichen Bereich. Nie zufrieden zu sein und immer etwas zu tun zu haben. Das müssen wir wirklich loslassen. Erst wenn wir das wirklich loslassen, dann wird der Dharma Einzug halten in unserem Geist. Dieser schwäbische Spruch: „Schaffe, schaffe Häusle baue!“ trifft für all solche Situationen zu: immer verbessern wollen, nie innehalten können.

Wenn wir uns weiter mit all diesen weltlichen Angelegenheiten beschäftigen und ihnen große Priorität beimessen, bedeutet das, dass unser Dharma noch nicht zum Dharma geworden ist, dass sich unser Geist noch nicht dem Dharma zugewendet hat. Wenn wir den Geist dem Dharma zuwenden, dann ändern sich die Prioritäten, dann ist klar, dass diese weltliche Ge­schäftigkeit nicht mehr Priorität Nummer eins in unserem Leben ist. Auch wenn wir noch keinen äußeren Ausstieg vollziehen können, innerlich haben wir ihn schon vollzogen. Inner­lich sind wir dabei, andere Dinge für wichtiger zu halten. Wir erfüllen unsere Verantwortung, wir kümmern uns um die Familie, wir machen unseren Beruf, aber der Geist ist dabei, alles

8

Page 9: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

als Dharmapraxis zu nutzen und wir sind bereits Praktizierende, die aus Samsara aussteigen. Denn Samsara sind nicht die Beschäftigungen, denen wir nachgehen, sondern wie, für wen und mit welcher Haltung wir sie ausführen, wohin es geht mit diesen Aktivitäten, aus wel­chem Grund wir sie ausführen, ob wir sie widmen usw.

Wenn jemand, dessen Prioritäten sich geändert haben, sich um jemanden kümmert, dann wird er es tun in Hinblick auf die Erleuchtung. Wenn so jemand Häuser baut, dann wird er es tun, damit diese Häuser für die Dharmapraxis dienen können usw. Jede Aktivität – obwohl wir sie äußerlich weiter ausführen wie vorher – wird von einer anderen Motivation erfüllt. Das macht den Unterschied.

– Wir meditieren und schauen einmal nach, ob unser Dharma bereits zum Dharma geworden ist.

Zweite Unterweisung, 29.07.2003

Tod und Vergänglichkeit Zsung, 29.0

Gampopa fährt fort und schreibt:

Um uns von Geschäftigkeit zu befreien, denken wir daran, dass es völlig ungewiss ist, wann wir sterben. Wir haben keine Kontrolle über den Tod: Er kann schon in einem Jahr eintre­ten oder sogar bereits nächsten Monat – das haben wir nicht in der Hand.

Gampopa kommt mit diesen Zeilen wieder darauf zurück, dass wir die Vergänglichkeit in den Mittelpunkt rücken müssen, und zwar speziell die Kontemplation über den Tod. Wenn wir schon viele Unterweisungen gehört haben, dann haben wir oft darüber gehört, und doch bin ich überzeugt, dass diese Kontemplation noch nicht ihre wirklichen Auswirkungen in unserem Geist gezeigt hat. Immer wieder hören wir davon und denken, „Ja, das ist ganz wichtig!“ aber unser Verhalten verändert sich nur minimal. Wir tun so, als würden wir noch lange leben, zu­mindest nicht nächsten Monat schon eventuell sterben können, und dann sind wir sehr über­rascht, wenn bei uns selbst oder in unserer Umgebung z.B. eine Krebsdiagnose auftaucht. Und solange der Krebs noch in der Schwebe ist, denken wir noch an den möglichen Tod, aber kaum, dass er ein bisschen behandelt ist – Chemotherapie, Brustoperation, etc. – dann vergessen wir das bald möglichst und sind ganz überrascht, wenn die Metastasen auftauchen. Trotz allem.

Eine Frau hier aus der Nachbarschaft ist mit 52 einfach tot im Bett liegen geblieben, sie hat sich abends hingelegt und ist gestorben, ohne dass am Tag zuvor irgendetwas zu bemerken war. Unfälle können jederzeit eintreten, wir wissen nicht, ob wir uns heute Abend tatsächlich wieder sehen. Äußere Unfälle, Autounfälle, aber auch die inneren Anfälle, ein Schlaganfall,

9

Page 10: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

das alles kann uns jederzeit ereilen und offenbar sind wir uns dessen nicht voll bewusst. Wir nehmen es für einen kleinen Moment in unser Bewusstsein auf, nicken und sagen, „Ja, das ist alles sehr wichtig!“, aber dann vertrauen wir auf die statistische Wahrscheinlichkeit, dass wir ja wohl doch 75 oder 80 Jahre alt werden könnten und wir haften an dieser statistischen Wahrscheinlichkeit. Und wenn es anders kommt, wenn wir aus der Wahrscheinlichkeit her­ausfallen in einen Randbereich hinein, wenn wir zu denen gehören, die die Zahlen nach unten drücken, dann sind wir sehr überrascht. Und das ist eine Form von Unwissenheit, die unseren Dharmaweg unglaublich verlangsamt. Wenn wir in vollem Bewusstsein des möglichen bal­digen Todes leben würden, dann würde unser Dharmaweg unglaublich beschleunigt werden, weil wir alles Unwichtige weglassen würden.

Wenn wir auch nur einen Tag mit diesem Bewusstsein leben könnten, das entsteht, wenn wir z.B. gerade einem schweren Unfall entkommen und mit dem Leben davongekommen sind! In dem Moment haben wir ein Bewusstsein davon, dass es uns jederzeit erwischen kann. Aber dieses Bewusstsein verlieren wir ja schon innerhalb eines Tages. Einen Tag später ist es schon Vergangenheit und wir brauchen nicht mehr so daran zu denken. Wenn wir es schaffen könn­ten, einen ganzen Tag in diesem Bewusstsein zu leben, dass jede Begegnung, die ich habe, die letzte sein könnte, dass ich diesen Menschen vielleicht nicht wieder sehe, dass ich diese Welt vielleicht zum letzten Mal so sehe wie sie jetzt ist, dass ich vielleicht zum letzten Mal die Ge­legenheit habe zu meditieren und Zuflucht zu nehmen, dann wäre dieser Tag ein Tag, der eine Kraft hat, die bei weitem das übersteigt, was andere Tage an spiritueller Kraft aufweisen. Wenn wir dann noch einen zweiten solchen Tag leben könnten und einen dritten solchen Tag, dann würde unser Leben eine solche Wandlung erfahren im Bewusstsein des Todes, dass un­ser spiritueller Weg eine unglaubliche Beschleunigung erfahren würde. Und eigentlich macht es nur dann Sinn, ins Retreat zu gehen, wenn dieses Bewusstsein da ist. Natürlich kann man auch ins Retreat gehen, um dieses Bewusstsein zu entwickeln, aber spirituelle Praxis entwi­ckelt eigentlich erst ihren Tiefgang, wenn wir im Bewusstsein des möglichen Todes leben.

Karma

Wenn wir sterben wird dieses selbstgewahre, zeitlose Gewahrsein von dem Karma unserer heilsamen und schädlichen Handlungen begleitet. Dabei ist es unmöglich, dass wir ein Karma erfahren, welches wir nicht selbst bewirkt haben, oder dass Handlungen ohne Aus­wirkungen blieben.

Wenn wir sterben, dann ist es nicht dieser Körper, dieses Ich mit seinem Körper, seinen Sinnesorganen, was ins nächste Leben übergeht. Die Sinnesorgane bleiben zurück, aber die Fähigkeit wahrzunehmen geht weiter. Die Emotionen bleiben zurück, aber die Tendenz, auf eine bestimmte emotionale Art zu reagieren, geht weiter. Die Handlungen bleiben zurück, aber die Spuren der Handlungen, die wir ausgeführt haben, begleiten uns.

All die Spuren von unseren Emotionen und Handlungen gehen nicht in Form eines normalen Gedächtnisses weiter, nicht so, wie jetzt unser Gedächtnis funktioniert, wo wir uns an viele Dinge sehr genau erinnern. Es geht weiter mittels des Speicherbewusstseins. Das ist ein Spei­

10

Page 11: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

cher, in dem die vielen Erfahrungen des jetzigen und von früheren Leben in ganz kom­primierter Form weiterhin zugänglich sind, so ähnlich wie wir Dateien komprimieren können, um sie z.B. per Internet zu verschicken. Bei dieser Kompression, die unser Geist vornimmt, den Spuren im Speicherbewusstsein, besteht ebenfalls die Möglichkeit, dass Informationen für den direkten Zugriff verloren gehen können. Je stärker die Schleier sind, desto mehr In­formationen gehen scheinbar verloren. Im nächsten Leben, auch im Bardo können – wenn die Bedingungen stimmen – diese Informationen wieder zugänglich werden. Bestimmte Gruppen von Spuren können wieder im Bewusstsein auftauchen, wenn die Bedingungen dies zulassen. Und dann kann der komprimierte Gedächtnisinhalt wieder zur Verfügung stehen. Manchmal sogar in vollem Umfang, aber gewöhnlich nur sehr rudimentär. Wir wissen z.B. normaler­weise nicht, wer unsere Eltern im früheren Leben waren, eine sehr grundlegende Information. Wir haben vergessen, was wir in der Schule gelernt haben, das müssen wir alles wieder neu lernen.

Die Fähigkeit zu lernen bleibt aber, sogar auch die Fähigkeit, in bestimmten Bereichen beson­ders schnell zu lernen, auch das bleibt, weil wir das geübt haben. Diese Übung zeigt sich wieder, die Inhalte müssen aber neu gelernt werden. Das ist bei den meisten Wesen so, weil sehr starke verzerrende Elemente durch die starke Fixierung auf ein Ich hinzukommen. Das nennen wir Schleier. Je weniger diese Schleier ausgeprägt sind, desto mehr steht uns von frü­heren Leben zur Verfügung.

Im nächsten Leben entstehen wieder neue Eindrücke, die allerdings mit all den anderen Ein­drücken aus noch weiter zurück liegenden Leben verbunden sind, die wir auch noch in un­serem Speicherbewusstsein haben. Diese Spuren gruppieren sich aber nicht um ein Ich, es ist nicht ‚mein‘ Speicherbewusstsein, sondern es sind Kraftfelder, es sind Kräfte, Ursache-Wirkungsbeziehungen, die keinen Besitzer haben. Ein Besitzer lässt sich nicht finden. Es lässt sich keine Seele finden, die in sich die Informationen, die Spuren beinhalten und besitzen würde. Wir sind ein ganz anderes, neues Wesen im nächsten Leben, weil – in dem Moment, wo der Tod kommt – all das, was unsere jetzige Persönlichkeit ausgemacht hat, was uns in diesem Leben so hat sein lassen, wie wir jetzt sind, zurück bleibt und eine ganz neue Mi­schung entsteht. Die Spuren aus diesem Leben kommen zusammen mit den Spuren aus frühe­ren Leben. Und daraus kann im nächsten Leben wieder nur ein Teil zur Auswirkung kommen, anderes findet in dem Leben keinen Ausdruck. Und wie diese neue Mischung sich zu­sammensetzt, das haben wir nicht in der Hand. Man würde den Menschen, den wir jetzt kennen, – falls er menschliche Geburt annähme − unter Umständen gar nicht erkennen. Die Mischung könnte sich so radikal geändert haben, dass der Mensch, der z.B. jetzt sehr liebens­wert war und viel gescherzt und gelacht hat, plötzlich ein sehr ernster Mensch sein kann oder sogar ärgerlich usw. Die Mischungen können sich sehr ändern – in alle Richtungen.

Gampopa sagt, dass dieses selbstgewahre, zeitlose Gewahrsein vom Karma begleitet wird, so ist es richtig. Oft finden wir in den Texten stark vereinfachende Formulierungen, wo es heißt: „Wenn ich sterbe, wird mich nur mein Karma begleiten.“ Da wird von Ich und Karma gespro­chen, als ob es da ein Ich gäbe, das von einer Existenz in die andere geht. Das ist ein Irrtum. Es ist immer nur diese Fähigkeit des Geistes, wahrzunehmen – mit all den Buddhaqualitäten, die diesem Geist innewohnen – und sie geht auch nicht von einem Leben ins andere, denn für diese Gewahrseinsdimension gibt es keine Geburt und keinen Tod. Dieses Gewahrsein wird durch die Ich-Bezogenheit, das Haften an einem Ich mit all den karmischen Schleiern, die sich darum legen, daran gehindert, sich voll und frei zu zeigen. Und solange Karma der Ich-Bezogenheit dieses Bewusstsein verschleiert, kann sich Buddhaschaft nicht manifestieren. So­lange Karma da ist – Karma bedeutet Ich-Bezogenheit – wird es nicht dazu kommen, dass sich dieses zeitlose Gewahrsein in vollem Umfang zeigen kann.

11

Page 12: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Gampopa zeigt uns hier den Unterschied zwischen Buddhaschaft und normalen, verwirrten Wesen. Ohne es näher aufzuzeigen, spricht er von dem selbstgewahren Gewahrsein aller Bud­dhas, das identisch ist mit der Buddhanatur, mit all den Qualitäten von Buddhas. Und er spricht von den karmischen Schleiern, von den Auswirkungen der Handlungen, die dieses Ge­wahrsein durch Geburt und Tod hindurch begleiten. Ein Buddha ist jemand, der völlig frei ist von diesen Schleiern. In dem Moment, wo sich in der Meditation dieses Buddhagewahrsein für einen Moment auftut, ist der Geist jenseits von karmischen Schleiern und karmischer Be­dingtheit. Die karmischen Schleier sind nicht aktiv. Sobald der Geist aber wieder ins Haften fällt, sind die Schleier wieder aktiv.

Der Weg zur Buddhaschaft ist der Weg des Auflösens der Tendenz, immer wieder ins Haften zu fallen, immer wieder in den Glauben an ein Ich zu fallen. Solange dieser Glaube an ein Ich besteht, sind wir auf der relativen Ebene, was wir auch die dualistische Ebene nennen, dort, wo Ursache und Wirkung − Ich-bezogene Handlungen − eine Auswirkung haben. In dem Moment, wo der Geist sich auftut, jenseits von Ich-Bezogenheit, ist dieses Karma nicht mehr aktiv. Aber dies ist ein dynamischer Zustand, der Geist ist in dieser Offenheit nicht inaktiv, er ist dynamisch, er erzeugt immer wieder Erscheinungen.

Bezüglich dieser Erscheinungen, die da auftauchen, gibt es immer zwei Möglichkeiten: wir können sie für wirklich halten im Sinne von etwas anderem, als ein Objekt, das wahrgenom­men wird durch ein Subjekt, oder wir können in der Wahrnehmung des Nicht-getrennt-Seins weilen, einer Wahrnehmung, die kein Ich als Wahrnehmendem postuliert und etwas anderes als Wahrgenommenes. Diese Wahl ist immer da, das sind die beiden Möglichkeiten des Geis­tes. Und solange die Tendenz der Ich-Bezogenheit nicht gereinigt ist, fallen wir immer wieder in diese Ich-Bezogenheit hinein, immer wieder. Wird sie gereinigt, dann bleibt der Geist immer leichter, immer mehr von selbst in dieser offenen Weite, ohne die Wahrnehmung, die auftauchenden geistigen Bewegungen zu unterscheiden in Ich und Anderes, ohne diese künst­liche Trennung durchzuführen.

Die Meister benutzen häufig das Beispiel von einem Ozean mit seinen Wellen. Es ist offensichtlich, dass die Tiefen des Ozeans eine etwas andere Erscheinung haben als die Wellen an der Oberfläche. An der Oberfläche bewegt sich etwas und in der Tiefe bewegt sich nicht so viel. Es ist aber ebenso offensichtlich, dass die Wellen und der Ozean dasselbe Wasser sind, dass kein Unterschied in ihrer Natur besteht, beide haben die Natur des Wassers. Aber natürlich kann man trotzdem Wellen an der Oberfläche unterscheiden vom Ozean in der Tiefe. Wir könnten auch das Bei­spiel der Sonne mit ihren Strahlen nehmen. Aber aus diesem recht geringfügigen Unterschied eine prinzipielle Trennung zu erschaffen in Subjekt und Objekt: einerseits der Geist selbst – man kann sagen die Funktion des Gewahrseins – und andererseits der bewegte Geist, das ist ein tiefer Fehler, ein Irrtum. Es gibt den Geist gar nicht ohne seine Bewegungen und die Be­wegungen gibt es nicht, ohne dass sie selbst auch Geist wären. Ein Buddha ist sich immer be­wusst, dass alle geistigen Bewegungen Geist sind und dass es da auch geistige Bewegungen gibt, die man Beobachter nennen könnte, die wahrnehmen können, was im Geist stattfindet. Aber bloß, weil da geistige Bewegungen sind, die ein inneres Objekt haben, die sich auf den Geist selbst richten, braucht man daraus kein Ich zu machen, kein Selbst, keine Identifikation. Auch im Buddha kann eine wahrnehmende Geistesbewegung auftauchen, weshalb er aber trotzdem nicht in die Annahme verfällt, dass es da ein allein funktionierendes, unabhängiges Ich gäbe. Dieser Irrtum entsteht nicht, bei gleichzeitigem Gewahrsein all der vielen Unter­schiede in den geistigen Bewegungen. Es ist nicht so, dass – um Wellen als Wasser wahr­zunehmen – wir die Wellen nicht mehr wahrnehmen könnten. Wir nehmen ihre wellenför­mige Bewegung wahr zugleich mit dem Bewusstsein, dass es sich um Wasser handelt. Genau­so ist es auch mit den geistigen Bewegungen. Wir nehmen die Bewegungen, die Gedanken,

12

Page 13: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

im Geist wahr, und gleichzeitig ist da ein Gewahrsein, dass sie die offene Natur des Geistes haben. Wenn dieses Gewahrsein verloren geht, entsteht Karma, Ich-Bezogenheit, da entsteht Fixierung auf ein Ich oder Selbst.

Gampopa schreibt, dass es unmöglich ist, dass wir in zukünftigen Leben ein Karma erfahren, das wir nicht selbst bewirkt haben. Damit meint er, dass die Handlungen, die ein karmisches Feld ausführt, die in einem bestimmten Ursache-Wirkung-Feld entstehen, wie z.B. in unserem jetzigen Leben, in ihrer Auswirkung eine so große Spezifizität haben, dass nur die Fortsetzung dieses Feldes die Auswirkung als eine persönliche Erfahrung wahrnehmen wird, also nicht das Ursache-Wirkung-Feld eines anderen Bewusstseinsstromes. Diese sehr hohe Spezifizität karmischer Auswirkungen mag zu der Annahme führen, dass es da ein Ich oder eine Seele gäbe, die Besitzer dieser Auswirkungen ist, was aber ein Kurzschluss oder eine Hypothese ist, die weiter geht, als das, was die eigene Erfahrung beweisen kann. Die Spezifizität ist so hoch, dass selbst eineiige Zwillinge nicht das Karma des anderen erfahren. Wir erfahren auch nicht das Karma unserer Kinder oder Eltern − in gutem wie in schlechtem Sinne. Diese Zugehörig­keit der Auswirkungen zu einem bestimmten Bewusstseinsstrom könnte zur Annahme verlei­ten, dass es da eine Konstanz von etwas Bleibendem gibt, von einem Ich. Aber eigentlich ist es nur so, dass diese Auswirkungen einfach an bestimmte Bedingungen gebunden sind, damit sie sich manifestieren können. Diese Bedingungen sind so ähnlich wie wenn wir z.B. eine komprimierte Datei mit einem Schlüsselwort versehen und nur dieser Schlüssel uns erlaubt, diese Datei zu öffnen. Der Schlüssel sind die typischen Merkmale eines Bewusstseinsstroms, die sich weiter fortsetzen und ermöglichen, dass die Auswirkungen erfahren werden können. Andere, die diese typischen Merkmale nicht haben, können diese Auswirkungen nicht erfah­ren und werden sie nicht erfahren.

Wenn wir in der Meditation schauen, dann merken wir, wie diese typischen Muster, diese Be­reitschaft, bestimmt Dinge zu erfahren, dazu führt, dass wir die Auswirkung bestimmter Handlungen erfahren und dass – wenn wir ausgestiegen sind aus diesen Mustern, aus diesen Erfahrungsweisen – bestimmte Erfahrungen kaum noch Auswirkungen auf uns haben, dass sie kaum noch zu großen Wellen führen. Sie können noch einen Moment im Bewusstsein auf­tauchen, aber die Bereitschaft, darauf zu reagieren, nimmt deutlich ab, bis sie sich sogar völlig aufgelöst hat. Dann kann man sehen, dass Dharmapraxis dazu führt, dass bestimmte Tenden­zen gereinigt werden und dann die Auswirkungen davon auch nicht mehr im Bewusstsein greifen können. Und zusätzlich stellen wir fest, dass – wenn wir hineinschauen, wer denn dies alles erfährt – wir immer wieder nur in der Natur des Geistes landen und ebenso, wenn wir in die Erfahrung selbst hineinschauen. Beides spricht gegen die Existenz eines Ichs. Wir erleben nur diese Offenheit, die nicht persönlich ist, die nicht an ein Ich-Gefühl, an Abgrenzung von Ich und anderen gebunden ist. Andererseits können wir mit unserer meditativen Erfahrung auch bestätigen, dass Wandlungen passieren in dem, wie man Karma erfährt und wahrnimmt.

Dieser Prozess geht weiter bis zur Buddhaschaft: die karmischen Eindrücke aus unserem Speicherbewusstsein tauchen auf, sobald die Bedingungen dafür da sind. Jemand, der in einem Bewusstsein frei von Haften an ein Ich verweilt, bei dem werden diese Geistesinhalte zwar auftauchen, aber keine emotionalen Reaktionen auslösen. Da diese emotionalen Re­aktionen nicht mehr ausgelöst werden, es nicht mehr zu einer stärkeren Ich-Bezogenheit kommt, fallen diese Auswirkungen in sich zusammen. Das nennt man ihre Reinigung. Sie be­wirken nichts mehr, sie bringen den Geist nicht mehr in Aufruhr. Je schneller dieser Prozess geht, desto mehr kann sich manifestieren. Deshalb spricht man davon, dass die karmische Reinigung, das Auftauchen und Verpuffen dieser geistigen Eindrücke immer schneller geht, bis sich alles aufgelöst hat. Das ist die eine Art und Weise, es darzustellen.

13

Page 14: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Man kann es auch aus der Sichtweise des Buddha sehen und sagen: Nehmen wir einmal an, ein Buddha hätte noch Karma, er hätte noch solche Eindrücke aus früheren Leben, die auftau­chen würden: Da er ein Wesen frei von dualistischem Haften ist, würden diese auftauchenden Eindrücke aber auch gar keine Auswirkungen in seinem Geist mehr haben, er würde gar nicht mehr in dieses Haften fallen, sie würden ohnehin verpuffen. Ein Buddha ist frei von Karma, weil er frei von dualistischem Haften ist, weil er in der Non-Dualität verweilt.

Das heißt sozusagen, alle seine Passwörter sind erschöpft. Alle seine früheren Existenzen, alles was an Spuren davon übrig bleibt, kann sich manifestieren, aber da ist niemand mehr, der drauf einsteigt. Da ist kein Haften mehr, daher ist er frei von Karma.

Es ist auch nicht möglich, dass die von uns selbst ausgeführten Handlungen ohne Aus­wirkungen blieben.

Damit ist gemeint, dass Handlungen, die wir mit Ich-Bezogenheit ausgeführt haben, solange Auswirkungen zeigen werden, wie diese Ich-Bezogenheit besteht. Das heißt: ich habe mich aufgeregt, war wütend, habe mich voll damit identifiziert und habe Handlungen ausgeführt – verbale Äußerungen usw. Ihre Auswirkungen in meinem Geist kommen später zum Vor­schein und mit den Auswirkungen taucht auch die Möglichkeit zur Identifikation auf. Ich muss in dem Moment, wo die karmischen Auswirkungen auftauchen, wieder damit arbeiten. Und dann habe ich die Möglichkeit, die Identifikation aufzulösen. Das bewirkt eine karmische Reinigung. Wenn ich die Identifikation verstärke und wieder darauf einsteige und einen Riesenzirkus daraus mache, dann verstärke ich diese Tendenz, das Karma. Es ist so, als ob ich das Passwort noch tiefer in meinen Geist eingravieren würde und dann habe ich das nächste Mal noch mehr damit zu tun. Das ist, was wir in der Meditation erleben. Wir sitzen, es taucht eine Erinnerung auf (angenehm – unangenehm, wie auch immer) – zunächst kommt es zur Identifikation – und dann das Loslassen – keine Bedeutung beimessen. Damit löst sich das Karma und die Tendenz wird geschwächt. Beim nächsten Mal ist es schon leichter, damit um­zugehen.

Oder aber, ich reagiere, verstärke die Tendenz und beim nächsten Mal ist es noch schwieriger, damit umzugehen.

Fragen und Antworten

Ich habe Mühe mit dem Konzept, dass es kein Ich gibt, wo doch von einem Subjekt gesprochen wird.

Ich habe nicht von einem Subjekt, sondern von der irrigen Annahme eines Subjektes gesprochen.

14

Page 15: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Was braucht es eigentlich, um zu erkennen, dass dieser Beobachter kein wirklich bleibendes Ich, kein Subjekt ist?

Ein sehr entspanntes, aber unglaublich klares, waches Schauen. Solange wir verbissen, mit viel Wollen nach dem Beobachter, dem Ich suchen, dann haben wir das Gefühl, „Ich schaue wirklich! Ich habe wirklich gesucht!“ Wenn wir so vorgehen, verstärkt sich das Ich sogar noch, weil wir so stark aus dem Ich heraus suchen. Dieses feine Gewahrsein davon, dass der Gedanke des Suchens auch nur ein Ge­danke ist, der so tut, als ob er einen anderen Gedanken verfolgt −

bis uns dieses Spiel aufgeht, das ist ein recht langer Prozess.

Begriffsverwirrung – es heißt selbstgewahres, zeitloses Gewahrsein bedeutet Buddhaschaft. Dann wurde aber in den Unterweisungen von Selbst und Ich als etwas „Karmischem“ gesprochen ...

Das sind zwei unterschiedliche Weisen, das Wort ‚Selbst‘ zu benutzen. Selbstgewahr bedeutet aus sich selbst heraus gewahr, ohne die Annahme eines Selbst, eines Ichs. Das ist die Spiegelung von tibe­tischen Ausdrücken, die genau auch diese doppelte Konnotation zulassen.

Mich hat der Gedanke der Spezifität sehr berührt. Da habe ich mich gefragt: Wie erreicht man dann den anderen? Wenn man so spezifisch ist, dann kann man sich nie die Wahrnehmung des anderen vorstellen, dann

ist man so getrennt ... und dann diese Offenheit dem anderen gegenüber, von der wir gestern gesprochen haben?

Die hohe Spezifität unseres Karmas bewirkt tatsächlich, dass – solange wir sehr stark in dieser Ich-Be­zogenheit sind und die Schleier sehr stark sind – es uns fast unmöglich ist, den anderen wahr­zunehmen, das ist richtig. Wenn sich diese Ich-Bezogenheit etwas abschwächt, wenn sich die Schleier auflösen, werden wir offener für die anderen. Und da kommt der andere Aspekt unseres Geistes zum Tragen, dass wir alle denselben Geist haben, dieselbe Geistesnatur. Und diese selbe Geistesnatur – die Natur des Geistes ist nicht verschieden von dir zu mir – ermöglicht uns, dass wir uns sogar voll und ganz verstehen, aber solange die Schleier so dick sind, leben wir so stark in unserer eigenen Welt, dass wir manchmal geradezu das Gegenteil von dem verspüren, denken, zu verstehen meinen, als was der andere ausdrückt und tatsächlich erlebt.

Kannst du vielleicht noch zum Unterschied zwischen Auflösen der emotionalen Schleier und Verdrängen spre­chen? Die dunklen Seiten in uns haben ja eine ganz große Bedeutung und Macht. Wenn wir sie nur vermeint­

lich auflösen, also als potentielle Gutmenschen verdrängen, dann kommen sie an irgendeiner anderen Stelle verdeckt wieder hervor. Ich denke, es ist ganz wichtig, sich da keine Illusionen zu machen.

Verdrängte Emotionen sind die stärksten Schleier. Das sind die Schleier, bei denen wir uns nicht ein­mal bewusst sind, dass sie unseren Geist verschleiern, und sie haben die größte Kraft. Wenn wir diesen Fehler nicht machen wollen, dann ist es gut, viel zu meditieren und viel Raum zu geben, dass auch das Verdrängte aufsteigen kann. Und dann nicht zu meinen: „Darf nicht sein!“, sondern kom­men lassen, alles ist nur Geist und kann eigentlich keinen Schaden hervorrufen. Wenn wir in diesem Bewusstsein mit uns selbst arbeiten, dann wird uns das Verdrängte allmählich bewusst. Es ist wie du sagst: Das sind große Hindernisse und als Dharmapraktizierender sollten nicht versuchen, ein Gut­mensch zu sein. Gutmenschen sind wir aufgrund unserer Buddhanatur ohnehin. Wir sollten dem Gut­menschen Raum geben, dass er sich manifestieren kann, aber dazu müssen erst einmal all die ver­steckten Schlawiner aus ihren Ecken kommen.

15

Page 16: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Wie kann es sein, dass – wenn man ein Gelübde bei einem Lama genommen hat − der Lama dann Aus­wirkungen erfährt davon, dass derjenige seine Gelübde bricht?

Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass die Gelübdezeremonie eine gemeinsame Handlung ist, eine Handlung, wo beide beteiligt sind und wo der Lama Vertrauen in den Schüler setzt und eine Bindung eingeht, diesen Schüler zu betreuen – auch in zukünftigen Leben. Durch das Verhalten des Schülers kann es zu einer Verstärkung oder Schwächung dieser heilsamen Wechselwirkung kommen. Wechselwirkungen finden statt, auch wenn wir uns nicht darüber bewusst sind. Ich erlebe das so: Der Moment, wenn die Nachricht eintrifft darüber, dass jemand sein Gelübde gebrochen hat, ist ein Moment, der starke Auswirkungen haben kann. Aber manchmal ist es auch so, dass schon bevor die Nachricht eintrifft, offenbar eine Wechselwirkung stattgefunden hat aufgrund dessen, dass da ein Band besteht wurde. Ich werde diese Frage noch einmal kontemplieren.

Ich habe, bevor ich gefragt habe, noch nachgedacht: Wenn man bei Karmapa ein Gelübde ablegt, ist es ja eine Handlung, die er nicht aus seinem Ich heraus setzt. Ist es dann so, dass er aufgrund seines Mitgefühls die Aus­

wirkung spürt, wenn man das Gelübde verletzt?

Das ist ein guter Punkt. Große Lehrer können sehr vielen Menschen Gelübde geben und haben relativ weniger Auswirkungen zu erfahren als wenn normale Lamas die Gelübde geben. Sie können das auf sich nehmen, weil ihr eigener Geist so frei ist, dass sich diese Wechselwirkung in Offenheit auflöst, sodass sie mit sehr viel höherem Risiko spielen können.

Dritte Unterweisung, 30.07.2003

Das eigene Schicksal bestimmen

2

Ich habe gestern lange über den Zusammenhang zwischen diesem zeitlosen Gewahrsein, dem Ich-Anhaften und Karma gesprochen. Aber wir haben noch gar nicht über den zentralen Punkt hier gesprochen: dass es darum geht, darauf zu achten, welche Handlungen wir ausführen. Wenn wir unser Leben in die Hand nehmen wollen, bestimmen wollen, was uns in Zukunft passiert, dann müssen wir Meisterschaft über unsere Handlungen erlangen. Wer kein Meister, keine Meisterin in seinen Handlungen ist, wird auch nie Meister seines Schicksals sein. Denn die Folgen unserer Handlungen bestimmen, was uns passieren wird, welchen Bedingungen wir begegnen werden.

Wenn wir glücklich sein wollen, Freude erfahren wollen, dann müssen wir die entspre­chenden Handlungen ausführen. Diese Handlungen sind von gleicher Natur wie die Frucht, die wir anstreben, das Resultat. Der Buddha verglich das mit einem Obstbaum: Wenn wir

16

Page 17: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

einen Apfelkern säen, dann werden wir natürlich einen Apfelbaum bekommen und keinen Birnen- oder Pfirsichbaum. Die Früchte werden in Übereinstimmung mit den Samen sein, und genau so ist es auch mit unseren Handlungen: Aus einer heilsamen Handlung werden heil­same Auswirkungen entstehen und aus einer schädlichen Handlung, einer Handlung, die von Ich-Bezogenheit geprägt war, werden wieder nur Ich-Bezogenheit und Emotionen entstehen.

Von daher ist es ganz wichtig, dass wir lernen, unsere Handlungen bewusst immer mehr auf Heilsames auszurichten. Die Handlungen des Körpers: unsere Bewegungen, alles, was wir mit dem Körper ausführen, die Handlungen der Rede: das, was wir sagen, wie wir kommuni­zieren, und auch die Handlungen des Geistes: das was wir denken. Das ist unsere große Lern­aufgabe. Wenn wir in dieser Aufgabe Fortschritte machen, dann ändert sich unser Leben. Dann fangen allmählich die Früchte von heilsamen Handlungen an zu wirken und unser Leben wird einfacher, freudiger, glücklicher.

Wenn wir diese Gesetzmäßigkeiten beobachten, können wir das bestätigen. Es ist nicht etwas, an das man glauben müsste, man kann es selber überprüfen. Nur muss man sich dabei im Klaren sein, dass wir jetzt sozusagen Opfer unserer früheren Handlungen sind, die wir jetzt auch nicht ändern können. Die Auswirkungen sind bereits im Gang, wir erleben sie jetzt noch, aber in diesem Erleben handeln wir auf eine neue, heilsamere Art. Und das wird seine Aus­wirkungen zeigen: In dem Maße, in dem die alten Auswirkungen auslaufen, kommen die Wirkungen der jetzt ausgeführten Handlungen zum Tragen und unser Leben ändert sich. Das ist normalerweise innerhalb von einigen Jahren schon deutlich sichtbar.

Das war eigentlich der springende Punkt der Erklärungen Gampopas hier: Wenn wir uns auf die Zeit nach dem Tod, auf zukünftige Leben ausrichten, und uns in diesen zukünftigen Leben eine Situation wünschen, in der wir den Dharma praktizieren und andern helfen können, dann ist es wichtig, dass wir uns jetzt die Basis dafür schaffen. Mit den Handlungen, die wir in diesem Leben ausführen, beeinflussen wir die die karmische Mischung, von der wir gestern sprachen, sodass die Chancen immer besser werden, eine bessere Wiedergeburt zu finden. Wenn wir obendrein auch noch den Geist im Nachtodzustand – in diesem Zwischenzustand, den wir Bardo benennen – in einem heilsamen Zustand halten können, in heilsamen Ge­dankengängen in Erinnerung an die Dharmapraxis – dann ist es ohnehin klar, dass wir die Be­dingungen finden werden, um wieder Dharma praktizieren zu können.

Der heilsame Geisteszustand im Nachtodzustand wird bewirken, dass auch schweres Karma aus der Vergangenheit, das normalerweise zu einer schwierigen Wiedergeburt führen würde, nicht auf diese Art und Weise zum Zug kommt, sondern dann nur bewirkt, dass wir in einer Existenz, in der wir den Dharma praktizieren können, Schwierigkeiten zu erleben haben. Aber dieses Karma wird dann nicht in der Lage sein, zu verhindern, dass der Geist weiter mit dem Dharma in Verbindung bleibt.

Wenn ich sage, dass der Geist mit dem Dharma verbunden bleiben wird, dass er eine Wieder­geburt annimmt, wo es möglich ist, den Dharma zu praktizieren, so ist das nicht unbedingt der Buddha-Dharma, von dem ich spreche, weil den gibt es immer nur für sehr begrenzte Zeiträu­me – jetzt seit 2500 Jahren und vielleicht noch einige Jahrhunderte weiter. Ich spreche da im tieferen Sinn von Dharma als der Praxis von Liebe, Mitgefühl und Weisheit. Und ein Geist, der sich mit Liebe, Mitgefühl und Weisheit verbindet, wird immer wieder Situationen finden, wo diese Qualitäten vertieft werden können, aufgrund der starken Ausrichtung auf diese inne­re Haltung, innere Praxis.

17

Page 18: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Die niederen Daseinsbereiche

Wenn das Karma nichtheilsamer Handlungen zu einer Geburt in den drei niederen Da­seinsbereichen führt – was für ein Leid wird man dort erfahren!

Gampopa beschreibt dieses Leid gar nicht weiter; er setzt voraus, dass wir uns darüber be­wusst sind, was das bedeutet. Wir kennen aber nur den Tierbereich aus eigener Anschauung, die anderen Bereiche kennen wir nicht: den Bereich der hungrigen Geistwesen und die Berei­che der Geistwesen in den so genannten Höllenbereichen. Die enormen Qualen, die dort erfahren werden, sind unserem normalen Bewusstsein nicht zugänglich und so müssen wir darüber hören und lesen, um eine Vorstellung darüber zu haben. Wir können auch eine Brücke schlagen zu einem Verständnis dieser Daseinsbereiche, indem wir uns an die qual­vollsten Situationen in unserem eigenen Leben erinnern. Eventuell an Situationen, die wir bei anderen beobachtet haben, die in völliger geistiger Verwirrung waren oder in Panik- bzw. Terrorzuständen. Wir können uns vorstellen, dass solch ein Geisteszustand sich im Nachtod­zustand einstellt, ein verwirrter, von Terror und Aggression erfüllter Geist, der sich dann seine eigene Welt schafft, eine Welt, in der diese Tendenzen die beherrschenden Tendenzen sind. Dann können wir uns das ausmalen und vorstellen, wie das sein muss, wenn man auf lange Zeit in solch unglaublich engen, schmerzhaften Geisteszuständen gefangen ist.

Wenn man das vermeiden möchte, muss man an seinen Handlungen von Körper, Rede und Geist arbeiten.

Wenn sich dieser panische Angstzustand im Bardo einstellt mit aggressiven Projektionen, sich seine eigene Welt schafft und sich in einem Teufelskreis verfestigt, aus dem wir nicht mehr aussteigen können, dann sind wir völlig in diesem Teufelskreis gefangen. Je mehr Angst wir haben, desto mehr Ablehnung haben wir, desto mehr wollen wir uns verteidigen, desto mehr Aggressivität haben wir. Und je mehr Aggressivität wir haben, desto mehr Angst haben wir. Das gibt uns so eine Ahnung davon, wie es sein könnte, in einem höllischen Zustand gefangen zu sein. Vielleicht erinnert ihr euch an Alpträume, die – wie ihr wisst – ja meist nur einige Se­kunden dauern, oder vielleicht eine Minute, die uns aber unglaublich lang vorkommen, wie eine Ewigkeit. Wir wachen schweißgebadet auf und haben das Gefühl, einen langen Hor­rortrip hinter uns zu haben. Dieses Gefühl ist der Spiegel für die unglaubliche Intensität dieser Erfahrung und deswegen heißt es auch, dass die Höllenbereiche ewig dauern, unglaublich lange Zeiträume, weil die Intensität der Qualen von solch unglaublichem Ausmaß ist.

Im Unterschied zum Menschenbereich gibt es dort keine Pause im Leid. Im Menschenbereich kann man immer noch bewusstlos werden, da gibt es Momente, wo man einschläft, oder wo selbst die Folterer müde sind, uns zu foltern. Aber in der Welt der Projektionen gibt es kein bewusstlos werden. Die projizierten Folterer sind nie müde. Da ist niemand, der aufhört und sich erholen muss. Das ist ein ständiger Alptraum, in dem man gefangen ist und das nennt man die Höllenbereiche. Sie werden genauso wirklich erfahren wie ein Alptraum in der Nacht. Und ihr wisst ja, dass der Alptraum in der Nacht genauso wirklich erfahren wird wie der Tagtraum, den wir jetzt leben.

18

Page 19: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Die Lehrer sagen uns, dass das, was wir jetzt erleben, nicht wirklich ist, und genauso un­wirklich sind auch die Höllenbereiche. Am Traum können wir das gut verstehen: in dem Moment, wo wir nachts bei einem Alptraum bemerken, dass es sich nur um einen Traum handelt, in dem Moment ist die Traumkette unterbrochen. In dem Moment, wo wir in einem Alptraum einen mitfühlenden Gedanken haben, einen Gedanken der Zuwendung statt der Aggression, ist die Kette der Aggressionshandlung unterbrochen und der Ausstieg aus dem Traum beginnt oder ist bereits dadurch vollzogen. Genauso ist es auch mit dem Alptraum der Höllenbereiche: In dem Moment, wo ein klarer Gedanke der Weisheit auftaucht: „Es ist ja nur eine Projektion!“, in dem Moment ist die so genannte Existenz in den Höllenbereich beendet und ein anderer Daseinsbereich, eine andere Form von Projektion, wird sich manifestieren.

Sobald ein einziger Gedanke von Liebe und Mitgefühl auftaucht, ist der Höllenbereich be­endet. Man kann mit einem Gedanken von Liebe und Mitgefühl nicht mehr in einer Höllen­projektion bleiben, das sind zwei Dinge, die sich gegenseitig ausschließen, da beginnt etwas Neues. Man kann wieder zurückfallen, aber erst einmal beginnt etwas Neues. So wie man aus einem Traum aufwachen kann und nach einem kurzen Aufwachen wieder in den Schlaf, in die Unwissenheit, zurückfallen kann und wieder einen Alptraum hat, so kann das natürlich auch in den Höllenbereichen sein, aber erst einmal ist da ein Schnitt.

Sind Liebe und Mitgefühl da ein Schutz?

Ja, Liebe und Mitgefühl sind zusammen mit Weisheit der Schutz, um nicht in solche von Ich-Bezogen­heit charakterisierten Projektionen zu fallen.

Die höheren Daseinsbereiche

Und bestenfalls wird man unter Göttern und Menschen geboren.

Der Menschenbereich ist uns vertraut. Obwohl wir über die illusorische Natur dieses menschlichen Bereiches nicht so viel wissen, ist uns doch das Erlebnis, Mensch zu sein, sehr vertraut. Mit der Erfahrung der Götterbereiche verhält es sich ganz ähnlich wie mit dem, was wir eben die Höllenbereiche genannt haben oder mit den Geisterbereichen. Das sind auch Da­seinsbereiche, bei denen es sich um eine Projektion handelt und die ohne eine physische Form erfahren werden, also ohne eine verdichtete, materielle Form, sondern in einem Lichtkörper. Aufgrund dessen, was sich im Nachtodzustand in unserem Geist manifestiert, entsteht eben­falls ein Kreis von Ursache und Wirkung – diesmal aber kein Teufelskreis sondern ein Götter­kreis – der ebenso bewirkt, dass man sich in den selben Mustern weiterbewegt. Wenn es z.B. im Nachtodzustand zu einer starken Beruhigung des Geistes kommt, wie wir es hier den Zu­stand der geistigen Ruhe nennen – Schinä bzw. Shamatha – und dieser Geisteszustand sich vertieft, dann gibt es aufgrund dessen, dass es da keine Umstände gibt, die uns aufwecken – wie jetzt z.B. im Leben, wo jemand kommt und uns auf die Schulter klopft – die Möglichkeit, in diesen Samadhi-Zuständen zu verweilen; und auch das wird zu einer Existenzform, zu einer Form des Seins, in der man sehr lange verweilen kann. Auch da sind Mechanismen im Gange, die bewirken, dass diese Art und Weise zu funktionieren, aufrechterhalten bleibt. Immer wieder, wenn z.B. ein Karma auftauchen könnte, das den Geist aufwühlen könnte, setzt der Mechanismus ein, den Geist zu beruhigen, in Schinä-Praxis hineinzugleiten. Und das führt dazu, dass sich dieser Zustand immer mehr vertieft. Diese vertiefenden Samadhizu­

19

Page 20: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

stände sind das, was wir die verschiedenen Götterbereiche nennen, das Pendant zu den Samadhis, die wir auch im Menschenleben kennen. Dann gibt es auch Formen von Samadhis im formlosen Bereich, die für uns als Menschen nicht zugänglich oder sehr schwierig zu prak­tizieren sind.

Wenn wir uns den Prozess anschauen, sind es die selben Gesetzmäßigkeiten wie vorher, die wir hier beobachten können. Auch da haben wir eine Möglichkeit, zu erahnen wie sich Göt­terbereiche anfühlen, falls wir in unserem Leben bereits Meditationserfahrungen hatten. In diesen Meditationen haben wir vielleicht bemerkt, wie der Geist zur Ruhe kommen kann und wie selbst aufsteigende Impulse dazu benutzt werden können, um immer tiefer zur Ruhe zu finden. Wenn das im Bardo stattfindet, dann kann dieser Kreis entstehen, wo man in einen Götterbereich eintritt, wo angenehme Empfindungen auftauchen, meist geistige Emp­findungen, aber es gibt auch Götterbereiche, wo so genannte körperliche Empfindungen erfahren werden – und die Empfindungen vermehren die Freude und Entspannung. Da ist aber auch ein kleines Anhaften an diesen Empfindungen, das bewirkt, dass wir sie nicht ganz los­lassen und weiter nähren. Wir nähren die glückseligen Empfindungen und bleiben in dieser quasi Seligkeit hängen, und das ist dann unsere Existenzform. Und je nachdem, wie weit man da loslassen kann, erfährt man die verschiedenen Samadhi-Stufen, wo es dann dazu kommt, dass z.B. grobe Gedanken aufhören, feinere Gedanken aufhören, bis nur noch ein ganz subti­ler Beobachter bleibt, und auch dieser Beobachter kann soweit zurücktreten, bis er fast nicht mehr bemerkbar ist. So wie wir es in den Meditationserfahrungen vielleicht schon erlebt haben, stellt sich ein Gefühl von Zeitlosigkeit oder Ewigkeit ein, wir haben das Gefühl, dass diese Erfahrung sehr lange dauert. Vielleicht habt ihr das einmal erlebt, dass sich ein Moment tiefer geistiger Ruhe einstellt und wenn wir daraus hervorkommen, wissen wir nicht, wie lange dieser Moment gedauert hat. Er kommt uns zeitlos oder sehr lange vor. Das ist auch für die Erfahrungen im Götterbereich charakteristisch; sie werden als ebenso lange beschrieben wie die Erfahrung dieser immensen Qualen in den Höllenbereichen, die alle Vergleiche mit normalen Erfahrungen sprengen.

So wie in der Meditation auch, kommen diese Kreise irgendwann zu einem Ende, es gibt dann einen Moment, wo man das nicht weiter fortsetzen kann. Ein geübter Meditierender kann so manchen aufsteigenden Impuls wieder entspannen und weiter sitzen bleiben, aber irgendwann merkt man: Jetzt geht’s nicht mehr weiter, jetzt stellt sich eine innere Aufgewühltheit ein, der Geist drängt wieder in Konzepte zurück, in Begrifflichkeit, und dann kann man nicht anders als sagen: „O.k. jetzt ändert sich was, Festhalten bringt nichts, die Sitzung ist zu Ende und ich gehe in die tägliche Aktivität hinein.“

Bei den Götterbereichen sprechen wir von ganz tiefen Meditationen, so wie sie im Menschen­bereich nur wenigen zugänglich sind, und der Kontrast zu einer groben, begrifflichen Aktivi­tät wie es z.B. für Menschen typisch ist, wird sehr stark empfunden. Das nennt man den Ab­sturz der Götter, den Sturz aus ihren Samadhi-Höhen in die für uns normalen begrifflichen Verhaftungen. Das wird sehr krass empfunden und ist mit sehr viel Leid verbunden. Obendrein haben sie so ausgiebig ihr positives, heilsames Karma aufgebraucht, ausgenutzt bis zum Letzten, dass die Tendenzen, die übrig bleiben und nun wach werden, einfach nicht mehr von dieser Art sind, sondern sehr viel leidvollere Tendenzen sind. Deswegen ist der Kontrast so stark.

Das Beispiel für dieses Aufwachen aus den Samadhi-Zuständen hinkt ein bisschen, aber stellen wir uns einmal vor, eine Mutter wäre in ganz tiefen Zuständen geistiger Ruhe und würde darin brutal aufgeweckt: Tür auf, Kinder rasen rein, voll mit Schlamm, schlagen sich und hauen der Mutter noch eine runter, sie muss ihren Samadhi verlassen und sich der Situati­

20

Page 21: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

on stellen. Ob man das jetzt als Hölle beschreibt oder nicht, der Kontrast zu dem was vorher war ist so stark, dass es subjektiv als Hölle empfunden werden kann. Das ist damit gemeint, wenn es heißt, dass die Götter aus ihrem Samadhi sozusagen „abstürzen“. Das ist der Begriff, der im Tibetischen dafür benutzt wird – nicht in den Menschenbereichen wiedergeboren werden, sondern normalerweise in die höllischen Bereiche fallen. Und das hängt mit diesem starken Kontrast zusammen. Es ist dabei völlig unerheblich, ob es jetzt tatsächliche Höllen sind oder nur projizierte Höllen, es ist eine Erfahrungsqualität, die da beschrieben wird, und die ist in so außerordentlichem Kontrast zu dem, was vorher war, dass es subjektiv wie Höllen erfahren wird. Das ist bloß, weil da immer noch ein starkes Anhaften im Spiel ist, das diesem Verweilen in Ruhe einen unglaublichen Wert beimisst. Und das bewirkt, dass alles andere als Feind, als bedrohlich erfahren wird und daher leicht zu einer Höllenerfahrung wird.

Ein Geist frei von Anhaftung ist auch frei von Ablehnung. Solange wir noch im Anhaften sind – und das ist das Merkmal der Götterbereiche, dass ein Wunsch besteht, die Erfahrung fortzu­setzen und zu verlängern – solange das noch der Fall ist, handelt es sich nicht um Befreiung. Befreiung ist ein offener Geist, der keinen Zustand dem anderen bevorzugt: Keine Bevorzu­gung von glücklichen, leidfreien Zuständen gegenüber schwierigen, problematischen Situa­tionen.

Fragen und Antworten

Ist das ein verwirrter Geisteszustand, wenn er noch Unwissenheit enthält? Wo ist der Unterschied, in Dewa­chen zu sein, wo schon ziemlich viel an Loslassen da sein muss ...

In den Götterbereichen ist – wie du sagst – die grundlegende Unwissenheit, der Glaube an ein Ich, nicht aufgelöst. Es gibt bis in den subtilsten Götterbereich, der der Bereich von Weder-Wahrnehmung-noch-Nicht-Wahrnehmung genannt wird, immer noch Identifikationen. Die Identifikationen sind dann nicht mehr auf einen Körper bezogen, man identifiziert sich z.B. mit dem Raum: Ich bin der Raum. Ich bin die Weite des Geistes. Ich bin die Subtilität der Wahrnehmung. Ich bin frei von Anhaf­tung an Wahrnehmung und Nicht-Wahrnehmung. Das sind ganz weite, umfassende Identifikationen, wo man das Gefühl hat, Ich und Universum sind eins. Aber diese Götteridentifikationen sind immer noch Unwissenheit.

Dewachen ist ein sehr dynamischer Bereich, dort kannst du nicht in solchen Samadhis der Ich-Bezo­genheit verweilen. Da sind die Buddhas um dich herum, die dich immer wieder pieksen und sagen: „Komm, mach ein bisschen weiter, geh noch ein Schrittchen, öffne dich der Bewegung des Geistes, der Dynamik, der Kreativität!“ Dewachen ist ein Bereich, in dem wir lernen, im Fluss zu sein. Wenn du die Beschreibung von Dewachen hörst, da wird von Strömen gesprochen, von kreisenden Wassern in den Teichen, von Wind, der Blumen bringt, von ständigem Klang, da ist sehr viel Dynamik in den Beschreibungen, das ist der Spiegel des Geistes.

Zuerst habe ich einen inneren Widerstand, wo ich nicht weiß, ob mir da eine moralische Lehre verkauft wird, wo man das Wohl allen Lebewesen widmet und wo bestimmte Zustände einfach ‚schlecht gemacht’ werden. Geht es da um eine moralische Lehre, aktiv zu bleiben und das Wohl den anderen zu widmen? Das ist der eine Punkt.

Wenn es dann natürlich Erklärungen gibt, dass das noch nicht die höchste Stufe ist, dann wird mein Miss­trauen ein bisschen aufgelöst, dann schwankt das auf eine andere Ebene. Das kann ich aber noch nicht ganz

nachvollziehen, weil das, was so als dieses letztendliche Dewachen beschrieben wird, dieses dynamische Wahr­nehmen und Loslassen, das ist doch auch etwas, was in der Meditation gelehrt wird: wahrnehmen – loslassen. Wie komme ich von diesem Schritt, wie ich in die Meditation trete, dann in dieses ... also da gibt es offenbar

21

Page 22: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

einen Weg der Meditation, der zum Ruhezustand führt und dann gibt es wieder den Weg zurück in die Dyna­mik. Da ist also dieses Misstrauen, ...

Gut, dieses Misstrauen ist nicht wirklich eine Frage, daran musst du arbeiten. Da kann ich dir nur sagen, dass es sich um eine Beschreibung von Ursache und Wirkung handelt, nicht um eine mo­ralische Beschreibung. Wir können das ausprobieren: wir können egoistisch handeln und wir können mit einem offenen Herzen handeln. Du wirst sehen, die Auswirkungen sind drastisch verschieden. Das kannst du selber ausprobieren, das braucht man deswegen nicht als eine Moral zu verkaufen, es ist in deinem eigenen Sinne, dass dir empfohlen wird: „Schau doch einmal! Mit offenem Herzen zu handeln bringt tatsächlich nicht nur für andere sondern auch für dich sehr viel offenere Geisteszu­stände.“ Aber da kannst du einfach schauen, das brauchst du nicht abzukaufen.

Das zweite ist, dass es – grob gesagt – tatsächlich zwei verschiedene Arten und Weisen gibt, wie Me­ditation gelehrt wird. Es gibt beim Unterrichten von Meditation die Ausrichtung auf die Geistesruhe, und die zur Zeit Buddhas lehrenden Yogameister, die Hindumeister, kannten nur diesen Weg. Sie kannten nur den Weg der Geistesruhe und es gab keinen Weg der intuitiven Einsicht, des Lhagtong bzw. Vipassana. Das hat der Buddha entdeckt, und seitdem der Buddha den Weg aufgezeigt hat, gibt es auch im Hinduismus andere Strömungen, die diesen dynamischen Weg lehren. Aber das ist eben die Spezialität bei den Buddhisten, dass sie selbst die Geistesruhe so praktizieren, dass sie nicht zu einem Hindernis wird. Man geht nicht zu weit in bloßer Geistesruhe, sondern fängt sehr früh schon an, auf intelligente Art und Weise Geistesruhe zu praktizieren. Man stärkt den Geist immer wieder in seiner Dynamik durch Fragen, durch fragendes Hinschauen, durch das Nähren von Weisheit, das An­stoßen von Weisheit.

Es ist wichtig, den Unterschied zu kennen, um wählen zu können. Der Weg der Geistesruhe allein führt in den Götterbereich und der Weg der Weisheitsmeditation führt zur Befreiung. Das ist die grundlegende Alternative, die der Buddha uns aufgezeigt hat. Auch das kann man übrigens testen, das braucht man nicht zu glauben.

Vierte Unterweisung, 31.07.2003

Die Nachteile von Samsara: Die drei Arten von Leid

Gampopa möchte uns zeigen, dass wir überall in den sechs Daseinsbereichen dem Leid ausge­setzt sein werden, dass es keinen Bereich gibt, der davon frei ist. Wir sind hier in der Kontem­plation beim vierten grundlegenden Gedanken: die Nachteile von Samsara.

Doch selbst da erfahren wir die Leiden von Geburt, Alter und Tod, suchen nach dem, was wir nicht haben, und schützen das, was wir haben, begegnen wütenden Feinden und werden von denen getrennt, die wir lieben.

Wenn wir z.B. als Mensch geboren werden, selbst wenn wir der reichste Mensch mit den bes­ten äußeren Bedingungen sind, wir werden die Leiden von Geburt, Alter und Tod erfahren, vermutlich auch Krankheit. Wir werden erfahren, dass Menschen, die wir mögen, wegsterben oder uns verlassen. Wir werden erfahren, dass Menschen, die wir nicht mögen, uns zu nahe kommen, uns Probleme schaffen. Wir werden erleben, dass wir uns Sorgen machen um

22

Page 23: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Besitz, den wir gegen Neider zu verteidigen haben. Wir werden erleben, dass wir etwas, was wir brauchen, nicht haben können. All das gehört zur ganz normalen menschlichen Erfahrung, der sich niemand entziehen kann.

Bei den Göttern haben wir auch schon gesehen, dass es das Leid des Endes der Meditation gibt und natürlich das subtile Leid des dualistischen Haftens während der gesamten Zeit, die man in diesem Samadhi-Bereichen ist.

Zu einem wirklichen Verständnis dieser Unterweisung können wir eigentlich nur kommen, wenn wir die drei Formen des Leides, die der Buddha gelehrt hat, tief kontemplieren und uns darauf einlassen, sie zu spüren, vor allem auch in den angenehmen Situationen.

In den unangenehmen Situationen das Leid zu spüren, ist überhaupt nicht schwierig. Das Leid des Leidens ist leicht zu spüren, weil es unangenehm ist, denn das sind die körperlichen Schmerzen und das geistige Unwohlsein.

In den angenehmen Situationen erfahren wir zunächst nur Freude und Glück. Das darf auch so sein und ich wünsche uns allen, dass wir so viel davon erfahren wie möglich. Nur begleitet uns im normalen menschlichen Zustand ein Anhaften an diese Erfahrung. Das Anhaften zeigt sich als die Angst, dass diese Freude nicht anhalten mag und vorbei geht, als ein gewisser Wunsch, dass sich das Angenehme doch wiederholen möge und als die Unfähigkeit – das ist ein wesentlicher Punkt – sich in der angenehmen Situation wirklich zu entspannen. Selbst wenn wir glücklich sind, schaffen wir es nicht, völlig da hinein zu entspannen und nur im Moment zu sein, nur einfach in der Erfahrung selbst. Das nannte der Buddha das Leid in glücklichen, angenehmen Situationen.

Die dritte Form von Leid, die normalerweise das Leid der Bedingtheit genannt wird – wir übersetzen es oft mit Leid der Dualität oder Leid aufgrund dualistischer Wahrnehmung – ist die Fortsetzung von der Unfähigkeit zu entspannen, bei angenehmen Situationen. Das ist die Anwesenheit des Beobachters in allen Situationen. Wir sitzen vor dem wunderbarsten Sonnenuntergang, Freund oder Freundin neben uns, wir waren gerade schwimmen, alles bes­tens, kein Hunger, wir sind da und denken: „Ist das wunderbar! Was kann ich jetzt noch ma­chen?“ oder „Wie kann ich jetzt noch mehr entspannen?“ oder einfach nur die Frage: „Na, wie geht’s dir jetzt?“ Dieses ständige kleine Flattern im Hintergrund, der Beobachter, der einfach nicht ganz loslassen möchte, die Unfähigkeit, einfach zu sein. Das ist es, was der Bud­dha das Leid der Dualität nannte, das Leid der Bedingtheit, das Gefangensein in Subjekt und Objekt. Erst wenn wir uns völlig vergessen können, bei völligem Gewahrsein, dann hören diese drei Formen des Leides auf. Das nennen wir Mahamudra, das ist der natürliche Zustand. Solange diese Formen von Anhaftung und Abneigung, diese Kontrollinstanzen des Beobach­ters bestehen, sprechen wir von den drei Formen von Leid, die Samsara kennzeichnen.

Die Wahrheit des Leides 02)

Auch die Götter erfahren Tod und Übergang mit dem extremen Wandel, sich in den sech­zehn höllischen Bereichen wie Unaussprechliche Qual usw. wieder zu finden.

23

Page 24: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Diese Passage ist mit den Erklärungen von gestern leicht zu verstehen. Nur vielleicht noch die kleine Bemerkung, dass dieser Höllenbereich, den wir Unaussprechliche Qual nennen, oft die Avici Hölle genannt wird. Das ist ein Sanskrit-Ausdruck. Die Avici Hölle ist die schlimmste der Höllenbereiche und darüber sind dann die anderen acht heißen und acht kalten Höllen usw.

Denke daran, dass wir – egal in welchem der sechs Daseinsbereiche wir geboren werden – ausschließlich Leid erfahren. Solange uns nicht wirklich tiefe Entsagung trägt, wird unser Dharma kein Dharma.

1.

Seid ihr überzeugt, dass wir in den sechs Daseinsbereichen ausschließlich Leid erfahren? Sind wir jetzt gerade im Leid oder nicht?

Ja!

Ist es so schlimm?

Wir sind uns dessen nicht ganz bewusst.

Du hast natürlich Recht, wenn du sagst: „Ja!“, weil wir sind in einem Zustand von relativem Glück, relativem Wohlbefinden, was aber immer begleitet ist von diesen Zweifeln, dieser Ungewissheit, diesem kleinen Festhalten, diesem großen Festhalten sogar, was uns aber so normal erscheint, dass wir normalerweise den Blick dafür gar nicht haben. Wir bemerken nur, dass es uns besser geht als letztes Mal, wo wir große Schwierigkeiten hatten. Wir merken nur diesen Unterschied, aber das grundlegende Leid, das Leid, das sich durch alle Situationen durchzieht, nehmen wir kaum wahr. Da­für öffnet uns der Dharma die Augen.

Es ist wichtig, dass wir das gut verstehen: Der Buddha war kein depressiver Mensch, als er so zu uns gesprochen hat. Er wollte uns nicht das Leben vermiesen, sodass wir uns nicht mehr am Leben freuen können. Es geht darum, in der Freude nüchtern zu bleiben, in der Freude zu merken, „ja, es könnte sich aber noch weiter öffnen, da könnte die letzte Spannung auch noch gelöst werden“ und dann kommen wir in die wirkliche Freude.

Buddha wollte uns nur sagen: „Weil Anhaften im jetzigen Wohlbefinden ist, ist das Leid bereits vor­programmiert.“ Es ist bereits da, es ist sichtbar für die, die die Augen dafür offen halten. Es ist vorpro­grammiert, weil dieses Anhaften dazu führen wird, dass immer wieder neue Spannung entsteht.

Wenn uns jemand den Vorschlag macht, in den Götterbereichen wiedergeboren werden zu können:

24

Page 25: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Nehmen wir das an?Wir kennen weder die Götterbereiche noch die Befreiung. Was bleibt uns da übrig, wie können wir

uns da überhaupt entscheiden?

Vertrauen.

Ja, das ist gut.

Praktizieren, sich trainieren. Ausprobieren, ob man nicht von dieser Erfahrung einen Geschmack kriegen kann.

Was mir da geholfen hat, war diese Unterweisung über Anhaften und dass Anhaften immer Leiden nach sich zieht und im selben Moment schon Leid ist, weil es ein enger Geisteszustand ist. Das verstand ich und das war die Leitschiene, ich habe mir gesagt: „Dem werde ich folgen, ich werde in meinem Leben, in meiner Praxis immer darauf achten, zu weniger Anspannung, weniger Anhaften zu kommen, diese Zustände zu ermöglichen – soweit das überhaupt möglich ist – und immer, wenn ich merke, dass da noch ein Anhaften, ein Festhalten ist, sagen: „Das ist es nicht, wohin ich möchte! Das ist nicht der Weg!“ Und wenn wir das wirklich zutiefst als unser Grundprinzip für unsere Praxis nehmen, dann sind wir geschützt davor, in Meditationsbereiche des Anhaftens zu fallen. Wir werden es in der Meditation selbst sogar merken, dass da noch Anhaften ist und wissen: „O.k. ich muss weiterschauen und eventuell auch fragen, wie ich da weitermachen kann, oder da herauskommen kann.Es ist sehr leicht, die drei niederen Daseinsbereiche loszulassen und ihnen zu entsagen. Aber es ist gar nicht einfach, den Götterbereichen zu entsagen, das merken wir schon in der Meditation. Sobald sich ein wenig Glücksgefühl in der Meditation einstellt, ein ganz leichter, freier Geist: schon haben wir das Gefühl: „Das möchte ich gerne ausdehnen, da drin möchte ich gerne bleiben!“ Und das ist genau das Anhaften an den Götterbereich. Da merken wir, dass wir noch nicht grundlegend losgelassen haben. Das ist unser Anhaften am persönlichen Wohlergehen.

25

Page 26: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Der zweite Dharma von Gampopa

Der Dharma folgt dem Weg durch Liebe und Mitgefühl: die Einstellung, wo andere wichtiger sind als wir selbst, der relative Erleuchtungsgeist.

Den ersten Punkt versuchen wir so gut in unserem Geist zu vertiefen wie es geht. Wenn wir dann möchten, dass unsere Dharmapraxis tatsächlich dem Weg folgt, dann geht es darum, dass Liebe und Mitgefühl in unserem Geist entstehen, die Einstellung, wo andere wichtiger sind als wir selbst. Das hört sich so einfach an, ist aber wohl nicht ganz so einfach.

Werden wir das auch in der Freude tun können,– nicht nur einem, sondern vielen anderen – einen Vorteil zu lassen, den wir selber gerne hätten? Und ohne es zu bedauern?

Wenn du dir der illusorischen Natur der Dinge bewusst bist, brauchst du keinen Vorteilen hin­terher zu laufen, das ist Gleichmut.

Ehrliche Praxis und Verständnis

Worum es mir in diesem Kurs geht, ist, dass wir ganz dicht an dem bleiben, was wir tat­sächlich praktizieren können, was wir verstehen und was wir auch nur glauben, und dass wir bewusst sind über den Unterschied.

Glauben ist nicht Verstehen. Glauben ist ein Vertrauensvorschuss, den wir den Lehren geben, aber es ist noch nicht das eigene Verständnis. Das eigene Verständnis ist auch kein echtes Verständnis, wenn es sich zeigt, dass wir ganz anders handeln, dass wir etwas ganz anderes tun als das, was wir meinen, verstanden zu haben. Das nenne ich noch kein echtes Ver­ständnis. Das Verständnis hat offenbar noch nicht gegriffen, das heißt aber auch, dass es noch nicht tief genug ist. Wenn ein Verständnis wirklich tief ist, verändert es unsere Verhaltens­weisen, dann kann man sagen, dass es sich um echte Weisheit handelt, die entsteht. Man ver­steht die Zusammenhänge so tief, bis in die letzte Konsequenz, dass man die Verhaltensweise loslässt, die zu Leid führt, zu mehr Anspannung im Geist, zu mehr Ich-Bezogenheit.

Es ist also ganz wichtig, dass wir uns nichts vormachen. Ich mache mir auch nicht vor, dass ich den ersten Dharma von Gampopa schon voll und ganz in meinen Geist integriert hätte. Da gibt es Momente, wo eine zeitweilige Freude – vergänglich wie sie ist – mir großes Vergnügen bereitet, und ich auch weiß, dass daraus mehr Anspannung, mehr Leid, Ich-Bezo­

Page 27: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

genheit entstehen kann, und trotzdem tu ich’s. Da müssen wir uns wirklich eingestehen: „Ja, es gibt Momente, in denen das völlig klar ist, und es gibt auch Momente, wo man großen Verführungen widerstehen konnte, loslassen konnte, um sich dem tieferen Weg zu widmen und andere Momente, wo man sagt, „Ach, warum nicht?, eine kleine Freude!“ und lässt sich ein bisschen einlullen von Samsara. Das ist ein wichtiger Punkt, man muss da mit sich selbst aufrichtig zu sein. Ich verlange von euch nicht, dass ihr versprecht: „Ja, wir lassen alles Samsara los. Jetzt und für immer!“ Das geht so nicht. Wir müssen in jedem Moment, immer wieder die vier Dharmas von Gampopa praktizieren, in jedem Moment müssen wir sie zur Anwendung bringen. Wenn es uns gelingt, dann wird der Weg sich sehr schnell entwickeln.

Wenn wir merken, dass sich ein Anhaften im Geist breit macht, dass wir wieder einmal das Gefühl haben, „Ach, das ist eine kleine, zeitweilige Freude, ich werde ihr den Vorrang vor der Praxis, vor dem Loslassen geben! Ich geh mit und lass mich drauf ein!“ Da muss die Praxis anspringen und wir müssen uns sagen: „Schau doch hin! Vergänglich! Schau dir an, was da für ein Karma entsteht, schau dir an, was für Leid das mit sich bringt, die Nachteile von Samsara! Nimm Zuflucht, aus der Zuflucht heraus entwickle wieder Bodhicitta!“ Es ist nie geschafft für die Zukunft, es ist immer nur für den Moment.

Wenn wir tatsächlich in der Lage wären, so zu praktizieren, also vollkommene Entsagung allen Anhaftens, wenn wir alles Festhalten loslassen könnten, dann wäre die Grundlage tat­sächlich ideal für eine Praxis von Liebe und Mitgefühl. Aber Liebe und Mitgefühl alleine, d.h. ich in Beziehung zu anderen Lebewesen, reicht nicht aus. Es braucht eine zweite Ebene:

Gampopa verliert nicht viele Worte über den zweiten Dharma, er sagt uns einfach:

Liebe und Mitgefühl und Weisheit.

Wenn wir zudem verstehen, dass die Erscheinungen aufgrund wechselseitiger Bedingtheit, d.h. sämtliche äußeren und inneren Phänomene, Träumen oder Illusionen gleichen, dann folgt der Dharma dem Weg.

Das ist das absolute Bodhicitta, der letztendliche Erleuchtungsgeist.

Und nur wenn diese beiden zusammenkommen: Liebe und Weisheit, dann ist der Weg voll­ständig. Von „Weg“ können wir aus buddhistischer Sicht noch nicht sprechen, wenn wir nur Liebe und Mitgefühl haben. Dann fallen wir immer noch in die Einstellung von Glauben an wirkliche Existenz oder sogar in eine nihilistische Einstellung. Wir brauchen die Weisheit des Erkennens der Leerheit aller Phänomene, der illusorischen Natur aller Phänomene. Im Lieben ist es wichtig, die Dimension zu eröffnen, nicht aus dem Ich, dem Selbst heraus zu lieben son­dern zu erkennen, dass da gar keiner ist, der liebt und geliebt wird. Das ist eigentliche Liebe, wozu auch gehört, den anderen nicht zu vergegenständlichen und zu meinen, ich liebe die Person, sondern durch den anderen hindurch lieben wir alle Wesen und auch die sind wieder

27

Page 28: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

nur eine Projektion, auch die sind nicht existent als ein konkretes Etwas. Dann wird Liebe zu wirklicher Öffnung des Geistes.

Wenn Liebe und Weisheit zusammenkommen, dann ist das der Weg. Wichtiger ist, dass wir überhaupt einmal auf den Weg kommen, dass wir eine tiefe Entsagung von Samsara, von diesem Kreislauf des Ich-Anhaftens in uns entwickeln., Ddas ist der springende Punkt., Liebe und Mitgefühl entstehen dann ganz von selber. Indem wir das Ich-Anhaften loslassen, kom­men die Liebe und das Mitgefühl zum Vorschein, das ist ganz natürlich. Und wo Liebe und Mitgefühl sind, da wird auch Weisheit entstehen, denn Liebe und Mitgefühl bedeuten, dass wir anderen hilfreich sein und sie unterstützen wollen, dass da eine Bereitschaft ist, jedem, dem wir begegnen, aus Spannung und Leid herauszuhelfen. Und genau diese Bereitschaft führt dazu, dass unser ganzes Wesen, alle geistigen Fähigkeiten darauf ausgerichtet sind, zu lernen: „Ja, wie kann ich nützlich sein? Wie geht das?“

Aus dieser Motivation heraus werden wir alles lernen, was es in der Welt gibt, um anderen hilfreich zu sein. Wir werden anfangen zu meditieren, um den Geist zu beruhigen, weil wir merken, dadurch sind wir hilfreich. Wir werden zu Unterweisungen gehen, wir werden Bü­cher lesen, wir werden uns austauschen, anderen zuhören, von den Erfahrungen anderer ler­nen... All das wird auf fruchtbaren Boden fallen, weil da diese tiefe Bereitschaft ist, anderen zu helfen. Unser Weg wird sich ganz von selbst vollziehen und Weisheit, tiefes Verständnis wird entstehen. In der Meditation werden wir keinen Problemen begegnen, da wir nicht für den eigenen Nutzen meditieren. Alle Erfahrungen werden aufgrund der Entspannung, die ein­tritt, wenn wir Samsara loslassen, von selber kommen. Verständnis des Nicht-Ichs wird sich einstellen, weil wir nicht mehr nach der Befriedigung des Ichs suchen. Weil die Motivation sich geändert hat, wird uns klar, was tatsächlich ist.

Darum braucht Gampopa jetzt nicht extra noch ausführliche Belehrungen dazu zu geben, Hauptsache die Basis stimmt; Hauptsache, der erste Schritt wird vollzogen. Der Rest kommt dann ganz einfach aufgrund dessen, dass die Buddhanatur in uns ist, aufgrund dessen, dass der Geist nun einmal diese Qualitäten hat: Liebe und Mitgefühl, Großzügigkeit, Geduld, usw. Das ist einfach, wie der Geist ist, wenn er frei von Ich-Anhaften ist. Und frei von Ich-Anhaften wird er durch Entsagung, durch Loslassen der Welt des Ich-Anhaftens, das ist Entsagung. Wir haben im letzen Kurs schon darüber gesprochen, darüber, dass Entsagung eigentlich ein Syn­onym für Freude ist. Entsagung ist keine Bürde, kein leidvoller Prozess, Entsagung ist nicht eine schwere Last, hat auch nichts mit Märtyrertum zu tun. Da, wo sich Entsagung ausbreitet, entsteht Freude, weil Leichtigkeit entsteht. Diese Leute sind echt zu beneiden, sie haben was losgelassen, sie sind frei von Ketten geworden, sie haben Zugang zu Bereichen von Leichtig­keit, Liebe und Mitgefühl gefunden, die andere, die nicht entsagt haben, gar nicht kennen und gar nicht kennen können.

Es ist wichtig, dass wir diese verkehrte Vorstellung von Entsagung vollständig aufgeben und auch, dass wir uns bewusst sind, dass wir da nicht anders denken oder andere Erfahrungen machen als Menschen, die im christlichen Weg entsagen. Auch die kennen diese Erfahrung. Das ist nicht etwas, was die Buddhisten gepachtet hätten. Überall dort, wo Ich-Anhaften los­gelassen wird, verringert sich Spannung im Geist und Freude entsteht. Das ist aber nicht un­bedingt eine Freude, die sich als große Bananen im Gesicht zeigt, mit so einem großen Lä­cheln.

28

Page 29: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Fragen und Antworten

Wenn ich es schaffe zu entsagen und dann Freude entsteht, da gibt es doch wieder jemanden, der diese Freude empfindet ...

Ja, du hast Recht. Es ist so, dass diese Freude dann immer weniger einen Mittelpunkt hat, weil wir dann auch diesen Mittelpunkt loslassen. Diese Freude ist dann einfach. Da gibt es niemanden mehr, der sagt: „Ich bin jetzt in der Freude!“, oder „Ich erfahre jetzt Freude!“. Die letztendliche Freude, die höchste Form von Freude ist tatsächlich völlig frei von Anhaften, frei von einer Ich-Identifikation und ist deswegen eine ganz andere Form von Freude als das, was wir normalerweise erleben − wo ein biss­chen Euphorie drin ist, wo jemand ist, der sich identifiziert, jemand, der das beobachtet.

Der dritte Dharma von Gampopa Wenn wir das verstehen, löst der Weg die Täuschung auf.Was verstehen? Wenn wir verstehen, was Liebe und Mitgefühl sind und wenn wir verstehen, was Weisheit ist. Wenn wir beginnen zu erfahren, was Liebe und Mitgefühl sind und was es bedeutet, nicht mehr an den Erscheinungen zu haften. Die Täuschung löst sich auf, zu glau­ben, ein Ich existiere wirklich und anderes existiere wirklich auf.

Täuschung bedeutet anzunehmen, dass etwas existiert, was gar nicht ist und auch zu glauben, dass etwas, das existiert, nicht ist. Das erste ist die verkehrte Annahme eines Ichs, wo keines zu finden ist. Die zweite Annahme ist, dass wir meinen, Ursache und Wirkung würden nicht existieren, würden auf der relativen Ebene nicht wirken, dass wir darauf nicht zu achten haben; oder zu meinen, dass es keinen Weg gibt, der zur Erleuchtung führt oder zu meinen, dass es die Vergänglichkeit nicht gibt und dabei die Ebenen der Wirklichkeit zu vertauschen. Natürlich: Es gibt nichts im letztendlichen Sinne. Aber zu glauben, dass es auch auf der re­lativen Ebene keine Ursache-Wirkungs-Beziehungen gibt, dass Handlungen ohne Folgen bleiben, oder dass es auf der relativen Ebene keinen Weg zu gehen gibt, keinen Weg aus den Fesseln der Ich-Bezogenheit heraus − das ist Täuschung, Unwissenheit.

Gampopa spricht jetzt über verschiedene Formen von Täuschung:

Zunächst die Vergänglichkeit zu kontemplieren, löst die Täuschung des Haftens an diesem Leben auf.

Die erste Form von Täuschung ist das Haften an diesem Leben: zu meinen, dass dieses Leben das einzige wäre; zu meinen, dass dieses Leben die Quelle aller Freuden ist; zu meinen, dass es nur um dieses Leben gehe und um nichts anderes. Und wenn wir die Vergänglichkeit kon­templieren – Vergänglichkeit und Tod – wird uns klar, dass die Dinge dieses Lebens von rein

29

Page 30: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

vergänglicher Natur sind und dass wir dieses Leben in Hinblick auf das leben müssen, was danach kommt. Wir werden so durch das Kontemplieren der Vergänglichkeit zu einem Ver­ständnis, einer Form von Weisheit führt. Diese Form von weisem Verständnis führt dazu, dass wir das Haften an diesem Leben loslassen, wodurch eine Form von Täuschung ausgeräumt wird.

Die Auswirkungen von Handlungen zu kontemplieren, löst die Täuschung schädlicher Sichtweisen auf.

Schädliche Sichtweisen veranlassen uns dazu, Handlungen auszuführen, die schädlich sind, d.h. die anderen und uns selbst Leid verursachen. Ursache und Wirkung zu kontemplieren heißt, dass ich sehe, dass eine Handlung aus schädlicher Motivation, mit der Absicht zu schädigen oder mit Ich-bezogener Motivation, zu Folgen führt, wo Leid entsteht für mich und andere. Das zu sehen, beseitigt den Schleier des Verständnisses, zu meinen, das wäre nicht so. Dadurch unterlasse ich– weil ich das jetzt sehe – Handlungen, die Leid bewirken. Die Täu­schung über die vermeintliche Irrelevanz schädlicher Handlungen ist aufgelöst und eine Form von Weisheit ist entstanden in Bezug auf Karma.

Schädliche Handlungen aufzugeben führt dazu, dass wir keinerlei Ursachen mehr für eine Ge­burt in den drei niederen Daseinsbereichen ansammeln, wo wir starkes Leid erfahren würden. Wir werden heilsame Handlungen ausführen und die werden zu einer Geburt in den drei hö­heren Daseinsbereichen führen.

Die Nachteile Samsaras zu kontemplieren, löst die Täuschung des Haftens am Daseins­kreislauf auf.

Um aus Samsara ganz auszusteigen, müssen wir auch die Nachteile der Geburt in den höheren Daseinsbereichen kontemplieren: Die Leidhaftigkeit, die Enge des Geistes in den höheren Da­seinsbereichen. Nur dann werden wir die Faszination an vermeintlichem, vergänglichem Glück aufgeben. Nur dann. Das ist der nächste Schritt. Er befreit uns aus dem Haften an den Daseinsbereichen, befreit uns aus Samsara als Ganzes.

Die Kontemplation zuvor hat uns geholfen, die Faszination an schädlichen Handlungen aufzu­lösen, den Irrglauben, dass schädliche Handlungen uns Glück bringen könnten. Was sie uns wirklich bringen ist Leid. Und diese Kontemplation jetzt, führt dazu, dass wir zudem merken, dass heilsame Handlungen – wenn sie nicht auf Erleuchtung ausgerichtet sind – auch wieder nur zu einer weiteren Erfahrung in der Dualität führen.

Liebe und Mitgefühl zu kontemplieren, löst die Täuschung der niederen Fahrzeuge auf.

30

Page 31: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Den nächsten Schritt gehen wir, indem wir Liebe und Mitgefühl kontemplieren, was die Täu­schung der niederen Fahrzeuge auflöst. Niederes Fahrzeug bedeutet Weg der persönlichen Befreiung. Befreiung – also Ausstieg aus Samsara für denjenigen, der praktiziert – aber ohne Ausrichtung auf die anderen. Wenn aber Liebe und Mitgefühl sich ausbreiten, das Herz sich wirklich öffnet, dann ist der Gedanke, selbst befreit zu sein, ohne dass die anderen befreit sind, unerträglich. So verlassen wir das kleinere Fahrzeug und besteigen das größere Fahr­zeug.

Vielleicht kennt ihr die Erfahrung: Ihr seid zu Hause, es geht euch gut, ihr zieht euch in euer Zimmer zurück und alles ist bestens. Eigentlich könnte man jetzt sehr glücklich sein, aber je­mand anderes im Haus ist gerade nicht glücklich. Da haben wir die Wahl: persönliches Glück würde bedeuten, uns ein bisschen abzuschotten und zu sagen, „O.k., ich bin jetzt einfach gut drauf und was den anderen angeht, das ist seine Sache“, oder aber ich lasse das Bewusstsein des Leidens der anderen mein Herz berühren und dann kann ich auf Dauer nicht in meinem eigenen Glück verweilen, sondern werde aufstehen, hingehen, schauen, ob es etwas gibt, was ich tun kann, wie ich die Offenheit meines Herzens teilen kann, den anderen einladen, eben­falls glücklicher zu werden, zu etwas mehr Freude Kontakt zu finden.

Eigentlich breitet sich Glück in unbegrenzter Weise erst aus, wenn alle glücklich sind. Dann brauche ich mich nicht mehr abzuschotten. Glück, das noch auf Abschottung beruht, ist be­grenztes Glück. Dies zu erkennen ist ein Aspekt von Weisheit − Die Weisheit, das Spüren, dass echtes Glück ein Glück ohne Einengung des Geistes sein muss.

Der nächste Schritt ist die Meditation über den Weisheitsaspekt, das letztendliche Bodhicitta und es heißt hier:

Das Traumhafte, Illusionsgleiche zu kontemplieren, löst das Haften an vermeintlicher Wirklichkeit auf. Das bedeutet

zu glauben, ein Ich oder anderes existiere wirklich. Diese Kontemplation ist das Eintreten in die Sichtweise, die wir auch intuitive Einsicht nennen oder Lhagtong, die Natur der Dinge be­trachten. WUenn die Natur der Dinge uns wirklich aufgeht, dann ist Weisheit entstanden, und zwar diesmal die Weisheit, die die Dualität an der Wurzel durchtrennt.

All diese Aspekte von Weisheit gehören zusammen und sind immer wieder nur das Wieder­holen vom ersten und zweiten Dharma, immer wieder dieselben Praktiken, ein stets Wieder­holen und Vertiefen dieser Aspekte der Praxis, und dadurch klärt der Weg unsere Täuschung. Das ist der Weg. Einfach immer wieder dieselben Praktiken ausführen, dieselben Gedanken und so am Ball bleiben.

So heißt es, dass − indem wir immer wieder von den anfänglichen zu den späteren Übungen fortschreiten − die Täuschung aufgelöst wird.

Fragen und Antworten

31

Page 32: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Ist es ein Fehler, die Lehren des kleineren Fahrzeuges zu studieren? Sind diese Lehren den Lehren des Mahayana gleichzustellen, sind sie identisch?

Es ist kein Fehler, diese Lehren zu studieren, aber es gibt dabei gewisse Gefahren oder die Möglich­keit, dabei in einem etwas engeren Geist zu landen, vor allem, wenn wir die Lehren des Abidharma studieren, wo z.B. in einer Schule des kleineren Fahrzeugs die Dinge so erklärt werden, dass es zwar kein Ich gibt, dass aber die Skandhas (Aggregate), die Atome und auch kleinste Zeiteinheiten tat­sächlich existieren.

Auch ist die Vorgehensweise mit Sinneseindrücken, Sinnesfreuden und Emotionen anders. Wir werden – wenn wir diese Schriften studieren – auf Passagen stoßen, die eine Form von Entsagung sti­mulieren, wo man sich von der Welt, von den Sinnesfreuden abwendet, weil diese als Mara bezeichnet werden, als Verführer, als das, was uns vom Weg ablenkt. Genauso ist es auch mit den Emotionen. Wir werden angehalten werden, uns von Emotionen klar abzuwenden. Das ist auch sinnvoll, dadurch kann der Weg recht schnell gegangen werden, aber wir werden nicht in der Lage sein, anderen mit dieser Einstellung zu helfen, denn wenn wir anderen als Bodhisattvas helfen wollen, werden wir not­wendigerweise immer mit Emotionen zu tun haben. Anderen zu helfen ist das sich Beschäftigen mit Problemen, wir können nicht vor ihnen weglaufen. Wir können auch nicht aus der Welt aussteigen, wir werden notwendigerweise mit Sinneserfahrungen zu tun haben, und diesen Sinneserfahrungen müssen wir uns öffnen, um mit anderen in Kontakt bleiben zu können.

Der Mahayana – das große Fahrzeug – geht so vor, dass ein Unterschied gemacht wird zwischen den Sinnesobjekten und unserer Einstellung diesen Sinneserfahrungen gegenüber und ebenfalls auch ein Unterschied zwischen der auftauchenden Emotion und dem Umgang, der Einstellung gegenüber dieser Emotion. Es ist wichtig, dass wir lernen, weder an Sinnesobjekten, noch an Emotionen zu haften. Das macht den ganzen Unterschied, ist aber eine schwierigere Praxis.

Damit ist auch die zweite Frage beantwortet. Man kann also nicht sagen, dass die Unterweisungen gleich sind oder gleichzustellen sind. Man kann aber sagen, dass sie aus der gleichen Einstellung her­aus gegeben worden sind, dass sie aus der gleichen Quelle entspringen: aus dem Mitgefühl, die Wesen aus Samsara zu befreien.

Wenn ich die engere Form der Darstellungen wähle, dann reicht das aus, um den Zuhörer selbst aus Samsara herauszuführen. Für die persönliche Befreiung reicht das aus. Aber wenn es darum geht, Bodhisattvas den Weg zu eröffnen, wie sie dann auch anderen hilfreich sein können, dann muss die subtilere und umfassendere Darstellung gewählt werden. Und deswegen wurden diese Unterwei­sungen unterschiedlich gegeben, weil die Zuhörerschaft in den verschiedenen Situationen verschieden war. Es ist also wichtig zu verstehen, dass da eine stufenweise Abfolge besteht, dass wir von einfacher zu verstehenden zu subtileren Formen von Verständnis fortschreiten.

Fünfte Unterweisung, 01.08.2003

Der vierte Dharma von Gampopa F. 03)

32

Page 33: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Mit dem „Aufgehen von Täuschung als zeitloses Gewahrsein“ ist nun Folgendes gemeint: Durch die Kraft des Meditierens aller Phänomene als letztendlich frei von Entstehen und Vergehen wird alles, was erscheint, d.h. alle Gedanken, in seiner eigenen Natur aufgelöst – dies ist dann, wie es heißt, das Aufgehen von Täuschung als zeitloses Gewahrsein.

In dieser vierten Etappe geht es um einen spontanen Prozess des Gewahrwerdens von Täu­schung als zeitloses Gewahrsein. Auf der dritten Stufe war es noch so, dass der Praktizierende sich − beim Auftauchen von Täuschung, Ich-Bezogenheit oder Verwirrung − der Verwirrung widmet, sich ihr zuwendet und sagt: "Oh, meditiere mehr auf die illusorische Natur der Dinge, damit dieses Haften sich auflöst!“ oder „Du solltest mehr über Vergänglichkeit und Tod me­ditieren, um nicht an vergänglichen Dingen zu haften!“ Oder man bemerkt, dass das Herz sich verschließt und erinnert sich daran: „Meditiere über Liebe und Mitgefühl!“ Dieses Bemerken und dann die Praxis ein bisschen Ankurbeln, ein bisschen Stimulieren ist charakteristisch für die dritte Etappe, wird aber immer spontaner. Der Prozess beginnt, von selbst zu fließen. In dem Moment, wo Spannung bemerkt wird, entsteht unmittelbar danach ein Erinnern an den entspannteren Zustand und schon beginnt die Praxis, ohne dass der Wille noch sehr stark da­mit zu tun hat; und damit beginnt der Eintritt in den vierten Dharma von Gampopa, in die vierte Etappe, wo dieser Prozess dann simultan abläuft. Mit dem Auftreten von Täuschung entsteht zugleich ein Gewahrsein der illusorischen Natur der Täuschung und da braucht der Praktizierende keine Anstrengungen mehr zu machen. Wenn wir von der vierten Etappe spre­chen, dann sprechen wir von anstrengungsloser Praxis. Diese anstrengungslose Praxis besei­tigt alle Samen, alle Impulse der Verwirrung, die noch aus dem Alaya-Bewusstsein auftau­chen, bis am Ende der vierten Etappe Buddhaschaft erreicht wird.

Bei einem Buddha ist es dann nicht einmal mehr so, dass man von zugleich entstehender Un­wissenheit und Weisheit sprechen kann, sondern da sind diese Tendenzen der trügerischen, von Ich-Bezogenheit verfärbten Wahrnehmung, voll und ganz aufgelöst. Wir können das vielleicht so sagen: Zu Anfang ist das Auftreten von Verwirrung, dann braucht es lange Zeit bis wir uns an die Praxis erinnern und uns den sich bereits auftürmenden Täuschungen zu­wenden, um sie ich auflösen, in sich zusammenfallen zu lassen.

Die Etappen des Weges sind eigentlich ein immer schnelleres sich Annähern an den Moment, wo fehlerhafte Wahrnehmung entsteht, bis es zum Schluss gar nicht mehr zu dieser fehlerhaften Wahrnehmung kommt. Eigentlich ist es ein immer schnelleres, immer spon­taneres, immer natürlicheres Praktizieren, was schließlich zur völligen Befreiung von Ich-be­zogener Wahrnehmung führt.

Zu Anfang des Weges können wir davon sprechen, dass die Praxis sehr stark von Wollen und von Anstrengung geprägt ist, weil es einfach sehr schwer ist, diesen Gewohnheitstendenzen zu begegnen. Wir sind zutiefst von samsarischen Tendenzen geprägt. Wenn wir dann den Dharma anwenden, so erscheint er uns ein wenig künstlich, oder sogar sehr künstlich. Dharmapraxis ist etwas, was unseren normalen Tendenzen völlig widerspricht, so wie Gendün Rinpotsche oft sagte: Wir sind wie auf Schienen und wollen jetzt in die entgegengesetzte Richtung. Wir versuchen, da heraus zu kommen, aber eigentlich müssen wir erst einmal anhalten und dann rückwärts fahren. Es ist also sehr schwer, diesen Prozess in die andere Richtung zu bringen. Wenn wir aber dieses Innehalten geschafft haben und die Gewohnheit, sich immer mehr zu entspannen, sich immer mehr zu öffnen stärker wird, dann können wir auf die Kraft der Gewohnheit bauen. Wir bauen auf die Kraft der durch Dharmapraxis ent­standenen Gewohnheiten, wo wir sobald wir Anspannung bemerken mit Entspannung rea­

33

Page 34: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

gieren, sobald wir ein verschlossenes Herz bemerken, sofort danach suchen, wie wir es wieder öffnen können, sobald wir in Täuschung verfallen, uns an die Dharmaunterweisungen er­innern. So entstehen Dharma-Gewohnheiten, die wir immer leichter anwenden können und die dann später auch ganz natürlich und spontan werden, bis der Weg wie von selber weiter geht.

Schaut doch einmal, ob ein klares Verständnis der vier Dharmas im eigenen Geist entstanden ist. Wir sollten wenigstens in der Lage sein, uns die vier Dharmas innerlich aufzusagen, uns innerlich zu sagen: „Aha, der erste ... , der zweite ...“ Versucht das einmal ohne auf das Blatt zu schauen. Wenn ihr es ohne das Blatt nicht schafft, dann schaut halt nach. Aber es ist ganz wichtig, dass wir uns einen Teil der Unterweisungen hier oben einbrennen. Das muss richtig in den Kopf. Wenn es da nicht verankert ist, wie soll es dann wirken? Ein Minimum muss verankert werden.

Gendün Rinpotsche sprach drei Gebete, wenn er uns ausführlich segnete. Das erste war das Gebet „Kyewa küntu yangdag lama dang ...“, in allen Lebenszeiten, immer vom Lama un­trennbar zu sein. Das zweite waren die vier Dharmas von Gampopa und das dritte war das Ge­bet „Djangchub semni rinpotsche...“ aus den Mahamudra-Vorbereitungen, wo darum gebeten wird, dass Bodhicitta sich dort manifestiert, wo es noch nicht entstanden ist und sich auswei­tet, wo es schon vorhanden ist. Er hat also diese vier Dharmas als Gebet benutzt, um Wünsche auszusprechen dafür, dass die Person wirklich bis zur Erleuchtung findet. Und wenn sich Khenpo Tschödrag vor dem Altar verneigt, bevor er Unterweisungen gibt, so rezitiert er eben­falls die vier Dharmas von Gampopa als Gebet der Ausrichtung beim Betreten des Tempels.

Es ist also gut, diese vier Dharmas auswendig zu lernen und uns damit vertraut zu machen, aber wir müssen natürlich auch den inneren Sinn davon kennen. Ich werde euch jetzt nicht mit den ersten beiden plagen. Das Stichwort für den ersten Dharma war Entsagung und für den zweiten Bodhicitta.

Fragen und Antworten

Jetzt ist die Frage, was ist wohl das Stichwort für den dritten?

Weisheit, Dualismus durchzuschneiden, Ausdauer, Hingabe

Ausdauer ist hier das entscheidende Element, denn es kommt beim dritten Dharma – wie Gampopa selbst sogar erklärt – gar nichts Neues zum Zug. Es ist das Anwenden dessen, was bereits erklärt wurde, die fortgesetzte Anwendung.

Und jetzt die Vorschläge für den vierten Dharma:

34

Page 35: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Weisheit, die Natur der Phänomene ..., Kontemplation, Meditation, Spontaneität

Ja, spontane Praxis, die natürlich gewordene, spontane Praxis dessen, was schon vorher war, sodass das Element des Wollens keine Rolle spielt. Das ist der springende Punkt.

Der Vorschlag ‚Kontemplation‘ passt nicht, weil das ein Prozess ist, der über längere Zeit geht und der mit Spontaneität nichts zu tun hat. Hier ist ein spontaner, augenblicklicher Prozess klarer Wahrneh­mung gemeint.

Gehören Kontemplation und Meditation zum dritten Dharma?

Meditation und Kontemplation entwickeln sich den ganzen Weg über weiter.

Lama Tashi: Ich denke, der erste Dharma von Gampopa hat viel mit Kontemplation zu tun und der dritte Dharma hat mehr mit drenpa, sich erinnern zu tun.

Lama Lhündrub: Mit dem ersten Dharma von Gampopa übt man sich in Kontemplation, im zweiten vertieft man sie und im dritten ist man bereits sehr geübt. Ich wollte es ja eigentlich gar nicht in die Diskussion bringen, aber der dritte Dharma von Gampopa spielt sich vom ersten bis zum siebten Bhu­mi ab. Das ist also auf den Bodhisattvastufen. Aber so hat es Gampopa hier gar nicht formuliert. Er hat es viel offener gelassen. Spätere Lehrer haben das deutlich klassifiziert. Der dritte Dharma von Gampopa ist bereits eine Praxis von Praktizierenden, die Einsicht in die Natur des Geistes in ganz kla­rer, überzeugender Art erfahren haben und die sich dann nur noch erinnern müssen (drenpa).

Der vierte Dharma von Gampopa beschreibt dann die Etappe vom achten bis zum zehnten Bhumi und zur Buddhaschaft.

Aber Entsagung praktiziert man doch während des ganzen Weges und nicht nur am Anfang?

Entsagung ist am Anfang schwierig zu praktizieren, in der Mitte des Weges wird sie natürlich und am Ende des Weges wird sie spontan.

Ist das nicht ein Widerspruch, wenn es zunächst darum geht, sich selbst voll und ganz anzunehmen, überhaupt erst einmal ein Ego aufzubauen, ein gesundes Ich, bevor man dann daran gehen kann, das Ich loszulassen und

das Ich-Anhaften, die Ich-Identifikation aufzulösen und quasi Ich-frei zu werden? Sind das nicht zwei Schritte? Das eine ist die Notwendigkeit, sich psychisch erst einmal zu stabilisieren und dann die Möglichkeit, den nächs­

ten Schritt zu machen, den Ausstieg aus dieser Ichbezogenheit.

35

Page 36: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Diese Annahme eines Widerspruchs ist oft zu hören, die Frage wird oft gestellt. Manchmal sogar im Ton der Überzeugung: „Es ist doch ganz offensichtlich, dass man erst einmal ein Ego aufbauen muss, um es loslassen zu können!“

Man könnte ja auch die Frage umdrehen: „Sind wir psychisch gesund, wenn wir starke Egoisten sind?“

Die Idee, dass es um ein „starkes Ich“ geht, diese positiv bewerteten Ich-Funktionen werden im Dharma ganz anders dargestellt: nicht als Ich-Funktionen, sondern als die heilsamen Geistesfaktoren. Und heilsame Geistesfaktoren, dazu gehören auch allgegenwärtige Geistesfaktoren, sind z.B. die Fä­higkeiten aufmerksam zu sein; sich zu erinnern, Anstrengungen zu machen, Interesse zu entwickeln, in Austausch zu treten, unterscheidende Wahrnehmungen zu entwickeln, Fragen abwägen zu können,; genauer hinschauen zu können, analysieren zu können, um zu Antworten zu kommen usw. Dazu zählen auch all die daraus entstehenden Qualitäten wie z.B. innere Klarheit im Gegensatz zu Zweifel; eine Klarheit über das, was ich tun und lassen möchte; Disziplin, Geduld, aber auch Qualitä­ten wie Freigebigkeit, Liebe, Mitgefühl. All das sind heilsame Faktoren und sind im besten Sinne persönlichkeitsstabilisierende Faktoren. Und das sind sie in der Kindheit wie in der Jugend wie im Alter. WUenn wir von deer Kindesentwicklung sprechen und sagen, das Kind müsste erst einmal ein starkes Ich entwickeln, dann meinen wir damit eigentlich, dass das Kind diese Faktoren entwickeln sollte, die eine Fähigkeit freisetzen, mit der Welt umzugehen und zu unterscheiden zwischen dem, was sinnvoll ist und dem, was nicht sinnvoll ist − das, was Schmerzen verursacht und das, was Glück und Freude bringt. Wenn das Kind eine starke Ich-Bezogenheit hat, sehr stark in der Illusion eines wirklich existierenden Ich lebt, dann wird es sehr starke Emotionen haben und deswegen destabilisiert sein. Das Kind wird nicht eine stabile Persönlichkeit haben, sondern aufgrund von starkem Ich-Anhaften wird es eine schwache Persönlichkeit haben. Weil sofort, wenn dieses vermeint­liche Ich in Frage gestellt wird, eine Abwehrreaktion kommt oder es, um dieses Ich-Gefühl zu nähren, etwas haben muss: Anhaftung – Ablehnung. Dieser Prozess kommt sehr stark in Gang und wirkt destabilisierend auf Kinder, wie Jugendliche und Erwachsene, es ist immer derselbe Prozess.

Ich möchte vorschlagen, dass wir den Begriff Ego, der ohnehin erst vor eineinhalb Jahrhunderten ge­prägt worden ist, durch >>gesunde Persönlichkeit<< ersetzen, und dass wir vom Entwickeln einer gesunden Persönlichkeit sprechen. Das gilt genauso für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Eine Persönlichkeit ist durch das Vorhandensein der heilsamen Geistesfaktoren charakterisiert, die sechs Paramitas und die Geistesfaktoren, die die allgegenwärtigen und heilsamen im Rahmen der einund­fünfzig Geistesfaktoren im Abidharma genannt werden. Davon habe ich vorhin einige aufgezählt. Wenn diese Faktoren gestärkt werden – bei einem Kind, bei einem Jugendlichen, bei einem Erwachsenen – …dann verringert sich das Leid.

Nehmen wir das Beispiel von Menschen, die sich in depressiven Zuständen befinden. Es wird oft ge­sagt, es mangelt ihnen an Selbstbewusstsein, es mangelt ihnen an einem starken Ego, sie sollten etwas mehr Durchsetzungsvermögen, mehr Affirmation von sich selbst entwickeln. Das gilt auch für andere Zustände, wo Menschen über ein schwaches Selbstbewusstsein verfügen. Da haben sich in unserer Sprache ganz schöne Mischungen ergeben: Selbstbewusstsein – so ein irreführender Begriff! Viele Menschen sind so selbstbewusst, drehen sich so stark um sich selbst, dass sie nur noch an sich selbst denken und gar nicht mehr z.B. vor einer Gruppe sprechen können, weil das Ich so unglaublich wichtig ist. Schauen wir uns unsere depressiven Geisteszustände an, dann merken wir, dass sich der Mensch nur die ganze Zeit um sich selbst dreht, nur das Ich ist wichtig. Nur ich mit meinen Gefühlen. Depression wird schon ganz anders empfunden, sobald auch nur eine Handlung pro Tag stattfindet, wo man sich auf jemand anderen bezieht, sei es auf eine Katze, einen Hund, einen Menschen, wenn

36

Page 37: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

man etwas geben kann. Wenn man Menschen, die in depressiven Geisteszuständen sind, raten würde, die heilsamen Geistesfaktoren zu stärken, und die Ich-Bezogenheit zu verringern – durch welche Me­thoden auch immer: da gibt es therapeutische Methoden und Dharmamethoden – dann trägt man zu ihrem Wohlergehen bei. Aber nicht die falsche Idee nähren, sie müssten sich mit etwas noch mehr identifizieren, was es gar nicht gibt, wodurch es wieder zu einer Destabilisierung kommt, weil die Identifikation auf einer Täuschung aufgebaut ist. Wenn ich mich identifiziere mit einem Stück Holz – also wenn ich daran festhalte – und jemand möchte dieses Stück Holz, so bin ich in dem Moment destabilisiert, weil ich festhalte und mitgehen muss, reagieren muss, da entsteht ein Kampf. Wenn ich an meinem vermeintlichen Ich festhalte und jemand greift dieses Ich an oder gibt dem Ich nicht, was es sich wünscht, entsteht Emotion, ich bin destabilisiert. Je mehr Anhaften, desto mehr Unruhe, Auf­gewühltsein, desto instabiler der Geist. Deswegen geht es darum, dieses Haften aufzulösen und die wirklich stabilisierenden Geistesfaktoren zu stärken. Was zutiefst stärkt sind Entspannung und Weis­heit.

Ein Buddha ist eigentlich die stabilste Persönlichkeit überhaupt. Wenn wir von gesunder Persönlich­keit sprechen, dann ist das Paradebeispiel dafür der Buddha. Weil kein Anhaften mehr in seinem Geist ist, kann er durch nichts mehr aus der Ruhe gebracht werden. Er ist deswegen so stabil, weil es kein Anhaften mehr gibt, was ihn in Schwingung versetzt. Ein Buddha ist dadurch gekennzeichnet, dass die sechs Paramitas und die heilsamen Geistesfaktoren voll entwickelt sind und die destabilisierenden Geistesfaktoren aufgelöst sind. Deswegen schlage ich vor, dass wir in Zukunft vom Entwickeln einer gesunden Persönlichkeit sprechen und für diesen Begriff einfach vom kon­ventionellen Ich sprechen. Das konventionelle Ich, mit dem wir uns verständigen – um den Unter­schied zwischen Ich und Du klarzumachen – ist überhaupt kein Problem, nur wenn wir meinen, dass dieses Ich wirklich etwas ist, was wir zu verteidigen oder zu nähren haben, dann entstehen Probleme.

Schlusspunkt dieser Ausführungen: Der Dharma wirkt von Anfang bis Ende stabilisierend, das ist sei­ne Aufgabe. Er macht nie etwas anderes. Aber wenn eine Person, deren ganze Wahrnehmung auf starker Täuschung beruht, mit dem Dharma in Berührung kommt, wird auch der Dharma durch den Filter dieser Täuschung wahrgenommen und es wird zu Missverständnissen kommen. Es wird da, wo z.B. von Karma gesprochen wird, mit Schuldgefühlen reagiert, es wird – wenn über die Daseinsbereiche gesprochen wird – mit Angst reagiert, es wird – wenn über Qualitäten von Praktizierenden geredet wird – mit Stolz reagiert und man möchte genauso sein, und zwar sofort, man zieht sich das Mäntelchen des Dharmas an etc. Die ganzen neurotischen Verdrehungen des Dharmas kommen zum Vorschein, weil ein zu wenig vorbereiteter Geist diesen Dharma sozu­sagen frisst, daran festhält, nicht genug Unterscheidungsvermögen hat und nicht geführt wird im Prozess des Assimilierens des Dharma. Da ist es wichtig, dass solche Personen von anderen ge­führt werden und auch vorbereitet werden, den Dharma überhaupt aufnehmen zu können; damit es nicht zu diesen schwerwiegenden Missverständnissen kommt, die dann destabilisierend wir­ken. Das ist der springende Punkt. Da können Therapeuten eine Rolle spielen. Sie können uns vorbereiten, etwas harmonischere, wirklichkeits-bezogenere Wahrnehmungen zu haben oder aber – je nachdem wie die Situation aussieht – Lamas oder Dharmafreunde können diese Aufgabe übernehmen.

Ich habe überhaupt kein Problem, diesen Darlegungen zu folgen, sie sind voll zu akzeptieren. Vielleicht könnte man auch formulieren, es geht auf der einen Seite um die gesunde Persönlichkeit, wie Du gesagt hast, und auf der anderen Seite einfach um Egoismus. Es ist für mich an der Stelle völlig klar, wie das zu beantworten ist. Meine Frage setzt an einem etwas anderen Punkt an: Wenn ich alle Elemente einer gesunden Persönlichkeit

habe, dann wird es dennoch eine dunkle Seite geben, die mir vielleicht gar nicht zugänglich ist, die mir gar nicht bewusst ist. Jung hat in diesem Zusammenhang von meinem Schatten gesprochen. Da setzt meine Frage an. Wenn ich zu dieser dunklen Seite von mir überhaupt keinen Zugang habe, wie kann ich dann wirklich diesen

37

Page 38: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Prozess des Loslassens gehen? Ich denke, dass in der Reinigungspraxis viel hochkommen kann und auch ge­schehen kann, aber ich wollte das immerhin als Frage formulieren. Ich habe gestern so spontan das Gefühl ge­

habt, wenn nur diese Elemente der gesunden Persönlichkeit gesehen werden und ich mich dann da weiterbewege und das vertiefe, bleibt vielleicht unten drunter was hängen.

Dharma – wenn wir z.B. von klarer Wahrnehmung, von Entspannung sprechen und von Hinschauen, von Meditation, führt dazu, dass alle Schatten bewusst werden,und auer Verdrängung auftauchen und angenommen werden − das genau ist Dharmapraxis. Das Stärken der heilsamen Faktoren wird genau das bewirken; dass wir nicht verdrängen, sondern zu dem stehen was ist. Verdrängen ist ein Leugnen der Wirklichkeit.

Das Entwickeln der heilsamen Faktoren bedeutet, dass man nicht mehr leugnet was ist sondern hin­schaut und damit umgehen lernt. Da kannst du nie etwas falsch machen, wenn du die heilsamen Fak­toren stärkst, weil es nicht darum geht, eine künstliche heile Welt aufzubauen, sondern weil die Fakto­ren tatsächlich heilsam sind. Wenn wir von Sherab sprechen – der Fähigkeit der unterscheidenden Wahrnehmung oder auch Weisheit genannt – so ist es genau diese Fähigkeit: zu entdecken, was da für karmische Schleier in unserem Geist aktiv sind und zu wissen, wie man die auflösen kann. Diese Fä­higkeit ist Sherab. Die Frage ist mit den heilsamen Faktoren selbst schon beantwortet, sie ist mit darin enthalten, sonst würde der Prozess der Erleuchtung nicht gehen.

Nun ist es so, dass man sich darüber oft täuscht, wie schnell dieser Prozess des Aufarbeitens von Schatten stattfindet. Das ist nicht so, dass das im Nu geschieht. Auch Menschen, die Dreijahresretreats gemacht haben, haben oft noch Schatten und tun gut daran, den Dharma weiter zu praktizieren und nicht zu verdrängen, sondern hinzuschauen und die stabilisierenden Faktoren zu entwickeln.

Es ist also wichtig, zu verstehen, dass die heilsamen Faktoren wirklich zutiefst heilsam sind und nicht nur teilweise heilsam oder dazu beitragen, dass wir uns eine Welt woanders aufbauen, nicht im Kon­takt mit dem Schatten. Die heilsamen Faktoren eröffnen eine panoramische Sicht auf all das, was ist, im Erkennen dessen wie es ist und was es wirklich ist. Verdrängungsprozesse werden nicht unter­stützt. Die heilsamen Faktoren sind keine Möglichkeit für das Ich-Anhaften, sich noch mehr Territori­um zu erobern, sich eine neue heile Welt aufzubauen. Die heilsamen Geistesfaktoren bewirken die Zerstörung des Ich-Anhaftens, die völlige Vernichtung des Ich-Anhaftens und sind deshalb zutiefst stabilisierend, weil Ich-Anhaften der Grund für alle Instabilität ist.

Wie reagiere ich, wenn ich diese Unterweisung höre?

Manchmal mit Panik! Wir hören davon, dass das Ich-Anhaften zerstört wird, durchtrennt wird – wie es hier im letzten Dharma heißt: Alles, was erscheint, die Gedanken usw. werden in ihrer eigenen Na­tur durchtrennt. Das Ich wird zerstört heißt es da, es findet ein Angriff auf ‚Ich‘ statt, dann haben wir Panik: „Was passiert da?!“ Und wir erleben das als destabilisierend vom Standpunkt unseres Festhal­tens aus, aber eigentliche Stabilität lässt sich nur im Fluss finden. Stabilität findet sich nie im Festhal­ten an Vergänglichem oder an nicht Wirklichem. Das ist eine Illusion von Stabilität.

Der Dharma ist von Anfang bis Ende Mitgefühl. Es handelt sich nicht um den Angriff eines Ichs gegen ein anderes Ich. Der Dharma dient nur dazu, Leid aufzulösen. Es handelt sich nicht darum, Festungen erobern zu wollen.

Es ist nicht angebracht, jemandem sagen, „Es ist zu früh für dich, den Dharma zu praktizieren!“ Das gibt es nicht. Man kann zu jeder Zeit, in jeder Situation den Dharma praktizieren, auch in der tiefsten

38

Page 39: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Psychose und in der größten Verwirrung. Es geht nur darum, herauszufinden: Was ist der nächste gangbare Schritt der Dharmapraxis, was ist jetzt gerade möglich?

Sechste Unterweisung, 02.08.2003

Die Antwort Gampopas auf die Frage von Sangri Räpa S2. 8.20 )

Von den verschiedenen Unterweisungen, die zur Verfügung stehen, nehme ich jetzt eine, die etwas vielfältiger ist und verschiedene Aspekte der Praxis anspricht. Es ist die Antwort Gampopas auf die Frage von Sangri Räpa, einem seiner Schüler, der normalerweise in einer Höhle meditiert und fleißig praktiziert und dem plötzlich die Lust kommt, auf eine Reise zu gehen, die Welt zu entdecken.

Wir sollten uns vorstellen: Gampopa steht auf – er bleibt normalerweise beim Singen nicht sitzen – und tanzt zusammen mit dem Antwortgesang und macht sich auch ein bisschen lustig über seine Schüler. Und gleichzeitig zeigt er ihnen den Dharma.

Der noch nicht geleerte Daseinskreislauf, nicht endende Geschäftigkeit und unerschöpfliches Geschwätz – diese drei passen nicht zum Dharma. Selbst ich ließ sie hinter mir und es wäre gut, auch du würdest ihnen den Rücken kehren.

Bei dieser Antwort geht es Gampopa darum, den Dharma tiefer zu verankern, aber immer mit einem Schuss Humor. Er sagt: „Dieser Daseinskreislauf! Hast du nicht nachgedacht? Du weißt doch, du bist selber noch nicht befreit und die Wesen sind auch nicht befreit. Da willst du deine Zeit mit Reisen verbringen? Reisen bedeutet, unaufhörlich geschäftig zu sein, stän­dig damit zu tun zu haben, sich das Essen zu organisieren; zu gehen, um den Weg hinter sich zu bringen, einen Schlafplatz zu finden... Da bleibt kaum Zeit für Praxis; außerdem schwätzt man die ganze Zeit. Man redet über das, was man sieht, was man erlebt hat, man begegnet neuen Leuten, es findet ständiger Austausch statt, ständige Ablenkung. Und das möchtest du jetzt wirklich tun? Schau an! Selbst ich habe das aufgegeben!“ Gampopa stellt sich also nicht auf ein Niveau, wo ihm das nicht hätte passieren können, er hat diese Tendenzen auch an sich selbst erlebt und aufgegeben, losgelassen. „Schau doch! Warum noch deine Zeit damit ver­bringen? Mach’s doch so wie dein Lehrer! Spare dir doch die Zeit, das zu tun!“

Einsiedeleien im Besitz von Herren des Ortes,

39

Page 40: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Wohltäter, die Schmeicheleien brauchen, und Ansammlungen erwerben mit Hoffnung auf Dank –diese drei passen nicht zum Dharma.Selbst ich ließ sie hinter mir und es wäre gut, auch du würdest ihnen den Rücken kehren.

Einsiedeleien im Besitz von Herren des Ortes bezieht sich darauf, dass man beim Reisen als Yogi ja Unterschlupf sucht, Orte wo man die Nächte verbringen kann. Da kommt man entwe­der an Orte, die anderen gehören, wo z.B. andere Yogis oder Mönche sich zurückgezogen haben, oder aber unsichtbare Wesen über verlassene Einsiedeleien herrschen und die Herren des Ortes sind. Wie auch immer, da man nur sehr kurze Zeit da ist, ist man den Bedingungen dieser Praxis-Orte unterworfen, man muss sich anpassen und es sind nicht die idealen Be­dingungen für Praxis. Es sind einfach Orte, an denen man schlafen kann, um dann weiter zu reisen, aber nicht Orte, wo sich die Praxis wirklich vertiefen kann. Dafür wäre ein Ort ge­eignet, wo wir selber die Herren des Ortes sind, d.h. ihn selber besitzen oder wo wir die un­sichtbaren Einflüsse befriedet haben.

Auf solchen Reisen ernährten sich die Yogis von Praktiken, die sie unterwegs machten. Wenn ein Yogi in eine kleine Siedlung kam, wurde er von den Leuten z. B. so angesprochen: „Ah, das ist toll, dass ein Praktizierender vorbeikommt. Könntest du nicht vielleicht für meine kranke Mutter eine Medizinbuddha-Puja ausführen?“ Oder er wurde gebeten, ein paar Man­tren für die Tante, die gerade gestorben war, zu rezitieren oder ein Bestattungsritual durchzu­führen. Es war normal, dass die reisenden Yogis sich darum kümmerten. Aber da sie ja nur kurze Zeit an dem Ort waren und darauf angewiesen waren, Spenden und auch Nahrung zu erhalten, um dann auch Vorrat für die nächste Wegstrecke zu haben, waren sie nicht in der Lage, den Dharma wirklich klar und deutlich zu unterrichten. Sie mussten sich auf das Spiel mit den Sponsoren einlassen und waren in der kurzen Zeit nicht in der Lage, z.B. die heiklen Punkte anzusprechen oder den Spiegel zu zeigen für die Ich-bezogenen Tendenzen, die sie vielleicht bemerkt hatten. Sie mussten sich so auf das Spiel der Ich-Bezogenheit der anderen einlassen und dann sogar Schmeicheleien aussprechen – die Qualitäten der Person und die Qualitäten des Ortes herausheben, so tun, als ob alles bestens wäre „oh wie wunderbar, wir toll ihr praktiziert, schon wirklich fortgeschritten ...“ – einfach Schmeichelei, um Spenden zu kriegen. Und solche Wohltäter, die Schmeicheleien brauchen und Yogis, die von Spenden abhängig sind, das ist eine Kombination, die für die Praxis verhängnisvoll ist. Da kommen beim Praktizierenden selber all die Ich-bezogenen Tendenzen wieder in Gang.

Ansammlungen erwerben mit Hoffnung auf Dank bedeutet, dass man eben solche Praktiken ausführt, in denen man Verdienst ansammelt durch Opferungen, Mantra-Rezitationen, Pujas usw. Und was diese Ansammlungen – die ja eigentlich zur Erleuchtung führen sollen – verdirbt, ist, wenn sie mit Erwartungen ausgeführt werden, Erwartungen auf persönlichen Nutzen.

Gampopa selbst ist diese Schwierigkeiten umgangen, indem er in der Zeit, nachdem er bei Milarepa war, nicht gereist ist; sondern höchstens mal drei, vier Tage um sich dann für mehre­re Jahre an einem Ort niederzulassen. Und dann ist er wieder nur kurze Zeit gereist, um sich dann am nächsten Ort wieder für drei, sechs, sieben Jahre niederzulassen. Und so hat er

40

Page 41: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

immer stabile Praxisbedingungen geschaffen, bis er dann in Gampo Dar angekommen ist. Da ist er dann lange Zeit geblieben und dann – so etwa zwanzig Jahre nachdem er Milarepa verlassen hat – begann für ihn eine Aktivitätsphase, wo er mit seinen Schülern gereist ist und zwar jeweils an Orte, wo er schon eingeladen war und wo die Leute wirklich darauf warteten, authentische Dharma-Unterweisungen zu bekommen. Da konnte er dann Schülern, die wirklich empfangsbereit waren, die – wie wir so sagen – empfangsbereite Gefäße für den Dharma waren, den Dharma auf die korrekte Art geben.

Wir müssen uns das gut überlegen, wenn wir auf Reisen gehen wollen. Wir sollten uns fragen, womit wir unsere Zeit wirklich verbringen wollen.

Gampopa weitet jetzt das Thema seines Gesanges aus und singt:

Lehrer ohne Qualitäten,Schüler ohne Hingabe undPraxisgefährten, die schimpfen und streiten – Diese drei passen nicht zum Dharma.Selbst ich ließ sie hinter mir undEs wäre gut, auch du würdest ihnen den Rücken kehren.

Das könnte jetzt Anlass sein für lange Unterweisungen über Lehrer mit und ohne Qualitäten, Schüler mit und ohne Qualitäten usw. Was ist denn das, ein Lehrer ohne Qualitäten? Ich glau­be, das erste was uns auffällt ist, dass so ein Lehrer nicht das praktiziert und selber lebt, was er unterrichtet. Seine Unterweisung ist hohl, wir können uns nicht darauf verlassen, dass das, was der Lehrer uns erzählt, wirklich mit Erfahrung gefüllt ist. Er oder sie weiß eigentlich gar nicht, wovon er oder sie spricht. Sie wiederholen die Worte aus den Dharma-Unterweisungen, die gut klingen, aber das Privatleben sieht anders aus.

Was die wichtigste Qualität für einen Lehrer ist, das ist das Bodhicitta.

Wenn ein Lehrer oder eine Lehrerin von Bodhicitta durchdrungen ist, dann wird auch die Un­terweisung authentisch sein – auch wenn der- oder diejenige noch nicht völlige Gewissheit über die Natur des Geistes erlangt hat, noch nicht völlig verwirklicht ist – weil die Motivation dann eine nicht-Ich-bezogene Motivation ist. Die Motivation ist, dem anderen wirklich helfen zu wollen und mittels dessen, was wir dann schon praktiziert, verstanden, gelernt und studiert haben, wird die Motivation selbst dazu führen, dass bescheiden das ausgedrückt wird, was ge­rade in dem Moment hilfreich sein könnte.

41

Page 42: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Eine wichtige Qualität für Lehrer ist ihre Bescheidenheit und ihre völlige Hingabe an die Wesen − der Wunsch, ihnen wirklich helfen zu wollen.

Was sind Schüler oder auch Schülerinnen ohne Hingabe? Es mangelt ihnen an Offenheit, es mangelt ihnen an der Bereitschaft, sich führen zu lassen. Da ist der Gedanke: „Ich weiß ja schon! Ich brauch’s doch eigentlich gar nicht! Wozu denn schon wieder den Lama aufsuchen?“ Da ist ein Widerstand, sich führen zu lassen, sich in seine Praxis hineinreden zu lassen. Mangelnde Hingabe ist immer auch mangelndes Mitgefühl, die beiden gehen immer zusammen. Wenn ich wirklich mitfühlend wäre und wirklich das Wohl der Wesen im Auge hätte, wäre es ganz offensichtlich, dass ich mich so gut und so schnell wie möglich führen lassen sollte, um anderen hilfreich sein zu können − natürlich vVon Lehrern, die nn der Lage sind, mich zu führen. Wenn ich selber als Schüler von Mitgefühl motiviert bin und spüre, wie das ganze Leben dieser Lehrer sich auf die Hilfe für andere ausrichtet, dann inspiriert mich das und verstärkt die Hingabe und dann bin ich wirklich im Kontakt mit dem, was den Lehrer ausmacht, dem Bodhicitta im Herzen, welches die gesamte Lehrtätigkeit motiviert.

Manchmal verkaufen wir uns selbst bloße Verehrung als Hingabe. Wir verehren den Lehrer, wir himmeln ihn oder sie an. Wir sind allerdings vor allen Dingen in einer Haltung von Be­gierde, von Anhaften. Das ist gar keine wirkliche Hingabe, wir sind in einer sehr Ich-bezo­genen Beziehung zum Lama. Und in dieser Ich-bezogenen Beziehung verwechseln wir unser Anhaften mit Hingabe. Der Lehrer ist nicht dafür da, angehimmelt, verehrt zu werden. Das in­teressiert ihn überhaupt nicht. Lehrer sind dafür da, den Weg des Bodhicitta zu zeigen und wenn wir wirklich Kontakt mit Lehrern aufnehmen möchten, können wir das erst in dem Moment, wo wir spüren, dass das Herz des Lehrers mit Mitgefühl und Liebe schlägt. Und da­durch sind wir inspiriert und sagen uns: „Ja, das ist die Richtung, in die ich geführt werden möchte!“ Und da kommen wir dann in den Geist des Lamas hinein und spüren: das ist genau das, worum es geht. Da kann uns der Lama etwas zeigen und das ist seine eigentliche Auf­gabe. Dann findet sich unser Wunsch zu helfen im Lama wieder. Die Hingabe zum Lama ist dann Ausdruck des Mitgefühls für die Wesen. Er ist dann das Mittel, um zu lernen, wie wir den Wesen besser helfen können. Und das ist eigentliche Hingabe. Hingabe entsteht durch das Erkennen der Bodhicitta-Qualitäten der Lehrer. Dadurch entsteht Hingabe, und der Rest ist Verehrung, Respekt. Das sind Elemente, die sein dürfen, aber wenn sie nicht auf Mitgefühl beruhen, dann sind diese Qualitäten unter Umständen sogar Hindernisse auf dem Weg.

Wenn wir in einer starken emotionalen Beziehung mit dem Lehrer sind, wir den Lehrer zwar zutiefst verehren und schätzen, aber ohne diese Basis des Mitgefühls, dann wird uns der Zugang zum Lehrer nicht möglich sein, es werden Blockaden entstehen. Zu großer, nicht auf Mitgefühl beruhender Respekt blockiert die Beziehung, statt sie zu öffnen. Verehrung, Anhimmeln blockiert die Offenheit, schafft im Grunde genommen Distanz statt Nähe oder Offenheit und da kann diese Übertragung des Bodhicitta gar nicht stattfinden. Eigentlich ist der Lehrer dafür da, in uns diese Offenheit gegenüber allen Wesen zu nähren und uns zu ermöglichen, sie umzusetzen, und wenn wir in einer dualistischen Beziehung zum Lehrer stehen bleiben – „Ich und du!“, „Ich verehre dich und du nimmst mich als deine Schülerin!“, „Wir zusammen usw. ...“ – eigentlich blockiert das die Beziehung, darum geht es nicht. Es geht darum, sich auf den Geist des Bodhicitta einzulassen und dann zu sehen: „Ja! Ich will in dieselbe Richtung gehen, zum Wohl der anderen in dieser Welt zu sein!“ Und da können wir voneinander lernen und diese Beziehung wird sehr fruchtbar, weil sie offen ist. Sie bleibt ständig offen allen anderen gegenüber und ist nicht eine kleine, neue Form von samsarischer Beziehung, in der man eine Bestätigung für sein Ich-Anhaften bekommt.

42

Page 43: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Wenn Lama und Schüler in dieser Weise gemeinsam für das Wohl der Wesen wirken, dann entsteht eine natürliche Offenheit: „Wir sind zusammen, also wo geht es jetzt weiter zum Wohl der Wesen?“ Und in dieser Beziehung ist dann keine Enge, selbst wenn sie nur zu zweit im selben Raum sind, sind immer alle Wesen mit eingeschlossen, weil sie das Bodhicitta im Herzen tragen. Und wenn dann jemand anders dazu kommt, ist dieser andere sofort mit einge­schlossen, sofort mit in der Situation und dann entsteht auch keine Eifersucht. Dann entstehen nicht Grüppchen oder Groupie-Phänomene, wo andere sich ausgeschlossen fühlen; da entsteht eine große Durchlässigkeit und alle fühlen sich eingeladen, mitzumachen in diesem Prozess.

In der gleichen Weise gehen Gampopas Erklärungen weiter, jetzt für die Praxisgefährten, die schimpfen und streiten. WirDie Mitpraktizierenden streiten nur, weil wir von Ich-Bezogenheit motiviert sind, weil wir das Bodhicitta nicht im Herzen tragen. Weil wir einen Platz wollen, den wir meinen nicht zu kriegen, weil ihn andere schon besetzt haben. Weil wir Einfluss haben wollen, wo wir keinen haben. Weil jemand zu enge Freundschaft mit einer Person knüpft, obwohl ich doch selbst so gerne Freund von dieser Person wäre. Eifersucht – Stolz, Eifersucht – Stolz, Stolz – Eifersucht, Eifersucht – Stolz... Immer dasselbe Spiel. Das ist, was allen Streit verursacht. Immer wieder: „Du hast doch das gesagt, und jetzt tust du es nicht!“ usw. „Niemand hört auf mich!“, „Alle hören auf dich!“, immer, immer wieder dasselbe Theater: Ich, Ich, Ich in der Abgrenzung zu anderen, in dem Bedürfnis nach persönlicher Freundschaft. Die Lösung für dieses Problem, für dieses Schimpfen und Streiten und Sich-ab­grenzen-wollen, Freundschaften schließen wollen usw. ist nicht auf dieser Ebene. Die Lösung ist, dass wir uns auf das Bodhicitta konzentrieren und auf das Wohl aller Wesen. Da ist die Lösung. Wir müssen aus dieser Ebene der Ich-Bezogenheit herausfinden und uns wirklich auf das Wohl aller einstellen. Und unsere persönlichen Wünsche sind da relativ unwichtig. Wenn der wichtigste Wunsch in unserem Herzen ist, nützlich für andere zu sein, dann treten die anderen Wünsche in den Hintergrund und haben auch nicht mehr die Kraft, eine Sangha aus­einander zu bringen, zu spalten und Streit zu schaffen.

Wenn wir uns tatsächlich auf das Bodhicitta ausrichten, dann werden die Streitereien unter­einander, die eine große Sprengkraft haben, unwichtig. Sie werden sogar zum Motor dafür, noch mehr Bodhicitta zu entwickeln. Je mehr wir merken, dass unsere kleinen Egos sich da miteinander verhaken, desto mehr sind wir motiviert auf das große Loslassen, das Bodhicitta hinzuarbeiten. Das, was da unter uns passiert, sind einfach die karmischen Spiegel, denen wir ausgesetzt sind, die Spiegel für unsere karmischen Tendenzen: Eigentlich nur Stoff für unsere Praxis und nicht wirklich ein Problem. Wir können sogar dankbar dafür sein, dass uns wieder einmal eine Situation zeigt, wo wir festhalten, dass wir nicht im Bodhicitta waren und dass es jetzt wieder darum geht, Bodhicitta ins Zentrum zu setzen.

Das Vaterland, dieses dämonische Gefängnis,mit viel Leid erworbener Besitzund nie zufriedenstellende Heuchelei – diese drei passen nicht zum Dharma.Selbst ich ließ sie hinter mir undEs wäre gut, auch du würdest ihnen den Rücken kehren.

43

Page 44: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Das Vaterland, das ist der Ort, an dem wir groß geworden sind, wo wir unsere Eltern, Tanten, Onkel, unsere Freunde, Familie haben, wo uns alle gut kennen und wo wir so richtig im Netz­werk hängen. Ein Netzwerk, wo wir immer mit den Ansprüchen und Erwartungen der anderen zu tun haben, die meinen, uns zu kennen und Erwartungen an uns haben, wie wir zu sein haben oder wie wir werden sollten. Eigentlich ist das der Ort, an dem wir am wenigsten frei sind. Das ist der Ort, wo wir immer mit den Ansprüchen der anderen konfrontiert sind, die uns gerne so haben wollen, wie sie es gewöhnt sind oder wie sie es gerne hätten, wie ihre Idealvorstellung ist.

Das zeigt sich an kleinen Bemerkungen: Man fängt an, den Dharma zu praktizieren, dann sagt jemand: „Du bist doch sonst immer ins Kino gegangen, warum kommst du denn nicht mehr? Was ist das denn: Tschenresi-Praxis abends? Bist du nicht ganz dicht? Komm doch mit, wir trinken einen, machen ein schönes Fest heute Abend...“ Anders ausgedrückt: „Bleib doch so, wie du warst, so wie du uns vertraut bist! Ändere dich nicht, das beunruhigt! Das beunruhigt, wenn du aus diesem Mechanismus aussteigst!“

Es ist nicht einfach, diesen Ausstieg aus Tendenzen und Mechanismen zu vollziehen, solange wir noch in derselben Umgebung sind. Manchmal ist es möglich, gerade heute, wo die Bezie­hungen nicht mehr so eng sind wie früher. Wir sprechen hier über einen Gesang aus einer Zeit und einem Land, wo die Familien- und die Clan-Beziehungen unglaublich eng waren, so wie früher bei uns auch, wenn man in einem Dorf groß geworden ist, oder auch in der Stadt, es war eng, eng, eng. Enger ging’s kaum.

Worum es den anderen geht, ist, dass wir weiter gemäß ihren Prioritäten funktionieren. Je­mand, der aber Dharma praktiziert, der ändert seine Prioritäten, dem sind andere Dinge wichtig als das, was seinen Eltern oder Kindern oder auch dem Partner, der Partnerin wichtig ist. Und wenn jemand anfängt, seine Prioritäten zu ändern, das löst Angst aus bei anderen. Das ist sehr beängstigend, weil sie sich dann unserer Kontrolle entziehen, der Möglichkeit, sie zu manipulieren. Jemand, der andere Prioritäten hat, der etwas anderes im Leben für wichtig hält, ist längst nicht mehr so beeinflussbar wie jemand, den ich mit den guten, alten Argu­menten immer wieder dazu bringen kann, schön das zu machen, was sozusagen ausgemacht war. Die Verwandten gehen oft von einem ‚stillen Vertrag‘ aus, der darin besteht, die Familie zu schützen, so zu bleiben, wie man ist und keinen Aufruhr zu schaffen. Auch wenn nie dar­über gesprochen wurde, aber wenn man sich da herausbegibt und plötzlich die Familie nicht mehr im Mittelpunkt steht – die Hochzeiten, die Geburtstage, Weihnachten und Ostern, das Geld-Verdienen, Karriere machen – dann fängt es plötzlich in den Beziehungen zu knistern an und es kann ganz herbe Auseinandersetzungen geben. Und die sind Ausdruck davon, dass je­mand seine Prioritäten geändert hat und aus den akzeptierten Prioritäten herausfällt.

Das Dilemma ist, dass die Dharmapraxis gerade dafür da ist, die Prioritäten zu ändern. Es ist die Aufgabe der Dharmapraxis, dass wir nicht mehr das kleine Glück − jetzt sofort in diesem Leben − für so wichtig halten sondern die Vorbereitung auf den Tod, wie wir aus diesem Leben herausgehen, mit welcher Geisteshaltung und wie wir auf die Zeit danach vorbereitet sind. Das ist das Entscheidende, nicht ob wir jetzt mehr oder weniger glücklich sind, das haben wir sowieso nicht ganz in der Hand, das ist mehr Spiegel von unserem Karma. Da ver­schieben sich die Prioritäten ganz enorm und das bringt uns in Konflikt mit unserem Umfeld, und das ist hier mit Vaterland gemeint.

Und wenn man hier vom dämonischen Gefängnis spricht, dann ist im Tibetischen das Wort dü, Dämon, dasselbe Wort wie für Maras. Die Maras sind all die Gegenkräfte der Erleuch­tung. Wir stecken in unserem Vaterland in einem Gefängnis, wo die Gegenkräfte der Erleuch­tung sehr aktiv sind. Das kann im Einzelfall einmal anders aussehen, speziell wenn in der Fa­

44

Page 45: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

milie eine große Offenheit vorhanden ist oder auch Partner und Partnerin den Dharma prakti­zieren, dann ist das ganz anders. Aber wir sprechen über den klassischen Fall, wie es vor ein bis zwei Jahrhunderten bei uns noch gang und gäbe war.

Dieses Gefängnis ist dann dadurch charakterisiert, dass es um Besitz-Erwerben geht. Besitz bedeutet Geld, Häuser, gefüllte Bankkonten oder besser: geschickt angelegte Kredite, dass man keine Steuern zu zahlen braucht, usw. Der Geist ist ständig damit beschäftigt, mehr Besitz zu erzeugen. Und dieses mehr an Besitz frisst unsere Stunden, Tage und Monate auf. Wir sind damit beschäftigt, immer mehr zu erzeugen, um uns reicher zu fühlen, sicherer zu sein, uns abstützen zu können auf mehr und mehr Reichtum. Eigentlich ist das Zeit, die mit Ich-Bezogenheit verbracht wird und die vom Standpunkt des Dharma aus völlig nutzlos ist. Das führt nur dazu, dass die Ich-Bezogenheit stärker wird, das ist kontraproduktiv.

Um all das dann hinzukriegen, den Besitz zu vermehren usw., müssen wir natürlich unsere wahre Motivation verstellen, wir müssen so tun, als ob es auch zum Nutzen der anderen sei, zum Nutzen der Familie: Eigentlich sind wir ja nur da, um es für andere zu tun. Und wir werden scheinheilig, wir verstecken die eigentliche Motivation − dass es uns um uns selbst geht, dass unsere eigenen Sorgen, unsere eigenen Ängste uns motivieren; unsere eigene Angst, mit nichts da zu stehen oder einfach unsere Unfähigkeit, zufrieden zu sein. Und all das verstellen wir und verkaufen es den anderen als die gute Haltung im Leben.

Dank der im Dharma neu zu entwickelnden Haltung werden wir uns eine Situation schaffen, in der wir Zufriedenheit praktizieren, aufrichtig sind und die Zeit haben, zu praktizieren. Und der Rest geht dann eigentlich von selbst.

Siebte Unterweisung, 03.08.2003

Sich nach Partnern zu sehnen, die nie kommen,sein Herz an Kinder zu hängen, die Feinde werden,und ziellos bis ans Ende der Welt zu streifen – diese drei passen nicht zum Dharma.Selbst ich ließ sie hinter mir und es wäre gut, auch du würdest ihnen den Rücken kehren.

Diese Sätze müssen natürlich erklärt werden. Die Partner kommen natürlich, wir sehnen uns nach Partnern und wir finden auch Partner. Nicht immer, aber es geschieht doch recht häufig.

45

Page 46: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Nur ist es so, dass damit eine Erwartung einhergeht, bei der wir uns regelmäßig täuschen. Wir haben das Gefühl, dass alles besser, alles gut wird, wenn wir nur den richtigen Partner, die richtige Partnerin finden − dann sind wir glücklich. Wir sehnen uns nach solch einer erfül­lenden Beziehung. Und da verfallen wir dem großen Irrtum, nicht zu bemerken, dass wir trotz Partner weiter mit unserem Karma zu tun haben; dass wir zwar für eine Weile mit einem Part­ner glücklich sein können, aber dass dieses Glück nicht anhalten kann, solange wir nicht unser Karma aufgelöst haben. Wir werden weiter fortfahren, aufgrund dessen, was in uns wach wird, unsere karmische Vision auf den anderen zu projizieren − Übertreibung im Positiven wie im Negativen. Wir werden dazu neigen, die Wahrnehmung mit unserer karmischen Brille zu verzerren und werden das für wirklich halten. Deswegen: selbst wenn wir den besten aller Partner finden würden, wären wir trotzdem nicht die glücklichsten Menschen. Wir bleiben die Menschen, die wir sind im Rahmen unserer inneren Entwicklung und selbst wenn wir einen Buddha an unserer Seite hätten – Mann oder Frau – wir würden die gleichen Projektionen schieben wie sonst auch: Begierde – Anhaftung, Abneigung – Kritik, usw. sich nicht verstanden fühlen... all das würde genauso ablaufen, nur würde natürlich der Buddhapartner nicht noch verstärkend auf unsere Tendenzen wirken, nicht auch noch Öl aufs Feuer tun. Aber ansonsten läuft das innere Spiel genauso weiter ab.

Selbst wenn wir also solch einen erleuchteten Partner oder eine solche Partnerin hätten, würde das Spiel unserer Projektionen weitergehen.

Es gibt ja sogar die Beispiele von Frauen, die mit erleuchteten Meistern zusammen leben oder lebten, eventuell auch umgekehrt. Yeshe Tsogyal hatte z.B. einen Partner, mit dem sie prakti­zierte. Das ist für den Partner nicht einfach. Das ist eine unglaubliche Herausforderung. Wir stellen uns das so als die totale Erfüllung vor, aber im Grunde genommen leben wir in dem Fall mit einem Spiegel zusammen, der so kristallklar ist, dass jede kleinste unserer Anhaf­tungen und Projektionen wieder voll zu uns zurück kommt, weil der andere nicht in das Spiel der Reaktionen einsteigt. Was wir uns normalerweise wünschen, ist, jemanden zu finden, der so auf das Spiel unserer Projektionen einsteigt, dass sie uns nicht auffallen und wir glücklich sind damit. So ein bisschen Stimulation ist ja gut in der Beziehung, aber bitte nicht zu selb­ständig sein. Das sind versteckte Annahmen in unserer Partnersuche, die bewirken, dass wir immer wieder Enttäuschung erleben, weil natürlich jemand anders uns nicht glücklich machen kann. Das Glück lässt sich im Außen nicht finden.

Solange wir in der äußeren Welt, in den Menschen, denen wir begegnen, in den Situationen nach Glück suchen, werden wir es nicht finden. Buddhistische Lehre besagt, nach innen schauen und das Glück im eigenen Geist finden. Dann, wenn wir mit uns selbst ins Reine ge­kommen sind, werden plötzlich auch die Menschen um uns herum als leichter wahrgenom­men. Es wird so viel leichter, mit ihnen auszukommen. Auch Menschen, die vorher Ecken und Kanten zu haben scheinen, sind plötzlich recht gut auszuhalten. Wir sehen viel mehr die Qualitäten in den anderen, freuen uns über die Qualitäten und plötzlich merken wir: „Ach ja, auch das ist offenbar der Spiegel von meiner inneren Entwicklung!“ Das Glück oder die Freu­de, die ich erlebe, kommt tatsächlich aus dem eigenen inneren Sosein.

Fragen und Antworten

Wie soll ich mir das vorstellen, wenn jemand ein totaler Spiegel für mich selbst ist? Hast du da eine konkrete Si­tuation?

Wir hatten diese Situation ständig mit Gendün Rinpotsche. Du kamst nur in seinen Raum und der Spiegel war perfekt, weil Rinpotsche nicht auf unsere Spiele einstieg. Wir kamen rein und wollten den

46

Page 47: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

hingebungsvollen Schüler zeigen, voller Ehrfurcht. Wenn es etwas zu dick und unecht wurde, dann hat er seine Hände zusammengelegt und uns für einen Moment nachgemacht. Oder er hat uns einfach nur mit großen Augen angeschaut. Was auch immer für eine unnatürliche Verhaltensweise in uns war, es wurde alles so offensichtlich, weil er einfach frei von irgendwelcher innerer Verpflichtung war, auf dieses Spiel einzusteigen.

Und wenn jemand nicht auf unser Spiel – auf unsere unbewussten Wünsche – einsteigt, dann merken wir das plötzlich: Hoppla. Ich komme z.B. mit meinem Geist voller Sorgen, mit einem dicken Problem und er sitzt da und schaut mich mit offenen Augen an, mit einem ganz offenen, weiten Geist und sieht gar kein Problem. Dann denkt man: „Wie kann der kein Problem sehen, wo ich da doch so ein großes Problem sehe?“ und da sind wir wieder bei uns und sehen, wie wir funktionieren.

Aber ihr habt doch Unmengen gelernt und ihr schwärmt so davon. Das kannst du mir nicht ausreden!

Ich wünsch dir so eine Situation! Mach Wünsche dafür! Wenn du tagein, tagaus in seinem Zimmer hättest bleiben können, ich sag’s dir, du wärst explodiert. Man spricht davon, dass das wie Feuer ist; das ist eine große Hitze, die vom Lama ausgeht, und du musst selber merken, wie lange du darin bleiben kannst und wann du wieder etwas Pause brauchst. Es ist eine unglaubliche Herausforderung, ständig, unaufhörlich an seinen eigenen Tendenzen zu arbeiten und immer in diesem Spiegel zu sein. Normalerweise bist du froh, wenn du einmal eine halbe Stunde in diesem Feld hast verbringen können und dann auch wieder zurück in dein Zimmer gehen und ein bisschen runterkochen kannst. Lama Tashi könnte uns da einiges darüber erzählen, er hat diese Erfahrungen tagaus, tagein gemacht.

Aber ist das nicht die falsche Frage? Wenn er jetzt ein Buddha wäre, wäre ja gar nichts dagegen einzuwenden. Es ist doch bekannt, dass die Köche auch zur Erleuchtung kommen durch einen Meister. Also dagegen kann

man ja nichts haben. Das Problem ist ja nur, man muss realistisch sein, wo das jetzt für uns als Partner in Er­scheinung tritt, für uns ist das relativ unwahrscheinlich.

Du hast völlig Recht. Wenn unser Wünschen und Streben auf die Erleuchtung ausgerichtet ist und wenn alles, was in der Beziehung passiert − wenn wir das alles als unsere eigene Arbeit annehmen und nicht vom anderen erwarten, dass er uns glücklich macht, dann geht es. Du musst auch wissen, dass nicht alle Köche von erleuchteten Meistern zur Erleuchtung gefunden haben. Einige wenige. Die anderen haben sehr schnell gewechselt. Es ist nicht so, dass viele bleiben und das über lange Zeit ma­chen. Und Koch sein ist nicht verheiratet sein. Da ist auch noch ein großer Unterschied.

Den Partner, die Partnerin als Buddha zu sehen, was würde das ändern in unserer Einstellung?

Was ändert das? Ist es möglich, diese Sichtweise zu leben?

Ich glaube, so eine Ehe würde relativ wenig mit einer normalen Ehe zu tun haben. Dieser Buddha ist ja ständig damit beschäftigt, allen Wesen zu helfen, d.h. er würde einen ziemlich ausgefüllten Tag haben und wird sich

eben nicht nur für eine Person als Ehepartner inkarnieren. Wenn das tatsächlich so wäre, das wäre natürlich ein enormer Ansporn für das Praktizieren.

47

Page 48: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Ich war vielleicht nicht sehr deutlich in dem, was ich gesagt habe. Ich, bzw. Tashi, wollte die Idee in den Raum stellen: Wie wäre es denn, wenn wir unseren jetzigen Partner als Buddha, als Tschenresi betrachten und immer Bezug nehmen zu diesem tiefen, erleuchteten Potential im anderen? Was würde das ändern?

Es kam als erstes die Idee, meiner Partnerin zu dienen, offen für sie zu sein und obwohl sie noch kein Buddha ist – wenn es Schwierigkeiten gibt, immer zu versuchen die eigene Seite, die eigenen Fehler zu sehen. Das allein ist

nicht so leicht.

Das eine ist also eine dienende, helfende, unterstützende Haltung und das andere ist, alle Probleme bei sich zu lassen, also die Arbeit mit sich selbst anzunehmen und im Gegenüber die Qualitäten zu se­hen − sich darauf zu konzentrieren und nicht zu erwarten, dass sich in der Beziehung etwas ändert sondern die Arwirklich bei sich selbst anzusetzen.

Ich glaube, es würde auch notwendigerweise dazu führen, dass man selbst auch akzeptiert, den Buddha in sich zu haben, ansonsten ist das schwer durchzuführen.

Damit bin ich völlig einverstanden.

Kehren wir zum Zitat zurück:

Der nächste Satz ist auch nicht einfach. ‚Sein Herz an Kinder zu hängen, die Feinde werden.‘ Erst einmal ziemlich brutal. Der naive Glaube ist ja, dass mein kleines Schätzchen, das ich da als Säugling im Arm halte, mir für den Rest meines Lebens immer eine Freude sein wird. Das ist leider oft nicht der Fall. Wir brauchen uns nur anzuschauen, was mit unseren eigenen Kindern ist oder wie wir waren, als wir z.B. sechzehn oder zwanzig Jahre alt waren, welche Projektionen wir auf unsere Eltern hatten und was wir mit unseren Kindern schon erlebt haben. Es gibt viele Familien, in denen Eltern und Kinder im Streit auseinander ge­gangen sind und nichts mehr miteinander zu tun haben, wWo die Eltern für die Kinder die schwierigsten Menschen überhaupt sind und die Eltern nicht mehr wissen, wie sie mit ihren Kindern zurecht kommen können, wie da überhaupt noch Kommunikation oder Austausch entstehen kann. Das ist die eine Ebene, die emotionale Ebene, wo – obwohl wir unglaublich viel Zeit und Energie in diese Beziehung hineingegeben haben – sich die Kinder gegen uns wenden als Eltern; oder wir uns mit völliger Ablehnung gegen unsere eigenen Eltern ge­wendet haben.

Es gibt Kinder, wo es keine Freude ist, sich um sie zu kümmern. Es ist es ist eine unglaubli­che Anstrengung und eine Selbstüberwindung. Manchmal hingegen ist es eine Riesenfreude und das sind wirkliche Geschenke. Das ist relativ unabhängig von dem, wie wir sind, denn das Kind kommt mit seinem eigenen Karma auf die Welt. Natürlich verschlimmern oder ver­bessern wir die Situation, aber wir leben oft in einer Überschätzung unserer Möglichkeiten als Eltern. Wir können die Kinder nicht so formen, wie wir es wollen, sie haben ihre eigenen Tendenzen, ihr eigenes Karma zu leben. Wir können da kanalisierend, etwas richtend und ausgleichend wirken. Wenn wir das trotzdem versuchen, die Kinder nach unseren Wünschen

48

Page 49: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

zu formen, dann ist der Konflikt vorprogrammiert. Wenn aber Eltern und Kinder ein sehr verwandtes Karma haben, dann kann das lange Zeit gut gehen. Aber wenn sie karmisch weiter auseinander liegen, dann ist es schwierig, wenn wir nicht akzeptieren, dass Kinder ihre eigene Entwicklung durchmachen, speziell wenn sie dann älter und erwachsen werden. Dann können sie sich auch völlig von uns lösen und sich z.B. wenn wir alt werden nicht um uns kümmern, sie wollen nichts mit uns zu tun haben. Dann müssen wir ins Altersheim, es bleibt uns nichts anderes übrig. Und da ist natürlich große Enttäuschung, Verbitterung: „Die Kinder wollen mich nur noch für mein Geld, sie wollen sich nicht mehr um mich kümmern!“ Das ist, was Gampopa meinte mit Kindern, die zu Feinden werden:. Ww– wenn die Eltern wirklich alt sind und ihre Kinder bräuchten, stehen die Kinder einfach nicht zur Verfügung, tauch emotio­nal nicht.

Gampopa gibt diese Unterweisung, um seinen Schülern die Naivität zu nehmen. Er möchte, dass sie klar darüber sind, was sich da eigentlich abspielt. Ja, Kinder groß ziehen, prima! Ein Geschenk kommt in einer schönen Verpackung in euer Leben, aber ausgepackt wird erst nach der Geburt. Dann entdeckt ihr, was euch da geschenkt wurde, und dann gilt es, damit umzuge­hen. Das ist eine Praxis, eine Herausforderung, die nicht unbedingt einfach ist. Wenn ihr be­reit seid für diese Praxis, o.k., aber seid nicht naiv. Das ist nicht so, wie wenn man diese schö­nen Momente mit seinen Nichten und Neffen erlebt und einmal für zwei Stunden mit einem Kind spielt. Darum geht es nicht bei der Erziehung eines Kindes.

Falls Sangri Räpa also vorgehabt haben sollte, eine Familie zu gründen, dann sei er damit schon einmal etwas gewarnt und ihm seien die Augen geöffnet.

Fragen und Antworten

Du sprichst davon – ich selbst habe keine Kinder – dass Eltern ein Kind geschenkt wird. Es gibt aber auch diese Redeweise, dass das Kind sich die Eltern aussucht. Wie siehst du das Verhältnis von ‚etwas passiert mir, wird

mir geschenkt‘ und diesem aktiven Teil?

Ich glaube, beides ist eine verkehrte Redeweise: so wie ich ausgesprochen habe, aber auch das andere. Beides sind nur symbolische Redeweisen. Das Aussuchen der Eltern ist ein impulsiver Akt im Bardo. Ein Wesen im Bardo klammert sich unter dem Einfluss der sehr aufwühlenden Eindrücke an den ersten Anker, den es finden kann. Da ist keine richtige Auswahl. Es ist einfach der erste Bewusst­seinsanker, der auftaucht, der meinem Karma entspricht. Du nimmst nur den Anker, weil er deinem Karma entspricht. Aber da ist keine echte Auswahl, da ist einfach ein Hingezogensein. So, wie wenn du in einen Raum kommst: Du bist völlig aufgelöst, kommst in den Raum und dein Blick fällt auf je­manden und du denkst: "O.k., da kann ich anfangen, da kann ich etwas sagen!" Du hast nicht alle durchgecheckt und dir angeschaut wie sie sind. Es ist einfach dieser erste Moment, wo man denkt, da könnte man Hilfe finden.

Ich habe es einfach als Geschenk ausgedrückt, weil das eine hilfreiche Art ist, die Dinge zu sehen, aber es gibt niemanden, der uns etwas schenkt.

Aber man hat selbst als Elternteil auch nicht ausgesucht!

49

Page 50: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Nein, man kann sich nichts aussuchen; man hat auch nicht unbedingt darum gebeten, ein Geschenk zu bekommen.

Ziellos bis ans Ende der Welt zu streifen, auch das passt nicht zum Dharma, sagt Gampopa in der dritten Zeile. Mit diesem Herumstreifen ist gemeint, von einer Stadt zur anderen zu ge­hen, sich von einer Gegend in die andere einladen zu lassen, den Eingebungen des Momentes zu folgen. Diese Erfahrung kann für kurze Zeit einmal recht hilfreich sein, weil wir dadurch den Geist geöffnet bekommen und die Vielseitigkeit möglicher Erfahrungen kennen lernen. Aber auf Dauer ist es nicht die ideale Situation für die Praxis.

Was normalerweise passiert ist, dass wir uns – wenn wir irgendwo ankommen – Mühe geben, freundlich zu sein und andere sich auch die Mühe geben, freundlich zu sein, sodass man in der Faszination des ersten Austausches sehr interessante Begegnungen und Gespräche hat und normalerweise zieht man weiter, bevor es zu schwierig wird. Zumindest wenn es dann schwierig wird, hat man den Wunsch, den Ort zu verlasen und woanders hinzugehen. Man läuft eigentlich – ohne es zu merken – immer vor sich selbst davon, der Spiegel kommt nicht richtig zur Wirkung, speziell wenn wir nicht sehr feinfühlig sind, weil wir den langfristigen Auswirkungen unseres Verhaltens, unserer Handlungen nicht standhalten. Wir sind nicht da, um die Reaktionen der anderen abzubekommen. Wenn wir an einem Ort länger bleiben, werden wir es zu tun haben mit Missverständnissen, Eifersucht, Stolz, mit Machtproblemen, mit der Schwierigkeit, unseren Lebensunterhalt zu finden usw. Da kommen dann die richtigen Themen hoch, da müssen wir uns dann in Beziehungen sehr viel tiefer einlassen und zu dem stehen, wie wir uns verhalten und an uns arbeiten. Deswegen wird für tiefgreifendere Dharmapraxis das Bleiben an einem Ort sehr unterstrichen, sehr hervorgehoben. Eben nicht herumzustreifen und zu meinen, man würde so als freier Yogi durch die Welt ziehen können und dadurch seine Praxis vertiefen. Eigentlich zieht man nur von einer Ablenkung zur anderen. Man macht sich etwas vor. Man denkt, man wäre der frei fliegende Yogi, frei von Anhaftungen, aber eigentlich ist man nur auf der Flucht vor den Verbindlichkeiten des Lebens, vor den Beziehungen und dem, was in den Beziehungen entsteht, dem mit sich selbst Auskommen in der jetzigen Situation.

Es ist auch wichtig, dass wir das Wort ziellos nicht vernachlässigen, denn Gampopa sagt nicht, dass das Reisen an sich ein Problem wäre, dass man sich nicht fortbewegen solle, um ir­gendwohin zu kommen. Es geht darum, dass wir – wenn wir irgendwohin fahren – ein Ziel haben, das es wert ist, umgesetzt zu werden, z.B. zu einem Meister zu gehen, um dort zu ler­nen. Es gibt auch Momente im Leben, wo es gut ist, z.B. eine Pilgerfahrt zu machen, inspi­rierende Orte aufzusuchen und dort zu praktizieren. Aber einfach nur so durch die Welt zu streifen ohne Ziel, ist eigentlich Ausdruck davon, dass unser Leben auch kein Ziel hat und dass wir es nicht schaffen, einen Ort zu wählen und uns dort ein Ziel für die Praxis zu geben und auf dieses Ziel hinzuarbeiten.

Für einen Praktizierenden kann das bedeuten, einen Praxis-Ort zu finden, mit einigen anderen Praktizierenden um ihn herum und ein stabiler Praktizierender an dem Ort zu werden, wo man einem geregelten Leben nachgeht mit klaren Verpflichtungen, ohne viel Drumherum . Immer wieder kehrt man auf dasselbe Kissen zurück, am selben Ort und merkt: „Jetzt gerade ist mein Geist anders als er es heute morgen war und als er es gestern war!“, Man hat diese Ver­gleichsmöglichkeit. Immer am selben Ort zu sitzen und nach Möglichkeit auch immer zur

50

Page 51: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

selben Zeit, macht den Spiegel sehr deutlich und man merkt, dass in der äußerlich fast identischen Situation immer wieder andere Geisteszustände erlebt werden. Das ist das Inter­essante an der Meditation. Deswegen wechseln wir nicht den Meditations-Ort, sondern wir bleiben am selben Ort, damit wir den Vergleich haben können. Wenn die Umgebung sich ständig ändert, haben wir den Eindruck: „Klar, mein Geist ist heute anders, weil ich an einem anderen Ort sitze, weil ich gereist bin und die Umgebung anders ist!“ Wir merken nicht, dass unser Geist sich von innen heraus ständig ändert und immer Neues projiziert, neues Material zur Erfahrung bringt. Das wird besonders deutlich, wenn wir immer am selben Ort bleiben. Dann wird deutlich, dass die von innen aufsteigenden karmischen Tendenzen völlig unabhän­gig von unserer Umgebung sind. Im Zen z.B. setzt man sich bei einer Form der Praxis – das machen nicht alle Zen-Schulen so – vor eine weiße Wand. Es gibt nichts Langweiligeres als eine weiße Wand. Da hängt nicht einmal ein Bild. Und indem man immer auf seinem schwarzen Kissen vor der weißen Wand sitzt wird deutlich, dass alles andere, was dann auf­taucht, der eigene Film ist. Keine Sitzung ist wie die andere, jede Meditationssitzung ist anders. Weil da sonst nichts ist, an dem man festhalten könnte, sieht man ganz deutlich den inneren Film, den Zirkus unseres Karmas. Man täuscht sich nicht darüber, dass das vielleicht von außen käme. Dd Die Situation ist so stabil, dass wir merken: dDas ist uner eigener Geist, der das bewirkt.

Wenn wir jetzt unsere tibetische Praxis anschauen: Da haben wir einen Altar vor uns mit einem Thangka (Rollbild), mit Figuren und Opferungen. Es sieht alles sehr bunt und reich aus, aber nach ein paar Tagen schauen wir da auch nicht mehr hin, es ist wie eine weiße Mau­er. Da verändert sich ja auch nichts. Da gibt es nichts, was interessant und faszinierend ist und uns ständig ablenkt, es ist immer derselbe Schrein. Der Unterschied mit der weißen Mauer ist, dass – wenn wir sitzen und es mangelt uns an Inspiration – es dann sein kann, dass unser Blick auf einen Buddha vor uns fällt, auf eine Statue, ein Photo oder auf Opferungen und uns wieder mit dem Sinn der Praxis verbindet. Da ist es dann leichter, wieder in die Praxis zu finden. Das ist der einzige Vorteil. Deswegen haben wir einen Altar, um uns an die Praxis zu erinnern, und auch, um damit heilsame Handlungen auszuführen. Aber ansonsten sitzen wir vor einer weißen Mauer, und da ändert sich gar nichts. Das ist der Vorteil von ‚nicht durch die Welt zu streifen‘ und einen konstanten Praxis-Ort zu haben. Dort wird uns klar, wie die Dinge funktionieren. Wir beginnen allmählich, unsere Tendenzen zu sehen.

Das beendet die Unterweisungen zu dem Vajragesang von Gampopa, der sich am Ende des dreißigsten Kapitels der Biografie von Katschö Wangpo – vermutlich handelt es sich dabei um den zweiten Shamarpa – befindet. Und Katschö Wangpo beschließt dieses Kapitel, indem er uns einen Einblick in die Unterweisungen von Gampopa gibt, mit folgenden Sätzen:

So gab Gampopa viele allgemeine und besondere Unterweisungen in Prosa- und Versform und drehte so das Rad des Dharma auf zahllose Weisen, stets in Übereinstimmung mit den Fähigkeiten und Neigungen der Schüler.

51

Page 52: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Achte Unterweisung, 04.08.2003

Kontemplation über Leitsätze von Gampopa

Heute werden wir die Vorgangsweise etwas ändern und gemeinsam über bestimmte Leitsätze von Gampopa meditieren und kontemplieren. Kontemplieren bedeutet, dass wir den Intellekt, den Verstand benutzen, und zwar auf eine entspannte Art und Weise. Wir lesen z.B. den ersten Satz auf Seite eins – ihr habt den Satz bereits erklärt bekommen – lassen das Ver­ständnis dessen, was da ausgedrückt wird, in uns wach werden und dann schauen wir: „Was bedeutet das jetzt für mich?“ In dem Erkennen der Bedeutung lassen wir den Geist dann in die Meditation hineingleiten, wo wir nicht mehr nachdenken. Zuerst ist dieser kontemplative Pro­zess, und der führt dann zur Meditation.

Wir werden das mit einer Serie von Sätzen machen, ich werde einfach den Satz vorlesen, dann den Gong anschlagen und jeder macht innerlich seine eigene Arbeit: liest, denkt darüber nach – was bedeutet das überhaupt, was hat das mit mir zu tun? – und dann in die Meditation hinein entspannen. Dann kommt der nächste Satz und da machen wir wieder dasselbe. Dann kommen wir im unteren Teil der Seite zu Sätzen, die wir noch nicht kennen und die ich noch nicht erklärt habe. Da schauen wir, wie man damit umgehen kann, wenn man einer Unterwei­sung begegnet, mit der man noch nicht vertraut ist. Wie kann man sich die entschlüsseln?

Durch Meditation des Todes wende den Geist von diesem Leben ab. (Gong)

Durch Meditation der Vergänglichkeit wende den Geist von allen Aspekten Samsaras ab. (Gong)

Durch Meditation der Nachteile Samsaras und karmischer Ursache-Wirkungsbeziehungen wende den Geist von allen Fehlern ab. (Gong)

(Das Wort Fehler hier bedeutet die Ich-bezogenen Tendenzen, die emotionalen Tendenzen.)

Durch Meditation des Erleuchtungsgeistes, Liebe und Mitgefühl, wende den Geist vom Streben nach persönlichem Frieden und Wohlergehen ab. (Gong)

(Persönlicher Frieden und Wohlergehen bedeuten hier auch einseitiges oder persönliches Nir­wana.)

52

Page 53: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Durch Meditation der Leerheit aller Phänomene wende den Geist vom Haften an vermeint­licher Wirklichkeit und Merkmalen ab. (Gong)

(Merkmale sind die oberflächlichen Merkmale der Dinge, an denen wir als vermeintlich wirklich festhalten.)

Das war jetzt eine Zusammenfassung der vier Dharmas von Gampopa, wenn auch mit leicht anderen Worten. Hat euer intellektuelles Verständnis sozusagen dem Test der Kontemplation standgehalten? Habt ihr euch erinnert an das, was in den ersten Tagen erklärt wurde?

Fragen und Antworten

Ich hatte Probleme mit den Worten ‚wende den Geist ab‘. Immer wenn ich da rangegangen bin, konnte ich nichts finden und dann habe ich die Spur irgendwie verloren, und habe diese Instruktion mit ‚wende den Geist

ab‘ ausgeblendet.

Das Tibetische hier besagt folgendes: dog gö, es ist notwendig, lo dog, den Geist abzuwenden, in eine andere Richtung zu wenden. Der Prozess der Kontemplation wäre, sich zu fragen: „Was ist da schwie­rig? Was hat Gampopa da wohl gemeint?“ Und da steckst du fest?

Ja.

Was macht man, wenn man feststeckt in solch einer Kontemplation? Was ist der nächste Schritt, den man macht, um sich das Verständnis zu eröffnen? Sie hat es erst einmal ausgeblendet, dadurch war sie nicht blockiert im Verständnis des restlichen Satzes, das war eine Erleichterung. Wenn du jetzt zu Hause auf deinem Kissen sitzen würdest, dann könntest du auf die Dauer diesen Teil des Satzes nicht ausblenden, weil es genau der Teil ist, der in jedem Satz vorkommt, der Refrain sozusagen. Zunächst einmal geht es, aber nicht auf Dauer. Was kann man machen, um sich das Törchen zu öffnen?

Zum Lama beten, sich entspannen, sich öffnen, loslassen von der Beschäftigung.

Was du sagst, war für mich immer die Rettung, wenn ich solche Sätze zu übersetzen hatte: Sich inner­lich an den Autor der Sätze zu wenden und zu sagen: „Gampopa, was hast du da im Sinn gehabt, warum hast du das so formuliert?“ Dieses kräftige Gebet losschicken und sich dann entspannen, das waren dann die anderen Vorschläge, aber erst das Gebet. Dann loslassen und sich entspannen.

Die Antwort kommt nicht unbedingt sofort, aber aufgrund dessen, dass wir das intensive Gebet aus­gesprochen haben, haben wir unser Band mit der inneren Weisheit und der Übertragungslinie ak­tiviert und dann wird vermutlich eine Antwort kommen. Vielleicht kommen sogar mehrere nachein­ander. Kann sein, dass sie erst morgen früh kommen und nicht unbedingt jetzt schon in der Medita­tionssitzung.

53

Page 54: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Wir werden zusammen über diese Frage kontemplieren: Warum schreibt Gampopa, dass wir den Geist abwenden sollen? (Gong)

Ist dir dazu etwas eingefallen, verstehst du es noch einmal neu oder geht deine Frage noch tiefer? Kannst du es ausdrücken?

Ich habe das Gefühl, dass es eine Sprache des Mitgefühls ist, mit der Gampopa uns berühren möchte.

Ich hatte das Gefühl auch, dass man in das Wort Geist noch ein bisschen hineinschauen muss. Was meint Gampopa hier, wenn er lo sagt? Wir haben es da mit Geist übersetzt. Er meint damit nicht diesen Geist, von dem man gar nicht sagen kann, dass er existiert, sondern unsere Geisteshaltung. Richte deine Geisteshaltung neu aus, so könnte man es vielleicht auch sagen, obwohl das Tibetische sagt: abwenden.

Wenn wir nachdenken und einen Satz in dieser Weise kontemplieren, dann kauen wir ihn durch, bis sich jedes Wort enthüllt, bis sich der Geschmack ganz manifestiert und wir merken, „Oh ja, ich ver­stehe; jetzt erahne ich, was Gampopa damit gemeint hat!“

Wenn wir uns nicht ganz sicher sind, dann können wir das eigene Verständnis mit dem Lama bespre­chen. Aber wir haben zuvor unsere Arbeit getan. Das ist sehr wichtig, weil dadurch der Dharma zu et­was wird, was wir von innen heraus verstehen. Das ist der Prozess des Nachdenkens, des Nach-in­nen-Bringens des Dharma.

Hattet ihr das Gefühl, dass euch das intellektuelle Verständnis, das wir uns in den letzten Tagen er­arbeitet haben, geholfen hat, diese Sätze zu kontemplieren? Oder gab es da Schwierigkeiten?

Für mich war die Zeit viel zu kurz, um da tiefer rein zu gehen, ich bin eher auf der Oberfläche geblieben.

Durch die ständigen Wiederholungen in der Puja, immer und immer wieder, kommt man schneller rein.

Ich möchte euch übrigens ermuntern, euch diese Sätze herauszuschreiben und in den Praxistext hin­einzulegen. So könnt ihr vor Beginn der Gampopa-Praxis mit Gampopas eigenen Worten die vier Dharmas, die grundlegenden Gedanken kontemplieren.

Katschö Wangpo schreibt zu diesen Sätzen, die die vier Dharmas zusammenfassen:

In solchen Unterweisungen fasste er die Schlüsselpunkte der Praxis als die Einheit von Methode und Weisheit für gewöhnliche Praktizierende zusammen.

Methode steht für Mitgefühl: die Methoden, um Wesen zu helfen.

54

Page 55: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Jetzt machen wir denselben Prozess des Nachdenkens, Kontemplierens und Meditierens mit den Sätzen, die hierauf folgen, wobei wir schon wissen dürfen, dass diese Sätze nicht ganz so einfach sind, wie Katschö Wangpo auch schreibt:

In solchen Unterweisungen lehrte Gampopa die Einheit von Methode und Weisheit für außergewöhnliche Praktizierende.

Ich habe Probleme mit dem Wort ‚außergewöhnliche Praktizierende‘.

Wir werden alle sehen, wenn wir uns mit dem Text befassen, dass das tatsächlich Unterweisungen für Praktizierende sind, die bereits die Einsicht in die Natur des Geistes entwickelt haben. Deswegen werden sie hier außergewöhnliche Praktizierende genannt. Es sind Menschen, Wesen, die sich tat­sächlich nicht mehr große Sorgen um ihre eigene Befreiung machen müssen, weil sie die Natur des Geistes erkannt haben und von daher außergewöhnlich sind. Gewöhnliche Praktizierende haben die Natur des Geistes noch nicht erkannt und müssen erst einmal schauen, dass sie selbst frei werden und aus Samsara herausfinden. Normalerweise sind mit ‚gewöhnlich‘ in den Texten jene gemeint, die sich um die persönliche Befreiung kümmern, was auch das geringere Fahrzeug genannt wird. Und ‚außergewöhnlich’ sind die, die aufgrund von Bodhicitta praktizieren; sie praktizieren das große Fahr­zeug, das Mahayana-Fahrzeug. Ein echter Bodhisattva ist einer, der auch das letztendliche Bodhicitta entwickelt hat, also Einsicht in die Natur des Geistes. Eigentlich sind erst dort die beiden Bodhicittas vorhanden und erst ab dem Zeitpunkt kann man wirklich von Bodhisattvas sprechen. Deswegen werden diese Wesen außergewöhnlich genannt, weil sie ihre ganze Energie einsetzen können, um anderen zu helfen.

Wir werden jetzt einfach ins Wasser springen und schauen, was unsere spontane Kontemplation an Verständnis hergibt. Vergesst nicht ein kleines Gebet an Gampopa, dann könnten die Dinge leichter gehen.

Auch wenn du den eigenen Geist als Buddha verwirklichst, gib nie den Lama Vajrameister auf. (Gong)

Ich bin überzeugt, dass – wenn wir unser Verständnis zusammentun – wir hier im Saal ein korrektes Verständnis des Satzes finden können, dass es vorhanden ist. Sagt mir doch einmal, was euch dieser Satz sagt, was ihr davon versteht.

Die Verpflichtung allen Wesen gegenüber setzt sich durch den Vajrameister fort, er ist der Garant für diese Ver­pflichtung.

Ich habe mich an die Belehrung von Milarepa an Gampopa erinnert, als er diesen großen Traum hatte und Mi­larepa ihm immer wieder gesagt hat: „Gib den Lama nicht auf, auch wenn du schon ganz weit bist!“

Warum hat Milarepa so darauf bestanden, dass Gampopa sich das zu Herzen nimmt?

Ich habe es so verstanden, dass immer noch eine Gefahr besteht, wenn man glaubt, soweit verwirklicht zu sein; dass dann Stolz entstehen kann.

55

Page 56: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Um vollkommene Buddhaschaft zu verwirklichen, wenden wir uns an den Vajrameister und der Geist des Va­jrameisters und unser eigener Geist sind ja eigentlich gar nicht getrennt. Den Vajrameister aufzugeben, sich

von ihm abzuwenden, würde die Gefahr mit sich bringen, wieder in eine dualistische Geisteshaltung hineinzu­fallen.

Wenn man die Natur des Geistes gesehen hat, manifestiert sich auch der innere Lama, und in dem Moment, in dem sich der innere Lama manifestiert, hat man durch die Vereinigung mit dem Va­jrameister vielleicht das Gefühl, man wüsste es genauso gut wie er. Dadurch entwickelt sich Stolz und wenn man dann nicht den Meister weiterhin als Meister betrachtet, schafft man sich selbst Wider­stände.

Ich habe ganz klar gespürt, wer mein Vajrameister ist und dass ich zuerst das Band überhaupt stärken muss, um meinen Geist als Buddha zu sehen.

Ich habe dem, was ihr alle gesagt habt, gar nichts beizufügen; da ist nichts zu korrigieren, das stimmt alles so. Wir können jetzt ein zweites Mal diese Kontemplation ausführen mit dem, was bereits gesagt wurde und vielleicht ein neues Verständnis bei uns angestoßen hat. (Gong)

Wir werden uns jetzt dem nächsten Koan zuwenden. Ein Koan im Zen ist der Satz eines er­leuchteten Meisters, den er uns gibt, um zu kontemplieren und zu meditieren, bis Verständnis auftaucht. Intellektuelles Verständnis und Verständnis jenseits von Worten. Und eigentlich ist jeder Satz im Dharma, den wir nicht verstehen, so ein Koan. So werden wir uns jetzt auch dem nächsten Satz zuwenden.

Es geht darum, selber die Fähigkeit zu entwickeln, mit widersprüchlichen oder schwierigen Aussagen in den Unterweisungen umzugehen. Das ist der wichtige Punkt, weil ihr diese Fähigkeit dann mit nach Hause nehmen

könnt. Das andere ist nur Gehörtes, es ist etwas, was ihr annehmt oder nicht annehmt, aber es hat noch nicht den Weg nach innen gefunden.

Auch wenn du Erscheinungen als eigenen Geist verwirklichst, höre nie auf, bedingte Wurzeln des Heilsamen anzusammeln. (Gong)

Was hat dieser Satz zu bedeuten?

Bei mir haben die beiden Bodhicittas angeklungen, das relative und das letztendliche. Der letztendliche Erleuch­tungsgeist bedeutet, in der Weisheit zu meditieren, die letztendliche Weisheit, die Leerheit aller Dinge. Und das könnte bewirken, dass man sich entfernt vom mitfühlenden Dienen an anderen und hier die Aufforderung, die

beiden Ebenen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern miteinander zu verbinden.

Ich habe ständig das Wort ‚bedingte Wurzeln des Heilsamen ansammeln‘ in mir gehabt, da bin ich hängen geblieben. Dann dachte ich mir, da muss noch etwas anderes sein, also eine Entwicklungsstufe, und wenn man das praktiziert, dann eröffnet sich etwas – sagen wir Gren­zenloses. Aber dieses ‚bedingte‘ hat mich sehr beschäftigt.

56

Page 57: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Du hast aber spüren können, dass ‚bedingt‘ etwas mit Grenzen zu tun hat, dass etwas Bedingtes noch etwas Begrenztes ist, dass sich da noch eine grenzenlose Dimension auftun könnte, die eventuell das begrenztere Ansammeln in Frage stellt.

Das bedingte Gute hat mich auch sehr inspiriert. Das ist das, was kommunizierbar ist, was verstehbar, berühr­bar ist. Diese Worte haben sich so aufgetan in eine Erfahrungsmöglichkeit, die in der anderen Ebene nicht so

kommuniziert werden kann. Und ich dachte dann am Schluss kurz, ich hatte noch einmal das Bild von Gendün Rinpotsche, der immer abends die Schälchen ausgeschüttet hat; und wie ich mich immer daran gefreut habe und

wie ich ihn dadurch auch mitkriegen konnte, wie ich eine Erfahrung machen konnte durch diese kleine Geste, denn das andere ist nicht so kommunizierbar.

Ich habe zwei Dinge gesehen: Ich sah die Gefahr, aufgrund des Letztendlichen das Relative aufzugeben und ich sah auch meine eigene Tendenz, das Letztendliche gegenüber dem Relativen zu bevorzugen. Da muss es zu einer

Balance, zu einem Gleichgewicht kommen.

Ich habe in dieser Unterweisung die Aufforderung gesehen, nicht im Nirwana zu bleiben, wenn man Buddha geworden ist, verwirklicht geworden ist, sondern stets weiter für das Wohl der Wesen zu wirken.

Für mich war es auch so, dass sich das – wie der vorangehende Satz – in erster Linie an die außergewöhnlichen Praktizierenden wendet. So wie die Aufforderung war, den eigenen Wurzellama nie aufzugeben, jetzt auch nie

von außergewöhnlichen Opferungen Abstand nehmen. So wie es in den Wunschgebeten auch immer wieder heißt, dass wir gewöhnliche Praktizierende, die wir noch gar nicht zu den wahren Opferungen oder Wunschge­beten fähig sind wie jemand, der Buddhaschaft verwirklicht hat, weiterhin Opferungen ausführen sollen. Das

war für mich so annähernd dieses Wort ‚bedingte Wurzeln des Heilsamen‘.

Ich habe an die Einheit von Methode und Weisheit gedacht und dass wir – während wir die Weisheit schon kennen gelernt haben – mit den relativen Methoden weitermachen. Auch wenn man die Welt als eine eigene

Projektion erkennt, übt man sich trotzdem weiter darin, den anderen zu dienen, um sich zu entwickeln.

Mir ist der Aspekt eingefallen, dass man durch Ansammeln von Wurzeln des Heilsamen mit den Wesen Kon­takt pflegt. Wenn man dann wirklich vollkommene Buddhaschaft verwirklicht hat, wird dann die Buddhaaktivi­tät so wirken, dass man mit diesen Wesen wieder Kontakt aufnehmen kann, sodass sie Mitgefühl und Hingabe

entwickeln können aufgrund der Taten, die man früher getan hat.

Ich bin bereits gestrauchelt, als ich den ersten Teil gesehen habe und bei ‚wenn du die Erscheinungen als den eigenen Geist verwirklicht hast‘ dachte ich, „Ja, habe ich doch gar nicht! Wie soll ich denn das verstehen?“, und dann: Vielleicht kann ich ein bisschen verstehen, es ist ja schon vorgekommen, dass mir meine Projektionen von anderen gespiegelt wurden und ich erkannt habe, dass ich in einer Welt der Projektionen lebe und von da ausge­

hend kann sich vielleicht mein Verständnis entwickeln.

Ihr wundert euch vielleicht, warum diese Unterweisungen jetzt schon besprochen werden, ob­wohl wir ja noch gar nicht verwirklicht sind. Der Grund liegt darin, dass die Tendenzen, die zu Fehlentwicklungen in der Zukunft führen, bereits jetzt vorhanden sind. Wir haben jetzt be­reits eine kleine Schere, die sich öffnet, z.B. dass wir das Letztendliche dem Relativen vorzie­hen, die Stille des Geistes dem bewegten Geist, oder dass wir sagen: „Jetzt muss ich mich noch an den Lama halten, aber wenn ich dann einmal verwirklicht bin, bin ich frei!“ Innerlich sind also bereits Tendenzen am Wirken, die im Moment noch keine gravierenden Folgen haben, aber die zu einer Entwicklung führen, wo eine Spaltung im Geist auftaucht zwischen

57

Page 58: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Mitgefühl und Weisheit, zwischen den verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit. Dass diese Unterweisungen jetzt schon gegeben werden, bewirkt, dass wir jetzt schon diese Haltung, diese kleinen Fehler korrigieren, solange sie noch leicht zu korrigieren sind, und dass wir es dann eigentlich immer nur mit derselben Unterweisung über den Weg zu tun haben. Wir müssen immer wieder die kleinen Abweichungen korrigieren. Wenn Unterweisungen zu spät gegeben werden, dann ist es schon zu größeren Fehlentwicklungen gekommen, die sich verfestigt haben und es ist viel schwieriger, sie zu korrigieren. Deswegen auch jetzt schon Un­terweisungen, die eigentlich – wie Gampopa schreibt – für verwirklichte, außergewöhnliche Praktizierende sind, die aber sehr hilfreich sind, wenn wir sie auch als gewöhnliche Prakti­zierende kennen.

Übrigens sind das nicht Unterweisungen für Buddhas, es sind Unterweisungen für Prakti­zierende, die die Natur des Geistes verwirklicht haben und die selber noch einen langen Weg bis zur Buddhaschaft zu gehen haben. Um Buddhas brauchen wir uns keine Sorgen zu ma­chen, die haben diese Fehler ausgeräumt.

Neunte Unterweisung, 05.08.2003

Unsere Motivation Auffrischen

Heute möchte ich mit einer Phase stiller Meditation und Kontemplation beginnen, wo jeder daran denkt, was ihn heute hierher geführt hat. Mit welcher Motivation sind wir gekommen, warum wollen wir die Unterweisungen hören? Und wenn möglich entwickeln wir zugleich eine Motivation, die in Richtung Bodhicitta geht.

Der Grund, warum ich euch zu dieser aktiveren Arbeit auffordere, ist, dass ich das Gefühl habe, dass sich eine Haltung der Faulheit einschleicht bzw. in vielen Praktizierenden sehr of­fensichtlich ist − aAuch in vielen, die um Dharmazentren herum leben und den Dharma schon seit vielen Jahren kennen. Es ist eine Einstellung, den Dharma zu konsumieren, so wie man auch anderes konsumiert. Man schaltet den Fernseher ein und wenn man keine Lust mehr hat, schaltet man ihn wieder aus. Wenn ich heute keine Lust habe, zu den Unterweisungen zu ge­hen, weil es zu heiß ist oder weil Besuch kommt oder sonst irgendetwas ansteht, dann denke ich, „Ja, ich kann ja auch nächste Woche gehen!“ Nächste Woche hält mich dann wieder et­was anderes davon ab und so vergehen Monate, wo man z.B. nicht bei den Sonntagsunterwei­sungen im Kloster war., Ooder man denkt: “Jetzt ist gerade einmal etwas anderes notwendig, ich kürze den Kurs halt ab und mache noch etwas Ferien!“, usw. Es gibt Gründe, warum der Dharma nicht richtig aufgenommen werden kann, vor allem diese Einstellung, dass man gar nicht merkt, wie wichtig der Dharma ist. Wir haben nicht wirklich Durst nach dem Dharma. Wenn wir wirklichen Durst hätten und es uns klar wäre, dass es darum geht, aus Samsara aus­zusteigen, wenn das wirklich unser Ziel ist, dann sind wir für jede Dharmaunterweisung, für jeden Tropfen Dharma so dankbar, dass wir dieses Bisschen mit großer Wertschätzung auf­nehmen, hier etwas und da etwas, und es kontemplieren und anwenden. Wenn das unsere Haltung ist, dann machen wir auch wirklich Fortschritte. Eine andere Beobachtung: Nach Un­terweisungen sagen wir: „Oh, der Lehrer hat eine wunderbare Unterweisung gegeben!“ Wenn man gefragt wird: „Was hast du davon behalten?“, dann ist man nicht einmal in der Lage,

58

Page 59: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

auch nur einen verständlichen Teil von dem wiederzugeben, was der Lama erzählt hat, weil man nicht wirklich dabei war. Man saß da und war begeistert, hat sich gefreut, wie schön das alles war; dann geht man raus und die Welt geht weiter wie zuvor.

Kontemplation von Kernsätzen

Lasst uns noch einmal den Satz von gestern kontemplieren:

Auch wenn du den eigenen Geist als Buddha verwirklichst, gib nie den Lama Vajrameister auf. (Gong)

Was würde in mir eventuell bewirken können, dass ich den Lama aufgebe – was auch immer Lama bedeutet. Es ist unsere Aufgabe, das herauszufinden. Was gibt es in mir für Tendenzen, dass es notwendig wäre, mir diese Unterweisung zu geben?

Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, über diesen Satz zu sprechen. Für mich bedeutet das, dass die Unterweisungen, die Ratschläge, die Hinweise, die der Lama mir gegeben hat, für mein ganzes Leben ihre Relevanz behalten. Dass – auch wenn der Lama nicht mehr persönlich anwesend ist – seine Ratschläge vor meinen eigenen Ideen und meinem eigenen Gutdünken Vorrang haben. Das gilt für jeden Menschen, nicht nur, wenn man selber Lama ist. Sobald andere Menschen beginnen, uns für toll und für gute Praktizierende zu halten und wir selber beginnen, uns für gute Praktizierende zu halten und wir denken, wir hätten etwas verstanden, dann kommen die Situationen, wo wir dann auch meinen, wir bräuchten gar nicht mehr auf das zu hören, was der Lama uns gesagt hat − weil jetzt ja der eigene Geist unser Lama ist: genau da kann sich Stolz einschleichen. Wenn wir unser ganzes Leben lang im Kontakt bleiben mit den Hinweisen, die uns unser Lama gegeben hat, dann sind wir sicher, auf dem geraden Weg zu bleiben. So funktioniert auch eine Übertragungslinie. Wenn jeder Schüler sich den Lama ins Herz setzt und auch über dessen Tod hinaus den Ratschlägen des Lamas folgt, dann wird solch ein Schüler – wenn er selber dann Lehrer geworden ist – auch seinen Schülern wieder Ratschläge mitgeben, die sie ihr Leben lang befolgen können und die helfen, dass sie auf dem richtigen Weg bleiben. Und so sind dies Ratschläge, die Gampopa seinen Schülern ins Herz schreiben wollte, sodass sie das ja nie vergessen. Diese Unterwei­sungen sind zu Kernunterweisungen der Kagyü-Linie geworden und deswegen nehmen wir sie uns alle so zu Herzen, als ob sie unser eigener, persönlicher Lehrer gesagt hätte.

Es gibt nicht Tausende und Tausende von solchen Unterweisungen, wir haben es hier mit einer Auswahl der allerwichtigsten zu tun. Das sind die zentralen Unterweisungen. Die werden sich auch nicht vervielfachen, weil es immer wieder um dasselbe geht.

Lasst uns auch den nächsten Satz noch einmal meditieren:

Auch wenn du Erscheinungen als eigenen Geist verwirklichst, höre nie auf, bedingte Wurzeln des Heilsamen anzusammeln. (Gong)

59

Page 60: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Was könnte mich veranlassen, mit dem Ausführen heilsamer Handlungen aufzuhören? Warum ist dieser Rat notwendig? Was könnte mich veranlassen, zu einer Geringschätzung von konkretem Handeln zu kommen?

Ich glaube, dass wir bereits da drin sind, dass diese Faulheit im Ausführen heilsamer Hand­lungen bereits besteht und dass wir gar nicht zu warten brauchen, bis sich eine Verwirkli­chung der Natur des Geistes einstellt.

Wenn wir mit uns ehrlich sind, dann sehen wir, dass es viele Momente in einem Tag gibt, wo wir heilsam handeln könnten, wir brauchen z.B. nur den gestrigen Tag anzuschauen. Wie viele Momente gab es gestern, wo ich mein persönliches Wohlergehen wichtiger fand als eine kleine hilfreiche Handlung auszuführen? Es gab auch andere Momente, es gab auch Momente, wo wir solche Handlungen ausgeführt haben, aber wenn wir genau hinschauen, dann sind wir ganz schön bequem. Diese Bequemlichkeit führt nicht zur Erleuchtung.

Dieser Rat, den Gampopa da gibt, wird an Praktizierende gegeben, die schon unglaublich weit sind im Ansammeln, im Ausführen von heilsamen Handlungen − sSo weit, dass die Ich-Bezo­genheit so weit reduziert war, dass sie die Natur des Geistes erkannt haben. DUann – weil sie das Letztendliche kontaktiert haben – meinen sie vielleicht, dass sie jetzt vorwiegend im Letztendlichen verweilen sollten – falls das überhaupt möglich ist – dass es jetzt genug ist mit den Anstrengungen im Relativen. Aber das könnte zu einem Irrweg werden. Und darauf weist Gampopa hin. Aber wenn schon fortgeschrittene Praktizierende diesen Rat erhalten, wie viel wichtiger ist dieser Rat erst für uns, die wir da noch gar nicht angekommen ist.

Selbst wenn ich versuche, aufmerksam zu sein und mir begegnen Situationen, wo ich erkennbar etwas Heilsa­mes tue: Ich habe es so verstanden, dass das nicht genügt, ich müsste quasi noch aktiv danach suchen. Wo ist die Grenze, mir vorzunehmen, meine Zeit mehr dem zu widmen, aber dabei nicht aus einer Motivation, aktiv dafür

etwas zu tun, für meinen Weg etwas zu tun. Diese Mischung zwischen dem, was mit begegnet und dem, da nicht zu viel hinein zu investieren ....

Die Antwort ist recht einfach: Du gehst durch den Tag und in den Situationen, die dir auffallen, wo du nützlich sein kannst, tust du es. In den anderen Situationen nimmst du deine Mala und rezitierst OM MANI PEME HUNG, den ganzen Tag, oder eine andere Form der Praxis. Du machst einfach weiter. Es ist keine äußere Situation da, die deine Aufmerksamkeit braucht, also machst du weiter mit der in­neren Praxis oder du kümmerst dich darum, die Opferungen auf deinem Altar zu machen; oder du setzt dich hin und liest ein bisschen Dharma, du hältst deinen Geist im Heilsamen, ohne Unterbre­chung, den ganzen Tag.

Wenn es aber so sein sollte, dass wenige Situationen zu uns finden sollten, wo wir hilfreich sein können und wir merken, dass es uns gut tun würde, ein bisschen aktiver zu sein, dann begeben wir uns in die Mitte von Situationen und dann wird sich schon etwas zeigen, bei dem wir hilfreich sein können. Wir brauchen es aber normalerweise nicht bewusst zu suchen. Es reicht, mit dem zu arbeiten, was kommt.

60

Page 61: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Auch wenn du keine Angst mehr hast, in die Höllen zu gehen, enthalte dich schädlicher Handlungen.

Wir kontemplieren diesen Satz. Fragen wir uns diese verschiedenen Fragen: Habe ich Angst vor den Höllen? Warum sollte ich Angst haben? Warum würde ich eventuell keine Angst mehr haben? Was könnte mich veranlassen, plötzlich wieder schädliche Handlungen auszuführen? (Gong)

Nun, was meint ihr?

Das bezieht sich vermutlich auf Praktizierende, die dank ihrer Praxis erkannt haben, dass die Höllenbereiche wie auch andere Bereiche illusorisch sind und dass sie in dem Zustand der Einsicht in die Natur des Geistes verwei­

len können und dann meinen, schädliche Handlungen seien für sie ohne Relevanz. Aber sie vergessen dabei, dass diese Handlungen dennoch Leid erzeugen und trotzdem karmische Auswirkungen haben, obwohl sie bereits

diese Verwirklichung erreicht haben.

Wenn ich keine Achtsamkeit mehr entwickle und sei es bei ganz kleinen schädlichen Handlungen, dann kann es ohne weiteres geschehen, dass auch größere schädliche Handlungen stattfinden und dann eben karmisch die ent­

sprechenden Konsequenzen eintreten, auch wenn ich schon Einsichten wie eben geschildert gehabt habe.

Jede schädliche Handlung ist im Widerspruch zur erleuchteten Geisteshaltung und ist deswegen ein Irrtum.

Es gibt ja nicht nur die Angst, in die Hölle zu gehen. Die Angst ist ja nicht nur so ein ganz kleiner Teil und völ­lig ohne Angst zu sein, das hieße ja auch völlig ohne Hoffnung zu sein, irgendetwas für sich zu erreichen. Und

insofern, wenn man die kleine Angst, in die Hölle zu gehen überwunden hat, dann hat man noch lange nicht die ganze Angst um sich überwunden.

Keine Angst vor den Höllen zu haben ist Ausdruck davon, keine Angst mehr davor zu haben, Leid zu erfahren. Wenn das der Fall sein sollte, falls man so weit kommt, keine Angst mehr davor zu haben, selber zu leiden, dann sollte man sich doch daran erinnern, dass man nicht nur deshalb praktiziert, sondern dass man eben auch für die

anderen praktiziert.

Ich habe das Gefühl, dass da schon einige den richtigen Punkt angesprochen haben: Selbst wenn ich selber keine Angst mehr vor Leid habe, vor meinem persönlichen Leid, so ist es doch aus Mitgefühl und Weisheit immer notwendig, weiterhin die heilsamen Handlungen aus­zuführen und keine schädlichen Handlungen, die sowohl für andere als auch für mich schädli­che Konsequenzen haben, also Leid hervorbringen. Auch wenn ich selber mich frei davon fühle, so ist es doch für andere einfach ein sehr schlechtes Beispiel und führt dazu, dass ande­re auch weiter Leiderzeugende Handlungen ausführen.

61

Page 62: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Und jetzt der Satz, der die Dinge aus dem umgekehrten Blickwinkel nimmt:

Auch wenn Buddhaschaft für dich keine Hoffnung mehr ist, rede nie abwertend über ir­gendein Dharma.

Was soll denn das wieder bedeuten? Fragt euch also, wann Buddhaschaft vielleicht keine Hoffnung mehr ist und was bewirken könnte, dass wir abwertend über ein Dharma sprechen. (Gong)

Nun?

Wenn jemand selbst keine Hoffnung mehr hat, Buddhaschaft zu erlangen und dann schlecht über den Dharma spricht, das könnte anderen die Hoffnung nehmen, die noch Hoffnung haben. Das wäre von daher schädlich.

Zuerst einmal stellt sich die Frage, welcher Dharma gemeint ist und da gehe ich davon aus, dass es der Buddha-Dharma ist. Aber dann überlege ich, wie kommt es dazu, dass – wenn ich erleuchtet sein sollte – dass ich dar­

über schlecht rede? Dann ging mir auf, dass es da verschiedene Niveaus von Dharma gibt – wie es immer heißt – gemäß den Fähigkeiten der Schüler. Dann kam mir irgendwie: wenn man wirklich alles verstanden hat, könn­

ten gewisse buddhistische Erklärungen einem ein bisschen limitiert vorkommen, weil sie eben genau für die Schüler gemacht sind, die nur das verstehen. Oder wie es manchmal vorkommt, dass man überheblich wird dem

Christentum gegenüber, weil das Christentum angeblich noch in der Dualität ist, usw. Es kommt schon auf meinem Niveau vor, dass ich so denke.

Keine Angst mehr zu haben vor den Höllen und keine Hoffnung auf Buddhaschaft zu haben, das ist, wenn wir die illusorische Natur sowohl der Höllen wie auch der Erleuchtung er­kennen. Aber obwohl wir da von Erkenntnis sprechen, sind doch noch Schleier da, es hat sich nicht wirklich ein panoramisches Gewahrsein eingestellt im Zusammenspiel von letztendli­cher und relativer Wirklichkeit. In dem Praktizierenden entsteht eine Tendenz, einen Aspekt vor dem anderen zu bevorzugen und er fällt in eine extreme Haltung. Diese Unterweisung wird gegeben, um extreme Haltungen zu vermeiden: ssei es, wieder schädliche Handlungen auszuführen, Ursache und Wirkung zu verneinen oder zu meinen, man hätte den letztendli­chen Dharma, die letztendliche große Mahamudra-Sicht gefunden und dann den relativen Dharma der kleinen Schritte nicht mehr für sinnvoll zu halten. DUas ist immer wieder vorge­kommen, es hat immer wieder auch Lehrer gegeben, die in Extreme gefallen sind, die be­stimmte Bereiche der Unterweisungen ausgeklammert haben, und plötzlich wurde ihre Lehre einseitig. Und im Bemühen um eine komplette Vorgehensweise, die alles berücksichtigt und alle Ebenen berücksichtigt − aus diesem Wunsch heraus − hat Gampopa diese Unterwei­sungen gegeben, sodass auch die Schleier des Bevorzugens des Letztendlichen vor dem Re­lativen noch aufgelöst werden.

62

Page 63: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Es gibt zum Beispiel Lehrer in der Zen-Tradition oder in der Dzogchen-Tradition, die eine starke Vorliebe für die letztendlichen Unterweisungen haben, für die höchste Ebene der Un­terweisungen und die sehr wenig z.B. über Karma sprechen − über das Unterlassen schädli­cher Handlungen. Das kann dazu führen, dass die Schüler trinken, rauchen, jede Menge sexu­eller Beziehungen haben; sehr viel Leid erzeugen und nicht mehr darauf achten, wirklich auch im Detail das Leben anderer, z.B. von Insekten, zu schützen. Sie sammeln eine Menge Kar­ma, während sie zugleich Unterweisungen zur höchsten Weisheit bekommen, wo es tat­sächlich keinen Unterschied gibt zwischen schädlichen und heilsamen Handlungen, weil sie alle dieselbe Natur der Leerheit haben. Das stimmt für den Lehrer, und solange er in dieser Verwirklichung verweilt, sammelt er vielleicht auch kein Karma an. Aber die Schüler sind nicht auf dieser Erfahrungsebene und deswegen ist für sie eine letztendliche Unterweisung u. U. schädlich. Sie hilft ihnen nicht, sich aus der Ich-Bezogenheit zu befreien. Sie lässt ein in­tellektuelles Verständnis des Letztendlichen entstehen, was aber nicht bewirkt, dass man aus dem Haften an einem Ich ausgestiegen ist. Das muss immer wieder korrigiert und es gab Zen-Lehrer und Dzogchen-Lehrer, die diese Haltung intensiv korrigiert haben. szogchen it eine Praxis, wo man vorbereitende Übungen ausführt und das Gesetz von Ursache und Wirkung respektiert. Ihr braucht nur Patrul Rinpotsche zu lesen. IssEr hat das Dzogchen in den notwen­digen Kontext der relativen Unterweisungen integriert.

Auch wenn sich so manche Zeichen tiefer Meditation zeigen, werde nicht stolz. (Gong)

Auch wenn du Samsara und Nirwana als nicht-zwei verwirklichst, praktiziere weiter in Abgeschiedenheit. (Gong)

Wer erkannt hat, dass Samsara und Nirwana derselbe Geist sind und dieselbe nonduale Natur haben, ist in Gefahr, sich wieder in Samsara zu verlaufen. Er hat einmal, zehnmal, hundertmal erkannt, dass die Dualität eigentlich kein Problem ist, wenn man ihre nonduale Natur sieht. Und dann stellt sich der Irrtum ein, zu glauben, weil man es schon häufiger gesehen hat, dass Dualität überhaupt kein Problem mehr ist: Man verfängt sich in dieser Sichtweise, ohne aber zugleich im Gewahrsein der wahren Natur z.B. der Emotionen zu sein, und dann ist man wieder in Samsara gelandet − auf subtile Art zunächst; aber das Verfangensein in Samsara kann dann durchaus auch wieder gröber werden, weil man seine Verwirklichung nicht anwendet, wenn man eine Vorliebe dafür hat, sich in Stolz zu verwickeln und in alle anderen verlockenden Situationen in Samsara.

2.

Ich habe eine Frage, die ich vielleicht nicht so präzise ausdrücken kann, wie ich es gerne würde. Auf der einen Seite gibt das Problem, dass ich intellektuell über etwas nachdenken kann und es eigentlich nicht begriffen habe

und deshalb falsch handle. Auf der anderen Seite gibt es das Problem, dass ich etwas tatsächlich erfahren habe, es dann begriffen habe und wieder falsch handle.

Die Situation ist folgende: Solange der Praktizierende in der tatsächlichen Erkenntnis verweilt, wird er keine Fehler machen. Aber danach, in den Momenten nach der Verwirklichung, den Tagen, Wochen, Monaten, da setzt der intellektuelle Prozess wieder ein und der ist immer wieder Fehlern ausgesetzt. Da schleichen sich die Fixierungen wieder ein, weil die Stabilität in der Verwirklichung fehlt. Und da­durch kommt es wieder zu Fehlern. Beim Buddha ist das nicht mehr der Fall, da ist völlige Stabilität.

63

Page 64: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Auch wenn du die Nichtverschiedenheit von dir und anderen verwirklichst, lasse das große Mitgefühl für die Wesen nie abreißen.

Das ist auch wieder ein guter Koan für uns, selbst wenn wir jetzt das Gefühl haben: „Warum denn schon wieder über so einen Satz nachdenken? Das hat doch mit meiner Praxis gar nichts zu tun!“ Den erwähnten Fehler machen wir ohnehin schon, der wartet nicht bis später. Und wenn man jetzt ein Verständnis darüber entwickelt, worum es eigentlich geht, erspart uns das viele, viele Fehler auf dem Weg.

In den Lodjong-Unterweisungen, dem Geistestraining, heißt es immer: „Gib den Sieg den anderen. Gib den anderen das Glück, deine Freude, gib alles, was du geben kannst, den anderen! Die anderen sind wichtiger als du selbst.“ Aber natürlich sind die anderen nicht wichtiger als wir selbst. Es ist keiner wichtig, weder die anderen noch ich selbst, weil es we­der die anderen noch mich selbst wirklich gibt. Wenn ich erkannt habe, dass es in der Natur des Geistes weder selbst noch andere gibt, erkenne ich die Nichtverschiedenheit von selbst und anderen, und dass es künstlich ist, einen Unterschied zwischen selbst und anderen zu ma­chen. Das bedeutet aber nicht, dass die anderen das auch verwirklicht hätten. Sie sind immer noch in Unwissenheit und Leid und auch ist es vielleicht bei mir ja nur eine intellektuelle Er­kenntnis. Deswegen ist es gut, weiterzumachen mit grenzenlosem, großem Mitgefühl für alle Wesen, man selbst mit inbegriffen. Aber wir selbst nicht an erster Stelle sondern nur einer von Billionen, Billionen von Wesen, einfach nur unsere kleine, bescheidene Stelle. Wir machen weiter mit dem Entwickeln von Mitgefühl, weil sich dadurch die Verwirklichung vertiefen wird. Zum Schluss heißt es:

In solchen Unterweisungen lehrte Gampopa die Einheit von Methode und Weisheit für außergewöhnliche Praktizierende.

Die Einheit von Mitgefühl und Weisheit ist die Einheit von relativer und letztendlicher Wirklichkeit.

Bei all diesen Lehren machte Gampopa keinen Unterschied zwischen Mönch und Laien, Männern und Frauen, Alten und Jungen, Gelehrten und Ungebildeten. Da er in völliger Klarheit das Wesen von jeder einzelnen Person kannte, ihre spezifische innere Ausrich­tung, ihr Karma, ihre Eignung, gab er einem jeden seiner Schüler die genau passenden Unterweisungen.

Dieser Abschnitt ist die genaue Beschreibung davon, wie auch Gendün Rinpotsche gelehrt hat und wie auch Shamar Rinpotsche, Karmapa und andere große Meister lehren.

64

Page 65: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Zehnte Unterweisung, 06.08.2003

Meditation

Heute vollziehen wir den Übergang zwischen Kontemplation und Meditation. Wir wollen als erstes das Zitat kontemplieren, wo Phamo Drupa den Meister Gampopa fragt:

„Wann ist es Zeit, für das Wohl anderer zu wirken?“

Wir werden uns diese Frage von Phamo Drupa anschauen, der ja einer der ganz großen Schü­ler von Gampopa ist – von ihm sind dann später durch seine großen Schüler die acht kleineren Kagyü-Linien ausgegangen – und die Antwort von Gampopa schauen wir uns ebenfalls an. Es ist übrigens fast dieselbe Antwort, die Gampopa selber erhalten hat, als er mit Milarepa über dieses Thema sprach. Und heute werde ich den Text nicht einmal mehr selber vorlesen, wir nehmen uns einfach die Zeit, ihn ruhig durchzulesen und dann schauen wir einmal, wie es weitergeht. Schaut einmal, ob ihr diesen Text so einigermaßen versteht. (Gong)

„Wer den großen Einen Geschmack im Geistesstrom hervorgebracht hat, kann Schüler mit Unterweisungen führen. Wurde dieser noch nicht verwirklicht, hat man noch kein klares (hellsichtiges) Wissen. Und ohne klares Wissen kennt man den Entwicklungsstand anderer nicht und weiß nicht, was gerade angemessen ist oder nicht. Wenn die Verwirkli­chung der Nichtmeditation erscheint, richtet sich durch das große Mitgefühl der Geist auf das Wohl anderer aus. Er wendet sich völlig von diesem Leben ab und die Fesseln, die einen an dieses Leben ketten, sind durchtrennt. Dadurch zeigt sich ununterbrochen das große Mitgefühl und genau dann wird vortrefflicher Nutzen für andere entstehen.“

Wenn wir ihn einmal durchgelesen haben, dann lassen wir den Text vor uns liegen, lösen den Blick und bleiben einfach natürlich sitzen in dem ersten Verständnis, das auftaucht, auch mit den ungelösten Fragen, die für den Moment jetzt gar nicht wichtig sind. Wir verweilen so und dann, nach einer Weile, richten wir den Blick wieder auf den Text und gehen ihn noch einmal langsam durch und schauen, wo denn so die Punkte sind, bei denen wir hängen bleiben, weil wir sie nicht ganz verstehen. Wir sehen uns das Wort oder den Satz an, schauen, wo vielleicht mangelndes Verständnis ist und heben dann den Blick wieder und lassen die Frage in unseren Geist einsinken und schauen, ob ein Verständnis entsteht. (Gong)

Auch wenn wir vielleicht keine Antwort auf die Fragen erhalten haben, die wir uns gerade mit dem letzten Satz gestellt haben, können wir doch fortfahren. Wir lesen ein zweites, drittes Mal und wir können, um tieferen Zugang zu der Weisheitsdimension zu finden, innerlich Zuflucht nehmen und darum bitten, dass uns die Zuflucht, dass uns Gampopa Zugang zu einem spon­

65

Page 66: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

tanen Verständnis gibt. Nach diesem Gebet schauen wir noch einmal auf den Satz, der uns jetzt gerade beschäftigt und lassen den Geist sich wieder setzen. (Gong)

Das Schwierige beim Kontemplieren ist das Wollen: WDissen wollen, verstehen wollen. Das ist genau das, was es sehr schwer macht, dass sich ein echtes Verständnis einstellt. Kontem­plation geschieht in der Geduld, mit ganz viel Geduld und in dem Akzeptieren unseres Nicht­wissens, volles Akzeptieren, ohne Ungeduld. Wir schauen hin und merken, „Verflixt, da gibt es Worte, bei denen ich mir gar nicht sicher bin, was die bedeuten!“ Gut, die kann ich nach­schauen, später dann, muss nicht jetzt sein. Ich entspanne mich damit, öffne mich dem, was ich verstehe und was an Verständnis auftaucht. Und in dem Verständnis, welches jetzt gerade da ist, ist ein Segen, ist etwas was unseren Geist öffnet − das nennen wir Segen. IUch öffne mich dieser Öffnung weiter, lasse mich da hineingleiten und ruhe, meditierend in dieser Öff­nung. Und in dieser Öffnung kann sich ein weiteres Verständnis einstellen, immer ein kleines Schrittchen mehr, und dieses Verständnis kann auch noch morgen früh kommen und später. Die Fragen, die wir einmal gestellt haben, werden in uns weiter arbeiten und Antworten werden sich einstellen, Ahnungen. In diese Ahnungen entspannen wir uns hinein und öffnen uns darin. WUahres Verständnis hat immer die Qualität, den Geist zu öffnen; das ist wahres Verständnis. Wenn wir merken, dass unsere Kontemplation an einen Punkt kommt, wo der Geist „pfffffffffff“ macht, sich öffnet und in seine Ruhe hineinfindet, dann sind wir normaler­weise beim authentischen Verständnis angelangt. Es muss nicht das tiefste Verständnis sein, aber ein Verständnis, das uns jetzt gerade entspannt.

Es kann auch das Verständnis sein, dass ich in dem Moment verstehe: „Es bringt gar nichts, darüber nachzudenken!“ In diesem Erkennen, dass es nichts bringt, darüber nachzudenken, lasse ich dann los., Ddann habe ich den Dharma berührt. Das ist Dharma, da ist befreiende Er­kenntnis, die im Geist aufgetaucht ist. Es braucht nicht die letztendliche Erkenntnis zu sein.

Wir haben mit dem Lesen angefangen, dem Nachdenken und Kontemplieren und haben uns dann in die Meditation hinein begeben, uns tragen lassen von dem Verständnis, welches sich bereits eingestellt hat jenseits von Worten. Und jetzt gehen wir noch einmal durch den Text durch, kommen zurück zur Lektüre, aber mit einem Bleistift in der Hand und unterstreichen die Worte, über die wir gerne noch mehr wissen würden oder gerne einen Austausch mit einem Lama hätten. Wir unterstreichen das, was wir noch nicht verstehen.

Wenn ein Lama unterrichtet, dann kennt er genau diesen Prozess, den ich euch jetzt erklärt habe und es fällt ihm nicht schwer zu erraten, welche Wörter ihr jetzt unterstrichen habt und welche Zusammenhänge schwierig zu verstehen sind. Während ein Lama unterrichtet, reflektiert, kontempliert und meditiert er gleichzeitig den Sinn dessen, was er unterrichtet, den Sinn des Zitates. Er ist verbunden mit dem Segen, der mit dem Verständnis des Textes einhergeht und hat Zugang zu dem spontanen Verständnis, das sich einstellt, wenn man in Verbindung mit dem Segen ist. Deswegen gibt es viele Lehrer, die einfach aus Texten unter­richten, und da ist dann alles drin. Man ist völlig gesättigt, alle Fragen sind beantwortet. Aber dann gehen wir aus der Unterweisung raus, vergessen 95% und haben nicht gelernt, es selbst zu tun. Und deswegen werde ich euch heute auch keine Antworten geben.

66

Page 67: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Gendün Rinpotsche sagte immer: „Ich habe nicht viel gelesen, ich bin kein Gelehrter. Ich habe einige wenige Texte studiert.“ Aber diese Texte, die er studiert hat, die hat er genau auf diese Art und Weise studiert, kontempliert und meditiert – nur vermutlich ohne Bleistift in der Hand. Er hat sie sich zutiefst zu Gemüte geführt, in den Geist hinein geholt. Er hat uns oft ge­zeigt, wie er das gemacht hat: Er hat den Text vor sich hingelegt, hat nur einen Abschnitt ge­lesen – meditiert – wieder denselben Abschnitt gelesen – meditiert – wieder den selben Ab­schnitt – sich wieder mit dem Weisheitsaspekt verbunden und auch ein Augenmerk dafür ge­habt, wie die Worte erklärt werden, was ihre Definitionen sind.

Als er dann unterrichtete, war jedes Wort an seinem Platz. Seine Rede war völlig frei von Schleiern, von Fehlern, auch was den intellektuellen Ausdruck des Dharmas angeht. Die Wer­ke, die er studiert hat, hatte er tief mit seinem Verständnis durchdrungen und das reicht dann. Er war kein Gelehrter, der alle Werke, alle Kommentare gelesen hat. Manchmal sagte er auch: „Das weiß ich jetzt nicht, bei kleinen, sehr spezifischen Fragen kann ich jetzt keine Antwort geben, da fragt ihr einmal jemanden anderen!“ Aber die wesentlichen Dinge, das was die Pra­xis angeht, hat er so durchkontempliert und durchmeditiert, und zwar mit genau denselben Werken, mit denen wir auch arbeiten.

Ihr habt heute vermutlich für einige Momente einen Geschmack davon bekommen, was intel­ligente Meditation ist. Der Geist war wach und es gab Momente, wo wir die Fragen weit hin­ter uns gelassen haben, wo wir gar nicht mehr damit beschäftigt waren, an den Text hier zu denken. Aber in dieser Offenheit war eine Frische, eine Frische des Verstehen Könnens, eine Möglichkeit zu verstehen, weil der Geist ganz wach war. Wir waren nicht schläfrig. In diesem wachen, offenen Geisteszustand, erhebt sich allmählich ein Verständnis davon wie die Dinge sind. Das ist typisch buddhistische Meditation, intelligente Meditation: den Intellekt mit auf den Weg bringen, entspannen und sich zu öffnen in der dem Geist zugrunde liegenden Fähig­keit, zu verstehen. Das ist Meditation, das nennt man dann Einsichts-Meditation.

In dieser Frische des Geistes zu meditieren, das geht für eine Weile, wir können das aber nicht unbegrenzt ausdehnen. Das geht für diese dreiviertel Stunde mit Anleitung wenn einmal ein Lama da ist, auch einmal für einige Stündchen, aber dann ist es auch gut. Dann müssen wir wissen: Jetzt nicht versuchen, das noch weiter auszudehnen! Jetzt nicht weiter versuchen zu meditieren. Also entspannt euch, lasst locker! Lasst alles locker und versucht ja nicht zu me­ditieren. Nicht meditieren! Lasst es sein! Lasst den Geist natürlich! Ihr seid nicht hier, um zu meditieren.

Jetzt schaut einmal, ob ihr trotz Gong nicht meditieren könnt. (Gong)

Habt ihr es gemerkt? Da kam die Frische zurück in dem Moment, wo ihr euch Erlaubnis gege­ben habt, nicht zu meditieren. Dann aber habt ihr doch wieder angefangen zu meditieren und es hat sich wieder so eine Kappe übergestülpt; leichter als vorhin, aber doch.

Lama Tashi: Wie so eine Käseglocke.

Habt ihr das gemerkt? Ein Moment des Loslassens und schon kommt die Frische zurück und die Hitze ist vergessen!

67

Page 68: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Bewegt euren Kopf ein wenig, einige sind verspannt im Nacken. Wenn ihr meditiert, macht es krk...

Der Text geht weiter mit:

Als Gampopa sich dann in Byakog aufhielt, sagte er: „Ich werde wohl nicht mehr lange in dieser Welt bleiben. Alle, die noch um weiteren Dharma bitten oder Fragen klären wollen, sollten bald kommen und fragen. Doch brauchen jene, die an Praxis interessiert sind, nicht viele Worte. Bewahrt einfach folgende Schlüsselunterweisungen im Geist:

„Verkörperungen aller Buddhas der drei Zeiten – speziell sein Wurzellama – mit den Lichtstrahlen des Mitgefühls durchdringt Ihr die zehn Richtungen – das gesamte Universum –und vertreibt die Dunkelheit in meinem Herzen – in meinem Geist – vor den Lamas der drei Zeiten – vor der gesamten Zuflucht – verbeuge ich mich.

Wunderbar! Möchtest du das selbstgewahre, ursprüngliche Gewahrsein wahren,lasse dein Bewusstsein gelöst wie Baumwolle.

Baumwolle ist – wenn sie nicht behandelt ist – so ein kleines, flauschiges Etwas, völlig fle­xibel, passt sich allem an und ist ein Beispiel dafür, wie wir den Geist lassen sollen. Ein Bei­spiel für die Flexibilität unseres Geistes, frei von allem Starrsinn, von aller Starrheit, aller Ri­gidität.

Gib das Machen auf, lege deinen Geist nicht fest. (Gong)

Wann ist ein Karma völlig gereinigt?

Bei dieser Frage geht es natürlich um den ganzen Prozess, wie sich Karma reinigt. Da ist wichtig zu wissen, dass es das einzelne Karma gibt, das ist z.B. die jetzt auftauchende Emotion: Ärger. Und dann gibt es die karmische Tendenz, auf solch einen Stimulus mit Ärger zu reagieren. Und diese karmische Tendenz ist das zugrunde liegende, was das Aufschießen des einzelnen Karmas ermöglicht.

68

Page 69: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Ein einzelnes Karma ist gereinigt in dem Moment, wo wir es losgelassen haben, ohne darauf einzu­steigen, ohne daraus einen Zirkus zu machen. Ärger steigt auf und wir merken: „Ärger, Anspannung! Entspann dich! Lass los!“ .... Okay, es ist vorbei.

Ärger kann auch aufsteigen, und „Ah ja, der hat das gemacht und ich habe doch recht!“ usw. und dann machen wir mehr daraus und statt dass das Karma sich reinigt – das bedeutet auflöst – haben wir mehr von dieser Sorte Karma erzeugt. Wenn wir dann aber noch loslassen – wenn wir es schaffen, loszulassen, bevor es zu Handlungen von Körper und Rede kommt – in dem Moment findet dann auch eine Reinigung statt von dem, was wir gerade erzeugt haben. Jeder Moment des Loslassens be­wirkt Reinigung.

Es gibt in solch einer Situation zwei Möglichkeiten: entweder wir verstärken die karmische Tendenz oder wir schwächen sie. In dem Moment, wo wir den Zirkus des Ärgers und der Wut im Geist auf­bauen, verstärken wir die karmische Tendenz. Wenn aber das einzelne Karma erkannt wurde, aufge­löst wurde, losgelassen wurde, schwächen wir die Tendenz, immer wieder so zu reagieren. So z.B. die Tendenz, auf eine Kritik mit Ablehnung, Verteidigung usw. zu reagieren. Die Tendenz so zu rea­gieren, kann nicht durch ein einmaliges Auflösen von einem geistigen Eindruck aufgelöst werden, das braucht Tausende von Eindrücken, die aufsteigen; immer wieder ähnliche Situationen. Und je tiefer wir loslassen, desto mehr wird auch die karmische Tendenz geschwächt, so zu reagieren. Aber um die karmische Neigung, so zu reagieren, völlig aufzulösen, müssen wir den damit verbundenen Stolz auf­lösen: Unsere Abneigung, die eigenen Fehler zu sehen; das Missverständnis, Kritik anderer immer als einen Angriff zu verstehen und nicht das Bemühen dahinter zu erkennen, dass der andere wohl­wollend ist, usw. Da muss eine ganze Menge bearbeitet und aufgelöst werden, damit sich so eine fundamentale Tendenz auflösen kann, und dafür sind viele Situationen nötig.

Ein Karma ist gereinigt, wenn der aufsteigende Geistesimpuls losgelassen wird und keine Spur mehr da ist, die Wellen sind ausgelaufen, es ist nichts mehr da. Aber die karmische Tendenz ist erst ge­reinigt, wenn auch bei starken Stimuli, die auf uns einwirken, und normalerweise eine Reaktion pro­vozieren würden, keine Reaktion im Geist entsteht, sondern auch da Offenheit bleibt. Dann ist die kar­mische Tendenz so zu reagieren gereinigt.

Ein Buddha ist jemand, der alle diese karmischen Tendenzen, Gewohnheitsneigungen aufgelöst und gereinigt hat.

Ist das der gleiche Prozess, wenn wir z.B. in der Meditation sitzen und Schmerzen in den Beinen entstehen oder so eine starke Empfindung in der Wange z.B., die einen völlig irritiert? Kann man dieses Gesetz auch darauf

anwenden?

Ja, vorausgesetzt, dass wir den Körper nicht durch eine künstliche Haltung unter Spannung setzen. Vorausgesetzt, dass wir entspannt sitzen und es keinen Grund gibt, dass Schmerzen auftauchen, können wir alles, was auftaucht als Karma betrachten. Und wenn wir uns da hinein entspannen, wird es sich auflösen und vorbeigehen. Dies gilt für die Empfindung im Gesicht wie im ganzen Körper. All diese körperlichen Empfindungen sind Karma.

69

Page 70: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Elfte Unterweisung, 07.08.2003

Meditation

Noch einmal das Zitat von gestern:

„Verkörperungen aller Buddhas der drei Zeiten,mit den Lichtstrahlen des Mitgefühls durchdringt ihr die zehn Richtungen und vertreibt die Dunkelheit in meinem Herzen, vor den Lamas der drei Zeiten verbeuge ich mich.

Wunderbar! Möchtest du das selbstgewahre, ursprüngliche Gewahrsein wahren, lasse dein Bewusstsein gelöst wie Baumwolle. Gib das Machen auf, lege deinen Geist nicht fest.Kontrolliere das Bewusstsein nicht, lasse es frei und schau.“ (Gong)

Was schauen wir an? Die Gedanken, die kommen und wieder gehen. Das Kommen und Ge­hen der Gedanken. Ohne uns näher damit zu befassen, ohne irgendetwas damit zu machen. Wir können uns auch die Lücken anschauen. (Stille)

Es ist nicht notwendig, die ganze Zeit zu denken! (Stille)

Fixiert den Geist nicht, während ihr schaut! Lasst den Geist natürlich im Schauen! Dieses Schauen ist nicht aus dem Wollen geboren. (Stille)

Es gibt nichts loszulassen, es lässt sich selber los. Die Gedanken verschwinden von selbst.

Wie brauchen sie auch nicht festzuhalten. Wenn wir sie nicht festhalten, brauchen wir sie nicht loszulassen. (Stille)

Bleibe einfach so, du brauchst nicht zu meditieren. (Stille)

70

Page 71: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Das nächste Zitat lautet:

„Tauchen Dumpfheit oder Aufgewühltsein auf, blicke direkt in sie hinein.“ (Gong)

Was bedeutet das?

Wir weisen weder das Aufgewühltsein noch die Schläfrigkeit zurück. Wir akzeptieren sie.

Wir sehen, dass es sich auch um einen Gedanken handelt, der sich wieder auflöst.

Man kann in diesen geistigen Zustand hineinschauen.

Was entdecken wir, wenn wir hineinschauen?

Was findet man da?

Ich habe das Gefühl, dass all diese Erfahrungen von Aufgewühltheit, Trägheit, Schläfrigkeit, was immer im Geist auftaucht, wie eine Hilfestellung, ein Aufruf des Lamas sind, bewusst zu werden. Das anzuschauen, was

wirklich ist.

Aufgewühltheit ist wie eine Tendenz, nicht hinzuschauen oder nicht offen zu sein, weil zu viele andere Sachen da sind und Schläfrigkeit ist eine Tendenz, nicht hin zu schauen oder nicht offen zu sein, obwohl keine anderen

Gedanken da sind.

Schläfrigkeit ist bei mir auch oft, wenn ich Widerstände habe gegen eine Anstrengung.

Schläfrigkeit ist bei mir vorwiegend eine Flucht, wie ein Ausweichen: das Ich, das nicht hinschauen möchte, das sich nicht stellen möchte.

Wenn ich die Schläfrigkeit beobachte, dann geht sie fort, kommt aber wieder. Ich beobachte, sie geht wieder fort. Wie ein Gedanke.

Als ich in das Aufgewühltsein hineinschaute, entstand eine große Freude, wie eine große Befreiung.

Ich habe bei Schläfrigkeit Angst, dass sich das multipliziert, wenn ich sie zulasse. Es ist schwierig, sie zuzu­lassen. Wenn ich sie beobachte, dann ist das wie einen Schatz zu finden. Es ist für mich neu, da hineinzuschau­

en.

Wenn ich die Wildheit des Geistes, das Aufgewühltsein anschaue, dann geht das für einen Moment weg, aber dann kommt wieder was anderes. Es ist gar nicht so einfach, immer wieder das loszulassen. Und mit der Schläfrigkeit ist es für mich so, dass sie sich fast unbemerkbar einstellt, es ist ganz schwierig, sie wahr­

zunehmen.

71

Page 72: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Wenn ich oft so unruhig bin, so glaube ich, dass es einfach Angst ist, die Dinge anzusehen und dass da vielleicht gar nichts sein könnte und deshalb weiche ich dem oft aus, indem ich Zeitnot vorschiebe oder was auch immer,

sodass ich da stecken bleibe und das schon seit geraumer Zeit.

Kontemplieren wir das nächste Zitat:

„Vermeide augenblicklich alle Handlungen, die den Geist beeinträchtigen.“ (Gong)

Was für Handlungen beeinträchtigen den Geist?

Anhaften, Abneigung und einem Ding große Wichtigkeit beizumessen.

Alles, was mit Anhaften und Festhalten zu tun hat, beeinträchtigt den Geist.

Wenn ich etwas mache, das mich unzufrieden macht.

Rauschmittel oder Übermaß.

Wenn wir das ausführen, was uns die fünf Gelübde aufgeben lässt, beeinträchtigt das unseren Geist.

Das Anhaften und alle Handlungen im Geist, die dazu führen, das wir nicht in der Lage sind, zu kon­templieren und die zu Ablehnung führen.

Alle meine groben und subtilen Tendenzen:

Stolz, Eifersucht und der Rest, sowie

Kontrolle und sich etwas sehr stark wünschen.

Alle Handlungen, die nicht vom Erleuchtungsgeist motiviert sind.

(Jetzt ist nicht der Moment, um zu schlafen.)

„Taucht Verlangen auf, erkenne die Versuchung.“

72

Page 73: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Mit Verlangen ist ein Fixieren, ein Anhaften, ein Festhalten gemeint, das mit dem Wunsch zu besitzen einhergeht, und dem Gefühl, nicht ohne das Erstrebte auskommen zu können und mit einer gewissen Faszination.

Ein bisschen den Intellekt ankurbeln, und schon kommt wieder Lebendigkeit hinein. Jetzt können wir auch wieder meditieren.Frische, um wieder für einen Moment in der Offenheit des Geistes zu verweilen.

Und noch einmal:

„Taucht Verlangen auf, erkenne die Versuchung.“

Es geht hier vorwiegend um das Verlangen zu denken, um dieses Verlangen, das den nächs­ten Gedanken einlädt, diese Faszination: „Hoffentlich kommt bald ein nächster Gedanke!“, „Was kann ich jetzt denken?“, „Wie kann ich mich jetzt ablenken?“ Wenn dieses Verlangen, das die nächste Ablenkung einlädt, auftaucht, erkenne die Versuchung.

Es handelt sich hier darum, die Vergänglichkeit ihr Werk tun zu lassen. Ein Gedanke taucht auf und wir machen gar nichts damit: nicht loslassen, nicht anhaften, nicht wegschicken, einfach lassen wie der Gedanke halt ist: vergänglich. Ein Gedanke besteht für einen Moment und für den nächsten Moment besteht er nicht mehr, weil die Natur des Gedanken Vergäng­lichkeit ist. Wenn wir da nicht eingreifen und daraus keine Gedankenkette machen und denselben Gedanken wieder und wieder wachrufen, verschwindet jeder Gedanke genauso schnell wie er gekommen ist.

Danach handelt es sich darum, diese Anweisung anzuwenden, nicht den nächsten Gedanke einzuladen und in dieser unbequemen Offenheit zu verweilen, wo es nicht denkt. Es denkt nichts Spezielles, es denkt nichts Interessantes, das ist unbequem. Wir haben Mühe damit, in diese Offenheit hinein loszulassen und haben Lust, dass der nächste Gedanke kommt. Und wir werden auch dafür sorgen, dass der nächste Gedanke nicht so spurlos verschwindet; wir werden da wieder eine Gedankenkette daraus machen, um uns ein bisschen zu amüsieren. Und so geht es ständig weiter.

Wenn wir loslassen, in diesem Entspannen ruhen – komme was wolle, gehe was wolle – da entstehen durchaus Gedanken. Es ist nicht so, dass der Geist wirklich gedankenfrei ist, aber es ist als wäre er gedankenfrei, weil kein einziger dieser Gedanken eine Bedeutung hat.

Wenn wir

auf diese Art und Weise völlig entspannt bleiben, egal was auftaucht, entsteht eine Stabilität im Geist. Diese Stabilität ist die Stabilität des Nicht-Haftens. Um diese Stabilität zu erfahren, braucht es keine Abwesenheit von Gedanken, darum geht es nicht, das ist unwichtig. Wir ver­suchen nicht, dass der Geist aufhört zu denken.

Ist es nur hier im Westen, wo diese starke Prägung durch die Wissenschaft – „Ich denke, also bin ich!“ – so stark wirkt, dass ...

73

Page 74: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Das ist genauso im Osten, die Identifikation über das Denken läuft im Osten genauso stark ab, nur haben wir es hier zur Grundlage der Wissenschaft gemacht.

Warum kann man die Stabilität nicht genauso genießen wie das Fasziniert-Sein von Gedanken? Warum macht das keiner?

Vielleicht, weil wir es nicht gewöhnt sind? Später kann man das dann sehr gut genießen und es ist viel schöner als alles andere. Dann ist der aufgewühlte Geist, die Ablenkung keine Versuchung mehr.

Wie kann ich unterscheiden, ob ich meine Gedanken unterdrücke, oder ob sie sich gerade nicht manifestieren?

Das merkst du an deiner Entspannung. Das merkst du daran, dass dieser Gedanke, der das bemerkt, völlig problemlos aufsteigt und vergeht. Zu bemerken, dass da keine Gedanken sind, ist ja auch ein Gedanke. Und wenn du auch keinen Widerstand gegen diesen Gedanken hast, daran merkst du es.

Fängt Verwirrung schon damit an, dass man die relative und die absolute Ebene des Erleuchtungsgeistes von­einander trennt? Es ist doch ohnehin alles eins. Ist es möglicherweise nicht so, dass diese Unterweisung mehr

Verwirrung als Klarheit schafft?

Das ist eigentlich recht einfach: Kennt ihr denn die letztendliche Ebene des Geistes? ...Stille....

Da muss man doch erst einmal davon sprechen, dass es die überhaupt gibt! Dass es da etwas gibt, was wir noch nicht kennen, einen Bereich frei von Ich-Bezogenheit. Erst dann, wenn man den kennt, kommt das Hindernis zu meinen, dieser Bereich wäre etwas Getrenntes von dem, was man vorher ge­kannt hat. Und dann muss man die Unterweisung über die Einheit der beiden geben. Aber erst einmal ist es wichtig zu wissen, dass es da noch etwas anderes gibt als unsere normale Erfahrung.

Wie wäre das, wenn ich euch jetzt sagen würde: „Alles ist in Ordnung, ihr seid Buddhas! Dieser Zu­stand der Verwirrung, das ist Buddha, es gibt nichts zu tun, keine Anstrengung! Dann Tschüss, das ist das Ende, alles in Ordnung, alles bestens.“…?

Es gibt keine andere Lösung, als erst einmal auf das Andere hinzuweisen, sich darauf hin zu bewegen und dann zu merken, dass dieses Andere die Essenz von dem ist, was wir ohnehin schon leben, aber derer wir uns nie bewusst waren. Es gibt keinen anderen Weg, den Weg der Befreiung aufzuzeigen, es kann nur so gehen. Alles andere wäre Selbsttäuschung.

Schaut genau hin! Diese Frage drückt aus, dass man das Gefühl hat, die Unterweisungen schaffen un­nötige Verwirrung und dass man meint, „Will ich nicht! Ich habe keine Lust auf diese Verwirrung und auf dieses ‚Andere‘ hingewiesen zu werden und auch noch, dass es die Essenz von dem ist, was ich ohnehin habe! Das nervt mich!“ Das‘ ist eigentlich Ausdruck von dem, dass ich so bleiben möchte, wie ich bin und nicht an mir arbeiten möchte.

74

Page 75: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Auf welche Ebene gehören die Gedanken, zur absoluten oder zur relativen?

Wenn wir in der Verwirrung sind, gehören sie zur relativen, aber wenn wir in der Erkenntnis sind, ge­hören sie zur letztendlichen.

Wenn Leerheit Form ist und Form Leerheit, dann gäbe es doch Gedanken und dann hätten die Buddhas doch auch Gedanken…?

Die Frage entsteht dadurch, dass häufig dieses Zitat aus der Prajnaparamita, aus dem Herzsutra nur mit der ersten Zeile wiedergegeben wird, in der es heißt: Form ist Leerheit und Leerheit ist Form. Und da hört man auf zu zitieren. Es geht aber weiter: Geschmack ist Leerheit, Leerheit ist Geschmack. Ge­ruch ist Leerheit, Leerheit ist Geruch. Tastempfindungen sind Leerheit, Leerheit sind Tastemp­findungen, für alle Sinne, auch für den sechsten Sinn, den geistigen, für die fünf Skandhas, für alles, was es in der Welt gibt: die Einheit von Leerheit und Manifestation. Das bedeutet, dass etwas, wovon wir glauben, dass es existiere, keine wirkliche, letztendliche Existenz hat. Aber bloß zu sagen, dass es keine wirkliche Existenz hat, bedeutet nicht, dass wir leugnen, dass es eine relative Existenz hat. Es kann ja wahrgenommen werden. Es gibt eine relative Wahrnehmung. Aber, dass es eine relative Wahrnehmung gibt, bedeutet nicht, dass es eine letztendliche, für immer bleibende Wirklichkeit gibt.

Buddhas haben Gedanken in dem Sinn, dass Gedanken relativ auftauchen, aber die Buddhas nie in die Täuschung verfallen, die letztendliche Abwesenheit von bleibender Wirklichkeit zu leugnen oder sich dessen nicht bewusst zu sein. Es ist kein Problem, Gedanken zu haben, wenn man nicht denkt, sie hätten bleibende Substanz.

Deswegen treiben wir immer dieses schöne Spiel mit relativ und absolut, was euch völlig nervt. Es ist nicht ein Spiel, es ist ein Ausdrücken von paradoxer Wahrheit. Und weil wir uns in Paradoxen so un­wohl fühlen, versuchen wir immer, uns auf eine Seite zu schlagen, dann fühlen wir uns wohl. Entwe­der auf die relative – es ist, alles existiert – oder nichts ist. Das ist immer wieder das Ich, dieses Anhaften, das sich positionieren möchte.

Wir können es nicht anders darstellen. Sobald wir es zulassen, dass die eine oder andere Position als bleibende Wirklichkeit dargestellt wird, schafft sich unser Bemühen nach Identifikation neue Wurzeln, das Ich-Anhaften wurzelt sich wieder ein mit irgendeiner Position:

Es ist – es ist nicht – es ist beides nicht, keines von beiden – es ist beides zugleich.

Alle diese Positionen sind wieder nur Positionen, damit wir endlich aufhören können, mit dem Pa­radox zu leben. Und mit Paradoxen finden wir nur Ruhe, wenn wir das machen mit unserem Geist: Uns wirklich öffnen.

Wenn man in dieser Offenheit ist, dann ist offenkundig, dass die Dinge gar nicht anders sein können und dass man es auch gar nicht anders ausdrücken kann. Es gibt da nicht tausend Möglichkeiten, diese Wahrheiten auszudrücken.

Frage an euch: Wenn ein Gedanke bleibende Wirklichkeit hätte, könnte sich der nächste Gedanke manifestieren?

75

Page 76: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Man könnte ihn ja auf die Seite schieben und Platz machen für einen neuen Gedanken. Nachher ist es dann nur noch eine Frage der Lagerung…(lacht)

Wie viele Gedanken können wir in einem Geist lagern?

Ist das Universum mit gelagerten Gedanken vollgestopft?

Gegenfrage: Aber was tust du mit seiner Wirkung?

Ja, wo ist die Wirkung? Sie ist ja offensichtlich da, nicht? Ein Gedanke hat doch eine Wirkung. Hat die Wirkung dann eine bleibende Wirkung, muss die Wirkung dann auch irgendwo aufgehoben werden?

Wird unsere Festplatte eines Tages gesättigt sein oder nicht?

Es gibt keine Festplatte.

Bist du sicher?

Es ist der Geist. Man kann das Gedächtnis verlieren, man kann das Kurzzeitgedächtnis verlieren oder auch das Langzeitgedächtnis.

Ja, das ist schon richtig, es ist nicht ganz die gleiche Form von Speicherung wie auf einer Festplatte. Man nimmt an, dass es sich um feinste, immer wieder aktivierte Kreisläufe handelt in den Gehirn­zellen. Aber das ist eben die Verwechslung von Gehirn und Geist. Gehirn und Geist sind nicht dasselbe. Das kann man allerdings nur wissen, wenn man Vorleben und Nachleben betrachtet. So­lange man sich mit seinem Blick nur auf dieses Leben beschränkt, ist das Werkzeug, durch das sich der Geist in diesem Leben ausdrückt – das Gehirn – verantwortlich für geistige Funktionen und drückt diese aus. Wir wissen nicht, was zuerst kommt, das Gehirn oder der Geist, weil die beiden während des Lebens untrennbar miteinander verbunden sind. Aber das Gehirn hört im Tod auf zu funktionieren. Damit hört auch das Gedächtnis auf. Nun gibt es aber ganz offensichtlich Gedächtnis­funktionen, die in frühere Leben zurückreichen, es kann also nicht wahr sein, dass das gesamte Ge­dächtnis erlischt. Ihr müsst selber schauen, ob euch das überzeugt oder nicht, aber es gibt für Wissen aus früheren Leben sehr überzeugende Beispiele. Deswegen sagen die Buddhisten: Der Geist schafft sich sein Werkzeug für dieses Leben. Dieses Werkzeug kann beschädigt werden, es kann sich aber auch wieder regenerieren. Es hat aber seine Grenzen und es gibt Dimensionen des Geistes, die über das Gehirn hinausgehen, weil der Geist grundlegend vom Gehirn unabhängig ist. Aber auf der re­lativen Ebene – dem Funktionieren jetzt in diesem Leben – ist er untrennbar mit dem Gehirn ver­bunden, mit dem Körper.

Diejenigen, die an Wiedergeburt zweifeln, sollten sich ehrlicherweise dranmachen, es nicht beim Zweifeln zu belassen. Sondern sie sollten sich damit beschäftigen und sich die Quellen zugänglich ma­chen; mit Leuten sprechen, die Erfahrungen haben und schauen, wie weit sie mit ihrem Verständnis dieses Phänomens kommen können.

76

Page 77: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Zwölfte Unterweisung, 08.08.2003

Mahamudra–Sichtweise, Meditation und Handlung

Wir meditieren zunächst etwas über unsere Motivation und entwickeln dabei die tiefstmögli­che Motivation, diese Unterweisungen zum Wohle aller Wesen zu empfangen. (Gong)

Verkörperungen aller Buddhas der drei Zeiten,mit den Lichtstrahlen des Mitgefühls durchdringt ihr die zehn Richtungenund vertreibt die Dunkelheit in meinem Herzen,vor den Lamas der drei Zeiten verbeuge ich mich.

Wunderbar! Möchtest du das selbstgewahre, ursprüngliche Gewahrsein wahren,lasse dein Bewusstsein gelöst wie Baumwolle.Gib das Machen auf, lege deinen Geist nicht fest.Kontrolliere das Bewusstsein nicht, lasse es frei und schau.Tauchen Dumpfheit und Aufgewühltsein auf, blicke direkt in sie hinein.Vermeide augenblicklich alle Handlungen, die den Geist beeinträchtigen.Taucht Verlangen auf, erkenne die Versuchung.Dieser ungekünstelt belassene Geist ist Buddha. (Gong)

Ungekünstelt belassen – auf Tibetisch tschö min schag pa – bedeutet, dass wir etwas wie ab­setzen. Wir platzieren den Geist völlig natürlich so wie einen Gegenstand, den wir auf seine Unterlage zurückstellen, wir lassen ihn wieder so, wie er ursprünglich war.

Der Geist ist von Natur aus ungekünstelt, d.h. natürlich. Tschö pa auf Tibetisch bedeutet et­was erzeugen. Es gibt in der Meditation nichts zu erzeugen, es gibt nichts zu machen, es gibt nichts aufzubauen. Wir lassen den Geist so wie er ist.

Ein gekünstelter Geist ist nicht die Geisteshaltung der Siegreichen. (Gong)

Die Siegreichen sind die Buddhas. Die Buddhas haben aufgegeben, ihrem Geist etwas aufzu­zwingen, etwas Künstliches zu erzeugen. Der Buddha-Geist ist der Geist, der spontan alle sei­ne Qualitäten zeigt und manifestiert, ohne in Verwirrung zu fallen, ohne in Wollen (Ich will – Ich will nicht) zu verfallen.

Bleibe Tag und Nacht gelöst in allen Bewegungen. (Gong)

77

Page 78: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Gelöst oder entspannt, das bedeutet ungekünstelt. Ob wir nun gehen, stehen, uns hinsetzen, sprechen; in allen Situationen, bei allen Bewegungen bleiben wir ungekünstelt.

Wir meditieren jetzt mit der Frage: Wie wäre das, wenn ich diese Unterweisung jetzt schon auf mein Leben anwenden würde? Wie gehe ich, wie stehe ich, wie setze ich mich hin? Wie spreche ich? Wie führe ich meine Handlungen aus? Kann ich in diesen Handlungen vielleicht noch etwas entspannter werden? Wie könnte das aussehen? (Gong)

Als erstes kann ich schon einmal entspannt atmen. Wenn ich den ganzen Tag über in Ver­bindung mit meinem Atem bin, dann merke ich Anspannung im Geist allein schon daran, dass sich der Atem verändert, dass der Atem nicht mehr entspannt fließt. Und indem ich dann dar­auf achte, entspannt zu atmen, entspannt sich auch der Geist. Das ist ein sehr schönes Hilfs­mittel, das wir da haben. Durch die enge Verbindung zwischen Atem und Geist ist es uns möglich, ein ganz feines Instrument zu haben. Dadurch können wir merken, dass der Atem im Moment nicht natürlich fließt, dass wir ihn irgendwie blockieren oder sehr schnell atmen oder einfach nicht mehr das Bewusstsein haben, entspannt mit dem Atem verbunden zu sein.

Den Atem wieder zu finden ermöglicht uns, die Entspannung wieder zu finden. Dabei geht es darum, den Atem unbeeinflusst zu lassen. Es geht nicht darum, ihn zu verlangsamen oder ihn zu vertiefen oder auszuweiten, sodass er in alle Bereiche hineingeht. Es geht nur darum, in Kontakt zu sein.

Dieses Gewahrsein, der Kontakt mit dem Atem, das ist es, was uns dann die Entspannung wieder finden lässt.

Der so belassene Geist,hell und ohne Haften wie der Himmel,ist die Sicht, die nicht in Vorlieben verfällt, und Furchtlosigkeit erscheint von selbst. (Gong)

Der so belassene Geist bedeutet der ungekünstelt, entspannt, natürlich belassene Geist.

Dieser Geist ist hell oder klar, das bedeutet vollkommen gewahr, transparent. Das bedeutet auch, dass alle geistigen Wahrnehmungen unverstellt wahrgenommen werden.

Der Himmel ist ohne Haften, der klare, offene, weite, blaue Himmel hält an nichts fest. Wolken können durch den Himmel ziehen, ohne dass der Himmel, der Raum je daran festhal­ten würde. Der Raum greift nicht nach den Phänomenen.

78

Page 79: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Dieser offene Raum, vollkommen gewahr und bewusst steht für die Sicht, die Sichtweise des Mahamudra. Die Mahamudra-Sichtweise des Geistes ist, dass der Geist frei von allem Haften ist, wenn er sich in seinem natürlichen Zustand befindet. Der natürlich belassene Geist ist der klare und vollkommen gewahre Geist, davon gehen wir hier aus. Das ist die Grundlage, die Sicht des Mahamudra.

Dies Sichtweise des Mahamudra ist, dass der natürlich belassene Geist – der unsere ureigene Erbschaft ist – in sich bereits der erleuchtete Geist ist, wenn wir ihn nicht verändern. Das ist der Startpunkt für unsere Praxis. Die Sichtweise ist der Ausgangspunkt für die Meditation. Zuerst müssen wir die Sichtweise klar bekommen und dann meditieren wir entsprechend.

In dieser Sichtweise verfallen wir nicht in Vorlieben. Das bedeutet, wir sind wie der Himmel, ohne Anhaften und Ablehnen. Vorlieben sind: Ich mag – Ich mag nicht, Anhaften – Ab­lehnen. Der Geist bleibt wie der Himmel und ist von Natur aus wie der Himmel und von Na­tur aus fällt er nicht in Vorlieben und Abneigungen.

Dieser offene Geist kennt keine Angst. Wie sollte er auch Angst kennen, wenn doch kein Anhaften da ist. Damit wir Angst empfinden, braucht es Anhaften. Wenn aber der Geist so weit ist wie der Raum und die Erscheinungen kommen und gehen lässt, ohne in Wollen und Nicht-Wollen, in Fixierungen zu verfallen, dann erscheint Furchtlosigkeit. Das ist das norma­le Merkmal eines offenen, nicht-haftenden Geistes. Ein offener Geist ist immer in Furcht­losigkeit, das geht immer miteinander einher. Wenn Furcht erscheint, wissen wir, dass wir haften. Das akzeptieren wir, damit leben wir, aber wir wissen auch, dass es eine andere Möglichkeit gibt. Den Zugang zu dieser anderen Möglichkeit eröffnen wir uns dann durch die Meditation, den nächsten Schritt.

Zunächst einmal etablieren wir die Sichtweise; und es ist ganz offensichtlich, dass – wo kein Haften ist – auch keine Angst sein kann.

Rein und makellos wie eine Kristallkugel,hell und ohne Haften, das ist die Meditation,die ununterbrochen von selbst erscheint. (Gong)

Eine Kristallkugel ist ein häufig verwendetes Beispiel dafür, wie unser Geist wirklich ist, weil sie transparent ist, weil man quasi hindurchschauen kann und doch gleichzeitig etwas ist und auch weil sie in vielen Farben das Licht reflektiert, das in sie hineinfällt. Diese vielen Farben sind ein Beispiel dafür, wie viele verschiedene Erscheinungen im Geist erscheinen.

Hell und ohne Haften ist die Meditation. Das sind fast dieselben Worte wie die Beschreibung des Himmels, der für die Sicht stand. Und tatsächlich geht es wieder um dasselbe wie vorher. Hell, klar bedeutet, völlig gewahr zu sein und dann frei von Haften. Wenn diese beiden Elemente zusammen kommen: wenn wir völlig gewahr sind und völlig frei von Haften, das ist natürliche Meditation.

79

Page 80: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Diese Meditation erscheint von selbst, spontan, anstrengungslos. Aber das tut sie nur, weil wir uns aus den Mustern der Anstrengung gelöst haben. Wir kommen durch die Anstrengung zur Anstrengungslosigkeit. Zuerst müssen wir intensiv daran arbeiten, nicht in die Muster des Haftens zu fallen und mehr Gewahrsein zu entwickeln. Diese Arbeit ist nicht leicht, da müssen wir bereit sein, Anstrengungen zu machen. Und in dieser Anstrengung, uns aus den normalen Mustern zu lösen, bewegen wir uns in Richtung Anstrengungslosigkeit. Immer wenn ein natürlich entspannter Geisteszustand auftaucht, lassen wir da hinein los. Unsere An­strengung besteht darin, die Muster auszuräumen, die solche natürliche, anstrengungslose Zu­stände verhindern. Wir sind normalerweise sehr abgelenkt, sehr geschäftig, und hocken fest in unseren Mustern. Die Anstrengung besteht darin, diese Geschäftigkeit loszulassen und den Weg auf den Sitz zu finden. Auf dem Sitz angekommen, achten wir nur darauf, nicht in diese Muster zu fallen und ansonsten praktizieren wir in Richtung Anstrengungslosigkeit.

Was wir normalerweise für unseren natürlichen Geisteszustand halten, das ist ein verdunkelter Geisteszustand, ein verschleierter Zustand voller Anspannung. Wenn wir uns so richtig ent­spannt fühlen, dann schlafen wir schon fast ein, da mangelt es an Klarheit, an Gewahrsein. Das ist nicht der natürliche Geist, von dem die Buddhas sprechen. Der natürliche Buddha-Geist ist völlige Präsenz, Gewahrsein, ohne Mittelpunkt, ohne Zentrum so wie der Himmel, ein weiter Geist, der nicht in Fixierungen verfällt.

Weil wir nicht in Fixierungen verfallen und keinen Mittelpunkt – kein Ich – herstellen, des­wegen ist der Geist entspannt. In dem Moment, in dem sich der Geist wieder einen Be­zugspunkt schafft, ein Ich-Zentrum, in dem Moment sind wir nicht mehr im natürlichen Geist.

Dieser natürliche Geisteszustand, den wir die Meditation nennen, erscheint ununterbrochen von selbst. Es gibt keinen Grund, dass er aufhört oder abbricht, es sein denn, es tauchen Spannungen auf, die ihn beenden. Aber solange jede Spannung sich wieder entspannt und auf­löst, wird sich dieser natürliche Geisteszustand ununterbrochen manifestieren, weil er die Na­tur unseres Geistes ist. Es gibt nichts zu tun, damit er sich manifestiert. Und weil es nichts zu tun gibt, wird er sich ununterbrochen manifestieren. Wenn es etwas zu tun gäbe, würden wir irgendwann ermüden; dann gäbe es somit die Möglichkeit, dass das Tun aufhört und sich da­durch das Produkt unseres Handelns nicht mehr einstellt.

Ungekünstelt und entspannt wie ein kleines Kind,frei von Verlangen, ist das Handeln,das frei von Blockieren und Erzeugen von selbst erscheint. (Gong)

Das Handeln ist frei von allen Sorgen, wie ein Kind. Es ist wie ein Kind, das sich einfach voller Vertrauen durch die Welt bewegt, das mit den Situationen spielt und völlig frei von Ich-Anhaften ist, ein Traum-Kind. Dieses Traum-Kind, das ist Buddha.

80

Page 81: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Man kann nichts verlieren in diesem befreiten Handeln. Wir verlieren, wenn wir wieder in Haften verfallen. Dann verlieren wir dieses – im besten Sinne – kindliche Gemüt, das spiele­risch mit den Situationen umgehen kann. Dann wird alles wieder ganz schwer, ganz ernst und der Dharma wird eine unglaubliche Aufgabe, eine riesige Aufgabe, eine fast nicht auszuhal­tende Aufgabe oder eine wirklich nicht auszuhaltende Aufgabe.

Die Sichtweise ist leicht, die Meditation ist leicht und auch das Handeln ist leicht. Was schwer und hart ist, das ist Samsara, nicht der Weg der Befreiung.

Frei von Blockieren und Erzeugen bedeutet im Fluss zu sein, flexibel zu sein, auf die Situa­tionen eingehen zu können, spielerisch wie im Tanz. Mit den Situationen so zu spielen, dass immer das Beste herauskommt. Was könnte uns eigentlich zum Blockieren bringen? Wenn sich da ein Ich angegriffen fühlt h und sich verspannt. Dann sind wir blockiert und müssen wieder in Fluss kommen. Mahamudra-Handeln ist fließendes Handeln, im Fluss mit den Si­tuationen sein. Aber der Fluss hat eine Richtung, er fließt in Richtung von immer mehr Befreiung, in Richtung Erleuchtung.

Der Mahamudra-Yogi tanzt mit den Situationen, mit den Menschen, und da ist eine Leichtig­keit im Tanz, im Austausch. Diese Leichtigkeit hat etwas Verführerisches. Wir sind angezo­gen von dieser Leichtigkeit, von dieser Einfachheit, dem Kindlich-Freudigen. Und da ist Raum, da kann es auch einmal zwei Schritte zurückgehen und dann wieder drei Schritte vor, da ist Raum für all das. Dieser gemeinsame Tanz, in dem wir alle anfangen zu tanzen, ist der Tanz, der schließlich zur Erleuchtung führt. Dieser Fluss der Aktivität geht in Richtung Er­leuchtung. Aber das bedeutet nicht, dass er irgendwo hin geht. Es ist nicht so, dass wir wo­anders hintanzen. Es ist ein Tanz und im Tanzen selbst wird die Befreiung entdeckt, die Er­leuchtung. DUieses Entdecken von dem, was eigentlich schon ist, das ist die Richtung des Tanzens, nicht irgendwohin zu gehen.

Der Nektar der Gleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung,frei von Hoffnung und Furcht, ist die Frucht,die aus sich heraus, spontan, von selbst erscheint. (Gong)

Der Nektar ist die Große Freude, die Glückseligkeit der Buddhas, jenseits von jemandem, der sich freut.

Gleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung steht hier dafür, dass die Ursache – die Buddhana­tur – und die Wirkung – die Buddhaschaft – simultan sind. Es ist das Verweilen in der Er­kenntnis, dass es eigentlich nie einen Weg gab, den es zurückzulegen galt.

Das Erkennen der Gleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung ist das Erkennen, dass – in dem Moment, wo wir mit der Ursache, der Basis, der Buddhanatur in Berührung sind, d.h. darin aufgehen – die Frucht, die Wirkung, die Buddhaschaft zugleich da ist und dass – wenn wir von einem Weg sprechen – es ein illusorischer Weg ist, der nur darin bestand, die Schleier aufzulösen und das Vorhandensein von Ursache und Frucht zu entdecken, die immer schon da waren und die jeden Moment als solches entdeckt werden können.

81

Page 82: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Die Frucht des Weges ist, dort anzukommen, wo wir merken, dass dieser Geist immer schon erleuchtet war. Wir kommen zum Ausgangspunkt zurück, zum Erkennen der Buddhanatur und merken im Aufgehen in dieser Buddhanatur, dass sie durch gar nichts erzeugt wurde, dass diese Verwirklichung nicht durch Wollen und Machen entstanden ist, und dass sie von daher also offenbar immer schon da war. Deswegen sprechen wir im Zustand von Verwirrung von der Buddhaschaft als Potential: als das, was es uns ermöglicht, Erleuchtung zu erlangen. Und in der Erleuchtung sprechen wir von diesem selben Potential als Frucht, als das, was dann sichtbar geworden ist. Das Potential ist nicht mehr versteckt.

Diese Frucht ist frei von Hoffnung und Furcht. Es gibt nichts mehr zu erreichen und nichts mehr zu verlieren: genauso wie auch das Handeln frei von Hoffnung und Furcht ist, genauso wie auch die Meditation frei von Hoffnung und Furcht ist, genauso wie auch die Sichtweise frei von Hoffnung und Furcht ist.

Die Beschreibung der Frucht ist im Wesentlichen nicht verschieden von der Beschreibung von Sichtweise, Meditation und Verhalten.

So ist der eigene Geist tatsächlich Buddha.Wo immer du außen in den zehn Richtungen und den drei Zeitennach Buddha suchst – du wirst ihn nicht finden.Meistere deshalb die Sicht des eigenen Geistes! (Gong)

Wir haben die Tendenz, den Buddha außen zu suchen, im Lama, in den Beziehungen, in den Vergnügungen, im Glück wie im Leid, in der Meditation. Jetzt ist es Zeit aufzuhören, ihn zu suchen. Er ist da. Jetzt geht es drum, ihn zu finden. Nicht mehr zu suchen.

Dreizehnte Unterweisung, 09.08.2003

Abschließende Worte

Diese annähernd zwei Wochen waren sehr reich an Erfahrungen. Ich schlage euch vor, jetzt gemeinsam zu meditieren und dabei den Geist zurückgehen zu lassen zum Beginn dieses Kurses. Wir schauen Tag für Tag, was wir an Verständnis und Inspiration erfahren haben, was uns vielleicht begleiten wird auf dem Weg nach Hause. WUir entwickeln Dankbarkeit für all das, was wir erhalten und geteilt haben, auch für das Leben in der Gruppe.

Wir schauen, welches Verständnis sich vielleicht eingestellt hat, wo wir bewusster geworden sind und; gleichzeitig entwickeln wir Dankbarkeit dafür. (Gong)

82

Page 83: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Wenn ich daran denke, wofür ich besonders dankbar bin, kommt mir als erstes in den Sinn, dass es immer wieder eine Überraschung ist, ein Wunder, wie so ein Kurs zustande kommt, wie die Bedingungen zusammen kommen, dass solch ein Austausch stattfinden kann. Snchon bei der Vorbereitung, beim Übersetzen der Texte, war es so, dass mir immer wieder die Tränen in die Augen kamen, weil so starker Segen, so wunderbare Weisheit und tiefes Mitge­fühl in den Texten selbst enthalten ist. Und ich bin dann so glücklich und so dankbar, dass andere sich in den Strom hineinbegeben und die Bedingungen schaffen, dass dieser wunder­bare Schatz geteilt werden kann,.,eEen Schatz, bei dem ich ganz stark spüre, dass Gampopas Worte den Segen von Buddha Shakyamuni tragen. Da ist eine ganz innige Verbindung zwi­schen den beiden.

Ich würde mir jetzt wünschen, dass verschiedene von uns, die sich danach fühlen, einen Satz sagen. Einen Satz, der euch am Herzen liegt, vielleicht ein Verständnis, das entstanden ist, vielleicht einen Dank,; vielleicht auch etwas, was schwierig war. Einfach einen Satz, den ihr in den Raum hinein − in den Geist derer, die zuhören − geben möchtet. Ich habe jetzt zwölf Tage gesprochen. Ich würde gerne jetzt auch von euch etwas hören und ich sage nur einen Satz, ganz einfach, weil das Wesentliche nicht so viele Worte braucht. Dann machen wir lieber nach jedem Satz eine kleine Pause und kontemplieren und schwingen nach mit dem, was eben gesagt wurde.

Es ist nicht immer einfach, vor so einer Gruppe zu sprechen, aber wir haben jetzt so viel Ver­trauen miteinander entwickelt und kennen uns und ich glaube, dass es von daher wirklich einfach sein könnte.

Ich kam erst nach einigen Tagen dazu. Der Zufall wollte es, dass ich Lama Lhündrub getroffen habe und er sagte mir: „Du bist wie jemand, die neben einem Fluss verdurstet. Komm doch trinken!“ Ich kam dann zum Kurs und

bedanke mich, dass ich dabei sein konnte, dass sich um die Kinder gekümmert wurde. Ich habe für mich selbst wichtige Entdeckungen gemacht. Ich habe unter anderem verstanden, was es mit den Schleiern auf sich hat; dass

sie wie Programmierungen sind, die uns in unseren Tendenzen festhalten und dass man diese Program­mierungen auflösen kann. Auch hat es Beispiele gegeben wie den Himmel zu betrachten, so offen und weit und

ohne Begrenzungen; die haben mich sehr berührt und das nehme ich mit nach Hause.

Ich habe oft Misstrauen in Vertrauen umwandeln können, und das war sehr schön.

Ich bin ein wenig gerührt und drücke meinen Dank aus. Man hat an diesem Kurs gespürt, wie kostbar die Be­lehrungen sind. Ich wünsche mir sehr stark, dass wir das alle in die Praxis umsetzen können. Sehr stark haben mich auch die Reflexionen über Entsagung, Vergänglichkeit und Tod und auch die Einfachheit des Geistes und die Offenheit berührt. Und auch da möchte ich, dass es mir und uns allen gelingt, das mehr in die Praxis umzu­

setzen. Vielen Dank an alle Lamas und Drublas.

83

Page 84: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Herzlichen Dank an Lama Lhündrub, an alle Lamas und Drublas, alle Lehrer, die auf uns zukommen. Auf diesem Kurs ist mir zum ersten Mal passiert – ich habe sonst Konflikte mit meiner Mutter – da große Liebe zu

spüren. Ganz herzlichen Dank.

Ich danke den Lamas und Drublas für den Segensstrom, den ich an diesen Tagen hier erfahren durfte.

Die Freude, die ich hier verspüre – obwohl sie relativ ist – möchte ich bewahren an allen Tagen. Und das möchte ich euch allen wünschen. Danke!

Ich habe in diesen Tagen sehr, sehr Vieles erfahren können, und was mich sehr beeindruckt hat, ist diese liebe­volle Aufarbeitung des Lesematerials. Ich habe abends gelesen und habe sehr viele Eindrücke gewinnen können

und wenn ich nachfragen wollte, habe ich eine sehr, sehr große Offenheit bei den Lamas erfahren und meine Fragen konnten sehr, sehr gut beantwortet werden. Und was ich mitnehmen kann ist, dass ich sehr viel darüber

nachgedacht habe: „Was ist denn dieses Mitgefühl, welches immer auch ausströmt?“ Ich habe das in den Ge­sängen von Milarepa an Gampopa gelesen und ich habe Lama Lhündrub gefragt. Und so wie er mir das erklärt hast, das habe ich wirklich sehr, sehr gut verstanden und ich danke ihm dafür. Ich bedanke mich bei den Lamas und Drublas für die Stunden, die sie mit uns verbracht haben; für die kostbaren Belehrungen, die sie uns gege­

ben haben; und ich bedanke mich auch bei den Gruppenmitgliedern, die sehr, sehr schöne Beiträge geliefert haben. Ich wünsche mir, dass wir mit dieser Fülle von Eindrücken und Erkenntnissen auch in unserem Alltag

weiterarbeiten können.

Ich danke für den Reichtum und die Einfachheit!

Ich verstehe jetzt den Satz, dass es ebenso selten ist, einen Lehrer zu finden, der authentisch unterrichtet, wie Sterne zu sehen bei Tageslicht. Und niemals werde ich meine Dankbarkeit den Lamas und Drublas gegenüber

ausdrücken können. Ich bin sehr bewegt.

Ich bin auch sehr dankbar dafür, dass ich das Gefühl habe, hier einen Weg gehen zu können, der mich weiterfüh­ren wird. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich mich gut aufgehoben fühle, gut geführt fühle und dass ich hier mit neuer Kraft hervorgehen werde und dem, wovor ich bisher Angst gehabt habe, mit neuer Kraft begegnen können

werde.

Wir konnten am Kurs nicht so teilnehmen, wie wir es vorgehabt hatten, weil zum einen die Großmutter gestor­ben ist und zum anderen die Mutter mit schwerem Diabetes im Krankenhaus lag. Ich habe euch alle mitgenom­men ins Krankenhaus und habe mich kräftig mit dem Lama im Krankenhaus unterhalten und war auf dies Art

und Weise im Krankenhaus mit dem Segen verbunden und habe die klare Erfahrung gemacht, dass der Segen je­derzeit erreichbar ist und das möchte ich mit euch allen teilen.

Ich wollte Danke sagen für jede Begegnung, die ich machen durfte.

Ganz vielen Dank an die Lamas und für die Belehrungen. Aber es gibt auch noch einen anderen Aspekt, den ich erwähnen möchte, und das sind die Wünsche, die nötig sind, damit Belehrungen gegeben werden. Und da auch

vielen Dank an alle, denn nur dadurch hat das stattfinden können.

Vielen Dank den Lamas und Drublas, dass sie den Dharma unserem Geist und unserem Herzen näher bringen.

84

Page 85: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Ich bin sehr dankbar für diesen Platz hier, freue mich sehr, dass ich hier sein kann. Es ist für mich ein Platz, der gewachsen ist, an dem man den Dharma hören kann, studieren kann, meditieren kann und er hat für mich sehr viel Kraft. Ich habe mich gefreut, dass ich draußen meditieren konnte und ich habe von den Belehrungen das Ge­

fühl, dass ich genau das bekommen hab, was ich gebraucht habe. Und manchmal hatte ich so das Gefühl: Ich kenne ja Milarepa, ich habe ein Band zu ihm − warum setze ich mich nun auch noch mit Gampopa ausein­

ander? Gestern wurde mir das irgendwie klarer.

Ich bin auch sehr froh, dass ich mit den Kindern hier sein kann. Es ist überhaupt nicht selbstverständlich, dass ein Dharmaplatz auch für Kinder da ist. Ich bin auch sehr dankbar für das, was sich unter den Leuten so entwi­ckelt, z.B. unter den Campern: mit dem gemeinsamen Essen, wo man so eine zusammengewürfelte Gruppe ist.

Ich bin einfach froh. Ich wünsche mir, dass die Kraft weiter wächst.

Lama Lhündrub hat gesagt, wir haben hier zwölf Tage zusammen verbracht, aber ich habe das Gefühl, es waren nur zwei oder drei, so dicht und intensiv war es. Ganz vielen Dank der Sangha und allen.

Ich hatte mich am Anfang des Kurses entschieden, nicht mehr teilzunehmen, weil ich mehr Zeit für unsere Kinder haben wollte, die gerade hier sind. Ich habe deswegen das Ganze von außen beobachtet, und ich möchte erneut mein Erstaunen mitteilen darüber, wie stark das, was hier stattfindet, sich nach außen hin ausdrückt.

Das hätte ich früher als Hirngespinst abgetan und dafür bedanke ich mich bei den Lamas und Drublas und bei all denen, die dazu beitragen.

Ich habe für meine Praxis sehr viel Inspiration bekommen aus dieser Puja und habe besonders den Wechsel ge­schätzt, die Kreativität, wie man mit so einer Puja arbeiten kann; dass man z.B. einzelne Teile daraus nimmt. Und ich habe immer wieder diese Inspiration erfahren dürfen, die aus dem Segensstrom der Kagyü-Linie spür­bar ist. Gampopa war für mich eine große Bereicherung. Ich möchte mich auch bei dem Baum bedanken, unter

dem ich meditieren konnte. Ich habe zuerst Mühe gehabt, einen Platz zu finden für meine eigene Praxis. Zuerst wollte ich sie im kleinen Tempel machen, aber da war eine Gruppe, dann habe ich es im Zelt versucht, da war auch eine Gruppe und schlussendlich bin ich bei diesem Baum gelandet und habe dann auch dort geschlafen.

Das hat mir sehr gut getan. Und Dank an die Lamas und Drublas.

Ich habe am Abend, bevor der Kurs angefangen hat, einen Spaziergang über die Hügel gemacht und es war ein sehr schöner Abend. Dann fing es plötzlich an zu regnen und dann sah ich nicht sehr hoch, eher flach einen Regenbogen. Und dann dachte ich: Ja, der fängt ja genau bei Croizet an. Ich war mir nicht ganz sicher, aber dann doch: er fing genau bei Croizet an. Und es war erstaunlich, ich bin 100 Meter gegangen, 500 Meter ge­

gangen, und der Regenbogen fing immer noch bei Croizet an. In Lama Lhündrub habe ich eine wahre Mama ge­funden.

Ich habe für mich das Gefühl, dass in Gampopas Lehren im Grunde die Urlehren Buddhas weitergelehrt werden, und dafür bin ich echt von ganzem Herzen dankbar. Ich habe auf diesem Kurs auch eine tiefe Erfahrung machen dürfen und ich möchte mich auch bei Karmapa herzlich bedanken und vor allem bei Lama Gendün, der euch La­mas und Drublas über all die Jahre ausgebildet hat und dass er es auf diese reine Art und Weise weitergegeben

hat ... und bei GAMPOPA!

Aus tiefstem Herzen Dank an Gampopa, der durch Lama Lhündrub gesprochen hat, und den ich die ganze Zeit vor mir gesehen habe, und dem es gelungen ist, mein Herz weiter zu öffnen. Vielen Dank auch den Lamas und Drublas, die immer zur Verfügung standen und auch sehr herzlichen Dank an alle, die den Kurs möglich ge­

macht haben, die vorbereitet haben usw.

Ganz vielen Dank an alle, denen ich hier habe begegnen können und auch für all die Geduld, die ihr aufgebracht habt beim Zuhören. Das ist für jemanden, der so ein Lehrling ist, ein Lama-Drubla-Lehrling, nicht immer so

85

Page 86: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

leicht mit all dem Lernen, Studieren und Vorbereiten. Und der Dank geht auch wieder zurück an alle dafür, dass wir Drublas während dieses Kurses so viel haben lernen dürfen.

Widmung

Wir kommen jetzt, nachdem wir so viele Herzensbeiträge von einzelnen haben hören dürfen, zum Abschluss durch die Widmung. Beim Widmen ist es wichtig, dass diese Widmung vom Herzen kommt, aus einem persönlichen Berührtsein. Und in einem zusätzlichen Schritt schau­en wir uns dabei noch einmal alle Daseinsbereiche an. Wir gehen innerlich noch einmal die verschiedenen Existenzen durch, die es gibt. Überall wo Lebewesen leben, in welchen Geis­teszuständen und äußeren Zuständen auch immer, rufen wir uns ihr Leid in Erinnerung. Wir rufen uns in Erinnerung, dass sie Erfahrungen wie diese zum allergrößten Teil gar nicht ma­chen können, dass der Dharma ihnen gar nicht zugänglich ist. Und dann widmen wir zu ihrem Wohl. Wir widmen nicht nur das, was wir selbst erfahren und praktiziert haben, sondern – um es ganz konkret zu sagen – jeder einzelne hier im Saal widmet für all die anderen im Saal mit. Wir widmen alles, was an Positivem und Heilsamem entstanden ist und dabei überschreiten wir dann auch die Grenzen dieser Gruppe und widmen alles Heilsame, was je in der Vergangenheit von irgend einem Praktizierenden ausgeführt wurde, erlebt wurde, egal auf welchem Dharma-Weg. Dann widmen wir auch noch all das, was an Heilsamem ausgeführt wurde und entstanden ist durch Praktizierende, die gar nicht auf dem Dharma-Weg sind. All das widmen wir der Erleuchtung aller Wesen.

Dann bleiben wir auch dabei nicht stehen. Wir dehnen den Geist weiter aus und nehmen all das Gute, all das Heilsame voraus, was noch in Zukunft angesammelt werden wird, an Erfah­rungen entstehen wird. Wir nehmen es ins Herz und widmen es der Erleuchtung, der Befrei­ung aller Wesen. Wir denken dabei daran, wie alle diese Wesen die Medizin des Dharma ganz, ganz nötig brauchen. Dass sie in leiderzeugenden Mustern feststecken und dass sie da herausfinden müssen mittels der Kraft der ganz starken Wünsche und der heilsamen Hand­lungen, die zu ihrem Wohl ausgeführt werden. Wenn wir das ganz stark wünschen und ent­schlossen sind, alles Heilsame dafür einzusetzen, dass Menschen zu Liebe und Weisheit finden, dass Tiere zu Liebe und Weisheit finden, dass Hungergeister zu Liebe und Weisheit finden, dass die Höllenwesen zu Liebe und Weisheit finden, die Halbgötter und die Götter zu Liebe und Weisheit finden, wenn dieser Wunsch, dass jedes Wesen bis zum letzten, ohne ir­gend eine Ausnahme zur Erleuchtung gelangt, wenn das ganz tief in uns verwurzelt ist, dann wird unsere Widmung vollständig und umfassend.

Mögen alle Wesen die vollständige Erleuchtung verwirklichen − ihr ureigenes Potential, ihre Buddhanatur, die ihr Erbe ist, welches schon immer in ihnen weilt, aber zu dem sie keinen Zugang haben. (Gong)

Nachdem wir diese intensive Kraft der Widmung in uns hervorgerufen haben − die das ge­samte Herz, den gesamten Geist ausfüllende Motivation, dass alles zur Erleuchtung sämtlicher Wesen dienen möge, dass alles Heilsame diesem Ziel gewidmet sei − lassen wir los. Wir

86

Page 87: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

haben die relative Widmung, die Widmung im konzeptuellen Bereich voll gelebt. Wir sind in der Intensität unserer Wünsche bis dahin gegangen, wie es uns möglich ist, und dann lassen wir los in einen ganz natürlichen Geisteszustand hinein, wo es nichts mehr zu tun gibt. Wir denken als letzten Gedanken: So wie alle Buddhas und Bodhisattvas ihre Widmungen besiegelt haben durch das Verweilen in der letztendlichen Natur den Geistes, möge es jetzt genauso sein. Und dann machen wir uns keine Sorgen mehr, dann ruhen wir einfach in dem, was dann ist. (Stille)

87

Page 88: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Anhang

Eine nützliche Zusammenfassung der vier Dharmas.

Es heißt, es sei notwendig, dass der Dharma zum Dharma wird, der Dharma dem Weg folgt, der Weg die Täuschung auflöst und Täuschung als das zeitlose Gewahrsein aufgeht.

Damit der Dharma zum Dharma wird, sollten wir häufig die Vergänglichkeit der äußeren Welt wie auch aller darin lebenden Wesen kontemplieren, um so alle Bindungen an Dinge, Besitz und Beziehungen hinter uns zu lassen und uns dann an irgend einen einsamen Ort zu begeben.Dabei denken wir daran, dass uns niemand begleitet, der nicht den Dharma praktiziert. Falls wir dann aber nicht den Geist der Nichtgeschäftigkeit hervorbringen, wird unsere Dharmapraxis nie zum Dharma werden.Um uns von Geschäftigkeit zu befreien, denken wir daran, dass es völlig ungewiss ist, wann wir sterben. Wir haben keine Kontrolle über den Tod: Er kann schon in einem Jahr eintre­ten oder sogar bereits nächsten Monat – das haben wir nicht in der Hand.Wenn wir sterben wird dieses selbstgewahre, zeitlose Gewahrsein von dem Karma unserer heilsamen und schädlichen Handlungen begleitet. Dabei ist es unmöglich, dass wir ein Karma erfahren, welches wir nicht selbst bewirkt haben, oder dass Handlungen ohne Aus­wirkungen blieben.Wenn das Karma nichtheilsamer Handlungen zu einer Geburt in den drei niederen Da­seinsbereichen führt – was für ein Leid wird man dort erfahren! Und bestenfalls wird man unter Göttern und Menschen geboren.Doch selbst da erfahren wir die Leiden von Geburt, Alter und Tod, suchen nach dem, was wir nicht haben, und schützen das, was wir haben, begegnen wütenden Feinden und werden von denen getrennt, die wir lieben.Auch die Götter erfahren Tod und Übergang mit dem extremen Wandel, sich in den sech­zehn höllischen Bereichen wie Unaussprechliche Qual usw. wieder zu finden.Denke daran, dass wir – egal in welchem der sechs Daseinsbereiche wir geboren werden – ausschließlich Leid erfahren. Solange uns nicht wirklich tiefe Entsagung trägt, wird unser Dharma kein Dharma.

Der Dharma folgt dem Weg durch Liebe und Mitgefühl: die Einstellung, wo andere wichtiger sind als wir selbst, der relative Erleuchtungsgeist. Wenn wir zudem verstehen, dass die Erscheinungen aufgrund wechselseitiger Bedingtheit, d.h. sämtliche äußeren und inneren Phänomene, Träumen oder Illusionen gleichen, dann folgt der Dharma dem Weg.

Wenn wir das verstehen, löst der Weg die Täuschung auf. Zunächst die Vergänglichkeit zu kontemplieren, löst die Täuschung des Haftens an diesem Leben auf. Die Auswirkungen von Handlungen zu kontemplieren, löst die Täuschung schädlicher Sichtweisen auf. Die

88

Page 89: Zweiter Kurs „Unterweisungen von Gampopa“ erläutert von ... · bitte nimm mich in Deiner großen Güte an und gewähre mir die Siddhis (Verwirkli chungen) von Körper, Rede und

Nachteile Samsaras zu kontemplieren, löst die Täuschung des Haftens am Daseinskreis­lauf auf. Liebe und Mitgefühl zu kontemplieren, löst die Täuschung der niederen Fahr­zeuge auf. Das Traumhafte, Illusionsgleiche zu kontemplieren, löst das Haften an vermeintlicher Wirklichkeit auf. So heißt es, dass − indem wir immer wieder von den anfänglichen zu den späteren Übungen fortschreiten − die Täuschung aufgelöst wird.

Mit dem „Aufgehen von Täuschung als zeitloses Gewahrsein“ ist nun Folgendes gemeint: Durch die Kraft des Meditierens aller Phänomene als letztendlich frei von Entstehen und Vergehen wird alles, was erscheint, d.h. alle Gedanken, in seiner eigenen Natur aufgelöst – dies ist dann, wie es heißt, das Aufgehen von Täuschung als zeitloses Gewahrsein.

89