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+ Thamy Pogrebinschi Alfred Grosser-Gastprofessur Goethe-Universität Frankfurt am Main Stiftung Polytechnische Gesellschaft Vom Süden lernen? Demokratische Neuerungen und Bürgerbeteiligung in Lateinamerika Professorin für Politikwissenschaft Universität Rio de Janeiro (IESP-UERJ) Wissenschafliche Mitarbeiterin Wissenschaftszentrum Berlin (WZB)

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Page 1: + Thamy Pogrebinschi Alfred Grosser-Gastprofessur Goethe-Universität Frankfurt am Main Stiftung Polytechnische Gesellschaft Vom Süden lernen? Demokratische

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Thamy PogrebinschiAlfred Grosser-Gastprofessur Goethe-Universität Frankfurt am MainStiftung Polytechnische Gesellschaft

Vom Süden lernen?

Demokratische Neuerungen und Bürgerbeteiligung in

Lateinamerika

Professorin für PolitikwissenschaftUniversität Rio de Janeiro (IESP-UERJ)

Wissenschafliche MitarbeiterinWissenschaftszentrum Berlin (WZB)

Page 2: + Thamy Pogrebinschi Alfred Grosser-Gastprofessur Goethe-Universität Frankfurt am Main Stiftung Polytechnische Gesellschaft Vom Süden lernen? Demokratische

+Krise der Demokratie???

Symptome:

Rückgang der Wahlbeteiligung

Mitgliederschwund bei den Parteien

Steigender Anteil von Wechselwählern

Politikverdrossenheit: Sinkendes Vertrauen in politische Institutionen wie

Regierung, Parlamente und politische Parteien Unzufriedenheit mit der Demokratie

Page 3: + Thamy Pogrebinschi Alfred Grosser-Gastprofessur Goethe-Universität Frankfurt am Main Stiftung Polytechnische Gesellschaft Vom Süden lernen? Demokratische

• Ab 1978: „Dritte Welle der Demokratisierung“

• Nach der Diktatur: „delegative “ oder „defekte“ oder „Pseudo“-Demokratien

• Unzufriedenheit mit der Demokratie + niedriges politisches Vertrauen + Korruption + Kriminalität + Unterentwicklung + Soziale Ungerechtigkeit + ....

• In 2000 waren 60% der Bürger unzufrieden mit der Demokratie.

In Lateinamerika...

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+Vertrauen in Institutionen: Regierungen

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+Vertrauen in Institutionen: Parlamente

2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 20100

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+Vertrauen in Institutionen: Politische Parteien

2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 20100

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Ab 1998: Die „Linkswende“

Wirtschaft: • Alternative zum Neoliberalismus• Ziel: Soziale Gerechtigkeit

Politik: • Starke Beziehung mit

zivilgesellschaftlichen Organisationen und sozialen Bewegungen

• Anstieg der Beteiligung• Partizipative Demokratie

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+Ein neues Modell der Demokratie?

Zunehmende Verbreitung experimenteller Formen des Regierens

Institutionalisierung partizipativer Innovationen, die den Bürgern erlauben, eine größere Rolle im politischen Entscheidungsprozess zu spielen.

Regierungen experimentieren mit neuen Formen der politischen Partizipation über die Wahlen hinaus und kombinieren diese mit neuen Orten der Repräsentation über die Parlamente hinaus und gestalten politische Institutionen um.

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Defekte repräsentativer Institutionen (Korruption, Klientelismus, usw.) mit Hilfe partizipativer Innovationen zu korrigieren.

demokratische Innovationen als Mittel zu verwenden, um Ziele der sozialen Gerechtigkeit zu verfolgen.

Die experimentellen Regierungsformen Lateinamerikas bedienen sich demokratischer Innovationen, um…

Page 10: + Thamy Pogrebinschi Alfred Grosser-Gastprofessur Goethe-Universität Frankfurt am Main Stiftung Polytechnische Gesellschaft Vom Süden lernen? Demokratische

Repräsentation

Politische Mittel

Partizipation DeliberationDirekte

Demokratie

Soziale Zwecke

Umverteilung Gleichheit InklusionSoziale

Gerechtigkeit

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Bürgerhaushalte in BrasilienUmverteilung öffentlicher Güter wurde erreicht.

Volksabstimmungen in Bolivien und Gemeinderäte in Venezuela Benachteiligte Gruppen wurden in den politischen Prozess integriert.

Nationale Politikkonferenzen in BrasilienBedürfnisse von Minderheiten wurden in der Politikgestaltung berücksichtigt.

Besonders effektive partizipative Innovationen

Page 12: + Thamy Pogrebinschi Alfred Grosser-Gastprofessur Goethe-Universität Frankfurt am Main Stiftung Polytechnische Gesellschaft Vom Süden lernen? Demokratische

+Die nationalen Politikkonferenzen in Brasilien Eine wachsende Zahl

von Bürgern und zivilgesellschaftlichen Organisationen beraten gemeinsam mit der Regierung über Politikvorschläge.

Bürger, zivilgesell-schaftliche Organi-sationen, private Unternehmer und gewählte Volksvertreter aus allen drei staatlichen Ebenen beratschlagen gemeinsam und einigen sich auf eine gemeinsame politische Agenda für ihr Land.

LokaleKonferenzen(bis zu 5656

Städte)

•Lokale Ebene

Konferenzen der

Bundesstaaten(bis zu 27

Bundesländer)

•Länder- Ebene

Nationale Konferenz

•Bundes- Ebene

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+ Die nationalen Politikkonferenzen in Brasilien

Nationale Konferenz

Begrenzt Delegierte + Beobachter

Konferenzen der Bundesstaaten

Halb-offen Wahl der Delegierten

Lokale Konferenzen

Offen Wahl der Delegierten

Page 14: + Thamy Pogrebinschi Alfred Grosser-Gastprofessur Goethe-Universität Frankfurt am Main Stiftung Polytechnische Gesellschaft Vom Süden lernen? Demokratische

+Die nationalen Politikkonferenzen in Brasilien

Einfluss auf Politikgestaltung und Gesetzgebung: Rund 20% aller Gesetzesvorhaben, die 2009 im brasilianischen Bundesparlament behandelt wurden, stimmten inhaltlich mit den Empfehlungen der nationalen Konferenzen überein.

An den 82 nationalen Konferenzen, die zwischen 2003 und 2011 in Brasilien stattgefunden haben, haben rund 7 Millionen Menschen teilgenommen.

Page 15: + Thamy Pogrebinschi Alfred Grosser-Gastprofessur Goethe-Universität Frankfurt am Main Stiftung Polytechnische Gesellschaft Vom Süden lernen? Demokratische

+Der Bürgerhaushalt Der Bürgerhaushalt wurde1989 in Porto Alegre

(Brasilien) entwickelt.

Bürgerversammlungen in 16 Stadtteilen, wo Prioritäten bestimmt sowie Delegierte, die die Ausarbeitung der Vorschläge weiter verfolgen, gewählt werden, z.B. Wasserversorgung, Straßenbau.Auch Regeln zur Ausgestaltung der kommunalen Politik werden diskutiert, wie z.B. für die Bereiche Bildung, Gesundheit, Kultur etc.

Die zur Verfügung stehenden Gelder werden unter Berücksichtigung der Einwohnerzahl, der Qualität der vorhandenen Infrastruktur sowie der lokalen Prioritätenliste zwischen den Stadtteilen aufgeteilt. Stadtteile mit einer mangelnden Infrastruktur bekommen mehr Mittel.

Page 16: + Thamy Pogrebinschi Alfred Grosser-Gastprofessur Goethe-Universität Frankfurt am Main Stiftung Polytechnische Gesellschaft Vom Süden lernen? Demokratische

Quelle: Smith 2009

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Kontrolle durch die Bürgerschaft. Gruppen (wie der Rat des Bürgerhaushalts) treten regelmäßig zusammen. Ko-Planung mit der Verwaltung. Der Rat begleitet die Vergabe von öffentlichen Aufträgen.

Ergebnisse: • Verbesserung der

öffentlichen Infrastruktur

• Stärkung der Zivilgesellschaft

• Klientelistische Strukturen wurden überwunden.

Der Bürgerhaushalt

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+Können die demokratischen Neuerungen soziale Gerechtigkeit bzw. Inklusion fördern?

Soziale Inklusion: Umverteilung öffentlicher Güter

Ökonomische Inklusion: Verbesserung der Lebensumstände benachteiligter Gruppen

Politische Inklusion: Anstieg der Partizipation von Bürgern mit geringem Bildungsniveau und Einkommen

Kulturelle Inklusion: Ausweitung von Minderheitenrechten und die Reintegration unterrepräsentierter Gruppen im politischen Prozess

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+Wäre so ein Rezept für politische Reformen für Europa passend?

In Europa sind Reformen zur Verstärkung der Bürgerbeteiligung gewiss kein neues Thema auf der demokratischen Tagesordnung. Allerdings wurden sie bislang hauptsächlich als Teil von Reformen betrachtet, die auf repräsentative Institutionen wie Parteien- und Wahlsysteme abzielen.

Bestenfalls wurden Forderungen nach einer effektiveren Beteiligung der Bürger am politischen Prozess in die Prozesse der direkten Demokratie eingebunden. Aber Referenden und Volksabstimmungen sind auf Abstimmungen beschränkt und stellen daher nur eine begrenzte Form der politischen Partizipation dar.

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+Wäre so ein Rezept für politische Reformen für Europa passend?

Außerdem beschränkt sich der Einsatz direktdemokratischer Verfahren in Europa bislang weitgehend auf die kommunale Ebene und vergleichsweise kleine politische Einheiten.

Bürgerinitiativen erreichen heute meistens nicht die nationale Ebene und mobilisieren oft nur relativ wenige Bürger. Der Nachweis, dass sie auch auf nationaler (oder transnationaler) Ebene auch in Europa realisierbar und effektiv sein können, muss noch erbracht werden.

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• Die Bürgerhaushalte wurden relativ erfolgreich von Lateinamerika auf Europa übertragen.

• 2009 hatten mehr als 200 europäische Städte eine Variante des Bürgerhaushalts umgesetzt. Mehr als 8 Millionen Bürger beteiligten sich an Bürgerhaushaltsexperimenten.

• Europäische Städte haben den richtigen Weg gefunden, das Experiment an ihren jeweils spezifischen lokalen Kontext anzupassen, aber dennoch sind Bürgerhaushalte weit davon entfernt, in Europa eine solche institutionelle Realität zu sein wie in Lateinamerika.

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Vom Süden lernen?

Interessanterweise sind es die neuen Demokratien, die den alten, etablierten Demokratien ein solches Rezept an die Hand geben.

Ob partizipative Innovationen die repräsentativen Institutionen in Europa verbessern könnten, und ob diese Verbesserung die Krisendiagnose verringern könnte, indem sie die Zufriedenheit der Bürger mit der Demokratie erhöht, sollte aber noch empirisch erforscht werden.