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Der Stilwandel um das Jahr 1250 Von Werner Gross aus Stuttgart 1933 VERLAG DES KUNSTGESCHICHTLICHEN SEMINARS DER UNIVERSITÄT MARBURG AN DER LAHN

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Der Stilwandel um das Jahr 1250

Von

Werner Grossau s S t u t tg a r t

19 33VE RL AG DE S K U N S T G E S C H I C H T L I C H E N S E MI N ARSDE R U N I V E R S I T Ä T M ARBU RG A N DE R L A HN

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Zu der vorliegenden Arbeit sei vorausbemerkt, daß ihrem weitgespannten Themaeine ins einzelne gehende Untersuchung zur Geschichte der Bettelordensarchitektur inSüddeutschland zugrundeliegt.

Im Verlauf dieser ergab es sich, daß der Maßstab zur Beurteilung der schwierigenFrage, wie man die Bettelordensbauten architekturgeschichtlich einzuschätzen habe, nur ausder Kenntnis der gleichzeitigen Gesamtentwicklung zu gewinnen ist. Die Frage nach demWesen und stilistischen Fortschreiten der kirchlichen Baukunst im Zeitraum zwischen ca.1250 - 1350 wurde mehr und mehr zur Hauptsache. Hierbei gewann der Verfasser die Über-zeugung, daß es sich bei der Architektur der Bettelorden weniger um eine stilistisch eigenorientierte „Unterströmung” (wie es die These der jüngsten Darstellung von RichardKrautheimer ist) als um einen stilmäßig gleichgearteten Sonderfall der sie umgebendenstädtischen Bauweise handelt. Die gewonnenen Einsichten lediglich für ein begrenztesStoffgebiet zu verwerten, konnte sich schließlich nicht mehr empfehlen. Es wäre dabei nichtzu umgehen gewesen, das Problem der Gesamtentwicklung aufzurollen. Dies hätte eineArbeit ungebührlich belastet, an deren Material nur weniges Allgemeine entwickelt werdenkann. Und es war zu fürchten, daß, wenn die Bettelordensbauten zum Ausgangspunkt einerEpochencharakteristik genommen würden, diese unter Umständen in eine falsche, deneigenen Absichten zuwiderlaufende Beleuchtung gerückt wäre. So stellte sich die Aufgabe,zunächst einmal Eigenart und Entwicklungsweise der ganzen Epoche zum Gegenstand zunehmen, die Bettelordensbauten dagegen nur insoweit heranzuziehen, als sie für jene vonBedeutung sind.

Es kann sich dabei nur um einen ersten Versuch handeln. Er ist den kunstwissen-schaftlichen Antrieben Wilhelm P i n d e r s verdankt.

Einleitung

In den Betrachtungen der sogenannten hochgotischen Architektur Deutschlandsist mehr oder minder ausdrücklich die Anschauung vertreten, daß man es in der Zeitvon ca. 1250-1350 mit einer Baukunst zu tun habe, die sich in den vorgeschriebenenBahnen der französisch-gotischen Stilrichtung bewege. Nach drei seit Ende des 12.Jahrhunderts einsetzenden Anläufen sei man um 1250 des in Frankreich entwickeltenallgemein verbindlichen Stiles restlos habhaft geworden, so daß es sich in demfolgenden Zeitraum von ungefähr hundert Jahren, übertrieben ausgedrückt, nur um dieHervorbringung mehr oder weniger gut angewandter Gotik handelte. (So noch beiClasen, Hdb. d. Kunstw. 1931.)

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Auf die Entdeckung der positiven Werte der deutschen Spätgotik folgte dieKritik der vorausgehenden Periode, wobei man die Maßstäbe teils den klassischenBauten der französischen Gotik, teils den Bauten der deutschen Spätgotik entnahm. ImFesthalten der gotischen Formelemente wurde gern phantasielose Nachahmung, inderen Reduktionen unproduktive Verkümmerung gesehen. Nur wo das Nachklingenoder die Vorausnahme der zeitlich benachbarten Stilperioden gespürt wurde, war manbereit, dem Bauwerk einen selbständigen künstlerischen Wert zuzuerkennen.

Dehios Forschungen, in seiner deutschen Kunstgeschichte wie in Hunderten vonEinzelcharakteristiken seines Handbuches der deutschen Kunstdenkmäler niedergelegt,brachten die Überprüfung des seitherigen Standpunktes. Zwar geht gerade auf ihn eine ArtAchtung der deutschen Hochgotik zurück. Er ist beim Anblick ihrer Bauten nie recht warmgeworden und hat, erfüllt vom großartig tektonischen Wesen der vorausgehendenArchitektur die Erstarrung oder Schwächung der Gliederkräfte als einen absoluten Verlustempfunden, dem in seinen Augen nicht wie in der Spätgotik ein positiv Neues gegenüberstand. Sein größtes Bedauern vielleicht galt dem Umstand, daß an die Stelle des welt-zugewandten adligen Lebensgefühls der früheren Gotik mehr und mehr ein abstraktes undzugleich bürgerliches Wesen trat. Im einzelnen wurden in seinen Schriften vor allem dieReduktionen und Mißverständnisse des französischen Kathedralsystems gebrandmarkt, erhat aber andererseits, wenn auch in mehr negativen Formulierungen, begonnen, einEigenwesen der Zeit aufzuzeigen, indem er besonders im Backstein- und Bettelordensbaucharakteristische Züge als selbständige Verarbeitung der gotischen Bauformen anerkannthat. Auch ist zu sagen, daß in seine aus starker Anschauung fließenden Analysen immerzugleich ein Stück des unmittelbaren künstlerischen Eindrucks eingegangen ist. Gültigbleibend sind kraft solcher Vorzüge auch die gedrängten Charakteristiken in Finders Ein-leitung zu den „Deutschen Domen”.

Inzwischen sind von verschiedenen Seiten und Forschungsgebieten her Versuchegemacht worden, die noch wenig aufgehellte Strecke zwischen 1250 und 1400 näher zubeleuchten und bedeutsam zu machen. Kurt Gerstenberg vor allem hat einige Hallenkirchendes 14. Jahrhunderts als beginnende „Sondergotik” herausgehoben, schon vor ihm war (vonDehio, Haenel u.a.) die Gmünder Heiligkreuzkirche als Vorläufer der Spätgotik gewürdigtworden. Aus dem Dissertationsauszug von Heinz Rosemann: Die Hallenkirche aufgermanischem Boden, München 1924, geht hervor, daß er den Hallenkirchen des 14.Jahrhunderts, besonders denen Westfalens, für das Werden der Spätgotik große Bedeutungbeimißt. In verschiedenen Einzeluntersuchungen wurden Bauten und Bautengruppen ausdem Beginn der Epoche behandelt, von G. Rudolph (Mitteldeutsche Hallenkirchen des 13.und 14. Jahrhunderts, Gallsches Jahrbuch 1930), von K. Wilhelm-Kaestner (DieElisabethkirche in Marburg und ihre Nachfolge, Band I, 1924), von Hildebrand Gurlitteinmal eine Basilika (Die Katharinenkirche in Oppenheim, Oberrh. Kunst I, 1925/26). Über„Altbayerische Frühgotik” wurde von H. Graf (1918), über schwäbische von H. Secker(Gotische Bauformen in Schwaben, 1911) und von H. Christ (Kunstwanderungen inWürttemberg, 2. Aufl. 1927) geschrieben. In diesen Arbeiten ist meist ein Stück Entwick-lung folgerichtig klargelegt. Jedoch fehlt es in ihnen an der Berücksichtigung derallgemeinen Stiltendenzen. Auszunehmen ist die zwar begrenzte, aber treffende Würdigungder stilistischen Veränderungen der Laubwerkformen im 13. Jahrhundert bei Hans Weigert(Stilstufen der deutschen Plastik, Marb. Jahrbuch 1927).

Die wichtigste Arbeit aus diesem Stoffgebiet ist das Buch von RichardKrautheimer über die Kirchen der Bettelorden in Deutschland (1925). Hier sind Bautendes späteren 13. und des früheren 14. Jahrhunderts eingehend analysiert und sindüberzeugende Deutungen

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und begründete Datierungen gegeben. Über die an ihnen entwickelte z. T.grundsätzlich andere Auffassung vom Gang und Inhalt der Entwicklung dieser Zeit unddem Verhältnis der Bettelordensarchitektur zu ihr hier nur eine Andeutung.Krautheimer löst, absichtsvoller, als Gerstenberg und andere die Hallen ausnehmen, dieBettelordensgotik aus dem Zusammenhang der deutschen Hochgotik. Er interpretiert sieals stilistische Unterströmung mit der Richtung teils ins Vorromanische zurück, teils insSpätgotische voraus. In vielen Punkten nimmt er für die Architektur der Bettelorden dasallein in Anspruch, was hier für das Eigentümliche der Hochgotik im ganzen gilt. DerVorzug seiner Arbeit liegt nicht zuletzt darin, daß sie durch ihre präzisen Begriffe zufruchtbarer Auseinandersetzung anregt, die deshalb auch hier einen großen Raumeinnimmt; der Verfasser hat ihr Wesentliches zu verdanken. Die Gesichtspunkte, nachdenen K. H. C1asen (Die gotische Baukunst, Handbuch der Kunstwissenschaft1930/31) den Stoff erfaßt, werden am Schluß berührt und sollen im Zusammenhang ananderer Stelle besprochen werden.

Das seltene Eingehen auf die künstlerische Sonderart der deutschen Hochgotik magvielerlei Ursachen haben. Ein Grund dafür liegt sicher in der Beschaffenheit des Stoffesselbst. Viele der Bauten haben infolge ihres unreinen Stilcharakters und der Sprödigkeitihrer Formerscheinung wenig Ansprechendes. Gerade dem tiefer blickenden Betrachter derEpoche bietet sich zuerst das Bild eines wilden Durcheinandertreibens derwidersprechendsten Tendenzen, ein Chaos von nachgeahmten, verderbten undneugebildeten Formen, von wirklich künstlerischen und nur ihrem Zweck genügendenBauten, so daß es schwer hält, ein einheitliches Wesen und eine feste Stilrichtungherauszufinden. Darauf nun richtet sich die folgende Untersuchung. Sie will dieStilmerkmale der deutschen Hochgotik sammeln und deren entwicklungsgeschichtlicheRolle klären. Zugleich soll sich mit der Herausarbeitung von Entwicklungsstufen dieEig enbed eu t sa mkei t dieser Stilperiode innerhalb der deutschen und europäischenArchitektur ergeben. Vielleicht vermag dann dieser Weg auch dem Ziele jeder historischenBetrachtung ein Stück näherzubringen, der Motivierung des Soseins einer Erscheinung.

Der Terminus „hochgotisch”, der sonst für die Stilspanne von Amiens bis zumFreiburger Münsterturm in Gebrauch ist, wurde für das hier behandelte Jahrhundert von1250-1350 beibehalten und genauer zu bestimmen gesucht. Es geschah in erster Linie, umzur Unterscheidung von der vorausgehenden klassisch gotischen Stilphase in Frankreichbzw. der gemischt spätromanisch-frühgotischen in Deutschland und zur Absetzung gegendie Spätgotik über einen handlichen Begriff zu verfügen. Er gilt hier für die im ganzeneuropäischen Raum entstehende Baukunst. Sachlich ist er insofern berechtigt, als diese Zeit– im Gegensatz zur Spätgotik – nach einer Seite tatsächlich die Hochsteigerung, eine letzteZuspitzung der aus der Gotik abzuleitenden Gedanken bringt. Die Gotik von Chartres bisAmiens (1200-1250) wird hier als klassische, die vorausgehende Phase von S. Denis an (ab1150) als Frühgotik bezeichnet.Die Untersuchung geht den Weg der Einzelanalyse in der Hoffnung, daß dabei demBesonderen des einzelnen Kunstwerks weniger Zwang angetan und das Allgemeine aus derDarstellungsweise überzeugender hervorgehen werde. Gerade auf den Nachweis derAllgemeinverbindlichkeit der in dieser Zeit lebendigen Gestaltungsprinzipien war beson-derer Wert zu legen, da deren so verschiedenartige Einzelausprägung die herrschendenkünstlerischen Ideen nicht ohne weiteres hervortreten läßt. Vorwiegend mit Rücksichtdarauf sind die landschaftlichen Brechungen des Stils vernachlässigt, zumal nach dieserSeite von Dehio und Pinder die großen Linien festgelegt worden sind. Die Untersuchungfolgt vielmehr den einzelnen Bautypen, damit auf die Darstellungsart von Dehio und Bezoldin der „Kirchlichen Baukunst des Abendlandes” zurückgehend. Die Stilentwicklung

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der Detailformen (Laubwerk, Profile und besonders Maßwerk) ist nur mangelhaft berück-sichtigt. Ihre Darlegung hätte den Rahmen der Arbeit gesprengt, hier müßtenSpezialarbeiten vorgehen, ebenso für die Gewinnung eines Bildes von derProfanarchitektur, deren Denkmälerreihe heute zu lückenhaft ist, als daß sie zur Kenntnisdes Stilablaufs näher beitragen könnte.

Die nach der Mitte des 14. Jahrhunderts entstandenen Bauten sind nur zu Ver-gleichen herangezogen. Das Jahr 1350 bedeutet den wichtigsten Einschnitt der Epoche undgleichzeitig einen gewissen Abschluß. Was nachher kommt, zwischen 1350 und demAnfang des 15. Jahrhunderts, vertritt die Epoche nicht mehr rein, strebt vielmehr deutlicheinem neuen Ideal der Raumgestaltung zu, so sehr es noch an wesentliche Grundprinzipiender vorausgehenden Architektur gebunden bleibt. Schon die Frage nach dem stilistischenSchwerpunkt dieser Übergangsstufe ist so kompliziert, daß ihre Erörterung einer beson-deren Arbeit vorbehalten bleiben muß.

Umfassenden Einblick in das geschichtliche Werden der hochgotischen deutschenBaukunst zu geben, lag außerhalb des Rahmens dieser Arbeit. Sie dient lediglich derKlärung des Zeitstilcharakters, d. h. der Ermittlung der jeweiligen Formzusammenhängeund ihres Richtungspols. Es sind nur Beispiele herausgegriffen, mit dem Bemühen,wesentliche zu treffen. Eine Geschichte dieser Architekturperiode zu schreiben, ist nochnicht möglich, da es an der wichtigsten Voraussetzung dafür, größeren photographischenPublikationen und brauchbaren Einzeluntersuchungen, fehlt. In einigen Fällen, da woentwicklungsgeschichtliche Aufschlüsse zu geben wichtig schien, wurde bezüglich Genesisund Ausbreitung einzelner Typen Material beigebracht. Die Datierungen undbaugeschichtlichen Angaben sind speziell da, wo keine Literatur genannt ist, eigeneVorschläge. Ist bei den genauen Daten nichts anderes vermerkt, so sind sie urkundlichgesichert.

Französische und deutsche Gotik bis 1250

Die klassisch gotische Kathed ral e . Das Gesicht der Hochgotik kann sich erstgegen das begrifflich geklärte Bild der Gotik in Frankreich und die baulichen Verhältnissein Deutschland vor dem Einsetzen des neuen Stils abheben. Als das baukünstlerische Zielder gotischen Kathedrale in Frankreich wird im folgenden ein eigentümliches struktiv-konstruktives Täuschungsprinzip betrachtet. Als sein Ausdrucks-Organ gilt die plastischeDurchfühlung des basilikalen Bauzusammenhanges, die wiederum ein besonderesKonstruktionsverfahren zur Voraussetzung hat.Die Absicht, das von bindenden Mauerzügen beherrschte Stützensystem der Romanik inrundplastische Formen aufzulösen, kann in dem Augenblick als verwirklicht gelten, woauch konstruktiv die Last der Mauermasse so gut wie aufgehoben ist. Dies geschieht zumerstenmal in den Wölbungen von St. Etienne in Beauvais (ca. 1120-1130) und der Abtei-kirche von S. Denis (Chorumgang 1140-1143). Erst hier sind die Kappen, im Gegensatz zuden vorausgehenden vorromanischen Gewölben, als leichte Decke zwischen die tragendenBogen gespannt. Vorher bildeten sie noch eine zusammenhängende, sich selbst tragendeMasse, der die Rippen nur als funktionale Begleitung unterlegt waren. Die Verspannung derKappen zwischen die Bogenzwickel ermöglicht es, daß die Rippen freitragend und damitfreiplastisch auftreten. Daraufhin kann die Bogenknickung (Spitzbogen) eingeführt werden,durch welche sich die Eigenlast des Bogens aktiv umdeuten läßt. Wie eng die konstruktiveNeuerung mit der ausdrucksmäßigen zusammenhängt, beweist die Veränderung, die dasRippenprofil erfährt. (Ernst Gall, der als erster den Unterschied zwischen den

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normannischen und kronländischen Rippengewölben feststellt, sieht in ihm nur einekonstruktive, keine stilistische Wende. Vgl. Gall, Die gotische Baukunst in Frankreich undDeutschland I, 1925, S. 36 ff.). In den Seitenschiffen von St. Etienne in Beauvais ist dasträge, fast knirschende Vorbeistreichen der normannischen Vorlagerippen an der Wölb-fläche in ein freies Ausschwingen geschwellter Rundstäbe verwandelt. Daß diePlastizierung von der freitragenden Rippe ausgeht, beweist der Umstand, daß die übrigenstruktiven Formen erst allmählich rundplastische Profile bekommen, zuerst die den Rippenbenachbarten, dann alle anderen. In Beauvais sind es nur die Rippen, in S. Denis bereits dieGurten, später befreien sich die Dienstbündel von der Rechteckvorlage und so fort. DieRippe „vergiftet” also doch den Bau, allerdings nicht schon unmittelbar als formalesGebilde – morphologisch gehört sie zunächst in den normannisch-romanischen Bau-zusammenhang – aber in dem Augenblick, wo ihre konstruktiven und damit plastisch-dynamischen Möglichkeiten entdeckt werden. (S. dagegen P. Frankl, Wölfflin - Festschrift1924). Der ganze überlieferte Bauorganismus wird im Laufe des 12. Jahrhunderts nach demVorgang der Rippenwölbung in ein System von „statisch tätigen” und bloß füllenden Teilenumgestaltet. Erst daraus erwächst das plastisch durchfühlte Gliedergerüst, künstlerische undkonstruktive Phantasie beflügeln sich wechselweise in einem Grade, wie man ihn nur imBauen der Gegenwart wiederfindet. Mit dem Unterschied, daß heute ihr Zusammenwirkenvon nutzbaren Zwecken, damals jedoch von einer symbolischen Absicht geleitet ist1).

Waren die Gurten, Dienste, Arkaden und Fensterrahmungen bisher Bestandteile desgeschlossenen Wandkörpers, nur gradweise Versinnlichung der in der Mauermasseschlummernden Kräfte und Gegenkräfte – dreiviertel oder halb eingeschmolzen in dieWand – so wird jetzt die zylindrische Rundform das alleinige, aus der Fessel des schwerenMauerkernes befreite Element des Aufbaues. So erklärt sich, daß das großartig stabileSystem von S. Trinité in Caen, bei dem sich Stabform und Mauerkern gegenseitig versteifthaben, in der Kathedrale von Laon zunächst merkwürdig aufgeweicht und zerstückelterscheint. Um das allseitige Durchwachsen der Glieder zu erleichtern, sind die Systeme derbeiden großen Klosterkirchen von Caen kombiniert, die Übereinanderordnung von Emporeund Triforium führt zum vierstockigen Aufbau. Daß es aber nur auf den durchgehendenGliederzusammenhang, nicht auf malerische Bereicherung ankommt (s. Gall a. a. O.),beweist der Wegfall der im Normannischen so beliebten Vierungskuppel (in Laon ist sieeine Ausnahme). An die Stelle des mit Wandteilen durchsetzten Kreuzpfeilers tritt imUntergeschoß der zylindrische Körper des Rundpfeilers. Darüber beginnt dieDifferenzierung der unten gesammelt auftretenden plastischen Kräfte. Dienstbündel steigenhoch, gliedern sich die schwächeren Röhrenformen an, und durchdringen dasTriforiengeschoß, bis sie sich als Rippen im Gewölbe verteilen. Das Durchwachsen derGlieder wird zugleich als ein Befreiungsvorgang erlebt. Nicht nur infolge abnehmenderBelastung, sondern dank der abnehmenden Breiten- und Tiefenbeziehungen entsteht derEindruck des Höhersteigens. Die aufgehenden Formen arbeiten sich stufenweise aus denGeschoßbindungen (Bogenschläge nach dem Seitenschiff, der Empore, schließlichBeschwerung durch die Triforiumswand) heraus, bis sie sich im Fenstergeschoß in freiemBogenschwung zu durchkreuzen vermögen. Verfolgt man diese Höhenbewegung einzelndurch, so zeigt sich die Schnellkraft der Glieder noch erhöht von den Horizontalteilungen,Wirteln und Gesimsen. Die plastische Durchgliederung und die vermehrte Geschoßteilungstehen also in steigerndem Verhältnis zueinander. Zugleich erklärt sich dadurch dasFesthalten, ja die erhöhte Freude an der basilikalen Stufung2).Die konstruktiv exakte Motivierung der ja schon im Romanischen vorhandenenStrukturformen führt also über den bloßen Gegensatz: Tragform und Füllform hinaus zum

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Erlebnis des Aufstiegs, der Grundsatz der Kräftezusammenziehung ermöglicht es, daß sichplastische Energien entfalten. Er erlaubt aber auch eine weitere folgenreiche Konstruktions-maßnahme: das Verlagern der fürs Innere notwendigen Stützkräfte nach außen. Daß diekünstlerische Absicht auf die hieraus entstehende Täuschung schon vorher hinzielte, erweistaußer dem oben Konstatierten die Beobachtung, daß die Rundpfeilerreihe des Unter-geschosses im Verhältnis zur Oberwand kräftiger gebildet wird. Es kann ein sichsteigernder Energieüberschuß der Rundsäulen innerhalb der Entwicklung von S. Denis bisParis verfolgt werden. Zur künstlichen Abstützung am Außenbau entschließt sich aber erstdie spätere Generation, der Baumeister der Kathedrale von Chartres. Jetzt wird die innersteAbsicht, auf welche die frühgotische Entwicklung hindrängte, offenbar. Der rhythmischeAblauf soll nicht nur beschleunigt werden (Wegfall der Emporen, der sechsteiligen Ge-wölbe), seine Schwungkraft wird durch die Verdünnung und Streckung der struktivenGlieder, von denen gleichzeitig die höchsten Raumdimensionen bewältigt erscheinen, biszum Unglaubhaften, Wunderbaren gesteigert. In Laon war der struktive Aufbau statischnoch durchaus plausibel erschienen, die Arkadenpfeiler hatten sichtbar säulenhaft die ganzeOberwand in die Höhe gehoben – es ist der „griechische Augenblick” der nordischenBaukunst –, jetzt erfuhren auch diese eine Veränderung, die von ihrem substanziellenGehalt und der einfachen Tragfunktion ablenkte. Die Arkadenpfeiler erscheinen verdünntund zugleich gestrafft durch begleitende Dienste, die die statisch wichtigsten Funktionen,Arkaden- und Gewölbestützung, allein zu versehen scheinen, während der Kern des Pfeilersseiner struktiven Aufgabe nach undeutbar bleibt. Ein Hauch nicht mehr erdnahenVerlorenseins an das Hochtreiben des Raumes legt sich bereits über das Gliedergerüst. Dasganze Innensystem hat eine bis dahin unerhörte Spannkraft erlangt. Die Dienste sind zuBlickbahnen geworden, die energisch und leicht in das Dämmer schwindelnd hoherGewölbe führen. Auf sie ist aller Scharfsinn, sind alle Künste der Überredung des Augesgesammelt. So kommt es notwendig zu der Umgruppierung der abstützenden Kräfte, diedem gotischen Bau erst das typische Gepräge gibt (und die erst die Schlankheit undFlüssigkeit des Innensystems ermöglicht). An dem äußeren Strebegerüst, auf das derungeheure Seitenschub des hohen Langschiffes abgeladen wird, ist die plastischeDifferenzierung besonders eindrucksvoll durchgeführt. Seine Bögen sind wie Lanzen gegendie breite Schulter der freistehenden Pfeiler gestemmt, sie nehmen im Gegenstoß dieSchubkraft der Gewölbe auf. An zwei Stellen greifen sie jetzt am Langhauskörper an, sodaß der größte Teil der Obergadenlast mit abgefangen wird. Höchst befremdlich erscheintder Aufwand, der in den Dienst des Innenraumes gestellt ist. Ein ins Grandiose gesteigerterDualismus tritt hier zutage. Wie für die Aufrechterhaltung der Herrschaft transzendenterOrdnungen alle Kräfte des Diesseits bereitstehen sollen, so halten die gewaltig gehäuftenStützkräfte der profanen Außenseite den in steile Höhe gehobenen Sakralraum aufrecht, indessen Innern die irdischen Schweregesetze durch das mühelose Hochsprießen der Diensteaufgehoben scheinen.Die sinnfällig gemachte Sammlung der statischen Kräfte und Gegenkräfte auf bestimmtePunkte ist wohl das Neue an der gotischen Wendung der Architektur. Aber sie wird dadurchnoch nicht genügend gegen die Folgezeit abgegrenzt, die Peterskuppel Michelangelos etwaist auch nach diesem Prinzip gestaltet und ist doch kein gotischer Eindruck. DasAusschlaggebende ist das Verhältnis der Außen- zur Innenarchitektur. Derarchitektonischen Auffassung beider stellt sich ein Unauflösbares entgegen. Denn nur demwissenden, nicht dem schauenden Betrachter erschließt sich das Richtungsziel, das demStrebeapparat am Äußeren seinen Sinn gibt. Und ebenso bleibt die Ursache des fastbeängstigenden Eindrucks der Schwerelosigkeit im Innern unerklärlich. Hier liegt derUnterschied zu aller vorausgehenden und nachfolgenden Architektur: Obwohl die plastische

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Differenzierung überall die statische Rechnung offenzulegen scheint, jene zu deren Nach-rechnung ständig anreizt, bleibt das Resultat des Kräftespiels in der Schwebe. Erst derfachmännischen Berechnung, die Außen- und Innensystem kontrolliert, löst sich das Rätsel,im Augenblick des Erlebnisses bleibt es verborgen. Ob angesichts dessen die Gotik zu einerrationalen oder irrationalen Architektur zu zählen ist, bleibe als Frage offen. Sie stellt sichbekanntlich in der Geschichte der Architektur noch einmal: vor den Bauten Guarinis undseiner Nachfolger. Ihnen wie aller Architektur gegenüber charakterisiert sich die Gotik alseine Bauweise, bei der ein strukturelles System mit einer die Schwergesetze nur scheinbarüberwindenden Konstruktion täuschend identifiziert ist. Die Rolle der Plastizierung für denEindruck des allseitigen Auftriebs wird noch einmal mit aller Schärfe offenbar. DasVerhältnis des Struktiven zum Konstruktiven ist es also, was uns über den Charakter derGotik genauer zu belehren vermag.

Hierfür diene noch ein Blick auf die Spätgotik. Am Übergang des Pfeilers zumGewölbe und dem Mißverhältnis beider zueinander verrät sich ihre antistrukturelle Ge-sinnung. Der Widerspruch zwischen dem Gewölbevolumen und der Pfeilerschlankheit ist sogroß, daß wir von vornherein auf die statische Rechnung verzichten. (Vgl. etwa Danzig,Artushof.) Aus der Zusammenhanglosigkeit der statisch wichtigen Teile (Pfeiler, Wand,Gewölbe) läßt sich deutlich die Absicht erkennen, den Beschauer von den struktivenWerten weg auf die räumlichen abzulenken. In Bezug auf die konstruktive Bewältigung derin die Höhe gestülpten Gewichte (Gewölbe, Türme, Kuppeln) sind wir also zum spontanenGlauben an die Wunderkräfte des Architektenverstandes gezwungen. Aber wir sehen dasSchweben der Kuppel als ein vollzogenes Faktum vor uns, insofern und dank der unserAuge überzeugenden neuen Stabilität des Räumlichen, ist uns der Glaube leicht gemacht.Der Unterschied zur Kathedralgotik ist also diese Konfrontation mit der bereits vollzogenenstatischen Rechnung. Daß sie sich unserer Kontrolle durch den Wegfall der strukturellenAnhaltspunkte entzieht, enthält den Hinweis auf eine menschliche Leistung, den Witz desKünstlers, der die Materie mit seinem Geist besiegt hat. Demgegenüber empfinden wir inder Gotik gerade das in-der-Schwebe-bleiben des konstruktiven Ausgleichs, für das uns dieGenauigkeit der struktiven Zusammenhänge ausdrücklich wach halten will. Die Begegnungder von außen angreifenden Abstützung mit der inneren Haltebedürftigkeit (denn dieSchwerelosigkeit des Innern erscheint dem normalen statischen Empfinden nur als fiktiv)wird als ein Vorgang, nicht als vollzogener Akt erlebt. So erscheint uns das Aufrechtstehendes gotischen Bauwerkes nicht von Menschenhand gewährleistet, sondern abhängiggehalten von einem höheren Willen. Die gotische Architektur wird für den ihren Intentionenfolgenden Betrachter zum Erlebnis einer Paradoxie, zu einem die Pole des Rationalen undJenseitigen gleichmäßig umfassenden Eindruck. Sie ist die Begegnung mit einemRätselhaften, das sich in schärfster Faßbarkeit zu versinnlichen scheint und sich gleichwohlder Lösung immerwährend entzieht.Ebenso unfaßbar wie das struktive Gleichgewicht bleibt der Umkreis der räumlichenDehnung3. Dies zeigt sich beim Abtasten der räumlichen Begrenzungen. Von der Vehemenzder gebogenen und senkrechten Blickbahnen in die Höhe gestoßen, scheint der Mittelschiff-Raum über das Gewölbe hinauszuschießen. Zwischen dem Gliedergerüst und selbst denGliedergruppen (Dienstbündel) vermögen wir überall durchzugreifen. Und durch denfarbigen Hauch der äußeren Fensterwand hindurch scheint die aufgetriebene räumlicheSubstanz hindurchzusickern. Noch mehr wird das Durchfluten des Raumes am Außenbauempfunden, wo auch die hier blinden Fensterscheiben keinen Halt mehr zu bietenvermögen. Dies wird besonders gegenüber der Spätgotik deutlich, wo gerade der räumlich

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gefestigte Ring der Kapellen den architektonischen Eindruck bestimmen soll. Der dort insUnendliche flutende Allraum ist hier sichtbar verendlicht, ja zur Person des baulichenOrganismus geworden4).

Zwischen diese beiden Pole des allseitig ins Unendliche getriebenen und des an dieörtlich festen Begrenzungen gefesselten Raumes schiebt sich die hochgotische Architektur.Es kann kein Zweifel sein, daß ihr Gesicht von beiden Extremen her wesentlich geformtsein wird.

Die Rezeptionen der Gotik in De u t sc h l a nd . Bis gegen die Mitte des 12. Jahr-hunderts war Deutschland selbständig an der europäischen Architekturentwicklungbeteiligt. Der rhythmischen Bereicherung und innigeren Verknüpfung der Teile, wie sie dierheinische Doppeljoch-Basilika mit sich brachte, stand eine gesteigerte Kräftigung undPräzision der Jochfolge bei den Hirsauern gegenüber. Das Äußere erlangte durchVermehrung der Türme und Einzelformen eine stetig wachsende Bestimmtheit, kurz, es istmindestens in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts noch durchaus von einer selbständigen,reichen und geschlossenen Entwicklung der deutschen Architektur zu sprechen.

Im Zeitraum von ca. 1150 bis 1250 dagegen bietet sich ein anderes Bild. SchonEnde des 12. Jahrhunderts tauchen fast überall plötzlich neue Formen auf, die häufig un-verbunden und fremdartig neben den seitherigen stehen und ihnen einen neuen Sinnaufzwingen wollen. Die Rippen im Gewölbe, Kreuzpfeiler mit Diensten im System undandersartige Ornamentformen im Detail, deutlich westlicher Abkunft, sind so häufiggewaltsame Umdeutung des im Kern romanisch gebliebenen Bausystems, daß man nichtden Eindruck haben kann, die Zeit habe nur auf einen Anstoß in der neuen Richtunggewartet. Die entstandene Zwiespältigkeit kann nicht wundernehmen, denn die neuenFormen sind ja Bruchstücke eines andersartigen, fertigen Systems – sowohl konstruktiv alsästhetisch –, nicht Variation des alten oder Übergangsform zu einem neuen. (EineAusnahmestellung nehmen allein die Bauten der Kölner Gegend und der Zisterzienser ein.)– Diesem Stadium, bei Dehio die Zeit der ersten Rezeption genannt, folgt zu Beginn des 13.Jahrhunderts eine Periode noch umfassenderer Übernahme französischer Form: die zweiteRezeption. An die Stelle des alten Bausystems tritt tatsächlich ein neues, aus derChampagne das viergeschossige mit achtteiligem Doppeljochgewölbe und aus Burgund daszweigeschossige durchlaufende Joch, meist in zisterziensischer Fassung, überall mitDiensten, Rippen und Strebeapparat (teils Strebepfeiler, teils schon Strebebogen).Außerdem wird der Chor jetzt polygon, ja zum Teil schon mit Umgang und Kapellenkranzversehen.

Gewiß, diese Bauten tragen noch Merkmale des Deutsch-Romanischen, haben vielWandmasse zwischen den Rundformen, zeigen auch mehr räumliche Qualitäten, das Systemist aber rein französisch. Deutschland steht auf der Stufe der französischen Frühgotik, aufder Stufe Laon; eine glänzende Reihe von Bauten wird in dieser Zeit errichtet.

Und darauf folgt die dritte Rezeption, Einbruch der Formen von Reims undAmiens, die Stufe Laon wird verdrängt. Aber an deren Stelle tritt, abgesehen von Straßburgund Köln, keine Blüte des gotischen Kathedralsystems. Es bietet sich statt dessen das Bildeiner aus primitiven Anfängen mühsam sich neu entfaltenden Architektur, kleine odermäßig große Bauten trifft man nur, in den Organismus der Städte bescheiden eingeordnet,zehrend von Einzelformen der französischen Gotik, ihrem ganz veränderten System nachnur ein Schatten des französischen.

Wie kam es zu diesem Zusammenbruch? Dehio macht dafür die Umwälzung aufpolitischem und sozialem Gebiet verantwortlich, den Niedergang der Staufer, der den desritterschaftlichen Adels nach sich zog.

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Dies sind die entscheidenden indirekten Ursachen, historische Parallelen. Die unmittelbarenGründe sind z. T. folgende: Schon die erste Rezeption war selten Aneignung fremderFormen aus eigener Initiative. Aus Dehio's und besonders Hamanns Forschungen gehthervor, daß fremde Bauleute in Deutschland eingezogen sind, vor allem am Rhein, aberauch im Norden und Osten Deutschlands. Südfranzösische, burgundische und normannischeFormen in ihrer eigentümlichsten Ausprägung treten auf und lassen auf Werkleute dieserGegenden schließen. Die leitenden Architekten mögen meist Deutsche gewesen sein (siehedas System), jedoch ohne die Fähigkeit das Fremde umzugestalten bzw. weiter-zuentwickeln. Für die Zeit der zweiten Rezeption aber müssen wir annehmen, daß diedeutschen Architekten (siehe Limburg a. d. L.; Trier, Liebfrauenkirche; Gelnhausen,Marienkirche und viele andere) direkt in Frankreich gelernt und das Wesen dieser Bautenvollkommen in sich aufgenommen haben, so daß es nur mit leichten, wenn auchcharakteristischen Veränderungen aus ihrer Hand hervorging, ein Vorgang, wie er sich inder ganzen europäischen Kunstgeschichte nicht mehr in dieser Breitenwirkung abgespielthat. Die genialste, spannungstiefste Leistung dieser Art ist der Langhausbau desStraßburger Münsters, dessen Meister nun schon das französische System in seiner letzten,dem Deutschen noch fremderen Ausprägung in sich aufgenommen und gleichzeitig durchseine Verräumlichung dem eigenen Empfinden einverleibt hat.

Der plötzliche steile Absturz von dieser Höhe zwingt zu folgender Erklärung: wirhaben es in dieser Zeit mit einem Baubetrieb zu tun, der sich von dem bisher in Deutschlandüblichen wesentlich unterscheidet. Wie auf anderen Gebieten damals, muß es auch in derArchitektur eine Oberschicht von Männern gegeben haben, die mit weitem Blick alleFormen des damaligen Kulturbereichs umfaßten und sich zu ihrer Aufnahme getriebenfühlten. Das Land, in dem sich die neuen, der aristokratisch-weltlich gerichteten Epochegemäßen Formen bildeten, war Frankreich. So wurde seine Kunst zur Norm und im eigenenLand eingeführt. An Stelle des alten, mehr örtlich gebundenen Baubetriebs tratenwandernde Hütten, die von Ort zu Ort zogen. Statt schlichter Hüttenmeister gab es jetztvielseitig sach- und kunstverständige Architekten, die neue Fertigkeiten, wie auch einenbisher unbekannten, individuell-künstlerischen Schöpferwillen besaßen.

Das wäre aber noch nicht die volle Erklärung für das so blühende und neuartigebauliche Leben. Wir wissen, daß eine Leidenschaft zum Bauen die damaligen Bauherrenergriffen hat. Fürsten, Bischöfe und adlige Chorherren sind die Auftraggeber der Hütten-werkstätten. Sie wollen die neuen Formen, die von ihrem Standesgeist erfüllt sind, um sichsehen, und so baut fast jeder Bischof einen neuen Dom, oft kaum, daß der romanische desVorgängers fertig war, baut jedes Stift eine neue Kirche. Vor allem am Rhein tummelt sichein ganzer Stab von Bauleuten aller Richtungen, von überall holt man sie zusammen, wieaus Hamanns Forschungen deutlich hervorgeht. Und während in Frankreich die Ent-wicklung des Systems die Hauptsache blieb, ist für Deutschland die individuelle Note, dieder Architekt – oft durch veränderte Bedingungen des Auftrages veranlaßt – demfranzösischen System zu geben weiß, das Kennzeichnende. So entstehen Bauten persön-lichster Prägung zu einer Zeit, wo die breite Masse nicht entfernt für Individualismus reifwar. Die Baukunst nähert sich für einen Augenblick einem ästhetisch-,,künstlerischen"Charakter.

Kehrseite dieser Hochzüchtung der Architektur war jedoch die Ablösung des Bau-betriebs von dem der breiteren Schichten und die Abhängigkeit von äußeren Anregungen.So kam es zu der dreimaligen Folge von Rezeptionen. Sie waren wohl individuell künst-lerische, aber nicht kulturelle Auseinandersetzungen. Das französische Bausystem warwesensfremd und konnte auf deutschem Boden nicht unmittelbar weiter entwickelt werden

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Der Abstand zwischen dem, was in den Hütten und dem, was von den ortsansässigenBauleuten gebaut wurde, war schließlich riesengroß. Wo eine wirkliche Verarbeitung einesTeiles der westlichen Ideen (auch der konstruktiven) erfolgt war, wie in den früh entwickeltenniederrheinischen Städten, führt sie zu einer gesteigerten Weiterentwicklung romanischerGestaltungsweise, zur „Spätromanik”, nicht etwa zur „Frühgotik”. Nur zu den Bauten derZisterzienser finden die breiten Schichten dank deren Verwandtschaft mit der deutschenTradition und der Stetigkeit ihrer Verbreitung einige Beziehung. In weiten Strichen aber bliebes bei der romanischen Bauweise, die sich gelegentlich sogar radikal rückläufig bewegte.(Schwäb. Gruppe; S. Thomas in Merseburg.)

Der Sturz der Staufer offenbart den ganzen Zwiespalt. Das blühende Leben derAdelskultur versinkt mit der Kaiserherrlichkeit und die Hütten verlieren damit ihre wichtigstenAuftraggeber. Was sich nicht in den wenigen noch weiter bestehenden Dombauhütten haltenkann, findet anscheinend nirgends Aufnahme, jedenfalls nicht in den Städten und muß nachdem Osten abwandern (vgl. Hamann, Bd. Lehnin). Die Hütten hinterlassen das breite Land ohneeine lebenskräftige Tradition, und die städtischen Handwerker, denen jetzt die meisten undwichtigsten baulichen Aufgaben zufallen, sehen sich, selber ohne eigenen Auftrieb, unvermitteltdem voll ausgereiften französischen Formenkanon gegenüber. So muß jetzt, kann jetzt erst dieeigentliche Auseinandersetzung mit der Gotik beginnen. Sie geschieht auf breitestemFundament, getragen von den neuen Auftraggebern, den Städten, und innerhalb dieser vor alleinvon den dort neu angesiedelten Bettelorden, die zuerst vor größeren Bauaufgaben stehen. Diehohe Kultur verschiebt sich von den Adelsständen zu den Bürgern der aufblühenden Städte.Wie sich diese Wandlung auf die Architektur auswirkt, das soll aus dem Folgendenhervorgehen.

Die Stilstufe 1250 bis 1300

Der Bau, welcher um 1250 die neue Stilrichtung überzeugend zum Ausdruckbringt, ist die Do mi n i kan er k i r ch e in Regensburg, also ein Bettelordensbau. (Der Chorwurde 1248 begonnen, das Schiff etwa 1260 ff. angeschlossen.)Betritt man das Innere, so zwingt das basilikal betonte, lichte Hochschiff unwiderstehlich indie mittlere Raumbahn. Von hier aus erschließt sich auf einen Blick der ganzeGliederungszusammenhang. Gleichmäßig reiht sich Joch an Joch, einfachst gebildet ausniedriger Arkade und Achteckpfeiler mit vier Diensten, von denen der vorderste unmittelbarins Gewölbe hinaufreicht. Die Wand, an der er entlangstreicht, ist kahl und hochhinaufgezogen, sie dehnt sich machtvoll als kontinuierliche Fläche durch die ganzeRaumtiefe hin. Die Fenster im Obergaden sitzen in ihr ohne Bindung, man spürt kaum dieHöhengleichheit ihrer Sohlbank mit der Kämpferzone. Die Gewölbefelder,schmalrechteckig, von einfachen Kehlrippen durchkreuzt, unterstreichen den Ablauf derJoche durch den Verzicht auf die Gurtrippenbetonung: alle Rippen zerschneiden in gleicherStärke die Kappenflächen. Zwischen der Arkadenreihe und den Gewölben fehlt eineGesimswaagrechte, die weite Obergadenfläche wird nur von den Senkrechten der Dienstegeteilt. Diese setzen sich ununterbrochen sechs Joche tief fort durch die Länge desMittelschiffes und weiter im Chor (das Querschiff ist also ausgeschieden), wo zwar dieArkaden sich schließen, die Dienste aber in einiger Höhe auf Konsolen beginnen und vierweitere Gewölbeabschnitte tragen. Die ebenfalls langgestreckten Seitenchöre bleiben vomHochchor getrennt, sie sind also dem Blickfeld im Hauptschiff entzogen. Im Chorpolygon(mit breitem Fünfachtelschluß) steigen die Dienste wieder vom Boden auf und werdenbegleitet von langen, schmal

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gepreßten Fenstern mit zweigeteiltem Maß-werk. Der Übergang vom Langhaus zum Chorvollzieht sich bruchlos; der sonst üblicheTrennungsbogen ist auch in den Seitenschiffengefallen. Der Chor setzt also das Langschiffunmittelbar fort, mit der Abwandlung, daß dieLangformen in ihm noch ausschließlicherherrschen. Die Senkrechten bleiben hier freivon der Bogenbeziehung nach demSeitenschiff und werden vom Lichteinfall derhohen Fenster noch schärfer als dortherausgehoben.

Die geschlossene Wandfläche, die sich überund hinter den Teilungsgliedern ausbreitet, istnicht als schwere Mauer charakterisiert. Zwarzeigt das Arkadenprofil, aus abgeschrägtemUnterzug vor rechteckiger Grundflächezusammengesetzt, entschiedene Bogenführungund kräftige Kanten, verglichen aber mit derromanisch breiten Bogenführung erscheint esdünn und mager zugespitzt. Die Wand wirktdadurch selbst verdünnt, fast schwerelos, sie

erscheint als der neutrale, einheitliche Grund, vor dem die Jochteilung sich vollzieht. DieGewölbefelder sind gleich der Wand entlastete Flächen, in Form und Richtung von den Rippenund Gurten bestimmt.

Entsprechend sind die Details, ausgenommen die Röhrenformen der Dienste,flächige Gebilde; die Rippen erscheinen als leichtgekehlte Bänder, der Pfeilerkern isteinfach acht-kantig ohne Basisglieder und Kämpfer. Daß er nicht ganz mit der Oberwandverschmilzt, hindern allein die als Trennungsglieder an den Schrägflächen sitzendenKonsolen. Diese und die Archivolte sind ebenfalls glattflächig geschnitten. Die Pfeiler sindnur noch durch die helle Masse ihrer Kalksteinquaderung gegen die Putzfläche derObergadenwand abgesetzt. Wie ihre Form im Ganzen ist auch jede Einzelheit vereinfacht, dasKelchkapitell ist glatt, die Platte darüber unprofiliert achteckig, desgleichen dieSockelplatte, es herrscht die harte, kompakte Form. (Dies gilt für die östlichen Joche, in denspäteren westlichen nimmt die Kantenschärfe zu, die Frische und Ausladung ab,entsprechend den allgemeinen Stiltendenzen.)

Als die wichtigste Gliederungsform hebt sich der Obergadendienst heraus. Durchihn werden die oben und unten aufgereihten Motive (Gewölbe und Arkaden) in strengeSenkrechtenbahnen gezwungen. Andere Beziehungen fehlen mit Ausnahme des Arkaden-zuges und der Rippendurchkreuzung im Gewölbe. Beide sind der Vertikalteilunguntergeordnet bzw. ihr angeähnelt. Als Hauptmerkmale des Systems prägen sich ein: dieschrankenlose Senkrechtenorganisation durch die Vereinfachung des Joches und, dank derzäsurlosen Reihung, der fließende Ablauf nach der Tiefe.In der Außenansicht bestätigen sich die Eindrücke vom Innern. Mit steiler Wucht stößt derHochchor aus der Tiefe des Schiffes zwischen den Seitenchören hervor. Diese bleiben umein Joch hinter jenem zurück. Der Hochchor ist auch hier der steillinig vereinfachte Auslaufdes Langschiffkörpers. Seine Gliederung ist von simpel großartiger Wirkung. Diemit kräftigen Rundstäben besetzten Fenster durchschneiden schroff die rechts

Abb. 1. Regensburg, Dominikanerkirche

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und links stehengebliebene Fläche. Neben ihnen erscheinen die Strebepfeiler fast zierlich.In kurzen Abständen dynamisch gestuft begleiten sie verstärkend die Fenstersenkrechten.Die Reihung der Fenster und Pfeiler setzt sich am Schiff außen ununterbrochen fort. KeinTurm, kein Querbau stört die Folge, keine Strebebogen zerstücken die geschlossene Fläche.Diese wird auch hier niemand als romanisch massive Wand auffassen. Dies hindert schonihre leichte Brechung zum Polygon. Die Fenster schneiden nicht in eine tiefe, eigenschwereMasse, sie sitzen knapp an der Außenfläche; diese wirkt eher wie straff gespannte Haut,zumal eigentliche Gesimse fehlen, nur die Fenstersohlbank ist als flache Schrägeweitergeführt. Wie im Innern entwickeln sich an der Wand als glattem Grund die senkrechtaufschießenden Teilungsglieder: Fenster, Stäbe und Strebepfeiler. Ihre durch keinquergerichtetes Motiv unterbrochene Längserstreckung ist das Bestimmende für denEindruck.

Gegen den Chor als Ziel der aufgereihten Motive tritt die Eingangsfront anBedeutung zurück. Sie ist weniger Gesicht als Querschnitt des Baukörpers, die schlichteEröffnung des geradlinigen Tiefenkurses. Errichtet wurde sie erst im letzten Viertel des 14.Jahrhunderts (so lange zog sich die Bauzeit des Langhauses hin) und hat dementsprechendeine gewisse räumliche Stabilität, doch wäre sie hundert Jahre früher nicht viel andersaufgeteilt worden. Das Doppelportal im Mittelfeld ist unscheinbar. Auf dem Gesimsdarüber erhebt sich ein sechsteiliges Fenster, das ein gut Teil der Fläche verschlingt. DieStrebepfeiler stoßen kräftig vor und rahmen das Mittelfeld ab gegen die unbetontenSeitenschifffronten, die nur von je einem dreiteiligen Fenster durchbrochen sind. Nochbleibt alles in die zweite Dimension gepreßt, wie in den Ostteilen.

Hält man dagegen das französische Kathedralsystem, das sich ja eben erst vollkonstituiert hat, so drängt sich zuerst das Trennende auf. Es bekundet sich vor allem inWeglassungen, in der Verarmung. Im Innern fehlt das Triforiengeschoß und die reicheTeilung der Fensteröffnungen. Man vermißt die Dienstbündel und die formenreichenKapitelle, der Entfaltung von Glasmalerei bleibt wenig Raum. Ähnlich ist das Äußereverändert. Die kraftstrotzenden Pfeiler, kühn gesprengten Strebebogen, der ganze Ansturmder Stützkräfte ist verwandelt, abgeflacht zu den einfachsten Stab- und Lisenenformen, dieeine kahle, indifferente Wandfläche gliedern. Auch hier keine geschoßteilenden Gesimse,keine Blatt- und Stengelformen, nicht das geringste Stück Ornament. Der ganze Reichtuman Phantasie erscheint dahingeschwunden. Die Stufung und differenzierte Gliederung, derpackende Dualismus von Außen und Innen ist konsequent abgelehnt.Übernommen ist allein der einseitig nach oben zielende Gliederzusammenhang inVerbindung mit dem Dominieren des Mittelschiffraumes, und vom struktiven System ist dieVerdünnung der scheinbar allein tragenden Teile übriggeblieben. Aber schon an diesemPunkt, fragen wir weiter nach der konstruktiven Rolle der struktiven Teile, stößt man aufein grundsätzlich anderes Prinzip. Denn die in Regensburg noch besonders verdünnteGewölbestützung im Innern ergänzt sich am Äußern nicht entsprechend den Erwartungen,die unser statisches Empfinden heischt. Wir treffen im gleichen Grade geschwächteStrebevorlagen an, bleiben also über die tatsächlich abstützenden Kräfte auch hier imUnklaren. Statt des dramatisch bewegten Balancespieles, in das wir leidenschaftlichhineingerissen sein sollen, sehen wir uns einem statischen Vorgang gegenüber, von dem wirwohl knappe Hinweise (in Gestalt der Dienste bzw. Strebevorlagen) aufgreifen, desseneigentliches Hin- und Widerspiel sich unserer Kontrolle aber geheimnisvoll entzieht. Esgibt sich in der äußerlich faßbaren Stützform nicht eigentlich tätig kund, bleibt vielmehrAndeutung, während die eigentliche statische Auseinandersetzung in die Fläche gebannterscheint. Es wird mit einem Male verständlich, warum die Wand in Regensburg eine soeigentümlich magische Wirkung ausübt. Und dies, trotzdem ihr jeglicher Ausdruck eigenen

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Innenlebens, wie es sich etwa in der romanischen Wandgliederung äußert, benommen ist.Gerade dieser Unterschied weist uns darauf, daß das Regensburger System nicht einfachrudimentär romanisch geblieben ist, wenn auch das Ausbreiten der Wandfläche sich von derromanischen Tradition herleitet. Dieses hat aber nicht mehr den Sinn, den Raum mit derMasse statisch betonter Quaderschichten zu ummauern. Durch den Charakter der in sieeinschneidenden und an ihr entlangstreichenden Formen ist sie vielmehr als Masseentwertet und zugleich zum dynamisch wirksamen Faktor gestempelt. Statt mit ihremEigengewicht auf die Stützglieder zu drücken, wie es in der romanischen Bauweise der Fallist, vermag sie deren Schnellkraft zu steigern, um von ihr selbst mitgerissen zu werden. Diebaulichen Elemente helfen wechselseitig – die Wand nur mittelbar, die Dienste undSpitzbogen ganz unmittelbar –, den Raum dynamisch zu beschwingen.

Dies geschieht im einzelnen dadurch, daß der Gegensatz zwischen der scheinbarstatischen Leistung und dem Aufwand dafür noch mehr als in der französischen Gotikübertrieben wird. Statt mehrerer Obergadendienste ist es nur noch einer. Dieser aber ist inseiner funktionalen Bedeutung gerade durch seine Vereinzelung gegenüber der leerenWandfläche gesteigert. Das Verhältnis der konstruktiv tätigen Teile zu den dynamischwirksamen hat sich gegenüber der klassischen Gotik völlig verschoben. Nicht nur, daß diekonstruktiv wichtigste Größe in Regensburg, die Wand, in ihrer statischen Funktionunkontrollierbar bleibt (keine Quaderschichtung!), – sie erscheint selbst als gewichtlos unddient zugleich der Unterstreichung der scheinkonstruktiv wichtigsten Teile, die aber statischso gut wie unnötig sind. Fielen im klassisch gotischen System die struktiv bedeutsamenTeile mit den konstruktiv tätigen zusammen, so sind also jetzt die konstruktiven als solcheunfaßbar, die struktiven aber konstruktiv reine Fiktion. Diese Verschiebung geschieht imDienst einer bestimmten Absicht: den funktionellen Ausdruck zu steigern und dasdualistische Gegenspiel in ein gleichgerichtetes Aufwärtsdringen zu verwandeln. Damit trittbereits um 1250 ein Gestaltungsprinzip hervor, das dann um 1280 in der StraßburgerFassade seine vollkommene Verwirklichung findet.

Mit dem Vertikalismus der Gotik ist also erst hier völliger Ernst gemacht, aller-dings auf Kosten des Erlebnisses der allmählichen Höhengewinnung. Mit dem freistehendenGerüst sind auch die plastisch eigenkräftigen Glieder aufgeopfert. Das konstruktive Lebenist in der dumpfen Fläche festgebannt um den Preis des beglückenden Gefühls, die dyna-mischen Ausdrucksformen zugleich konstruktiv tätig zu erleben. Es wird damit der Zu-sammenhang der plastisch geschwellten Formgebung mit dem klassisch gotischenKonstruktionsprinzip nach einer neuen Seite beleuchtet. Einzig das komplexe konstruktiv-struktive Denken vermochte die Schnellkraft der Glieder in dem Grade zu wecken, wie ihndie klassisch gotische Zeit (und zum Teil auch die deutsche Frühgotik) erreicht hat. ImAugenblick, wo die beiden Faktoren auseinandertreten, zeigt sich das plastische Lebenerstarrt oder erschlafft. Dafür ist die Veränderung des Details in Regensburg der deutlicheBeweis. Es ist also nicht mittelalterlich und nicht tektonisch gedacht, zu erwarten, dieplastische Energie müßte sich in dem Augenblick, wo sie von der konstruktiven Aufgabebefreit ist, erst in ihrer vollen Stärke dokumentieren. (Vgl. dagegen Barockarchitektur.)Tatsächlich erstarrt sie im gleichen Maße, in dem sie entlastet ist und lebt wieder auf, wosie von neuem konstruktiv dienstbar gemacht wird (s. die Parlerarchitektur).Es ist daher nur folgerichtig, wenn auch im Regensburger System der ganze Reichtum derBeziehungen weggefallen bzw. übergangen ist. Daß andererseits diejenigen Motivebeibehalten werden, die funktional am unmittelbarsten wirksam sind. Der Umgangschor mitKapellen, in den sich das plastische Leben am vielfältigsten verströmte, mußte ebensofallen wie das Triforium, das der unmittelbaren Aufwärtsstreckung entgegenstand. Der

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Vorwärtsbewegung mußte das Querschiff geopfert werden. Mit dem Reichtum an rhyth-mischem Leben (wie er sich in den vielen Bogenmotiven, Gesimsen und Diensten erzeugte)wird auch die Vielgestaltigkeit der Einzelform (Stabprofile, Laubwerk an Gesimsen undKapitellen, Bauplastik) als störend empfunden. Dagegen sind alle Motive, die der Weg-räumung der Last, der hemmungslosen Senkrechtenteilung dienen konnten, nicht nurbeibehalten, sondern in ihrer Wirkung noch verstärkt. So sind die Spitzbogen der Arkadengesteilt, sind die Gewölbeträger auf einen Dienst reduziert und ist dieser über die Kämpfer-zone absatzlos hochgeführt (in Reims und Amiens setzt er hier neu an). Wir spüren:Auswahl und Ablehnung geschehen nach einem Prinzip, sie entspringen nicht bloßerNegation bzw. erklären sich aus dem Gebot, das Kathedralsystem für bescheidenere Zweckezuzurichten – in voller Zielsicherheit sind sie das Organ der Absicht, den plastischdurchfühlten gotischen Gliederbau zum abstrakt-funktional organisierten Einheitsgebildeumzuprägen.

Sehen wir diese Wendung im Zusammenhang mit der französisch-gotischen Ent-wicklung, so stellen sich die Veränderungen in Regensburg als eine weitere Steigerung derReimser Stilstufe dar. Auch der Übrgang von Laon zu Reims ging mit einer ReduktionHand in Hand: der Ausschaltung der Empore und des sechsteiligen Doppeljoches. Auchdies war schon im Dienst der Straffung und Senkrechtenbetonung geschehen. Man kannsagen, Laon verhält sich zu Reims wie dieses zu Regensburg. Dies gilt noch mehr für dasVerhältnis von Ausdrucksform und Konstruktionsform. Sie waren in Laon identisch undbewegen sich von Chartres an (wenigstens hinsichtlich des Innensystems) zunehmendauseinander. In Reims selbst schon ist der Pfeiler auf dem Weg zum funktionalenStilprinzip. Der dortige Rundpfeiler mit vier Diensten, gewiß im französisch-gotischenEntwicklungszusammenhang mehr als die Übergangsform vom kompakten Rundpfeiler zumBündelpfeiler zu bewerten, entspricht doch ganz dem Regensburger Typus (noch genauerfindet er sich in Marburg und der Kölner Minoritenkirche). Tragender Rundkern undfunktionale Blickbahn (in Gestalt der Dienste) zeigen sich schon ebenso gespalten wie es inRegensburg Dienste und Wand sind. Mit dem Unterschied allerdings (der eben dieStildifferenz ausmacht!), daß auch hier nicht mehr die Wand als tragend empfunden wird.

Damit sind wir noch einmal auf dieses neuartige Bauelement gewiesen, das alseinziges Positives den vielen Reduktionen gegenübersteht: auf die Wand als entlastete unddoch bestimmende Fläche. Von der romanischen Wand scheidet sie, daß sie elastisch, keinstatisch fester Körper ist. Noch genauer, sie ist im Gegensatz zu der aus Quaderstückengeschichteten, wieder auflösbar scheinenden Wand die einheitlich und fest ausgespannteHaut, die als ein Ganzes zwischen die Schiffe geschaltet ist. Daß sie als solche bestimmend,raumverendlichend ist, trennt sie ebenso scharf von aller vorromanisch-frühchristlichenArchitektur, die die Wand nicht als sichere Fläche kennt, sie vielmehr durch ihre eigene Artvon Dekor (figürliches Mosaik) überall negiert.Es bleibt zu bezeichnen, was sie von der Spätgotik trennt und was sie durch die Verbindungmit dem klassisch-gotischen Jochsystem für dessen Funktion bedeutet. Dies führt an denPunkt, wo die hier gegebene Interpretation sich von der stilistischen Einordnungunterscheidet, die Richard Krautheimer der Regensburger Dominikanerkirche zukommenläßt. (Die Kirchen der Bettelorden S. 28 bis 44.) Krautheimer, der den Bau ebenfalls zumGegenstand einer ausführlichen Analyse genommen hat, bekräftigt zwar vielfach die hierversuchte Stildeutung, bezieht aber die Formtatsachen, die er ermittelt, unmittelbar – um sienur ja gegen die klassische Gotik abzugrenzen – auf die Spätgotik. Die kritische Stelle istda, wo Krautheimer die Zusammenbindung des Raumes durch die vereinfachte Jochreihungin dem Sinne deutet, als ziele sie auf dessen unmi t t e lbare Verschmelzung. Gewiß

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steht auch hinter der Regensburger Lösung das Verlangen, des Raumes als Ganzem Herr zuwerden, stärker und leichter als es in der klassischen Gotik möglich war. Aber wann diestatsächlich erfolgt ist, und mit welchen Mitteln, das zeigt etwa der Blick auf einefünfzehnjahrhundertliche Basilika wie das Ulmer Münster oder die Amanduskirche inUrach (Abb. Berühmte Kunstst. bzw. Württ. Inv.). Gerade weil der Innenraum dort noch inder bayrisch-schwäbischen Basilikaltradition der Hochgotik steht, eignet er sich zumVergleich. Das Gewölbe schwebt hier als einheitliches Geflecht hoch über derArkadenreihe. Aber deren Hochschiffdienste – in anderen Fällen fehlen sie bereits –vermögen eben nicht mehr wirklich jochbindende Kräfte auszustrahlen. Sie sind zu bloßoptischen Blickbahnen entwertet, ihre durchteilende Funktion ist damit erlahmt. Denn diesehängt von der Gespanntheit der Formbeziehungen zueinander ab, die in dem Augenblickerlischt, wo die baulichen Elemente sich zuerst nach anderen Brennpunktenzusammenordnen als dem des Jochzusammenhanges. So gruppieren sich die Gewölberippenzu Stern- und Netzfigurationen, ehe sie die Beziehung zu den Seitenschifföffnungen suchen.So bilden deren Rahmungen ihrerseits eine Bogen-Folge, die ebenfalls zuerst alsselbständiges Motiv aufgefaßt sein will. Die Wandfläche dazwischen aber bleibtbeziehungsfrei. Sie hat gleich den Gewölben und Pfeilern (jetzt erst!) den vollen stofflichenReiz gewonnen, der ihr eigen sein kann: als spiegelglatt geschärfte Fläche kontrastierendgegen die Stab- und Rippenfigurationen zu stehen, die sich ebenfalls stofflich gegen sieabheben sollen. Es wird noch verkannt, daß neben den grundrißlichen Veränderungen erstdiese die stofflichen Gegensätze ausspielende Verselbständigung der Baukörpergruppen denRaum als Einheit, als Person fühlbar zu machen und damit den Jochzusammenhangaufzusprengen vermag. Wo also die Jochbeziehungen unangetastet geblieben, ja sogarbetont sind, ist es unmöglich, den Raum als „verschmolzenes” Ganze zu erfassen. DieRichtigkeit dieser Argumentation vorausgesetzt, bringt daher Krautheimer, wenn er denRegensburger Bau mit Berufung auf die bindende Kraft der Joche zur Spätgotik zieht, einerichtige Beobachtung in einen falschen Stilzusammenhang. Es scheint auch, als seien ihmnur diesem zulieb die Thesen entschlüpft, die die räumliche Verschmolzenheit (gegen seineeigene, die Jochbindungen betonende Interpretation) glaubhaft machen sollen. Die von ihmangeführten Gründe, nach denen die letzte spätgotische Wirkung des Regensburger Raumesdoch nicht zustande komme, besagen wohl Negatives (nicht aufgelösterJochzusammenhang), geben dagegen über die positiven Beziehungen zur Spätgotik keineAuskunft. Denn daß der Raum „als Ganzes vom Gewölbe ergriffen” sei, KrautheimersHauptargument für seine Spätgotikinterpretation, gilt gerade für alle vor-spätgotischemittelalterliche Architektur (im besonderen für die südfranzösischen Tonnenhallen) mehrals für die spätgotische, bei der die bis zum Boden herab verlängerten Gewölbeteilungen jamöglichst ausgemerzt sind. Nur insofern diese im Regensburger System in rascher Folgedurchlaufen werden können, vermögen sie den Raumzusammenhang zu fördern.Dafür ist aber neben der Jochvereinfachung vor allem die elastisch gespannte Wandherangezogen, die, weit entfernt, die Jochteilung zu behindern, sie in ihrer Zielschärfe undEnergie zu steigern vermag. Der Gegensatz der bunten Glaswand zum Gliedergerüst derklassischen Gotik leistet gerade diese neue, durch die Fläche erzeugte Spannung noch nicht.Diese neue Funktion, die Freude an den die Gliederformen hinterfangenden Ebenen ist eineeuropäische Angelegenheit. Nicht nur in der Architektur, auch in der ganzen europäischenMalerei wird vom mittleren 13. Jahrhundert an die Fläche immer reiner und präziserempfunden, ja diese Wendung wird vor allem auf italienischem Boden zur entscheidendenFormbedingung für die zwei Jahrhunderte währende Hochblüte der Monumentalmalerei.Wo die Fläche in der Architektur sich als glatter, aber stofflich neutraler

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Grund hinter die Jochteilungen schiebt, da straffen sich, genau wie in der Malerei, dieLinien und schießen die Formen, auch wenn sie einander noch so fremd sind, innigzusammen. So kommt es dann, daß die an plastischer Energie so arm gewordeneKörperform in Regensburg doch die gotische Kathedrale an Straffheit und dynamischerPräzision übertrifft.

Was dabei der Einheitlichkeit des Raumes zugutekommt, ist also nur mittelbarAufgewandtes; unmittelbar entsteht aus dem vereinigten Zusammenwirken der Körper-elemente nicht der vereinheitlichte Raum, sondern das bis zur Grenze des Möglichen, auchdes Unsinnlichen, verflüssigte Jochsystem. Dieses als Zeugnis eines eigenen Stilwillensanzuerkennen, fehlte hei Krautheimer nur noch der Entschluß, die überkommene Stil-Alternative Gotik – Spätgotik aufzugeben.

Von diesem Schritt hängt es ab, ob man aus dem Dilemma frei wird, das Ein-heitlichwerden des Raumes in einem Atem mit seinem Unvollständigbleiben –hervorgerufen durch die Basilikalform – konstatieren zu müssen. Der Regensburger Raumverdankt seine Wirkung gerade der Geschlossenheit seiner Konzeption, seiner stilistischenEinheitlichkeit. Dies nicht zuletzt, weil man spürt, Basilikalform und Jochsystem wirken,statt innerlich auseinanderzuklaffen, vielmehr eng zusammen. Es fällt noch einmal Licht aufdie entscheidende Rolle der Fläche: daß diese sich zu entfalten vermag, ihre Wirkung alsFolie üben kann, dafür muß die Mittelschiffstreckung mit der hohen Obergadenwand dasein. Gerade die vereinheitlichende Kraft des Jochsystems hängt also von der Basilikalformab. Man kann soweit gehen, zu sagen, daß diese viel mehr darum gewählt oder beibehaltenist, die gestraffte Senkrechtenorganisation zu ermöglichen, als etwa um den traditionellenRaumtypus bzw. dessen hierarchisch-aristokratischen Grundzug festzuhalten. Die Bettel-orden besonders suchen ja die hochmittelalterliche Gestuftheit der Werte mehr zu ver-meiden als zu betonen. Daher lassen sie schon mit Konsequenz die Querhausteilung undden (bei den Zisterziensern z. B. noch länger beliebten) Kapellenkranz fallen.

Nur aus ihrer überzeugenden Geschlossenheit kann sich auch erklären, daß die mitden Regensburger Formmitteln gewonnene gradweise Raumvereinheitlichung solcheVerbreitung gefunden und über 150 Jahre – bis zum Ulmer Münsterlanghaus und dengroßen Breslauer Pfarrkirchen hin – besonders im Großbau beliebt war. Sie bleibt mitBetonung an die Basilikalform gebunden, so wie der zweite zu ähnlicher Gültigkeitkommende Versuch der Hochgotik, den Raum zu vereinheitlichen, sich der Hallenformbedient. Erst über diesen (Soester Wiesenkirche), nicht über den Regensburger Typus bahntsich einer der direkten Wege zur Spätgotik. Daß keiner der Bettelordensbauten, d. h. der bisgegen 1300 aufkommenden Typen unmittelbar an die Schwelle des Spätgotischenheranzuführen vermag, muß auch Krautheimer zugestehen.Um so mehr ist nach ihrem stilistischen Eigencharakter zu fragen. Wohl mag man in derRegensburger Dominikanerkirche, visiert man von ihr einseitig auf die Spätgotik, etwas wieeinen genialen Handstreich sehen, diese zu gewinnen, einen kecken Abkürzungsversuch dernotwendigen Entwicklungsstrecke. Aber diesen Eindruck will, eher als dieVereinheitlichung des Jochsystems, die raumabschnürende Wirkung der Wände erzeugen.Gegenüber der klassisch-gotischen Raumdurchlässigkeit wird die Realität derWandumhüllung mit Recht stark empfunden. Sie tritt an die Stelle der gitterförmigaufgelösten Schiffteilungen und ungreifbaren Glaswände, in denen noch einmal in sublimerForm die schimmernde Haut frühchristlicher Mosaikwände aufleuchtet. Aber dieserRückschlag auf die klassisch-gotische Allraumdehnung, dieser erste Grad derVerendlichung der wogenden Raumsubstanz, ist doch erst eine Stufe auf dem Wege zurSpätgotik. Denn während in dieser die Fläche selbständig raumumhegend ist, ungeteilterfester Raummantel – die reinsten

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Beispiele sind Amberg, München (Frauenkirche) und Danzig (Marienkirche) – ist sie in derHochgotik immer untrennbar von der Jochteilung. Nur in einem Punkt mag man inRegensburg unmittelbar an Spätgotikbauten denken. An diejenigen, bei denen die dreiSchiffe als geschlossene Längskuben nebeneinander liegen. Scheinbar bewirkt inRegensburg die Arkadenwand das gleiche. Doch fehlt zum Eindruck des geschlossenenRaumbildes in den Schiffen die Einheit des Gewölbefeldes. Und wieder sind es dieLangdienste, die die gleichlaufende Teilung der Seitenschiffe mehr verdeutlichen, alsspätgotisch denkbar ist. Doch ist es sicher kein Zufall, daß sich dieser Parallelraumtypus im15. Jahrhundert (von Basiliken wäre die Landsberger Pfarrkirche, von Hallen hauptsächlichdie Stethaimer folgende Gruppe zu nennen) vorwiegend in Bayern findet. Es ist schonimmer das dort übliche gewesen, die Schiffe hart durch Wände zu trennen. Auch die engenPfeilerstellungen der bayerischen Hallen (siehe besonders Münchener Frauenkirche) rufennoch diesen Eindruck hervor. So klärt sich dieser einzige spätgotische Zug in derRegensburger Kirche mehr als stammesmäßige, wie als stilistische Eigenart auf. Eng mitdieser verknüpft ist auch die Freude an der dumpfen, gesimslosen Mauerhülle, so daß sichalso auch das Vorherrschen der Wand in Regensburg aus der bayerischen Bautraditionbegründet (nicht etwa aus der Zisterzienserbaukunst). Wie es sich im Speziellen historischerklärt, soll weiter unten noch die genetische Ableitung ergeben.

Gegenüber der späteren Hochgotik (um und nach 1300) sei zunächst soviel her-vorgehoben: Charakteristisch für den Zeitraum von 1250-1300 ist, daß die Einzelformennoch in der Prägung der klassischen Gotik belassen bleiben. Sie werden nur gegen dieFläche hart abgesetzt. Wenn einzelne Formen, Gesimse, Profile, Hohlkehle oder einPfeilerkern wie in Regensburg abgeschrägt und flächig gebildet werden, bedeutet das wohlVereinfachung, aber noch nicht Verflüchtigung des plastischen Gehaltes. Doch ist erimmerhin wesentlich verändert gegen früher, seine frische, expansive „Plastizität” istüberdehnt, gegen die Fläche isoliert, erstarrt. Die neue Funktion, etwa desObergadendienstes, nur vertikale Teilungsform zu sein, hat seiner Rundform zwar noch dieForm, aber nicht mehr die sprießende Kraft gelassen. In welchem Maße die plastischeEnergie abgeschwächt ist, zeigt sich besonders greifbar am Äußeren, wo die Strebepfeilernicht mehr über den Baukörper hinausragen, sondern kaum noch das Dachgesims, oft nichteinmal die Scheitelhöhe der Fenster erreichen. Nur in seltenen Fällen wagt man dasStrebebogensystem in den freien Luftraum zu stellen, die Chöre jedenfalls vermeiden dasExponieren der starren Pfeilerkörper und schließen fast durchweg stumpf oben ab. (ImWesten stets mit Fiale.)

Gegen Ende des 13. Jahrhunderts kommt es da und dort zu einer Lockerung derFormenstarrheit durch Vermehrung der Glieder. Ihre Eigenkraft haben diese aber endgültigeingebüßt, die Erhöhung ihrer Zahl bereitet ihre Assimilierung vor. Das System im Ganzenerfährt im letzten Viertel des Jahrhunderts eine zunehmende Radikalisierung derSenkrechtenorganisation. In Regensburg trat sie noch zurückhaltend auf gegenüber später,wo sie in Verbindung mit der gesteigerten Schlankheit etwas Gewaltsames bekommt, vorallem in Bauten wie der Lübecker Marienkirche und der Predigerkirche in Erfurt. Dochbesteht kein Anlaß, diese späteren Bauten zu einer besonderen Stilgruppezusammenzufassen. Ihre Veränderungen bewegen sich durchaus auf der Linie desRegensburger Stilprinzips.

BasilikenEhe der Regensburger Dominikanerkirche ähnliche Bauten an die Seite gestellt werden, seiihre bauhistorische Ableitung nachgetragen, sie vermag für das Zustandekommen deshochgotischen Stilwandels Aufschlüsse zu geben. Die mit Wand durchsetzte Pfeiler-

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form zeigt den Weg. Der kantige Kern mit den lose angesetzten Diensten hat seine nächsteParallele bzw. Vorstufe in der Abteikirche von Jàk in Ungarn (Abb. bei R. Hamann,Deutsche und französische Kunst im Mittelalter II, 1923, S. 155 ff.). Der Bau gehört in denKreis der südostdeutschen Architektur des 13. Jahrhunderts, deren Kenntnis Hamannverdankt wird. Der Pfeilerkern ist hier ebenfalls achteckig und mit lose sitzenden Dienstenbesetzt. Zwar sind es hier acht, die schräg gegen die Archivolte anstoßenden Kapitelle dervier Diagonaldienste, sind aber leicht in den Regensburger Konsolen wiederzuerkennen.Auch hier führt ein einzelner Dienst in die Höhe, allerdings von einem Kapitell inKämpferhöhe unterbrochen. Der durchlaufende Dienst findet sich im gleichen Bautenkreisin der Zisterzienserkirche von T i s c h n o w i t z (Hamann, a. a. O., S. 247/248), wo derPfeiler im Kern statt achteckig quadratisch ist mit abgefasten Ecken, und wie in Regensburgmit losen Diensten besetzt ist. Auch hier führt der Dienst an kahlen Flächen in die Höheund wie in Jàk fehlt das Gesims, das sonst den Obergaden abtrennt. Tischnowitz hat auchschon das Regensburger Arkadenprofil, das die Wand erleichtert: schräg geschnittenenUnterzug vor glatter Archivolte. Die Rippen sind schon gekehlt, die Kelchkapitelle wie inRegensburg glatt und achteckig abgedeckt. Auch die von Krautheimer beobachteteRechteck-Vorlage des Dienstes, die teilweise durch die Putzfläche durchschimmert, findetsich – noch erhaben – in diesem Kreis wieder: Wien, St. Michael (Hamann, Abb. 279).Schließlich ist der ganze Bautypus verwandt: querschifflose Rippengewölbebasilika mitdurchlaufenden Jochen und gestaffelter Dreiapsidenschluß. Die steilen Proportionen, dievor allem in der Außenerscheinung von Jàk und Lebeny hervortreten, scheinen es zubestätigen, daß die ganze Bautengruppe unmittelbar auf dem Weg zur Regensburger Gotikist.

Dem widerspricht allerdings die mauermäßige Schwere der Wand und die saftiggrobe Form aller Einzelheiten. Besonders am Äußeren zeigen alle hierhergehörigen Bauteneinen streng romanischen Habitus, haben schwere Sockelprofile, dicke Quadermauern mitwinzigen Fenstern und großformige Bogenfriese. Die festungsartig geschlossene Westturm-gruppe vollends weckt ganz die Erinnerung an die gestraffte Simplizität frühromanischerBauten, an Caen, St. Etienne, Speyer u. a. Für diese Stufe des (gegenüber dem Ottonischen)vereinfachten, wenig geschichteten Baukörpers ist nun auch der durchlaufendeObergadendienst bezeichnend (siehe südfranzösische Tonnenbauten, westfranzösischeFlachbasiliken, die Bautengruppe um St. Matthias in Trier, Maria Laach, Dorn in Freisingusw.).Hamann leitet die ostdeutsche Gruppe von mitteldeutscher Kolonialarchitektur aus demBeginn des 13. Jahrhunderts her (siehe besonders Salzwedel, St. Lorenz) und nimmt fürbeide Gruppen die Wirksamkeit normannischer Bauleute an. Tatsächlich findet sich inSalzwedel der dicke durchlaufende Mittelschiffdienst wieder und ist hier verbunden miteinem Rundpfeiler, wie er damals nur in der Normandie zu Hause war. Auch das Detail(Pfeifenkapitelle u. a.) spricht für diese Zusammenhänge. Damit ist die Verbindung nichtnur mit der normannischen Bautradition, sondern zugleich mit der Frühstufe des roma-nischen Stils, dem 11. Jahrhundert, gegeben. Diese letzte bestätigt sich durch dasHereinwirken einer anderen Bautradition, die ihren Ausgang ebenfalls vom 11. Jahrhundertnimmt. Gemeint ist der oberitalienisch-bayerische Entwicklungsstrang (der auch imBurgundischen seine Parallelen hat, siehe Kirche in Moudon, Dorn in Chur). Nur aus derBegegnung dieser Bauweise mit der mitteldeutsch-normannischen erklärt es sich, daß wir inder deutschen Ostmark die normannische Stabform auf ein Basilikalsystem mit kahler, weitin die Höhe gezogener Mittelschiff-Wand angewandt sehen. In der Normandie war ja dieObergadenwand stets mit Emporen oder Galerien gefüllt und die Geschoßteilung durchGesimse unerläßlich gewesen. Deren Fehlen ist aber für diese andere Traditionbezeichnend. Es bedingt die Vorherrschaft der kontinuierlichen Wandfläche. Ihr zuliebe wares besonders

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im bayerischen Kirchenbau das ganze Mittelalter hindurch bei der querschifflosenTiefenstreckung der Schiffe und ihrer Endigung im gestaffelten Apsidenschluß geblieben,bei Eigentümlichkeiten also, die im Regensburger Typus mit besonderer Intensitätaufgenommen worden sind. Schließlich schreibt sich aus diesem Formmilieu der kompaktePfeilerkern mit locker angefügten Diensten her, eine Kombination, die aber wahrscheinlichin dem besprochenen Bautenkreis erst von den Zisterziensern weiterentwickelt wurde, derenVorliebe für den Gegensatz von Fläche und Rundgliedern sie entgegenkam. DieZisterzienserkirche in Tischnowitz als der stilistisch am weitesten fortgeschrittene Bauinnerhalb der ostdeutschen Gruppe, zeigt also Elemente der verschiedenstenabendländischen Bautraditionen miteinander vermengt. Bedenkt man weiter den Ansturmdes bunten Strandgutes einer bereits verblühenden Bauornamentik, das in immer neuenFellen auf diese typisch periphere Architektur eindringt (s. Hamann a. a. O.), so muß mandie Ungebrochenheit des Forminstinktes bewundern, der diesen üppig angestautenReichtum mit dem einfach rhythmischen Formgefüge des Bauganzen zu vereinigen wußte.

Hierin liegt die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung dieser Altes und Neues so

abenteuerlich verquickenden Bautengruppe. Denn sie überliefert das großartig einfacheRaumsystem der Frühromanik verjüngt und erleichtert durch frühgotische Einzelformen derum die Jahrhundertmitte einsetzenden Stilbewegung. Die innere Beziehung, die diewesentlichen europäischen Bauschulen des 11. Jahrhunderts zur Gotik haben und die schonvon berufener Seite empfunden worden ist (Pinder, Die Rhythmik romanischer Innenräume;Kautzsch, Kritische Berichte, Jahrgang 1927/28), bestätigt sich am Beispiel dieserbaugeschichtlichen Genesis. Nicht nur dies, sie erweist sich als fruchtbar für die Bildungeiner stilistisch geklärten Bauform, eben der, die hier als die hochgotische eingeführtwerden soll. Der Meister der Regensburger Dominikanerkirche, der sich mit den klassischgotischen Baudetails wohl vertraut zeigt, dem also auch das gotische Kathedralsystem nichtganz fremd gewesen sein konnte, findet also gerade innerhalb dieser ostdeutschenBautradition die starken Anhaltspunkte, die ihm zur Neuschöpfung seiner Stilform helfenkonnten. Wir verstehen es nun, warum in Regensburg die Wandfläche zu so bestimmenderWirkung kommen konnte, warum ihre Kontinuität, die im Verlauf der romanischenBauentwicklung – auch bei den Zisterziensern – immer mehr zugunsten derDurchgliederung der Körperform zerstört worden war, sich hier so plötzlich wiederhergestellt zeigt. Es wird weiter erklärlich, warum in Regensburg dieSenkrechtenorganisation so wirkungssicher vereinfacht ist und eine so starke rhythmischeKraft auszustrahlen vermag. Ein Bau wie die Kirche in Tischnowitz bot schließlich ganzunmittelbar das Formfundament für die Regensburger Stilrichtung. Kraft der in ihm zähverdichteten baulichen Ausdruckseinheit wird er zum Geburtshelfer einer Gotik, diedeutlich als die Fortsetzung einer deutschen Tradition anmutet und die dabei doch diefranzösisch gotische Architektur, indem sie sie umgeht, überwunden zeigt.

Die Klarlegung der baugeschichtlichen Zusammenhänge, aus denen die Regens-burger Dominikanerkirche herzuleiten ist, gewährt also zugleich den intimen Einblick indas Werden eines Stiles. Indem er uns die Spontaneität verständlich macht, mit der damalsgegen das weithin siegreiche nordfranzösische Kathedralsystem eine neue bauliche Formaufstand, bestätigt er zugleich das geheimnisvolle Gesetz, das uns zeitlich einanderferngerückte Perioden enger verknüpft zeigt als die zeitlich benachbarten.

Im Gegensatz zu dieser südostdeutschen Stilgenesis läßt sich das rheinischeGegenstück zu Regensburg, die Min or i t e nk i rc he in Köln (Krautheimer, S. 83, Tafel34/35; Chor und Ostjoche 1245/48 im Bau, Langhaus ca. 1260 ff.) fast ganz auf denZisterzienserkreis zurückführen. Die Ableitung Kölns von der Zisterzienserkirche inMünstermaifeld

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hat bereits Krautheimer durchgeführt. Auch hier ist es gleich der ostdeutschen Gruppe einmit romanischen Stilelementen durchsetzter, aber zu gotischer Jochbildung fortgeschrittenerBau, der allerdings im ganzen für die neue Stilrichtung nicht dieselbe gereinigte Form-grundlage bietet wie jene (vgl. Querschnitt, Arkadengesims). Immerhin besitzt das Münster-maifelder Raumsystem schon entsprechend der baulichen Norm der Zisterzienser die Eigen-tümlichkeit, daß die Rundglieder gegen ausgebreitete Wandflächen energisch abgesetztsind. Es ist nicht zu übersehen, daß jene der nüchternen Strenge des hochgotischenBaucharakters entscheidend vorgearbeitet haben. Im Gegensatz zu der ostdeutschen Gruppegehören allerdings die Geschoßteilungen für den zisterziensischen Bautypus zu denwesentlichen Ausdrucksmitteln. Von Regensburg unterscheidet sich Köln durch den Pfeiler,in der Minoritenkirche ist der Rundpfeiler mit vier Diensten, der in Frankreich auf der StufeReims üblich war, eingeführt, und ebenfalls mit dessen Eigentümlichkeit, daß demMittelschiffgewölbedienst in Arkadenkämpferhöhe ein eigenes Kapitell gegeben ist. DieBasis für den neu beginnenden Dienst ist allerdings in Köln weggelassen, man wird hierbeian lombardische Bauten (z.B. S. Zeno in Verona) erinnert. Gegenüber Regensburg bedeutetdiese Bildung einen Rückfall. Das Durchgreifen des Vertikalmotives ist unterbrochen.Sonst aber entspricht der Kölner Pfeiler dem des Regensburger Baues durchaus, auch dieAnlage im Ganzen, die Zahl der Joche und die Choranordnung stimmen hier und dortungefähr überein. In der engen Aufeinanderfolge der Joche – in Regensburg sind die Jochenoch tiefer als das halbierte Quadrat – zeigt sich Köln allerdings fortgeschrittener, zugleichfranzösischer. Dagegen erfährt die Aufeinanderfolge der Joche (ähnlich dem Pfeilerdienst)eine Zäsur, indem der Chor durch verstärkte Gewölbe-Dienste und Gurtbogen gegen dasSchiff abgesetzt ist. Der Hochchor ist seinem Aufbau nach anders gebildet als das Schiff,rein französisch in der Ausschaltung der Wandflächen, die Fenster sitzen hart an denPfeilern bzw. Diensten. In der Choranlage als solcher liegt dagegen ein Fortschritt vor. DasPolygon ist über die Seitenschiffe um ein Joch mehr als in Regensburg hinausgeschoben. Eskündigt sich die neue Sonderstellung des Hochchores an. In Einzelheiten läßt Köln dieNähe Frankreichs ahnen, so in der Geschliffenheit der Formen (das Gewölbe hatBirnstabrippen) und vor allem in der Verwendung von Strebebogen; auch im ganzen ist einegegenüber Regensburg leichtere, fast lässige Art zu spüren.Das neue Innensystem bleibt auf die Bettelordenskirchen nicht beschränkt. Fast in dengleichen Jahren wie in Köln und Regensburg wird das Langhaus von St. Martin in Colmarentstanden sein (um 1263 das Querschiff im Bau, unmittelbar anschließend das Langhaus).Es ist als selbständige Leistung anzusehen. Das Schiff hat sechs Joche auf klassisch-gotischem Grundriß. Der Mittelschiffdienst des Rundpfeilers mit vier Diensten läuft durchwie in Regensburg. Die Obergadenfenster sind allerdings auf ein durchgehendes Gesimsgesetzt, das jedoch von den Gewölbediensten überschnitten wird. Das System zeigt nichtdie Einheitlichkeit von Regensburg. In der Archivolte und im Gewölbe treten Kehlformenauf, sie sind aber noch sehr massiv gebildet, wie auch die übrigen Formen einschließlich derWandfläche. Die Strebebogen außen, das Querschiff und der plastisch geschwellteCharakter der Einzelformen verraten, daß der Bau sich noch nicht ganz von den westlichen,speziell burgundischen Einflüssen gelöst hat.In folgenden Bauten verbreitet sich das Regensburger Stilprinzip: Geisnidda (ohneQuerschiff, drittes Viertel des 13. Jahrh.); Mainz, St. Christoph (zweite Hälfte des 13.Jahrh.); Karden a. d. Mosel (zweite Hälfte des 13. Jahrh.); Koblenz, Dominikanerkirche(Westjoch ca. 1260ff.); Köln, St. Severin (um 1286-1300); Oberhomburg (Lothr.),Stiftskirche (ländlich, wohl gegen 1300). Es sind alles Rundpfeilerbasiliken mit niedrigenArkaden und durchlaufendem Mittelschiffdienst. Ein wichtigerer Bau ist dieBenediktinerkirche in Tholey

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bei Trier (ca. 1260-1270). Hier mag die Kölner Minoritenkirche eingewirkt haben. Dasstörende Mittelschitfdienstkapitell von dort ist aber fallengelassen, auch die Absetzung desChores vom Langhaus ist hier (s. bes. die Gewölbe) vermieden. Es liegt also eine konse-quente Weiterentwicklung vor. Erstaunlich für einen Benediktinerbau ist der Wegfall desQuerschiffes. In dieser Hinsicht verhält sich sonst die Architektur der Kloster- und Stadt-kirchen sehr konservativ. Der Dreiapsidenschluß entspricht Regensburg, er geht wohl aufOffenbach a. Gl. zurück. Tholey steht in allen Teilen auf der Stufe der RegensburgerDominikanerkirche und beweist in besonderem Grade die Allgemeinverbindlichkeit derneuen Stilbewegung.Neben Tholey ist die Augustiner-Eremitenkirche in Lahr (Baden) zu nennen (Abb.Badisches Inventar; Gründung 1259, heute z. T. Wiederaufbau des Ursprünglichen). Stattder Rundpfeiler hat sie quadratische Pfeiler mit vier Diensten, die jedoch stilistisch diegleiche Funktion haben wie jene. Der Mittelschiffdienst ist vom Pfeilerkämpferüberschnitten, auch sonst steht der Bau etwa auf der Stilstufe der Kölner Minoritenkirche(Chorlänge und Seitenschiffschluß wie dort). Einige Details (Basiskonsölchen, Kapitelle)weisen auf das Straßburger Langhaus hin. Kann es bei der RegensburgerDominikanerkirche strittig sein, inwieweit ihre stilistische Neubildung aus derunmittelbaren Auseinandersetzung mit der klassisch-gotischen Basilika hervorging, sobeweisen die im Anblick der großen gotischen Dome von Köln und Straßburg entstandenenBauten (Köln, Minoritenkirche; Colmar, S. Martin; Lahr, Augustinerkirche), daß hier dieAnknüpfung an das Kathedralsystem bewußt umgangen ist zugunsten der Anlehnung an dieälteren, noch frühgotischen Basilikalsysteme. Der Lahrer Bautypus erklärt sich aus derVereinfachung des nordburgundisch-elsässischen Gewölbebaues (s. Schlettstadt, St. Georg,St. Dié), seine Pfeilerform findet sich aber auch anderwärts, z. B. in Freising, St. Johannes(s. u.), weiter in Geisnidda, wo er mit Rundpfeilern abwechselt. In Nordostdeutschlandkommt er zweimal vor, immer mit durchlaufendem Dienst: außer in der Kirche vonTischnowitz in der Franziskanerkirche in Berlin. Beide Bauten – obwohl wesentlich nachder Jahrhunderthälfte gebaut – haben z. T. noch romanischen Massiv-Charakter, sie gehörenzu der von Hamann zusammengestellten normannischen Bautengruppe (Berlin unterspeziellem Einfluß des Magdeburger Dorns).Einige der später entstandenen Bauten des gleichen Typus sind zum Kämpferwegfall in denArkadenpfeilern fortgeschritten, haben aber sonst das System von Regensburg, d. h. diehohen Wandflächen auf niedrigen Arkaden und die wenig assimilierten, noch plastischgebildeten Gliederformen festgehalten. (Eigentlich ist schon Regensburg selbst kämpferlos,da ein rund um den Achteckkern laufendes Profil fehlt.) Hierher gehören: die MainzerKarmeliter- und wahrscheinlich auch die dortige, längst abgerissene Dominikanerkirche, dieJohanneskirche in Freising und die Minoritenkirche in Bonn. Bonn hat den Rundpfeiler mitvier Diensten, die zwei anderen haben abgekantete Viereckpfeiler mit zwei bzw. vierDiensten. Natürlich sind sie später entstanden, gehören zeitlich schon in die nächsteEntwicklungsstufe (alle um 1300). Bezeichnend dafür in Bonn das wiedereingeführteObergadenfenstergesims, als suche man in der Höhe den Kämpferwegfall auszugleichen.Alle bisher behandelten Bauten können ihrem System nach zur RegensburgerDominikanerkirche gerechnet werden, wenn auch keiner deren entschlossene stilistischeDurchformung erreicht. Schon in dieser Zusammenstellung spiegelt sich der Charakter derZeit. Nur langsam arbeitet sich die deutsche Architektur aus dem Wirrwarr der Form- undStilgegensätze heraus. Sicher verdankt die Regensburger Kirche ihre stilistische Ein-heitlichkeit stark der Herkunft aus der verhältnismäßig geschlossenen ostdeutschen Bauten-gruppe, d. h. deren Vorformung des neuen Gestaltungsprinzipes. Hier beweist sich der Wert

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Abb. 2. Eßlingen, Dominikanerkirche Abb. 3. Erfurt, Predigerkirche

der Tradition, und um so erstaunlicher ist die in vielen Teilen Deutschlands gleichzeitig undmeist selbständig einsetzende Neubildung des Basilikaltyps.Die übrigen im Zeitabschnitt 1250-1300 vorkommenden Basilikaltypen sollen nur gestreiftsein. Es finden sich einige besonders eindrucksvolle Bauten darunter, doch sind sie alle inihrer stilistischen Haltung unentschieden, vom Romanischen oder Frühgotischen, besondersvorn Zisterziensischen noch nicht recht gelöst. Die wichtigsten sind die Dominikanerkirchein Eßlingen, die Predigerkirche in Erfurt und die Augustinerkirche in Hagenau.Im Eßlinger Dom i n i ka n er b au begegnen wir zum ersten Mal einem der auffallend in dieTiefe gestreckten Räume, die für die Bettelorden kennzeichnend sind. Den Chor (2 + 5/8)eingerechnet sind es elf Joche. Mit der einfachen Folge mäßig spitzer Arkaden nehmen wirzugleich das Gewölbe auf, das mit seinen weich gerundeten Rippen die wohligenVerhältnisse des Raumes unterstreicht. Eine unmittelbare Verbindung zwischen Pfeiler undRippenträger fehlt. Jene haben die runde untersetzte Form der französischen Frühgotik miteinfachen Kelchen, die Gewölbe sitzen auf Konsolen oder Diensten, die nach Zister-zienserart abgekragt sind. Nur im Chorschluß reichen sie bis zum Boden. Die Gewölbe-teilungen durchdringen nicht die Wandfläche des Obergadens, man unterliegt demEindruck, als würde sie eben erst aus der Tiefe des Chorpolygons von den Diensten undRippen erfaßt. Die Aufbauelemente verharren in auffälliger Selbständigkeit, wie umRundpfeiler, Wand und Gewölbeformen in ihrem ureigensten Sonderwesen empfinden zulassen. Hierin drückt sich deutlich noch ein älterer Stilwille aus, der die plastischeEigenexistenz der Teile nicht der Gesamtorganisation aufzuopfern gewillt ist. Und dabeiwirkt dieser Raum doch einheitlicher organisiert, als die ganze, ihm baugeschichtlichvorausgehende Architektur. Denn die Beziehungen der Pfeiler, Arkaden und Gewölbe aufdie Senkrechte sind so klar und unbehindert ausgesprochen, daß dagegen dasZisterziensersystem vieldeutig, ruckartig geschichtet erscheint. Dazu trägt in Eßlingen auchdie elfmal wiederholte ununterbrochene Jochfolge bei.

Was den der Regensburger Dominikanerkirche sich nähernden Eindruck hervorruft,sind wieder gleiche Ausdrucksmittel wie dort: die einheitlich ausgebreitete Ober-gadenfläche (das Arkadengesims ist eliminiert), die Reduktion der Jochteilungen auf den

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einen Pfeiler und Dienst und die Abschleifung der Einzelform (Zusammenziehung desLaubkranzes zur glatten, ausladenden Kelchform, Kehlung der Archivolte). Nur die letzteFolgerung ist nicht gezogen, die beiden Zonen der Arkaden und der Gewölbe miteinanderzu verspannen (kein durchlaufender Dienst). Dies sagt nicht, daß sie ästhetisch nicht ver-bunden seien, die gemeinsame schöne Körperlichkeit und Schlichtheit der Formen verleihtdem Bau die organische Einheit. Aber es fehlt die sichtbare Aneinanderkettung derFunktionen; aus einer Scheu vor der Preisgabe der plastischen Einzelschönheit, noch mehrvielleicht aus Abneigung gegen das gewaltsam Pathetische mag sie unterlassen sein. Ihrverdankt der Bau den Zug von gelöster Heiterkeit, der ihn so anziehend macht. Er ist auchUrsache des Eindrucks, sich in ihm einige Breitegrade weiter nach dem Süden versetzt zufühlen. Dieser mag zuerst durch die Freiheit der Eigenaktion, die den Einzelformen gegönntist, hervorgerufen sein. Entscheidender vielleicht noch ist die erdnahe Proportionierung desRaumes, aus der auch die schöne Selbstverständlichkeit der Ordnung mit entspringt. Dieseund die ungebrochene Kontinuität der Wand führen uns zu den nächsten Verwandten bzw.Voraussetzungen der Eßlinger Anlage.In allem, auch in den Einzelformen (die dort nur etwas geschwellter sind), ist sie die etwasjüngere Wiederholung der 1870 in Brand geschossenen Dominikanerkirche in Straßburg.Durch sie haben wir auch den ungefähren Anhalt für den Baubeginn in Eßlingen, einInschriftstein, der noch erhalten ist, trägt das Datum der Grundsteinlegung: 1254. VonEßlingen wissen wir dagegen das Vollendungsdatum. Denn die Hochaltarweihe, dieAlbertus Magnus im Jahr 1268 vollzog, kann sich nur auf den Chor beziehen. Dieser istaber in Eßlingen der zuletzt gebaute Teil, der Baubeginn liegt, entsprechend der Regel beiden Bettelorden, im Westen, der Predigtraum sollte zuerst fertig sein. In ihm nun ist dasGewölbe noch nicht recht mit der Wand verbunden, die vier ersten Joche von Westen sindnur von Konsolen abgefangen. Die Strebebögen unter den Seitenschiffdächern beweisenzwar, daß von Anfang an Gewölbe geplant waren, formal aber wirken sie doch als Zutat.Dieser Umstand weist uns auf die eigentliche architektonische Voraussetzung für denStraßburg-Eßlinger Typus: die Flachdeckbasilika alemannischen Gepräges. In ihr ist diehelle, niedrig gehaltene Räumlichkeit der altchristlichen Basilika in die Frühromanikübergeführt und bis ins 13. Jahrhundert hinein bewahrt worden. Häufig ist dieser Typusquerschifflos (Reichenau, Niederzell, schwäbische Stadtkirchen), ein Bau wie dieGeorgskirche in Hagenau (Mitte 12. Jahrh.) nimmt bereits die enorme Tiefenstreckung(zehn Joche) voraus, überliefert sogar die Gesimslosigkeit der Arkaden, für ihreEntstehungszeit ein Unikum. Einige der frühen Schweizer Bettelordenskirchen (Zürich,Barfüßer- und Dominikanerkirche) und vor allem die Konstanzer Dominikanerkirche hattenschon vorher (um 1236) die Anknüpfung an diese Tradition vollzogen. In der EßlingerKirche verbindet sich ihr die zisterziensische Wölbform (Abkragung, ein Dienst) und dieburgundische Profangotik (Rundpfeiler mit Achteckkapitell; u. a. in Schloß Chillon). Wasalso in Eßlingen südlich, ja fast antikisch frei anmutet, findet tatsächlich eine historischeErklärung: die spätantike Raumstabilität, über die alemannische Bautradition ins 13.Jahrhundert herübergerettet, vereinigt sich auf einmalige Weise mit derhochmittelalterlichen Plastizität der tektonischen Glieder, die schon immer als Regenerationder antiken Körperlichkeit empfunden wurde.

Das merkwürdige ist nun, daß das aus dieser Kombination entsprungene Systemnach seinem Formzusammenhang, der sich aus jener ergab, bereits in einen neuen Stilhineinreicht, daß es durchaus den Lösungen zuzuzählen ist, die damals auf deutschemBoden zum Ausdruck einer deutschen Gotik drängen. Die Eigentümlichkeit der Lösung istnicht zuletzt als das Ergebnis der geographischen Lage im natürlichen Schnittpunkt

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dreier Länder (Italien, Ostfrankreich, Deutschland) zu betrachten. Eine nochmaligeBerührung mit dem Süden, die wir in der gleichen Gegend, im Elsaß und in Schwaben,einige Jahrzehnte später festzustellen haben (Typus Gebweiler Dominikanerkirche), weistuns aber auf eine zweite Triebfeder dieser Begegnungen: beide Male sind es Bauten derBettelorden. Unser Empfinden betrügt sich nicht, wenn wir in der Eßlinger Bauform einbestimmtes Bauideal angestrebt fühlen. Welche Norm es ist, die wir aus ihrem antikischenWesen mit herauszuspüren glauben, sei weiter unten näher ausgeführt.Das Eßlinger System hat im 13. Jahrhundert noch eine Weiterentwicklung erfahren, die esstilistisch der Lübecker Marienkirche gleichwertig macht (s. u.), wieder ist es einBettelordensbau: die Do mi n i kan er k i r ch e in Erfurt. Wie die Eßlinger Kirche ist sie einausgesprochener Langbau, neben der Augustinerkirche in Hagenau der längste Bettel-ordensbau überhaupt (beide haben fünfzehn Joche und Fünfachtel-Schluß). Ohne jedeVariation, kleine Detailschwankungen ausgenommen, ist das System durch den ganzen Baufestgehalten. Mit dem Chor wurde begonnen. Wie in Eßlingen sitzt das Gewölbe desPolygons auf langen Diensten, folgt dann ein vorn geradeschließenden Seitenschiffgetrenntes Joch, darnach beginnt die Reihe der hohen Achteckpfeiler, in die sich dieRundpfeiler von dort verwandelt haben. In dieser ist der Eßlinger Aufbau kaumwiederzuerkennen. Abgesehen von der Veränderung der Pfeiler in Achteckform hat sich dieFunktion der Arkaden vollständig geändert. Der Eßlinger Raum scheint von den Pfeilern umein volles Stockwerk in die Höhe gehoben zu sein. Die Wandfläche ist zugunsten der Pfeilerfast völlig verschwunden, nur ein schmales Stückchen zwischen den Gewölben undDiensten, die hier bis in die Bogenzwickel der Arkaden herabreichen, ist, dem Auge kaumsichtbar, übrig geblieben. Straffer ist bisher nirgends die Jochfolge gebildet worden.Schneidend scharf reihen sich die blanken Flächen der Pfeiler und die vom harteinfallendem Licht getroffenen Kappen der Gewölbe aneinander. Die warmblütigeSchlichtheit von Eßlingen hat sich in kalten Schwung und eine fanatische Nüchternheitverwandelt. Mit fast verbohrter Genauigkeit wird ein einziges Motiv wiederholt, als dürftees nie aufhören – auf Gnade und Ungnade ist man dem einen Rhythmus verfallen. Nirgendseine Ausflucht, ein Ausgleichsmotiv (der Lettner ist spätere Zutat), überall begegnen wirnur Langformen, die Fenster in den Seitenschiffen durchmessen ebenso steil und enggereihtden Raum wie die Rippen der Gewölbe und die Pfeiler der Arkaden. Das Gestaltungsprinzipdieser Zeit ist hier an die Grenze des überhaupt Erträglichen getrieben, allerdings in einerungeheuer packenden Form.Besonders auffallend und von Krautheimer überzeugend hervorgehoben ist die Schärfe undIsolierung des Lichteinfalls im Obergaden. Die Arkaden sind so hoch getrieben, daß geradenoch das Gewölbe Platz hat, die Kappen sind so eng aneinandergerückt, daß sie das Lichtaus den Fenstern unmittelbar von der Seite trifft. Dabei bleibt die Lichtquelle unsichtbar,von den tief hereingezogenen Kappen verdeckt. Von der pseudo-basilikalen Halle, in derdie Wölbung über den Arkaden ähnlich angeordnet ist (Typ Halberstadt, Minoriten s. u.)kann diese Lichtführung nicht angeregt sein, da Erfurt früher ist. Eher doch von Eßlingenselbst. Dagegen ist die Höhensteigerung der Arkaden wohl auf den Einfluß der in derGegend (auch in Erfurt, St. Severi) verbreiteten Hallenbauweise zurückzuführen, vielleichtspeziell auf Marienstern (s. u.), das auch den Achteckpfeiler hat. Diesen findet man bei denZisterziensern in dieser Zeit am frühesten verbreitet. Weiter auffallend ist die Steillinigkeitder Gewölberippen. Diese, sowie die Anordnung des Gewölbes und die Höhe der Arkadenverbinden die Erfurter Dominikanerkirche mit Bauten der folgenden Periode, doch sind dieSprödigkeit und Enge des Räumlichen, die starre Pfeilerhaftigkeit des Systems Symptomeder ersten Phase und sie bestimmen das Wesentliche des Eindrucks.

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Abb. 4. Hagenau, Augustinerkirche

Typisch für die erste Stufe ist auch die bis zum Chorpolygon fortgeführte monotoneReihung. Die Detailformen sprechen nach Krautheimer für Gleichzeitigkeit mit dem Chorvon Erfurt St. Severi bzw. dem Marburger Mausoleum. Der Ostteil mit Chor und demAnsatz des Langhauses ist also auf ca. 1290 zu bestimmen.

Weniger verändert im Aufbau gegen das Eßlinger System sehen wir dieAugus t inerkirche von Hagenau (begonnen im dritten Viertel des 13. Jahrh.). Sie hatebenfalls niedrige Rundpfeiler-Arkaden, über ihnen aber, d. h. direkt über derKapitelldeckplatte, beginnen durchlaufende Gewölbedienste mit eigener Basis (je einenDienst aufs Joch). Dieser Aufbau geht auf die Stufe Laon und speziell auf eineostfranzösische Pfarrkirchen- und Zisterzienserbautradition zurück. Die deutschenZisterzienser kommen in Marienstatt zu einer gleichen Bildung. Der Schritt zum SystemRegensburg ist damit nur halb getan. Der Rundpfeiler hat noch eine zu materiell tragendeFunktion, erst über ihm beginnt die eigentlich lineare Jochorganisation. DerBettelordenstradition gemäß fehlt das Querschiff, so daß immerhin ein erstaunlicheinheitlicher Zug nach der Tiefe entsteht. Während der Eßlinger Aufbau auch anderwärts,von Erfurt abgesehen, Nachfolge findet, ist das System von Hagenau nur in dieser Gegendaufgenommen worden. An beiden Typen wurde bis weit ins 14. Jahrhundert festgehalten.Gegenüber den französischen Bauten desselben Typs fällt das Zusammenhängende derWandfläche auf.E ß l i n g e r T y p u s: Ladenburg h. Mannheim, Pfarrkirche; Markgröningen (Rund- undAchteckpfeiler); Mergentheim, St. Johann (quadratische Pfeiler); Landau, Augustiner;Bernkastel, Pfarrkirche (ca. 1290); Pilsen, Erzdechanteikirche (Schiff 1377 im Bau,Rundpfeiler ohne Kapitelle), St. Johannsen b. Erlach a. Bielersee u. a.; Ingolstadt, St.Moritz; Dürkheim a. d. Hardt, Schloßkirche (erbaut von Zisterzienser-Abtei aus);Neustadt a. d. Hardt, Kollegiatsstiftskirche (1371 Langhaus im Bau).

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Abb . 2 . Weißenburg i. E. Stiftskirche St. Peter und Paul

H a g e n a u e r T y p u s : Landau, Stiftskirche (der Dienst von einer am Kapitellsitzenden Konsole getragen); Domfessel i. Unterelsaß (Mitte 14. Jahrhundert).

Andere um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstandene Rundpfeilerbasiliken mitniedrigen Arkaden wie Eßlingen, St. Dionys; Konstanz, Dominikanerkirche; Heilbronn, St.Kilian u. a. bleiben bei der Flachdecke stehen, bringen es also zu keiner hochgotischenOrganisation. Dagegen wird die Flachdeckbasilika mit hohen Arkaden bei der zweitenStilstufe zu würdigen sein.

Ein anderer Bautypus, zu dem die Nürnberger Sebalduskirche, die Zisterzienser-kirchen in Chorin und Kolbatz und die Dominikanerkirche in Koblenz gehören, hat dieGewölbedienste über den Arkaden abgekragt. Er vermag sich noch nicht von dem früh-gotischen Raumsystem der Zisterzienser loszumachen. Ebenso unreinen Stilcharakters sinddie bloßen Reduktionen des französisch-gotischen Systems (u. a. Freiburg, Münster; Maurs-münster, Abteikirche). Hier ist es das Festhalten am vielteiligen Bündelpfeiler bei imübrigen vereinfachtem triforienlosem Basilikalaufbau, was die stilistische Zwiespältigkeitund Zurückgebliebenheit verschuldet.Dagegen ist die Wirkung des gleichen Bündelpfeilers innerhalb des französisch-gotischenKathedral-Systems als hochgotisches Stilmoment anzuschlagen. In S t r a ß b u r g (1250)sowohl wie in Köln (1248) tritt an die Stelle des Reimser Rundpfeilers mit vier Dienstender diagonalgestellte Bündelpfeiler mit sechzehn Diensten. Der Vereinheitlichungstendenz,die sich schon in der Entwicklung von Laon zu Reims kundgibt, wird damit

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weiter nachgegeben. Der Pfeiler ist jetzt von unten an dynamisch differenziert und dieObergadendienste laufen ohne Unterbrechung hoch. Damit ist auch hier die ruckweise mitden Geschoßteilungen höhersteigende Gliederdifferenzierung zugunsten einseitig vertikalerBlickbahnen aufgegeben. Diese sind im Begriff, sich von den eigentlich tragenden Teilenzu emanzipieren. Auch die Behandlung des Triforiums entwertet den Dreizonenaufbau, eswird jetzt von einer Fensterwand hinterfangen und damit fast so hell wie der eigentlicheFenstergaden. Beide Änderungen bedeuten eine äußerste Verfeinerung, aber auch die letzte,dem System ohne Gefahr der Zerstörung seines ursprünglichen Sinnes zuzumutendeKonsequenz. Das helle Triforium ist ein Schritt zur reinen Zweigeschossigkeit der LübeckerMarienkirche, der durchlaufende Bündelpfeiler führt schon zur einseitigen Vertikalisierungdes Jochaufbaues. Aber noch ist das ganze System aus rundplastischen Einzelformen zu-sammengesetzt, und noch dient die Vermehrung der Glieder einer organischen Differen-zierung. Ein Schritt weiter in der Verfeinerung der Abstufungen, und alle Stab- undProfilformen wachsen zum homogenen Linienbündel zusammen.Während sich das klassisch-gotische Raumsystem im Kathedralbau nach seiner eigenenGesetzlichkeit immer mehr erfüllt, erfährt es bereits an mehreren örtlich weit getrenntenStellen eine unmittelbare und radikale Umdeutung. Am stärksten formuliert sie das kühnstedeutsche Bauwerk der Zeit: die M a r i e n k i r c h e in Lübeck und schafft damit zugleichdie langhin verbindliche Lösung für den Monumentalbau der Backsteingotik.Im Chor (begonnen nach Brand 1276, 1291 Altarweihen) steht das neue System bereitsfertig da. Es bedient sich im Grundriß der Vereinfachung des Kapellenchors, wie sie bereitsum 1200 auf französischem Boden in der Kathedrale von Soissons und dann weiter in denflandrischen Städten aufgekommen war. Über diese kommt es nach Lübeck. (Dehio: „einkunstgeschichtliches Rätsel klärt sich handelsgeschichtlich auf.”) Die Kapellen sind hiermit dem Umgang in der Weise verschmolzen, daß von jenen nur das 3/8-Polygonübriggelassen, das Gewölbe aber mit dem des Umgangs zu einem Sechskappengewölbezusammengewachsen ist. Aber gleich an dieser Stelle treffen wir in Lübeck aufModifikationen, die die dortige Grundrißlösung in die hochgotische Stilrichtung treiben.Die 7/12-Brechung des Binnenchors wird in ein 5/8-Polygon vereinfacht, d. h. das Augewird von den Pfeilern mehr auf die Zwischenräume abgezogen. Die zweite Veränderungbetrifft den Kapellenkranz, sie hebt dessen allseitige Strahlung auf. Die beiden erstenKapellen am Chorhals stehen nicht mehr radiant, sie sind vielmehr aufs Seitenschiffzugeordnet. Der Chorumgang ist also teilweise in die Tiefenaxe gezwungen. Dies steht imEinklang damit, daß das Querhaus, im Kathedralbau unentbehrlich geblieben als diebedeutsame Markierung des Beginns der Chorausstrahlung, nach einigem Zögernvernachlässigt wurde. An seine Stelle sind Kapellen getreten, die ebenfalls in dieLängsrichtung gerückt sind und sich in der Höhe der Seitenschiffe halten.Am spürbarsten wird der neue Geist im Aufriß. Zwei auffallend gesteilte Geschosse:Arkaden- und Fensterzone, stehen unmittelbar aufeinandergetürmt. Nur ein schmalesMaßwerkband mit locker verteilten Fialenspitzen erinnert noch an die französischeHöheneinteilung mit dem Triforium als Übergang zum Lichtgaden. Die Wirkungbestimmt vor allem dessen Höhengleichheit mit dem Arkadengeschoß. Eine solcheProportionierung war in der klassischen Kathedrale gerade streng vermieden worden.Denn dort hat das Erlebnis des Aufstiegs wesentlich von dem Spannungsverhältnis derGeschosse abgehangen. Wir sehen es hier aufgehoben, auch durch die Pfeilerbildung,die alle Eigenenergie der Dienste ausgemerzt zeigt. Statt des gestuften Sprießens sindhier die Dienste von unten an zum dünngliedrigen Bündel gepreßt, aus dem nur einschwacher Rest bis zum Gewölbe hinaufgeführt ist. In welchem Sinn diese Formstilistisch zu interpretieren ist, zeigt der

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Langhauspfeiler noch deutlicher. (Das Langhaus folgt dem Beginn der Westtürme 1304 ff.)Hier ist das Linienbündel zum kompakten Vierkantpfeiler geronnen, statt der Kapitelle istein dünnes Band flach auf die Pfeilermasse aufgelegt und die Obergadendienste heben sichnur als liniendünne Strähnen von ihr ab.Wir stellen fest, daß im Lübecker L a n g h a u s aus dem Regensburger Stilprinzip letzteKonsequenzen gezogen sind. Der Pfeiler ist zum reinen Flächengebilde geworden. Aus denDienstsenkrechten ist vor seiner Folie mit einem Minimum von Formausdehnung einMaximum an Formintensität herausgeholt. Die bereits im Chorsystem einsetzendeVerflächigung ist im Schiff zum wesentlichen Wirkungsfaktor geworden. Sie führt aber, imGegensatz zu Regensburg, nicht zur Vorherrschaft der realen Fläche. Auf diese ist, das istein Charakteristikum des Lübecker Raumes, zugunsten der Senkrechtenteilung verzichtet.Sie ist hier nicht allein von den durchlaufenden Diensten, sondern ebensosehr von denArkaden- und Obergadenpfeilern ausgeübt. Die Obergadenpfeiler speziell, als die zwischenden Fensternischen stehengebliebene Wand, sind ein neues, vom Meister des Langhauseserfundenes Motiv, das dann zum Ingrediens der ganzen norddeutschen Backsteindome wird.Es stehen quasi zwei Arkadenreihen übereinander, eine ins Halbdunkel der Seitenschiffeoffene unten und eine lichte, von Wand und Fensterflächen geschlossene oben. Beidebringen die in Senkrechten gepreßte Jochorganisation mit einer bis dahin nicht gekanntenWucht zum Ausdruck. Was in der unteren Bogenreihe erlebt wird, findet unmittelbardarüber ein gleich starkes, dröhnendes Echo. Es ist eine Gewaltsamkeit, die je nachdemhinreißend oder – denkt man an die Reimser Kathedrale – als bedenklich massiv empfundenwerden kann. Es wird beim Vergleichen klar, wie sehr es den Charakter des LübeckerRaumes bestimmt, daß er aus dem Massenmaterial des Backsteins geformt ist. Im Chorlebten in den Pfeilern noch die Reminiszenzen an gotische Hausteinarchitektur fort, dasSchiff aber zeigt den neuen Stil ganz im Geist des Backsteins bewältigt. (Eine wesentlicheVorstufe in dieser Beziehung ist der Monumentalbau der Zisterzienser in Doberan, derLübeck speziell den neuen, vierkantigen Pfeiler mit der bis in die Bogen-Leibungdurchlaufenden Vorlage übermittelt.)Die Backsteinmauerung gibt dem System erst die ihm eigene abstrakte Strenge, und sieführt zu der Vereinfachung, die es mit sich bringt, daß noch augenscheinlicher als inRegensburg die körperliche Schwellkraft zur Starre verwandelt und damit die konstruktiveIdee der klassischen Gotik aufgegeben ist. Nicht nur, daß die Gitterformen des Raumesdurch Flächen geschlossen sind (sogar das Arkadeninterkolumnium scheint zur Ebenegespannt), auch in den Pfeilern sind die vielteilig aufsprießenden Kräfte in eine kompakteForm gepreßt und damit dem Auge entzogen. Die Träger des Innensystems stehen in steilerGestrafftheit da, als volle Garanten der statischen Erfordernisse. Die Gewichte selbst sinddurch die konsequente Verflächigung aller Massen fürs Auge stark herabgemindert. Sieerscheinen aber ebenso wie in Regensburg durch die reale Pfeilersubstanz nur bewältigt,nicht auch beschwingt, dieses geschieht vielmehr, und mit noch größerer Schärfe als inRegensburg, durch die dynamisch wirksamen Ausdrucksfaktoren: Archivoltenprofile,Dienste und Maßwerke. Also wieder die T r e n n u n g d e r d y n a m i s c h e n v o n de n k o n s t r u k t i v t ä t i g e n T e i l e n. (Auch die Strebebögen außen sind nur alsSenkrechtenteilungen, nicht als aktive Balancekräfte auffaßbar.)Bei der fühlbaren Verwandtschaft, die das Lübecker System noch mit der klassischenKathedrale besitzt, wird diese Preisgabe des elastisch federnden Balancespiels als herberVerlust eines adligen, kämpferischen Daseinsgefühls empfunden. Eine heroische Haltung –denn dieses leibhafte Sich-Aufrecken mehr ausdrucksmäßig als statisch starker Kräfte

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ins Ungewisse ist heroischer Art –, das prachtvolle Sich-Exponieren dort ist verwandelt indie Entfesselung fast krampfhaft gespannter Energien, die risikolos auf der Basis einergesicherten, wenn auch unbestimmt bleibenden materiellen Festigkeit entfaltet sind.Die hier offenbarte menschliche Enge und vitale Unsicherheit – sie ist in dem Lebensgefühlder Zeit tiefbegründet – fällt mit dem zusammen, was auch in anderen Perioden der Kunstdas Kennzeichen des Manieristischen ist. Das mehr vom Wollen als vom künstlerischenMüssen diktierte Gestalten, wie wir es etwa in den panzerförmig übereinandergepreßtenOrdnungen der Cinquecentoarchitektur kennen, finden wir in genau derselben, ja inexemplarischer Weise in Lübeck. Hier wie dort ist es dem Wunsch entsprungen, die vitaleund geistige Schwungkraft einer klassischen Periode durch bloße Willensspannung zuersetzen. Denn in beiden Fällen treffen wir auf die Entlehnung einer ausgereiftenKunstform, deren Hauptelemente einseitig übersteigert sind. In Lübeck äußert sich dies vorallem in der „betonten Konsonanz” (gleichartige Wiederholung des Arkadengeschosses imObergaden, bruchlose Jochreihung), in einem Kompositionsprinzip also, das besonders inder Cinquecentomalerei allgemein nachzuweisen ist. Auch die weiteren von Pinder(Vorlesungen 1924/25) aufgestellten Begriffe der Zerdehnung einmal elastischer Formenund der Vergewaltigung feinerer Aufbauglieder zugunsten abstrakt vereinfachenderTeilungsmotive finden sich in Lübeck unmittelbar bestätigt. Hier wie dort wird eine aufdem rein Künstlerischen basierte große Form zur U n i f o r m , in der Backsteingotik auchdurch die Tatsache bestätigt, daß der Lübecker Typus für zwei Jahrhunderte zur Norm desnorddeutschen Monumentalbaues gesetzt war.Wie typisch manieristisch das Lübecker Langhaus konzipiert ist, mag noch ein Blick in dieObergadenzone deutlich machen. Die Fensternische ist hier ohne Rücksicht auf dieeigentliche Öffnung des Fensters, die wegen des Anfalls der Seitenschiffdächer nur bis zurhalben Höhe des Obergadens herabreicht, bis zum Arkadengesims fortgesetzt. Dieses„Aufhören” des Fensters ist aber vertuscht, deutlich unmarkiert gelassen, das Auge sollnicht absetzen, sondern weiter hinab dem Nischenpfeiler als dem unversehrten Träger derSenkrechtenorganisation folgen. Die reale Funktion des Fensters ist also jener zuliebevergewaltigt, genau wie schon im Chor der Pfeiler und der Umgang vergewaltigt sind.Dasselbe ist in der gleichzeitigen Peter- und Paulskirche von Weißenburg i. E. geschehen,die mit Lübeck die Aufrißteilung prinzipiell gemeinsam hat (s. u.).Die Lübecker Marienkirche repräsentiert also eine Stilstufe, die mit letzter Unbe-denklichkeit den Vertikalismus zum Träger der Jochvereinheitlichung macht. Insofern mußsie als die folgerichtige Weiterentwicklung des Regensburger Stilprinzips, ja als dessenäußerste Zuspitzung gelten.Eine baugeschichtliche Beziehung von einem zum andern besteht natürlich nicht. DasLübecker System erklärt sich allein aus der Anknüpfung an die klassisch-gotischeKathedrale mit Verwertung zisterziensischer Anregungen (Doberan). Darum ist es auchkein Zufall, daß Lübeck gegenüber Regensburg gesteigert wirkt, denn dieses basiert aufeinem früherabendländischen Stiltypus (s. o.). Dagegen führt die Prüfung des Verhältnisses,in dem beide zur Spätgotik stehen, zu der entgegengesetzten entwicklungsgeschichtlichenOrdnung. Der Regensburger Typus steht ihr deutlich näher. Denn der übermäßighochgetriebene Obergaden setzt sich der Eingrenzung des ganzen Raumes (d. h. vor allemder Seitenschiffe) und seiner Bodenverankerung schroff entgegen. Demgegenüber ist es inRegensburg die eliminierte Geschoßteilung, die das Seitenschiff vom Mittelschiff beinaheunterteilt und damit den Raum schon auffällig „spätgotisch” erscheinen läßt.Die rasche Verbreitung des Lübecker Systems in den Ostseegebieten zeigt an, daß in ihmnicht nur ein zeitgeschichtlich begrenzter Stilwille, vielmehr ein ganzer Kultur-

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bereich sich Ausdruck verschafft hat. Diesem Umstand, daß in der Backsteingegend damalsrasch erstarkende Städte aufblühten, die nach Kundmachung ihres großzügigenKolonisationsprogrammes drängten, ist es zuzuschreiben, daß in Lübeck, der Mutter allerOstseestädte, ein neuer Bautypus mit solcher Plötzlichkeit und Sicherheit aus dem Bodenwuchs. Die Ostseestädte zeigen sich in ihrem Ausdruckswillen sogar ungebrochener als dieOrden (Zisterzienser- und Bettelorden), die es beide im 14. Jahrhundert zu keinerallgemeinverbindlichen Baunorm gebracht haben, von den binnenländischen Pfarrkirchenganz zu schweigen.

Im Duktus des Lübecker Chores halten sich außer Doberan die städtischen Münsterin Stralsund (St. Nikolai) und Rostock (St. Marien), beide im dritten bis vierten Viertel des13. Jahrhunderts entstanden. In Stralsund wechselt wie in Lübeck nach Westen zu dasPfeilersystem, hier kommt es – vielleicht aus eigenem Antrieb – zur Massivform desAchteckpfeilers, über dem die Archivolte in dünnen Rillen profiliert ist (s. England!).Damit steht die Pfeilerform fest, die in der Backsteingegend bis zur Spätgotik üblich bleibt.Wie sehr man sie aber in Stralsund trotz ihrer Bogen und Pfeiler trennenden Prägung nochfunktional aufgefaßt haben will, zeigt die Überleitung, die man für beide gefunden hat: amKämpferhand sitzen Köpfe, die an den Pfeilerflächen in gemalten Umrissen zur Figurergänzt sind. (Daß die Malerei für die dynamischen Zusammenhänge ergänzendherangezogen wird, ist in dieser Zeit nicht vereinzelt, speziell im Backsteingebiet (Dom inKolherg); ein interessantes Beispiel ist im Süden die Dominikanerkirche in Gebweiler (s.u.), in Italien ist es damals das Übliche.) Andere, wirksamere Formen der Vereinheitlichungder Arkaden – die eleganteste findet sich schon im Lübecker Langhaus – werden im zweitenHauptabschnitt der Arbeit besprochen werden.

In den um und nach der Mitte des 14. Jahrhunderts entstehenden Bauten desLübecker Typs (Wismar, Marienkirche, St. Georg und St. Nikolai; Stargard, Marienkirche;Stralsund, Marienkirche) ist dagegen die funktionale Vereinheitlichung (Arkade und Ober-gaden, Pfeiler und Bogen) bewußt unterbunden zugunsten einer ganz neuen Absicht: derschroffen Kontrastierung der Teile. Die glatten Flächen des Pfeiler-Oktogons setzen gegendie geriffelte Archivolte ab, das Untergeschoß im ganzen gegen den Obergaden. lmeinzelnen wird es darin deutlich, daß das Kämpferband sich jetzt merkbar verbreitert unddaß die Horizontalteilungen verdickt sind. Damit steht im Zusammenhang, daß die Hau-steinglieder, soweit sie in Lübeck als Kämpfer und Dienste da waren, jetzt endgültigausgeschieden werden. Der Lübecker Typus ist zur vollen Backsteingemäßheit gereinigt, ergeht wie hierin, so auch im Ausschöpfen seiner künstlerischen Wirkungen der Erfüllungentgegen. Dies äußert sich eben darin, daß sich aus dem ehemals funktional bedingtenFlächen- und Liniensystem raumfesthaltende Motive herausschälen. Besonders deutlich amObergaden, wo die Lübecker Pfeilerstellungen allmählich richtige Raumnischen erzeugen.Das System wird bei äußerlich geringfügigen Veränderungen der partiellenVerräumlichung, dem Stilcharakteristikum der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts,dienstbar. Zu dieser Stilwandlung gehört es, daß wieder Querhausteilungen aufkommen unddaß Höhenunterschiede zwischen Chor und Langhaus gern in Kauf genommen werden.(Vgl. dazu die zahlreichen in diese Zeit fallenden Chorüberhöhungen im übrigenDeutschland.) Beides geschieht, um die Raumabschnitte als gesonderte Räumeherauszuholen und diesem Streben kommt gerade auch die Übereinanderstülpung zweierselbständiger Systeme entgegen. Die Lübecker Zweiteilung des Pfeilerzusammenhangs wirdzur eigentlich räumlich fühlbaren Zweigeschossigkeit.Diese zwei Stilstufen vom endenden 13. und dem späteren 14. Jahrhundert dürfen nichtmiteinander verwechselt werden. Man vergleiche dazu auch in Italien das Verhältnis

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von Sa. Croce und dem Domlanghaus in Florenz. Daß sie beide aus dein Lübecker Systemherauszuholen sind, erklärt dessen langes Weiterleben bis in die Spätgotik (Rostock,Marienkirche; Lüneburg, Nikolaikirche). Erst in den Spätbauten ist es zu der vollen, ihmeigentümlichen Größe hochgesteigert – auch im materiellen Sinn, denn die absolutenMaße übertreffen hier den Urbau um ein Bedeutendes.

Nicht ganz so imposant, wenn auch im Detail weit delikater, findet sich derselbeAufbau wie in Lübeck in der Peter- und Paulskirche in We i ß e n b u r g i. E. wieder(Langhaus um 1284 ff.). Die Verhältnisse sind viel wohliger und das Übereinander derzwei Geschosse hat nicht die Festigkeit des Lübecker Systems. Die Arkadenpfeiler sindrund mit vier Diensten, waren also nicht wie in Lübeck als Fensternischenpfeiler im Ober-gaden zu wiederholen. Nischen fehlen hier überhaupt. Die Fenster selbst sind nur in ihremBogenabschnitt hell und als Vertikalmotive daher nicht sehr wirksam. Hingegen kommenhier die Senkrechten der Dienste und der gesteilten Gewölberippen stark zur Geltung. DieInkaufnahme des dreiviertel verblendeten Obergadenfensters beweist, daß es damals nurauf die gliedernden Teilungen, nicht auf die Herausarbeitung zweier durch den Hellig-keitsgrad kontrastierenden Räume ankam (wie etwa später in Nieder-Haslach und in denOstseekirchen des späteren 14. Jahrhunderts).

Angeregt ist der Weißenburger Bau wahrscheinlich von St. Gangoulf in Toul(Abb. Monuments Hist. III, Tafel 56), wo sich der Pfeiler und auch das gleiche Geschoß-verhältnis findet. Das Triforium war hier ebenfalls schon fortgefallen. Auch in andernTeilen Frankreichs ist der Aufbau der Kathedrale in Toul anzutreffen: Narbonne, Kathe-drale (1272 begonnen); Sémur-en-Auxois, Kathedrale; Troyes, St. Urbain; St. Satur,Pfarrkirche; also fast durchweg ostfranzösische Bauten. In Toul sitzen die Fenster zufolgeflacher Seitenschiffdächer fast unmittelbar über dem Arkadengesims. Sie sind aber einStück niedriger als die Arkaden. In Metz, St. Vincent (1248 begonnen, Langhaus erstEnde des 13. Jahrhunderts entw.) nähert sich das System der Lübecker Marienkirche: dieFenster sitzen in Nischen, die Pfeiler sind ein Bündel von sechzehn Diensten.

Genauer und gefälliger als in Weißenburg findet sich die französischeAusprägung der Lübecker Stilstufe im Dom in Xanten (1263 Chorbeginn, 1311 geweiht).Die Pfeiler sind hier gebündelt, die Proportionen eher breit und geräumig. Das Gesimszwischen den beiden Geschossen ist durch eine Maßwerkgalerie unterstrichen, hierinsowohl den französischen Bauten wie Lübeck verwandt. Das Chorbild mit dem breiten5/8-Schluß ist speziell der Nikolaikirche in Stralsund nicht unähnlich. Anders ist nur, daßin Xanten die Obergadenfenster nach französischer Art zum Arkadengesims herabreichen.

In drei andern Bauten dieser Gegend, in Nieder-Haslach i. E. (ca. 1360ff.), inHeidelberg, Heiliggeistkirche (seit 1400) und in der Minoritenkirche in Kolmar (ca. 1400), lebtder Bautypus wie gleichzeitig im Norden weiter, das System hat dieselbe stilistische Betonungerfahren wie dort, ohne allerdings an die Wirkung jener Bauten heranzureichen. Auch Salem,Zisterzienser (1299 ff.) und Krakau, Dom und Dominikanerkirche (Anfang 13. Jahrh.), zeigenden Typus schon in anderer Durchbildung.Stilistisch eine Mittelstellung zwischen Regensburg und Lübeck nimmt das Langhaus desMagdeburger Domes ein. Die Anlage mit dem quadratischen Joch im Mittelschiff,schmalen Seitenschiffen und dem bis zum Gewölbe durchlaufenden Kreuzpfeilerdienstentstammt noch, gleich dem Chorgrundriß, der burgundischen Frühgotik (Moudon,Flavigny, S. Valeria b. Sion). Die niedrigen Pfeiler mit den kräftig hochgeschwungenenArkadenbogen, sowie die prachtvoll gerade durchlaufenden Dienste erinnern, trotzdemdie Kreuzpfeilerform vom Chor beibehalten ist, stark an Regensburg. Die unmittelbarüber dem Gesims ansetzenden Fenster (erst gegen 1280 entw.), sind bis zur Sohlbankherab

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offen und paarweise aufs Joch verteilt, so daß der Obergaden ein bedeutendes Übergewichtüber die Arkadenreihe bekommt. In dem strengen Nebeneinander der zwei steilenFensterrahmen äußert sich eine Gewalt der Vertikalteilung, wie sie bisher nur beim TypusLübeck aufgetreten war: fast werden die Arkaden von den Fenstern geknickt. Es istbezeichnend, daß die enggepaarten Doppelfenster gleich dem Lübecker System in derArchitektur gegen 1400 wieder eine große Rolle spielen: Dom in Stendal; Wien, St. Stefan;Heiliggeistkirche in Heidelberg u. a. Sie sind auch jetzt wie um 1300 das mit einfachstenMitteln den Raum versteifende Element, dem, wie hundert Jahre zuvor, das krampfhaftePathos manieristischen Gepräges entströmt. Nur daß sie jetzt die gleiche Umdeutungerfahren, wie sie uns von den Rostocker und Wismarer Kirchen bekannt ist. Aus ihrenbreiten Fensterrahmungen wird eine raumeinkapselnde Wirkung herausgeholt.

Hallenkirchen

Es war aus dem bisherigen hervorgegangen, daß das hochgotische Gestaltungs-prinzip vor 1300 in besonderem Grad an die Basilikalform geknüpft ist. Andererseits sehenwir in der gleichen Zeit die Halle in stetigem Vordringen begriffen. Wir stehen vor derFrage, konnte es im Hallensystem, dessen Raumsituation den hochgotischen Basilikalbautenso deutlich zuwiderläuft, überhaupt zur Ausprägung des neuen Stiles kommen? Und wieerklärt es sich, daß es überhaupt aufgenommen wird?

Die Halle war bisher nur in einer Landschaft Deutschlands zur Tradition geworden,in Westfalen, und zwar erst nach der Jahrhundertwende und nur im Kleinbau (s. H.Rosemann, Zeitschr. f. Kunstgesch. I, 1930). Von hier aus hat sie sich dann im Laufe des13. und früheren 14. Jahrhunderts einen großen Teil Nord-, Mittel- und Südwest-deutschlands erobert. Die andere für die spätere Zeit wesentlichere Einflußquelle ist danndie z. T. auf bayerischen Traditionen fußende Zisterzienserhalle in Südostdeutschland.

Die Marburger El i s abe thk i rche , die früheste Halle gotischen Konstruktions-prinzips, ist als Abkömmling der westfälischen Bauweise zu betrachten. Der Chor war diereizvolle und bedeutende Leistung einer nordfranzösisch orientierten Bauhütte gewesen. Inseiner Dreikonchenanlage verband sich rheinische Tradition, überhaupt spezifisch deutsch-romanisches Raumgefühl mit französischem Körpergefühl. Sie ist in dieser Hinsicht einGegenstück zum Straßburger Langhaus. Um 1249 war mit der Pfeilerstellung derNordkonche der Hallenplan festgelegt. Damals wurden, wie R. Hamann neuerdings (DieElisabethkirche in Marburg, Band II, 1929) ermittelt hat, die Gebeine der Hl. Elisabethnicht wie bisher angenommen, in den Ostchor, sondern gleich in die Nordkonche, ihreheutige Ruhestätte, übertragen, was voraussetzt, daß diese ziemlich fertig war.Mit der eigentlichen Aufführung des Langhauses wurde dann (s. Wilhelm-Kästner, S. 30

ff.) um 1260 begonnen. Beurteilt man es von der ganz aus der Hallenform geborenenwestfälischen Bauweise her, so ist nicht zu verkennen, daß das Charakteristikum derMarburger Halle, ihre leicht ablesbare, schnelle Jochfolge, die Preisgabe des westfälischenRaumgefühls bedeutet. Dieses hatte sich in dem zähflüssig gedehnten, aus wenigen fastquadratischen Jochen zusammengesetzten Mittelschiff geäußert, das von schmalen Seiten-gängen als Seitenschiffen begleitet war. Auf diese Weise hatte sich ein relativ offenes, dieRaumzusammenhänge und Raumbegrenzungen klarlegendes Jochgefüge ergeben. Seinemtektonischen Gerüst war dabei eigentümlich gewesen, daß hochbusige, schwere Gewölbeauf untersetzten Pfeilern lasteten. In Marburg ist davon nur die Breitendehnung des Mittel-schiffes und der robuste Pfeilerquerschnitt übriggeblieben. Höhe der Pfeiler und Schlank-

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heit der anderen Jochabstände, die den Eindruck entscheidenden Faktoren in Marburg, sinddagegen dem westfälischen Raumcharakter völlig konträr und scheinen damit der Hallen-situation überhaupt unangemessen zu sein.

Trotzdem kommt es in Marburg zu einem klaren, starken Inneneindruck. Er hängt,abgesehen von den Grundrißverhältnissen, mit der Wahl des Pfeilers und dessen Verhältniszur Wölbung zusammen. Diese den straffen Marburger Jochzusammenhang hervor-bringenden Faktoren sind aber das unmittelbar französisch-gotische Einflußgut. Die Grund-rißdisposition mit den Mittelschiffrechtecken, die genau zwei Seitenschiffquadraten ent-sprechen, ist die in Frankreich seit 1200 übliche Norm und der Rundpfeiler mit vierDiensten geht, wie Wilhelm-Kästner auf Grund der Ornamentik nachzuweisen vermochte,direkt auf die Reimser Kathedrale zurück. Die hochgotischen Möglichkeiten dieserPfeilerform sind schon bekannt, sie waren bereits im rheinischen Basilikalbau bei denZisterziensern und Bettelorden (Münstermaifeld, Marienstatt, Köln und Bonn, Minoriten)hervorgetreten. Aber erst hier im Marburger Typus kommen sie zur vollen Wirkung dankder beherrschenden Rolle, die dem Pfeiler im Hallensystem zufällt. Die vom zylindrischenKern nach den vier Hauptrichtungen weisenden Dienste sind die klaren Blickbahnen, andenen man stracks in die Wölbungsbogen hinaufgleitet. Sie binden die Teile in einen soleicht auffaßbaren Bewegungszug zusammen, daß man nicht zögern kann, in demMarburger Hallensystem die einfachste und einheitlichste Form der Jochorganisationinnerhalb der früheren Hochgotik zu sehen. Also über die Anwendung des klassischgotischen Formenapparates auf das Hallensystem, nicht über das (stilistisch ältere) Mittelder westfälischen Jochübersichtlichmachung kommt es in Marburg zur Klärung desRaumzusammenhangs.

Verdankt ist sie im besonderen wieder – gleich dem hochgotischen Basilikalbau –der Trennung der ausdrucksmäßigen Funktionen von den konstruktiven. Der Vergleich mitdem Pfeiler der Kathedrale von Poitiers macht diese Verschiebung der Verantwortlichkeitenrecht augenfällig. Hier ist der Pfeilerkern, abgesehen davon, daß er formal kaum inErscheinung tritt, dünn im Verhältnis zu den kräftigen Diensten, denen fast die ganzeTragfunktion zugemutet ist. Andererseits ist etwa beim Vergleich der beiden Hallen vonPoitiers und Paderborn, die auf Tafel 103 der deutschen Kunstgeschichte von Dehio (Abb.Band 1) nebeneinander stehen, zu verfolgen, wie der Pfeiler des deutschen Bauwerks trotzseiner Abhängigkeit von dem französischen schon stark auf dem Weg zu dein MarburgerFormprinzip ist. Die Dienste haben im Verhältnis zum Pfeilerkern deutlich abgenommen.Daß auch ein direktes Abhängigkeitsverhältnis zwischen Marburg und Paderbornanzunehmen ist, wird durch den Umstand nahegelegt, daß bereits in Paderborn dastraditionelle Überwiegen des Gewölbes über den Pfeiler zu dessen Gunsten verschoben ist.Rückt somit Marburg schon von dieser Seite her unter französischen Einfluß (Paderbornhängt von Poitiers ab), so zeigt es ihn zugleich in voller Umwandlung zum Hochgotischenbegriffen. Die Wucht des Pfeilers ist gegenüber der französischen Halle bedeutendgesteigert und zwar nicht nur dadurch, daß der Pfeiler gestreckt und verdickt ist, sondernebenso durch das Eliminieren der Gewölbegewichte. Sowohl die Gurten wie vor allem dieScheidbogen spitzen sich und damit die eigentliche Gewölbemasse ebenso zu, wie es in denBasiliken die Archivolten in Bezug auf die Obergadenwand taten.Damit erscheint noch drastischer als im Basilikalbau die statische Festigkeit gesichert.Denn dank der Höhengleichheit der Schiffe ist die Stützkraft des Pfeilers bis an denGewölbeansatz heran deutlich gemacht, d. h. es gibt nicht die statisch unübersichtlicheGewagtheit des überhöhten Mittelschiffraumes. Die biegsamen Stabelemente derklassischen Gotik sind noch augenfälliger versteift als im Basilikalbau. Aber nicht nurdarum hat die Marburger Elisabethkirche viel von dem hochpathetischen Schwungeingebüßt,

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den das französische Kathedralsystem auszeichnet. Der Wandel des Ausdrucks rührthauptsächlich daher, daß in der Halle diejenigen Elemente ausgeschaltet sind, die noch inder hochgotischen Basilika dem Pathetischen unmittelbare Sprache gaben: der obereLichteinfall und die den Jochrhythmus steigernde Folie der geschlossenen Wand. Soprachtvoll gestreckt die Marburger Pfeiler dastehen – sie tragen noch einen Abglanz derklassischen Gliederschönheit – es verrät sich doch schon ein Zug von Beschaulichkeit indiesem einfachen Auf- und Niedergleiten, das die einheitlichen Dienst- und Rippenbahnenbefehlen. Man ahnt, was dann auf der zweiten hochgotischen Stufe, etwa in der FriedbergerLiebfrauenkirche, in Erfüllung gehen soll. Denn schon in Marburg ist die formale Basis desspäter erwachenden Ausdruckswillens: die homogenisierte Bausubstanz, gewonnen, auchdiese unmittelbar geschöpft aus der französischen Gotik, aus der stabförmig verein-heitlichten Körperlichkeit, in der die Fremdform der Wand eliminiert war. So ist es nichtzufällig, daß der Typus der Marburger Halle im Gegensatz zu den Basilikaltypen der erstenhochgotischen Phase, auch in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Geltung bleibt, jadaß er erst jetzt zu seinem Höhepunkt reift.

Daneben hat er allerdings Züge genug, die ihn mit der Stilstufe von Regensburgund Lübeck verbinden. Mit diesem hat Marburg die Senkrechtenteilungen gemeinsam, dieeine Stockwerksgliederung übertönen, im Falle Marburg die aus dem Chor fortgesetztezweireihige Fensterwand. Ein Vergleich mit dem Chorsystem macht deutlich, wiegewaltsam im Schiff die Vereinheitlichung erzwungen, wie rücksichtslos die schöneZusammengesetztheit der Glieder in Senkrechtenbahnen gefesselt ist. Das Starre derSenkrechtenorganisation äußert sich auch in der Merkwürdigkeit, daß der Diagonalrippe amPfeiler keine Fortsetzung gegeben ist. Die Ausschließlichkeit, mit der im 13. Jahrhundertauch alle anderen Nachfolger des Marburger Systems die Diagonalrippe am Kämpferaussetzen lassen, kann doch nur besagen, daß man damals die mangelnde organische bzw.dynamische Verknüpfung im Interesse der Hauptachsenbetonung in Kauf zu nehmenwünschte. Die sich hierin äußernde starre Rechtwinkligkeit ist innerlich ganz derDienstreduktion in den gleichzeitigen Basiliken zugeordnet. Gegenüber dem klassischenKathedralsystem, das die diagonale Kreuzverbindung mit solcher Begeisterung hervortretenließ (Chorsysteme!), bringt deren Preisgabe eine deutliche Einbuße an universellem Geist.Also auch hier wieder die Hinwendung zum Primitiven – so wie die Wahl der Hallenformals solche eine Entscheidung für das einfache Formskelett und gegen das organisch gestufteGliederleben war.

Das Marburger System wird von den Zisterziensern in H a i n a (Wilhelm-Kästner,S. 112 ff.) sofort aufgegriffen und eher noch verschärft. Die Pfeiler wirken hier nochmassiver und gewalttätiger, die Jochzahl ist wesentlich erhöht (in Marburg sechs, hier neunJoche). Haina und die Stiftskirche in Kaiserslautern behalten die zweistockige Fensterwandbei. Zur einstockigen Teilung sind außer der schönen Stiftskirche in Wetter a. d. R. diePfarrkirche in Frankenberg, die Minoritenkirche in Münster i. W. und der Dom in Wetzlarübergegangen. Sie alle entsprechen sonst ziemlich genau dem Marburger Vorbild.

Dem Pfeiler nach kann als Parallele zur Augustinerkirche in Lahr das Langhaus desDomes in F r a n k f u r t a. M. gelten (ca. 1250–1260 entstanden, s. Guido Schönberger,Schriften des historischen Museums der Stadt Frankfurt a. M., II, 1928). Der Pfeilerkern istquadratisch, im übrigen ist er mit seinen vier Diensten von ähnlicher Wirkung wie der inHarburg. Die Seitenschiffe sind hier, um Raum zu gewinnen, viel breiter als dort, dieMarburger Jochfolge und damit das Stilprinzip bleibt aber dadurch in seinem Wesenunberührt.Alle diese Bauten sind in ihrer Gesamtdisposition unrein, sie haben ein Querschiff oder dasMarburger Chorsystem, ausgenommen die M i n o r i t e n k i r c h e in Münster i. W.

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(Wilhelm-Kästner, Abb. 165). In ihr sind Marburger Elemente (Pfeiler und Jochgrundriß) indie westfälische Tradition übersetzt. Niedrige Pfeiler und breitflächige Gewölbe sind ineinen engen Jochrhythmus gezwungen. Aber vollends kann sich kein glückliches Raumbildergeben, wenn bei so breitgedrückten Maßverhältnissen die Jochzahl im Schiff auf achtJoche, im Chor auf drei gebracht ist. Die starke Streckung erklärt sich aus der Tradition undden Bedürfnissen der Bettelorden. Das Querschiff ist gefallen, zum erstenmal also ist hierdie ununterbrochene Tiefenreihung der Regensburger Dominikanerkirche in den Hallenbaueingeführt. Dies gilt allerdings nur für den Großbau, der Kleinbau kennt in Westfalen schonfrüher kein Querschiff mehr.

Zu erwähnen bleiben zwei andere querschifflose Hallenbauten dieser Zeit, dieDominikanerkirche in Frankfurt a. M. und die Zisterzienser-Nonnenkirche in Marienstern i.S. Sie heben sich dadurch heraus, daß in ihnen beiden der gegliederte Pfeiler durch denkompakten zylindrischen bzw. achtteiligen ersetzt ist, daß also die Jochteilung in ihnendumpf und gewaltsam zum Ausdruck kommt, ähnlich wie in den Bauten vom EßlingerTypus (s. o.).

Das langgestreckte Hallenschiff der Frankfurter Do mi n i kan er k i r ch e (s. Kraut-heimer a. a. O. , Abb. 28, 30) schließt sich unmittelbar an ein Fünfachtel-Polygon, das imDetail auf die Chorkonchen der Marburger Elisabethkirche weist. Da an seinem Westbeginnfür den Anschluß der Schiffgewölbe und Arkaden mehrere Konsolen in einer Höheeingesetzt sind, die auf ein Hallenschiff deuten, glauben Krautheimer und auch Schoen-berger (Schriften des Hist. Museums der Stadt Frankfurt a. M., II, p. 76 ff.), daß dem Frank-furter Hallenplan der Vorrang vor allen gotischen Hallen gehört. Das Schiff ist zwar wahr-scheinlich erst auf Grund der Ablässe in den sechziger und siebziger Jahren des 13. Jahr-hunderts, also nach Vollendung des Frankfurter Domlanghauses aufgeführt worden, derBaubeginn des Chorpolygons wird aber schon für das Jahr 1246 bezeugt, 1249 und 1250waren Ablässe für den Besuch am Weihetag ausgeschrieben. Der Marburger Hallenplanwird dagegen nicht vor 1249 gefaßt worden sein.

Die Frage der Priorität wird insofern interessant, als nach dem Obigen die An-regung zu der Halle in Frankfurt schwerlich aus der westfälischen Bautradition gekommensein kann. Krautheimer sucht auf Grund des Chordetails eine Beziehung zur RamersdorferFriedhofskapelle herzustellen. Sie ist nicht ohne weiteres schlüssig, da die betreffendeEigentümlichkeit auch sonst damals nachzuweisen ist. Doch führt dieser Hinweis in dieallgemeine Richtung, in die auch der spezielle Baucharakter der Frankfurter Hallenkirchen(Dom und Dominikanerkirche selbst) weist. Die scheunenhafte Grobschlächtigkeit desDominikanerlanghauses deutet darauf hin, daß hier der profane Hallenbau oder nochallgemeiner: die Zweckmäßigkeit richtunggebend war. Daß bei der Wahl des Domhallen-systems rein praktische Erwägungen eine Rolle gespielt haben, hat bereits die vorzüglicheUntersuchung Schönbergers ergeben, noch viel mehr ist dies für die Kirche der Domini-kaner anzunehmen. Die Bettelorden haben in ihrer Frühzeit vielfach reine Nutzbautenhingestellt, siehe besonders ihren Saalbautypus. Für eine dreischiffige Anlage war aber dieHallenkonstruktion die einfachste Lösung.

Daß es nur auf eine solche ankam, beweist das Detail, vor allem die Wahl deseinfachen Rundpfeilers mit blattlosem Kämpfer (dieser ist allerdings heute nicht mehr ganzursprünglich, auch sonst haben die Details Überarbeitungen erfahren; die Gewölbe sindwohl erst im 15. Jahrhundert an die Stelle einer provisorischen Flachdecke getreten). DieRundpfeiler sind die ältesten im gotischen Hallenbau, von der Funktion spätgotischerRundsäulen trennt sie allerdings eine Welt. Gerade nur, daß in ihnen die hochgotischeSenkrechtenteilung ganz primitiv sich Ausdruck schafft 5).

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Daß es sich in der Frankfurter Dominikanerkirche um einen reinen Nutzbau, einen bloßenVersammlungsraum handelt, nicht um ein Sakralbausystem, dafür spricht auch das indirekteBeweismoment, daß der Bau in der kirchlichen Architektur nirgends Nachfolge findet. EineAusnahme hat vielleicht die schon im 17. Jahrhundert zerstörte WormserDominikanerkirche gebildet, für die derselbe Grundriß (Oblongjoche) und der Rundpfeilerbezeugt sind.

Daß andererseits der profane Baucharakter darauf schließen läßt, daß das mit ihmauftretende Hallensystem sich aus der nichtsakralen Bauweise herleitet, beweist ein Bauwie die Kirche der Z i s t e r z i e n s e r n o n n e n in M a r i e n s t e r n i. S. (Abb.: Inv. Kgr.Sachsen, Kr. Kamenz). Ihr Hallenquerschnitt ist sicher direkt aus dem klösterlichen Saalbauzu erklären. In diesen Kreis des zisterziensischen Hallenbaues hatte auch die RamersdorferFriedhofskapelle gehört. Ihre Details, die Abkragungen und gewirtelten Rundpfeiler weiseneinwandfrei darauf hin.

Der Hallenbau war den Zisterziensern auch schon für die Nonnenemporen ihrerFrauenklosterkirchen geläufig, es sind hier meist dreischiffige Hallen mit Achteckpfeilern(Frauental, Marienpförten, Mariaburghausen u. a.). Für den Bau in Marienstern bildet dieintern zisterziensische Hallentradition schon insofern die volle Erklärung, als das Klosterganz an der östlichen Peripherie des damaligen Reichs angesiedelt war. Man sah sichgenötigt, nach dem Einfachsten und Geläufigsten zu greifen.

Das Kloster wurde 1248 gegründet, die Detailformen sprechen für eine Entstehungder Kirche zwischen 1270 und 1290, um 1260 muß der Nordflügel des Kreuzganges inAngriff genommen worden sein, er bildet gewissermaßen das Erdgeschoß des einen Seiten-schiffs der Kirche. Diese ist infolgedessen unsymmetrisch zweischiffig, erst über demKreuzgang wird innen das andere, südliche Seitenschiff frei, es dient als Empore, die somitvom Kreuzganggewölbe getragen ist. Wir haben hier einen der im Sakralbau seltenen Fällevon Asymmetrie aus Zweckmäßigkeitsgründen vor uns.

Die darin sich äußernde Laxheit haftet dem ganzen Bau an. Außer dem Querschifffehlt auch der Chor, die sieben Schiffjoche enden im Osten platt (man vgl. in diesemZusammenhang die Greifswalder Stadtkirchen). Die Pfeiler haben derbe Achteckform undstatt des Kämpfers nur Konsolen für die einzelnen Rippen. Sie ragen in beträchtliche Höheund füllen konkurrenzlos den Raum. Anderwärts meist noch rundgebliebene Formen sindhier kantig gebildet, gekehlt oder abgeschrägt (Rippen, Scheidbogen, Konsolen und Basen).Selbst in der Bettelordensarchitektur finden sich selten so viele Vereinfachungenzusammen. Es sind Nutzbauformen, wie sie im 13. Jahrhundert überall in Schloßbauten,Kellern oder an wenig sichtbaren Stellen in Dom- und Pfarrkirchen zu finden sind.(Beispiele: Schloß Chillon, Saalbau, ca. 1260; Schloßkeller in Ramsberg, Oberamt Gmünd,zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts; Marburg und Straßburg, Sakristeien; Kölner Dom,Triforium, Außenseite.) Diese Kehlformen und besonders auch der Kämpferwegfall sindalso nicht etwa kühne Vorwegnahmen der Spätgotik, sondern übliches profanes Formgutder Zeit. Wie in den Bettelordenskirchen haben die vereinfachten Formen die gleicheFunktion wie die mehr französisch gebliebenen, man kann sagen, daß sie wie in derRegensburger oder Erfurter Dominikanerkirche dem Bau zu besonderer Einheitlichkeitverhelfen. Auch die enggestellte Reihe der massigen Achteckpfeiler wirkt durchaus alsspäteres 13. Jahrhundert, ebenso die geringe Differenziertheit. Die Gewölbe der drei Schiffehaben gleiche Scheitelhöhen wie in der Marburger Elisabethkirche und wirken denPfeilersenkrechten als auffallend wagrecht gebreitete Raumdecke entgegen. Auch dieseEigentümlichkeit ist typisch für die Entstehungszeit, das harte Gegeneinanderstoßen vonAufgehendem und Gewölbehorizontale wurde schon in Regensburg und der LübeckerMarienkirche beobachtet.

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Auch das System von Marienstern hat in seiner speziellen Ausprägung keine Nachfolgegefunden. Der Bau gehört nach seinem nackten Zweckcharakter zu einem damals hier unddort auftauchenden Kirchentypus, in dem ein antisakraler Geist sich deutlich Luft macht (s.die Greifswalder Stadtkirchen und die Thüringer Bettelordensbauten). Die Halle war fürdieses laienkirchliche Bauwesen die nächstliegende Form.

Typengeschichtlich ist die Kirche in Marienstern als ferner Abkömmling derZisterzienserhalle von Walderbach zu betrachten. Dort war schon das Querschiffweggefallen gewesen und kein eigentlicher Chor abgetrennt worden, und die engePfeilerfolge ist in verwandter Weise mit starr in der Höhe sitzenden Gewölben überdecktworden. Dagegen treffen wir Formen von Marienstern einzeln in den nächsten Jahrzehntenüberall, den Achteckpfeiler ohne Kämpfer in einer großen Anzahl von Hallenkirchen des14. Jahrhunderts, die kranzförmig am Pfeiler sitzenden Konsolen in vielen Bauten derZisterzienser. Wenn auch nicht künstlerisch, so doch als frühester kämpferloserAchteckpfeilerhalle kommt deshalb Marienstern einige stilgeschichtliche Bedeutung zu.

In manchem eine Ausnahmestellung gegenüber den bisher berührten Hallenkirchennimmt der Dom in M i n d e n ein (s. Wilhelm-Kästner, S. 207 ff., Baubeginn um 1267, 1270Weihe). Der erste Eindruck ist die allseitige Weite und Fülle des Raumes, also gerade das,was man bei den andern hochgotischen Hallen vermißte. Auch das Körperliche entsprichtdiesem volltönenden Raumcharakter. Der Pfeiler ist von stämmiger, geschwellter Form,seine Orthogonalgurte greifen frei und hoch in den Raum, acht kräftige Dienste sitzen rundum seinen Kern. Sie sind ihrer Funktion nach abgestuft, die diagonal gestellten schwächerals die andern. Der Diagonalrippe entspricht also ein Dienst, Gewölbe und Pfeiler beziehensich organisch aufeinander (vgl. dagegen Marburg). Deutlicher als bisher je in einem Bauder deutschen Gotik führt die Diagonalrippe kreuzförmig durch den Raum. Raumweite undFunktion der Körperform entsprechen sich vollkommen''). Erstere kommt aus derwestfälischen Tradition. Die Weite auch in den Seitenschiffen und die freie Raumhöhekönnen aber nur von einem einzigen westfälischen Bauwerk vermittelt sein, demjenigen,welches zuerst aus dem Format der kleinen westfälischen Pfarrkirchen herausführt und dieHallenform in die Kathedralarchitektur einzuführen wagt: dem D o m in P a d e r b o r n .Der dortige Meister hat nicht einfach eine Vergrößerung von Bauten wie die Hohnekirchein Soest vorgenommen, er hat bekanntlich Anregungen aus Frankreich gesucht undverwertet (Poitiers). Ihnen verdankt er den hohen Pfeiler, das achtteilige Gewölbe und dieAusweitung der Seitenschiffe. Die Proportionen dagegen und die Abstimmung derKörperform gegenüber dem Räumlichen sind sein Werk. Der Mindener Meister (nachWilhelm-Kästner an den Fenstern von Paderborn schon nachweisbar) nutzt die ausgereiftengotischen Formen zu einer noch eindringlicheren Ausdeutung des Hallenraumes, dasentwickelte gotische Konstruktions- und Gliedersystem erst ermöglicht ihm seine großartigeJochbildung. Der neue Pfeiler bindet nach allen Seiten gleichmäßig die Jochelemente, führtorganisch hinauf ins Gewölbe und hinein in den Raum. Darum wäre es völlig verfehlt, hiervon einem Raumeindruck im spätgotischen Sinn zu sprechen. Denn gegenüber demspätgotischen Hallenbau, der übrigens ganz selten Räume von solcher Jochweite geschaffenhat, ist als der wesentliche Unterschied gerade das Hervortreten der festen Jochbindungenzu konstatieren. Gurt- und Scheidbogen, wie auch die Busung der Kappen sondern dieJochabschnitte streng voneinander. Im Grund bleibt es in Minden bei der Ausformung einesspätromanischen Raumes mit gotischen Gliederformen, wie sie ungefähr entsprechend inder Dekagonkuppel von S. Gereon in Köln geschah.Mit der Stilstufe der Marburger Halle hat der Dom in Minden nur insofern Zusammenhang,als auch in ihm das Gliedersystem durch Abschwächung seiner Trag-

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funktion erleichtert ist. Er führt aber dadurch über jene bedeutsam hinaus, als dieSeitenschiffbahnen in ihm kaum mehr vom Mittelschiff abgesondert sind. Die Querrichtungist ebenso voll erschlossen wie bisher die Tiefenaxe. Nach dieser Seite bedeutet Mindenalso die wichtigste Vorstufe zur Wiesenkirche in Soest.

In kleinen Dimensionen wiederholt sich der Vorgang in Minden, Ausdeutung undErleichterung des romanischen Systems mit gotischen Formen (Rundpfeiler mit achtDiensten, gotische Rippen) noch einigemale; Beispiele: Obermarsberg in Oberhessen;Lippstadt, Jakobikirche; Osnabrück, Marienkirche. Im übrigen aber steht die MindenerHalle vollkommen vereinzelt, bedeutet auch künstlerisch eine andere Art von Qualität alsbeispielsweise die Regensburger Dominikanerkirche. Wie das Straßburger Langhaus, indessen Entstehungszeit sie ja mit fällt, gehört sie nach ihrer Gliederschönheit als letzter Bauder Kultur der Stauferzeit an.

Hochchöre

Das eigentliche Gesicht der deutschen Hochgotik prägen – darin der deutsch-romanischen Tradition folgend, ja diese zur eigentlichen Herrschaft bringend – nicht dieFassaden oder die Längsfronten, sondern die Chöre. Als die gestreckten, hochgetriebenenräumlichen Eigengebilde, die sie schon in der ersten hochgotischen Periode häufig sind, als„Hochchöre”, verlangen sie gesonderte Betrachtung.Wie es zu dieser einzigen Bauform der Hochgotik kommt, welche nicht entlehnt, vielmehrihrer baulichen Gesamtfunktion nach völlig neu ist, kann hier nur kurz angedeutet werden.Die Romanik kennt auf deutschem (und italienischem) Boden als architektonischen Chornur die Apsis mit Vorjoch. Daß mehrere Apsiden in der Drei- oder Fünfzahl neben-einandergestaffelt sind, wird meist nur hei Klosterkirchen gefunden. Nicht selten tretenTürme hinzu, die eine Gruppe entstehen lassen, welche die bekannten Chorfassadenbilderergibt. Immer ist es ein knappes, einhegendes Abstemmen der Längs- und Querschiff-

Abb. 6. Regensburg, Dominikanerkirche Abb. B. Landshut, Dominikanerkirche

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körper, was diese Chorform bewirkt. Nur in den französischen Ländern kommt es schonfrüh zur Chorexpansion, speziell in der ostfranzösischen Bildung des Umgangschors mitdrei bis fünf angehängten Kapellen. Der Umgang bewirkt im Aufriß Geschoßgliederung, dieeinsetzende Gotik bereichert ihn durch Einschaltung von Emporen und Triforien. Der Chorgleicht sich damit in hohem Grad dem Langschiff an, dieses in jenem die organischeLösung finden lassend.

Diesen schließlich zu Gipfeln der Feingliedrigkeit gesteigerten französischen Chor-lösungen (Le Mans, Beauvais) steht ein Chor, wie er hier bereits aus der Analyse derR e g e n s b u r g e r D o m i n i k a n e r k i r c h e bekannt ist, als schroffe Gegenformgegenüber. Das Beispiel ist vertretend für die Mehrzahl der deutschen Hochchöre. Es warihm oben entnommen worden, daß die Motive, die das Langschiff organisierten, in ihm sichzur strengsten, reinsten Demonstration sammeln. Dies äußert sich nicht in der Steigerungdes Substantiellen, sondern gerade in der Beschränkung, der Reduktion der senkrechtenTeilungen und dem völligen Ausfall der wagrechten: der deutsche Hochchor ist strengeingeschossig. Was er beibehält von der französischen Gotik ist außer ihrem allgemeinenFormenmilieu die starke Längserstreckung. Aus der Zahl von zwei und drei Chorhalsjochendort werden aber hier häufig vier und noch mehr Joche, die vorwiegend radiale Expansionder französischen Chöre wandelt sich also einseitig in schmalbrüstige Tiefendehnung.Wenn sich dann umgekehrt die Polygonfelder der Apsis von sieben und mehr Abschnittenauf fünf bzw. drei verringern, so geschieht dies nicht allein dem Gewinn an Fläche sondernebensosehr der Absicht zuliebe, die radiante Strahlkraft des Chors noch weiterabzumäßigen.

Sucht man für diese Bildung nach den geschichtlichen Zusammenhängen, so ergibtsich, daß die unfranzösischen Merkmale zugleich solche der deutsch-romanischen Traditionsind (gleich der symptomatischen Rolle des Chors überhaupt). Sieht man von denniederrheinischen Chören ab, die deutlich westfranzösischen Bildern folgen, so sind alledeutschen Apsiden betont eingeschossig, höchstens daß an ihrem Äußeren eineZwerggalerie auftritt, die aber für die Inneneinteilung ohne Folgen bleibt. Weiter haben siefast alle die breite, stumpfe Fensterteilung nach dem Divisor drei gemeinsam. Dies giltebensosehr für das frühe Hersfeld wie für die spätromanischen Domchöre (Mainz,Straßburg). In Frankreich dagegen sind auch die einfachen Apsidenchöre der Hirsauer Art(S. Benoit s. Loire, normannische Schule) im Aufbau mehrgeteilt, desgleichen diefrühgotischen Polygonapsiden Burgunds und Mittelfrankreichs (Lyon, Dijon St. Ived deBraine, Laon, Querschiffkapellen der Kathedrale). Das eingeschossige Polygon alsfreistehender Hochchor tritt erst um die Mitte des 13. Jahrhunderts in Gestalt vonbischöflichen oder fürstlichen Schloßkapellen auf (Paris, St. Chapelle 1240-1248, St.Germer (Oise) um 1259). Formal sind diese Kapellen als Absprengsel derChorkapellenkränze zu betrachten, vergleichbar dort besonders den Marienkapellen. Sieoffenbaren im kleinen die volle Transparenz und Eigenbeweglichkeit des klassisch-gotischen Gliedergerüsts. Die französischen Architekten haben dieser Form aber damalskaum und auch später, im 14. und 15. Jahrhundert, höchst selten Abschluß und Bekrönungeines ganzen Langhaussystems zugemutet. Dies schon darum nicht, weil der in Frankreichfast stets gegliederte Aufbau im Schiff auch im Chor seine Fortsetzung verlangt hätte. Abersie taten es gewiß auch in dem richtigen Gefühl, daß der klassisch-gotischen Haltungbezüglich der Eingeschossigkeit maßstäbliche Grenzen gesetzt sind. Die Zerrung nach derHöhe wie nach der Breite, die in Deutschland der Flächigkeit zuliebe in Kauf genommenwird, mußte die frische Eigenkraft der plastischen Formen zerstören. Hingegen würdigtbereits der Meister des ersten monumentalen Polygonchors in Deutschland, des Westchorsam Naumburger Dom, den eingeschossigen Chor des Abschlusses eines ganz großenRaumes.

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In Naumburg sehen wir auch eine andere mit den deutschen Hochchören verbundeneEigentümlichkeit schon verwirklicht, daß nämlich der liturgische und der architektonischeChor genau zusammenfallen und damit beide vom Bereich der Laien sichtbar abgesondertsind. Bekanntlich war im romanischen Kultgebäude, aber auch noch in der klassisch-gotischen Kathedrale der Umfang des Chors der Geistlichen sowohl durch die Einbeziehungdes Querschiffs wie auch – in Klosterkirchen – eines Teiles des Langschiffes undeutlichgeblieben. Zwar verdecken noch außen in Naumburg zwei flankierende Türme denChoransatz als Rudimente des Romanischen, im Innern aber ist der architektonische Chortrotz seines unmittelbaren Anschlusses an das Schiff eine ausdrucksmäßig geschlosseneEinheit, der die Lettnerschranke noch vollends die genaue liturgische Begrenzung setzt.Dadurch erst wird der hochgotische Chorraum zum „hohen Chor”, d. h. zum sakralbesonders akzentuierten Bauteil innerhalb des kultischen Bauzusammenhangs. Dies ist einneues Moment im Kirchenbau, auf deutschem Boden solange in Geltung als bis in derspätgotischen Kapellenhalle eine neue Synthese von Schiff und Chor mit neuen Mitteln undauf Grund neuer Gesinnungen gefunden wird. (Der sakral gestufte Kultbau wird jetzt zumeinheitlichen Andachtsraum.) Die sakrale Sonderbetonung eines einzelnen Bauteils würdeaber nicht empfunden, würde sie nicht durch die architektonische Form unmittelbar erzeugt.Tatsächlich gewinnen viele Bauten der Hochgotik erst mit dem Chor den Ausdruck derStrenge und Beschwingtheit, der gesteigerten Idealität, der sich an das Hochsakrale knüpft.Hiervon muß beim Flachdeckbau der Bettelordensarchitektur noch näher die Rede sein.

Ursache im einzelnen für diese Wirkung sind die oben bezeichnetenFormtatsachen, es ist vor allem die Schärfe und Augenfälligkeit der Organisation, diegereinigte Jochteilung. Innen ist es der gestreckte Parallellauf von Fenstern und Diensten,außen sind es vor allem die langdurchlaufenden, sich stetig verjüngenden Pfeilerkanten.Damit ist zugleich gesagt, daß der Hochchor die hochgotischen Gestaltungsprinzipien ingedrängter, beispielhafter Form hervortreten läßt. Und im gleichen Grade als er weithin diePhysiognomie des hochgotischen Kirchenbaues bestimmt, erhärtet er deren Vorherrschaft:der Hochchor ist die verbindlichste Demonstration des hochgotischen Formgeistes.

Ist die kirchliche Neubautätigkeit in dieser Zeit schon sehr lebhaft gewesen,besonders in den Städten, so wurde die Form des Hochchores mit wahrer Leidenschaftaufgegriffen, speziell zur Erweiterung romanischer Anlagen. Kaum daß man in Deutschlandeine Stadt findet, wo es nicht eine dieser Kirchen gäbe, aus deren Tiefe man dies spröde,hochaufgeschossene Baugebilde hervorstoßen sähe. Alle mittelalterlichen Bautypen, dieDomkirchen ebenso wie die Hallen und Basiliken werden mit dieser Chorform verbunden.An ihr bildet sich eine Tradition heraus, die das ganze spätere Mittelalter hindurch nichtunterbrochen wurde. Als zartestes Membran aller stilistischen Wandlungen vermag sie beiwenig sich wandelnder Gesamterscheinung alle Abstufungen der Entwicklung und sogar dieCharaktere der einzelnen Landschaften zu spiegeln, sodaß der mit ihren Nuancen vertrautgewordene an ihr ein gut Teil der Architekturgeschichte der Zeit ablesen kann.

Die älteren Chortypen von damals sind der kurze, ein- bis zweijochige Mittel-schiffschluß und die Dreiapsidengruppe in der Regensburger Form, sie sind auch die-jenigen, die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts am meisten verbreitet sind,besonders im Pfarrkirchenbau. Zur stilistisch reinen Verknüpfung mit dem Langhaus, zurAufgabe des Querschiffes also, kommt es aber in diesem noch selten, wenn auch dieBettelorden nicht die einzigen sind, die aus der neuen formalen Haltung die stilistischeKonsequenz für die Gesamtdisposition ziehen (vgl. etwa die Benediktinerkirche in Tholey).Bei deren Kirchen war die Wirkung, die aus dem unmittelbaren Zusammenhang der beidenRäume entsteht, schon kurz bezeichnet worden. Das Langhaussystem findet im Chor dieBekräftigung, nicht

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der Gegensatz, die möglichst gleichartige Fortsetzung ist gesucht. Wir erleben es erst durchdiese Kombination, auf was die letzte Absicht des hochgotischen Sakralbauwerks in derersten Stilstufe geht. Im straffen Fortschreiten, im gleichmäßigen Wiederholen des einenMotivs durch den ganzen Raum soll es zur höchsten rhythmischen Schlagkraft, zumgedrängten Erlebnis der nackten O r d n u n g kommen. In den Kirchen der Bettelorden trittdiese Absicht am schärfsten hervor, ihren oben besprochenen Bauten ist sie allengemeinsam, und dementsprechend sind auch ihre Chöre, abgesehen vom Chor der KölnerMinoritenkirche, in der Einzelbehandlung untereinander eng verwandt. Alle haben sie deneinzelnen Gewölbedienst, die Wandfläche tritt überall hervor und die Strebepfeiler bleibenunter dem Gesims, d. h. die Einheit der Fläche wird durch die Teilungsform respektiert.Außerhalb der Bettelordensarchitektur sind diese Kurzchöre nur gelegentlich im Sinne derVereinfachung behandelt, die meisten halten an der französischen Prägung fest. Etwa inWimpfen, Oppenheim, Landau nehmen die Fenster noch wenig Rücksicht auf dieUmhüllungsfunktion, die die Fläche haben soll, sie lassen noch kaum einen Streifen Wandneben den Diensten stehen. Diese zeigen sich noch nicht rein der Senkrechtenorganisationunterstellt, ihre differenzierte Bündelung zeigt an, daß sie noch Einzelwert repräsentierenwollen. An den Gelenkstellen, den Kapitellen und Schlußsteinen, hebt sich ein reiches undqualitätvolles Detail hervor und sogar die plastisch überquellende Konzeption der PariserSt. Chapelle, nach der sich die Chordienste im Geist der französischen Fassadenarchitekturmit einem Kranz lebensgroßer Figuren bekleiden, findet bei uns da und dort Eingang:Naumburg, Wimpfen, Hagenau. Am Äußeren dagegen verwandelt sich der fialengekrönteoder mit Satteldach gedeckte Strebepfeiler französischen Gepräges früh in die stumpfere,mehr linear empfundene Form des Pultdachpfeilers (Mainz, St. Stephan 1260, Weißenburg,St. Peter und Paul ca. 1270 u. a.). Bei den Chören der Bettelorden ist er die Regel, nur anihren frühesten Bauten kommt der zisterziensische Satteldachpfeiler vor. (Als Einzelformsind beide der burgundischen Gotik entnommen.)

Die französisch gefärbten Chöre, unter denen der Chor der München-GladbacherStiftskirche (geweiht 1275) als Ableger der Kölner Dombauhütte hervorragt, gehen nochlange neben den mehr „hochgotischen” her, im Grunde bricht diese Tradition nie ab, jasie erlebt in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts in den Domchören von Erfurt undAachen und in den Parlerchören von Magdeburg (St. Peter) und Ulm (Münster) eine neueBlüte. Daß sich aber dieser transparente Chorstil neben den immer wandmäßiger sichschließenden deutschen Langhaussystemen gehalten hat, mag nur der Umstand erklären,daßin dem französischen Chortypus auch die Wirkungen mitenthalten sind, die von derdeutschen Hochgotik angestrebt werden. Tatsächlich besteht diese Verwandtschaft schonim Konstruktiven, denn der Einschiffigkeit zufolge ist auch hier wie in den hochgotischenHallensystemen die nur dem basilikal gestaffelten Chor mögliche Gegenbewegung vongestützten und stützenden Teilen in die gleichlaufende Hochpressung übergeführt. Undähnlich wie dort auf dem Grund des Pfeilerkerns spitzt sich hier das eingeschossige Dienst-system in der Helle der durchfensterten Wände so sehr linear zu, daß seine plastischeWirkung über der rein funktionalen unterzugehen scheint. In den Chören des späteren14. Jahrhunderts ist es dann die Kontrastwirkung des sozusagen kompakt durchlichtetenRaums zu dem massig geschlossenen Schiffsystem, die mit ihnen gesucht ist – in derhorizontalen Abfolge das gleiche Prinzip, das wir vertikal in den Ostseemünstern vor unshatten (die Parallele dazu in der Hausteinarchitektur sind die parlerischenBasilikalsysteme).Aus der Menge der aus dem französischen Formcharakter sich erst lösenden Chöresei nur einer herausgegriffen, der vermöge seiner souveränen, echt deutschenFormuniversalität einsam zwischen den anderen ragt. Es war von ihm – gemeint ist derWestchor des

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Na um b u r g er Dorns – schon gesagt worden, daß er äußerlich zwischen einemromanischen Turmpaar hervortretend, unmittelbar ans Langhaus schließt, daß er aber durchden hohen Lettner wie durch seine formale Geschlossenheit sich gegen das Schiffabsondert. Erwähnt sei hier die nicht unwichtige, bisher unbeobachtet gebliebene Tatsache,daß der Chormeister, der niemand anders als der „Naumburger” selbst gewesen sein kann,die Futtermauer eines schon vor ihm begonnenen Polygonchores mitbenutzt hat. Diesbeweisen u. a. die erst über ihr bündig werdenden Strebepfeiler. Der Grundriß war also fürden neuen Meister schon gegeben, als er um 1249 den Auftrag zum Chorbau erhielt.Wahrscheinlich stammt der Choranfang noch von dem rheinischen Langhausmeister undsollte zu einer Bildung wie in St. Severin in Köln oder in den Querschiffkonchen desBonner Münsters führen (beide mit quadratischem Chorjoch und 5/8-Schluß ohneStrebepfeiler). Der Naumburger Meister brachte das gotische System mit Strebepfeiler undRippenwölbung von Frankreich mit. Gekannt hat er sicher die Reimser Chorkapellen (Chor1241 vollendet), also das vollentwickelte gotische Chorsystem, dies bezeugen u. a. dieLaufgänge in der Wand. Was in Naumburg anders ist, ist folglich als bewußteUmgestaltung, nicht als mangelhafte Kenntnis zu bewerten. Jene dokumentiert sich auf denersten Blick in den breiten Wandflächen neben den Fenstern und der Schwächung derRippen- und Dienstglieder. Diese stehen fast als bloße Linienformen gegen die Fläche undhaben ausgesprochene Senkrechtenteilungsfunktion. Gegen die aufrecht stehende Form derFenster ist das Gewölbe durch seine Bewegung in den Raum stark abgesetzt. Wir haben hierdie Scheidung der tektonischen Elemente, wie sie beispielsweise in der Dominikanerkirchein Eßlingen beobachtet wurde (s. das dortige Chorgewölbe, bis auf die glatte und festeFensterleibung hinaus läßt sich eine Verwandtschaft feststellen). Gegenüber Reims fälltdann weiter auf, daß das Gewölbe keine ins Weite reichende Saugwirkung, keine fließendeVerbindung mit den anschließenden Jochen besitzt, hierin unterscheidet es sich auch vondem Eßlinger Gewölbe. Im Polygon ziehen die Rippen den Blick wohl intensiv hinauf, abernicht aus der Tiefe heran, sie sind gegen das folgende quadratische Gewölbe durch einenstarken Gurt abgetrennt. Die zwei Joche sind deutlich gegeneinander isoliert, besonders imPolygon glaubt man die geheime Sympathie des Meisters mit dem Zentralraum zuverspüren. Es braucht nicht besonders ausgeführt zu werden, daß sich hierin das älteredeutsche Raumgefühl ausspricht. Nimmt man dazu die gereihten Blendarkaden im Vorjochund die Bildung der nischenförmig tief eingeschnittenen Fenster, so wird man hinsichtlichder Abstammung des Naumburger Meisters nicht daran zweifeln können, daß ihm spezielldie rheinische Tradition im Blute lag. Rückwärts weist auch die Art der Figurenanordnung– als Fortsetzung der Blendgalerie gedacht, sind die Bildwerke, einem Horizontalbandgleich, zwischen die Vertikalen eingeflochten, besonders deutlich ist es da, wo die zwei sichgegenüberstehenden Figurenpaare die Jochgrenze zu überbrücken suchen. Nach all demstellt sich der Naumburger Chor dar als ein aus mehreren Stilen eigentümlich gemischtesGebilde. Spätromanisches, Deutsch- und Französisch-Gotisches durchdringt sich und istgemeistert von der individuellen Gestaltungskraft eines überragenden Künstlers. In ihmleuchtet ein letztes Mal die staufische Kaiserherrlichkeit herüber in eine Zeit, der allerweltliche Glanz und alles individuell Geprägte fremd geworden war.

Vergleicht man den Naumburger oder einen ihm zeitlich benachbarten Chor(Schulpforta, 1251; Niederhaslach, St. Florentin, ca. 1250) mit den im letzten Drittel des 13.Jahrhunderts entstandenen Chören, so fällt auf, wie sehr diese alle, seien sie nun mehr fran-zösisch-gotisch oder hochgotisch, in den Proportionen gesteilt sind. Also auch hier dasselbeVerhältnis von Jahrhundertmitte und -ende wie zwischen den Dominikanerkirchen inEßlingen und Erfurt. Ja in der französisch-gotischen Gruppe geht man soweit,

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zugunsten der vertikalen Straffung die Knickung der Hochfirstlinie in Kauf zu nehmen(Köln, St. Ursula, München-Gladbach, Stiftskirche). W e n n solche Chöre dieberühmteren Fälle von St. Sebald und St. Lorenz in Nürnberg vorwegnehmen, so reihensie sich damit zugleich in eine Tradition der Bettelorden ein. Deren ureigenste Schöpfung,die gestreckten Hochchöre, die als der andere Chortypus von damals den Kurzchörengegenüber treten, zeichnen sich mit Vorliebe durch den erhöhten First vom Langschiff ab.Wir sehen hier dem Typus der uniformierten Reihung (Regensburger Dominikanerkirche)einen andern parallel gehen, bei dem der Langchor mit vier und mehr Jochen über einmeist flaches, oft saalförmiges Schiff dominiert. Daß gerade bei den Bettelorden derKultus des Hochchores besonders gedeiht, gründet sich auf den Umstand, daß bei ihnendie schroffe Trennung des Priester- und Laienreviers ihre unmittelbarste Veranlassungfindet. Denn in ihrer kirchendienstlichen Praxis tritt zum ersten Mal die Auffassung ansLicht, daß der eigentliche Chordienst als interne Angelegenheit der Religiösen mit derBetreuung der Laienschaft nichts Unmittelbares zu tun habe. Und dieses neue Bewußtseingeht so tief, daß man es für möglich, ja für notwendig hält, die Stätte der Laienbetreuung,d. h. den Predigtraum nur durch die Kraft des Worts, nicht mit der sichtbarenAusdrucksgewalt sakraler Architekturformen zu erfüllen. So kommt es, daß besonders inden frühen Jahrzehnten ihrer Ausbreitung die Predigträume der Bettelorden als einfacheRechtecksäle und simple Flachdeckbasiliken außerhalb der magischen Bindungen bleiben,daß andrerseits die Chöre, die von jenen nach einer ungeschriebenen, aber strengen Regelnoch dazu durch den Lettner getrennt sind, zu immer größerer Bedeutung anwachsen.Denn dafür waren auch die Bettelorden noch zuviel Mittelalter, als daß sie auf diemonumentale Sichtbarmachung sakraler Gehalte hätten verzichten können.So erklärt es sich, daß die von einem besonderem Pathos erfüllte Bauform des gestrecktenHochchores gerade auf dein dürren Boden der Bettelordensarchitektur heranwächst, daßsie nicht etwa von der Architektur der französischen Schloßkapellen, aus denen wir ja denLangchor bereits kennen gelernt haben, in neue Zusammenhänge übertragen ist. Letzteresgeschieht nur in einzelnen Fällen des direkten Formimports aus Frankreich, wie in derDeutschritterkirche in Würzburg, die selbst noch als Schloßkapelle aufzufassen ist, oderim Chor von St. Ursula in Köln. Findet der Langchor im 13. Jahrhundert sich anderswo(im 14. ist er dann Allgemeingut), so beweisen seine Formen, daß er entweder der Gotikder Bettelorden (so Straßburg, Jung St. Peter) oder der Zisterziensernonnenarchitekturentstammt (z. B. Eßlingen, St. Dionys), für die das gleiche gilt wie für dieBaugepflogenheiten der Bettelorden.

Bereits im Innern der Regensburger Dominikanerkirche war ein Langchorbegegnet (4+5/8), nur am Äußeren war er noch fast bis zum Polygon von Nebenchörenbegleitet. Ein ähnlicher Typus war schon die um 1236 begonnene KonstanzerDominikanerkirche gewesen (Abb. Krautheimer, a. a.O. , Tafel 3). Hier ist der Hochchorsieben Fensterachsen lang und ebenso von Seitenräumen begleitet. Er ist nochflachgedeckt, seine Form bleibt vereinzelt. Aber gleichzeitig mit ihm taucht auch schonder unbegleitete, freistehende Langchor auf. Zunächst ebenfalls primitiv, flachgedecktund platt geschlossen, erhärtet er zur Genüge, daß er aus den rein praktischenBedürfnissen des Ordens entsprungen, also kein Derivat der französischen Chor- oderSchloßkapellen ist. Zur Gruppe dieser frühesten Langchöre gehören die Barfüßerkirche inZürich, die Franziskanerkirche in Würzburg und die Klarissenkirche in Pfullingen. DerChor in Würzburg war wahrscheinlich ursprünglich ein selbständiger Saalbau ähnlich derGelnhausener Franziskanerkirche (die mit ihren fünf romanischen Gratgewölben nebender Gmünder und Sionsthaler Franziskanerkirche zu den ältesten Bettelordenskirchen inDeutschland zu zählen ist). überhaupt wird man den unter

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den frühen Niederlassungen verbreiteten Saaltypus als die Vorstufe des primitiven Lang-chores anzusehen haben. (Vgl. Scheerer, Die Kirchen der Franziskaner und Dominikaner inThüringen, 1910.)Mit dem dreischiffigen Langhaus verbunden erscheint der gestreckte Chor vielleichterstmals in Zür i ch . Die dortige Barfüßerkirche (entstanden ca. 1240; Abb. J. Oberst, DieKirchen der Dominikaner und Franziskaner in der Schweiz, 1927), hat einen vierachsigenChor mit geradem Schluß, der unmittelbar auf das dreiteilige Schiff folgt. Dieses ist wie derChor flachgedeckt und gehört mit seinen quadratischen Pfeilern und unter-spitzen Arkadenzu der Gruppe von Bettelordensbauten, die sich der alemannischen, noch ganzfrühromanisch gebliebenen Basilikalform bedient (s. auch oben die Eßlinger Domini-kanerkirche). Als weiteres Beispiel des flachgedeckten Langchores sei außer derWürzburger Franziskanerkirche (Chorweihe 1250, Wölbung erst zur Zeit desLanghausbaues) noch die Franziskanerkirche in Rufach i. E. genannt (1280 begonnen).Beide haben sie vier Fensterachsen, in Rufach folgt noch ein 3/8-Polygon.Mit Konsolgewölben und mäßig hohen Fenstern folgen in den siebziger und achtzigerJahren die Chöre der Franziskaner in Freiburg i. B., in Trier, der Klarissen in Colmar(Unterlinden-Kloster) und der Minoriten in Münster i. W. Mit ihnen der Form nachzusammen gehört der Langchor von Jung St. Peter in Straßburg (auch noch 13.Jahrhundert). Daß die Bettelorden mit ihrer Chorform früh auf die übrige Architektureingewirkt haben, bestätigen außer diesem die Moritzkirche in Ingolstadt, Liebfrauen inWiener-Neustadt u. a.Bereits zu bedeutenden Dimensionen schwingen sich die auch künstlerisch ansehnlichenChöre der Dominikaner in Landshut und Colmar auf. Den Colmarer Chor kann man gut mitdem überlieferten Datum von 1283 in Verbindung bringen. Der Jochzahl nach (5+5/8) ist erwohl der größte Langchor des 13. Jahrhunderts. Auf der Außenseite stehen Fenster undStrebepfeiler in gespannter Wechselbeziehung. Jene, die sich durch das dreiteilige Maßwerkstark in der Fläche dehnen, werden durch die festen und geraden Strebepfeiler streng in dieSenkrechte gepreßt. Überall wo im 13. Jahrhundert das dreiteilige Maßwerk auftritt (in denletzten zwei Jahrzehnten schon häufig: Lübeck, Marienkirche; Doberan,Zisterzienserkirche; Meißen, Domchor u. a.) entsteht dieser Eindruck von gehemmterAusweitung. Erst nach 1300 erlahmt diese Art Spannung zu Gunsten beiderseitigerfließender Aufwärtsbewegung (Gebweiler u. a.). Die Gewaltsamkeit der Aufteilung zeigtsich in Colmar besonders deutlich an der für diese Zeit bezeichnenden Art des oberenAbschlusses: Fenster und Pfeiler endigen in gleicher Höhe, letztere mit mäßig steilemPultdach abgedeckt, was einen besonders stumpfen Klang ergibt. Dadurch, daß über ihnendie glatte Wand ein gutes Stück übersteht, empfindet man das Schroffe der Pfeilerteilungenbesonders stark. Im Innern behauptet sich die Wandfläche noch deutlicher gegen dieSenkrechten. Die Gewölbe, die mit Ausnahme der Polygonrippen auf Konsolen ruhen,stoßen noch unverbunden gegen die Fläche. Die Chorschlußrippen verbinden sichkämpferlos mit den zum Boden herabreichenden Diensten, der Colmarer Chor bietet damitein besonders reifes Beispiel einer streng hochgotischen Haltung. Wie dieser hiererstaunlich früh auftretende Kämpferwegfall im allgemeinen für die Hochgotik zu bewertenist, soll im zweiten Teil gesagt werden.Gehörte der Colmarer Chor ursprünglich zu den das Schiff überragenden Bildungen (dasheutige Hallenschiff ist der Erweiterungsbau aus der Mitte des 14. Jahrhunderts), so ist dieDominikanerkirche in Landshut vielleicht das erste Beispiel, wo wir den gewölbtenLangchor und das Langschiff auf gleicher Gesimshöhe verbunden sehen. 1271 war dieGründung des Klosters, 1288 wird der erste Ablaß gewährt, 1304 ein Altar am Ostende

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des Seitenschiffes geweiht. Mit dem Chor wurde begonnen, er gehört noch ganz ins 13.Jahrhundert. Er nimmt durch sein Material, Backstein mit ganz wenig Hausteingliedernvermischt, und die Blendgalerie über den Fenstern eine Sonderstellung ein. Die Reihe derspitzen Blendbögen ist ein altertümliches Motiv, stilistisch ist ihre Funktion ähnlich zubewerten wie die der gelegentlich vorkommenden Spitzbogenfriese. Wie im Falle diesersehen wir ein romanisches Motiv der Flächengliederung jetzt zur Flächenspannung genutzt.Die kunstgeschichtliche Wurzel der Landshuter Spitzbögen reicht bis an den Rhein undweiter nach Burgund, die ähnlichste Bildung und Anordnung findet sich in Pfaffenheim i.E. Die Festigkeit der Flächenkomposition, – auch die Strebepfeiler ordnen sich ihr ein –hebt den Bau aus gleichzeitigen Chören heraus.Die einheitliche Firstlinie ist in Bayern zur Regel geworden, von den andern Bettel-ordenskirchen (München, Franziskaner und Augustiner; Ingolstadt, Minoriten) überträgt siesich dort auf die übrige Architektur. Die Wirkungen des Langchores als künstlerischerGegensatz zur Ausdruckseinheit des Langhauses werden aber erst nach 1300 entdeckt. DieErfurter Barfüßerkirche und der Dominikanerbau in Gebweiler sind Beispiele dafür.

Fassaden

An keinem Bauteil muß der Gegenschlag der deutschen Hochgotik zur französischenKlassik schroffer empfunden werden als bei der Gestaltung der Fassade. Der Gegensatzwird wohl am schärfsten aus der Verschiebung desjenigen Verhältnisses offenbar, dasspeziell den französischen Fassadengedanken in seinem Kern betrifft, aus der Verbindungvon Innen- und Außenbau. Ist bisher richtig gesehen worden, daß sich in der deutschenHochgotik das gerüsthafte Denken Nordfrankreichs in ein solches der Fläche und der auf ihrzur Wirkung gebrachten Linien wandelt, so muß dies in den Fassadenbildungen dadurchzum Ausdruck kommen, daß die unmittelbare Entsprechung von Außen- und Innenstrukturin den Hintergrund tritt gegenüber einer abgeschlossenen, zuvorderst der selbständigenFlächengliederung verantwortlichen Frontenbildung. Die erste Folge davon wird sein, daßaus einem „Muß” der Durchdringung von außen und innen ein „Kann” wird.Der Blick auf den Denkmälerbestand bestätigt es, daß in der deutschen Hochgotik nichtsleichter preisgegeben wird als die körperhafte, an Gelenken ablesbare Entsprechung derEingangsseiten zu den Innensystemen. Abgesehen von den turmlosen Fassaden kommt esselbst kaum einmal vor (Marburg, St. Elisabeth), daß die Fassadenbestandteile mit denallgemeinsten Außenumrissen des Langhauses in Übereinstimmung gebracht sind.Demgegenüber war das besondere Kennzeichen, mehr noch, das höchste Vermögen undZiel der Kathedralarchitektur Frankreichs gewesen, daß sämtliche Bauteile als dieÄußerung einer Gesamtkonzeption verständlich werden. An keiner Stelle aber tritt dasbaukünstlerische Prinzip, auf welchem jene Wirkung beruht – die plastisch-struktive Durch-fühlung des ganzen steinernen Raummantels – greifbarer hervor als an der Gestaltung derFassadenmassen. Mit welchem leidenschaftlichen Zielbewußtsein und welchem Scharfsinndie nordfranzösischen Architekten daran gegangen sind, dieses konstruktiv wie ästhetischan der Fassade gleich schwer realisierbare Grundgefühl zu verwirklichen, so, daß diemachtvollsten Motive des abendländischen Monumentalbaues zu einer höchsten Steigerungzusammengeführt sind, läßt sich aus den Untersuchungen von Hans Kunze über dasFassadenproblem der französischen Früh- und Hochgotik (Leipzig 1912) in seltener Schärfeentnehmen. (Bezeichnend dafür etwa die Modifikation des Hochschiffgewölbes in Laonzugunsten der Einpassung der Rose oder die Differenzierung der Grundrisse von Querschiff und Westfassade in Laon und Reims.)

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Machen wir uns kurz klar, was mit einer Fassade wie derjenigen von Reims geleistet war,um zu ermessen, was die deutsche Hochgotik mit ihrem Gestaltungsprinzip aufgegebenoder inwiefern sie es etwa überwunden hat. Seitdem die Architektur der Mittelmeerländervon der Form des dorischen Peripteraltempels abgegangen war, war es nicht mehr zu einerkörperplastischen Identität von äußerem und innerem Raummantel gekommen. In denfolgenden Architekturstadien bis zur Spätantike wurde der griechische Baugedanke, der einrein tektonischer war, immer mehr verwischt. Die struktiven Elemente versankenzunehmend in der ständig wachsenden geschlossenen Mauermasse, aus der sie sich (inveränderter Gestalt) erst seit dem Einsetzen der nordabendländischenArchitekturentwicklung schrittweise wieder befreiten. Hand in Hand mit jenem Vorgangschieden sich die Außen- und Innenaufbauelemente voneinander, zunächst auf Kosten derAußenbauwürde (Spätantike), seit der karolingischen Zeit werden aber jene als Portale,Türme, Wandgliederungen zu immer wesentlicheren Ausdrucksfaktoren. So leicht undsinnfällig im dorischen Säulenkranz die äußere und innere Raumhülle zur Deckung gebrachtwaren, so sehr mußte sich diese Absicht komplizieren, wenn ein im Innern so vielfältigabgestuftes Gliedergerüst wie das gotische einen Außenbaukörper durchwachsen sollte, derbereits nach eigenen Bedingungen entwickelt war. Hatte sich für die Gliederung der Chor-und Längswände aus dem Schwebekonstruktionsprinzip bald eine zwangsläufige Lösungergeben, so ist es nur begreiflich, daß sich eine entsprechende plastisch-struktiveDurchblutung der Eingangsfronten, speziell der mit Türmen besetzten, erst allmählichvollzog (I.aon um 1190). Denn die inneren Jochabstände und Geschoßgliederungen mit denaußenbaulichen Elementen, den Türmen, Portalen und der Rose, in Einklang zu setzen,machte notwendig, daß neben den genauesten konstruktiven Überlegungen (speziell für dieinnere Abstützung der Türme) alle Teilglieder des Bauwerks in eine einheitliche maßliche(jedoch nicht maßstäbliche!) Rechnung einbezogen wurden.Daß auf diese Weise ein wirklicher Organismus entstand, hing nicht zuletzt von demUmstand ab, daß das Innen und Außen nicht nur scheinbar, optisch (wie seit derRenaissancezeit), sondern auch materiell in einen Zusammenhang gebracht waren, indemdie außen ablesbaren Hinweise auf das Innensystem mit diesem in konkretem,mauermäßigem Verband standen.Die französische Zweiturmfassade im Stadium der Reimser Kathedrale zeigt die körperhafteVerschmelzung der monumentalen mittelalterlichen Bauglieder in einer Weise gelöst, dieihr zugleich die höchste Ausdrucksgewalt und den größten Reichtum der Abstufungenverleiht. Denn da es im Wesen der gotischen Gliederdynamik liegt, daß sie überschüssigeKräfte hervortreibt, die zur plastischen Sublimierung drängen, so wird das gotischeBauwerk zum unmittelbaren Träger einer sakralen Bilderwelt. Das tektonischeGliedergerüst blüht allenthalben in Gestalt figürlicher Bildwerke über sich hinaus underzeugt im besonderen an den Hauptbegegnungsstellen von innen und außen, den Portalen,ein Kraftfeld, das den Vorgang der Durchdringung durch einen Kranz freischwebenderStandfiguren zum großbewegten Spiel von Neigungen und Gesten abstuft.Man sollte erwarten, daß sich die Geschlossenheit eines solchen Fassadensystems dieeuropäische Architektur sogleich im Sturm eroberte, vollends wo die allgemeine Annahmeder französisch-gotischen Konstruktionsidee den Boden dafür bereitet zu haben schien.Diese Eroberung gilt nun zwar weithin für die Aufgaben dekorativer und kunstgewerblicherArt (man denke etwa auch an die Baldachinbekrönungen in Gestalt von ganzen gotischenKirchenmodellen). Umso überraschender aber ist es, wenn wir feststellen müssen, daß diefranzösische Fassadenidee – und dies trotz ihrer erschöpfenden Universalität – für denGroßteil der gleichzeitigen und unmittelbar folgenden deutschen Fassaden unfruchtbar

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geblieben ist. Dieses Verschlossenbleiben gegenüber einem so faszinierenden Vorbild (dasja durch die Bauhüttenglieder der französischen Kathedralen weithin bekannt gewordenwar) wirkt in diesem Zeitraum umso bedeutungsvoller, als wir seit der zweiten Hälfte des14. Jahrhunderts von einer deutlichen Neurezeption französisch-gotischer Ideen sprechenkönnen. (Allerdings finden diese ihren Niederschlag nicht eigentlich an Fassaden, sondernan Einzeltürmen.) Auch in der Folgezeit, ja bis tief in den Barock hinein erneuern sich dieseEindrücke (so z. B. in Balthasar Neumanns Fassade von Vierzehnheiligen).Am radikalsten unberührt geblieben sehen wir die deutsche Fassadenbildungbegreiflicherweise im Ordenskirchenbau, der aber auch weithin die Eingangsfronten derPfarrkirchenarchitektur unter seinen Einfluß gezogen hat. Die Bauweise der Bettelordenbedeutet in der grundsätzlichen Ausschaltung der Türme sogar etwas wie einen bewußtenProtest gegen das französische Ideal, bei dem ja gerade die Zweiturmfront zumentscheidenden Sieg gekommen war. Was innerhalb der Tradition der Zisterzienser fast imVerborgenen geblieben war, da ihre Klöster in gesuchter Abgeschiedenheit angelegt waren,geschah nun mit den Kirchen der Bettelorden in aller Öffentlichkeit.Das Beispiel der E ß l i n g e r B a r f ü ß e r k i r c h e (Krautheimer a. a. O., Abb. 11) kann,zugleich als eines der monumentalsten, für alle turmlosen Fassaden der erstenhochgotischen Phase vertretend sein. Die Fassadenwand folgt dem allgemeinen Umriss derbasilikal gestuften Schiffe. Sie wirkt zuvorderst als eine breit und hoch aufgerichteteFläche, in die erst nachträglich die Senkrechten der Strebepfeiler und Fenster samt einembreit durchlaufenden Horizontalgesims eingetragen sind. Dieser Eindruck kommt dadurchzustande, daß die Strebepfeiler als kurze Stümpfe weit unter der oberen Gesimshöhe bleibenund daß auch mit dem Wagrechtengesims auf keine der hauptsächlichen UmrißknickungenBedacht genommen ist. Die Öffnungen der Portale und Fenster sind nur im Mittelfeldaufeinander bezogen, stehen daher ohne wirklich festen Halt in den weiten Flächenebenen.Diese Organisation ist umso auffallender, als die turmlose Giebelfront des beginnenden 13.Jahrhunderts bereits eine weit größere Stabilität erlangt hatte (s. z. B. St. Georg inHagenau). Wir sehen speziell die Hervorhebung der Gelenkstellen in der Eßlinger Barfüßer-fassade vollständig zurückgebildet. Dies kann nur erklärt werden durch das Bestreben, dieFassadenfront als glatte, kontinuierliche Fläche sprechen zu lassen, in der die übrigenFormen nur als allgemeinste Hinweise auf eine Senkrechtenordnung dienen sollen. Also aufeinfachste und unmißverständlichste Weise das, was auch im Innern der hochgotischenBasilika zur Wirkung kommen sollte und damit die Abkehr von einem Denken, das in derinnigen Verknüpfung plastischer Strukturglieder das höchste baukünstlerische Ziel sah.Daß es sich in der Fassadenbildung der deutschen Hochgotik nicht nur um einen Verzichtaus Unvermögen, einen bloßen Provinzialismus handelt, bezeugt aber außer der Tatsache,daß sie auch in den westdeutschen Zentren allgemeine Verbreitung findet, eineFassadenentwicklung, wie wir sie für das S t r a ß b u r g e r M ü n s t e r verbürgt haben. Dieeinzige große Kathedralfassade der Zeit vor 1300 auf deutschem Boden gibt den Beweis,daß die Abkehr von der französisch-gotischen Norm mit künstlerischem Bewußtseingeschah.Es können hier nicht alle Fragen berührt werden, die sich an das Verhältnis der in Straßburgund Nürnberg befindlichen Risse zur Ausführung und zur Persönlichkeit des Meisters Erwinknüpfen. Für das rein Bauliche hat immer noch das die meiste Geltung, was in den Arbeitenvon Knauth (Straßburger Münsterblätter 1912) und Hans Kunze (Zeitschrift für Geschichtedes Oberrheins, Band 28, 1913 und Thieme-Beckerlexikon unter „Erwin”, 1915)niedergelegt ist.Den ersten Entwurf für die Fassade, der erhalten ist, den sogenannten Riß A, darf man um

1276 ansetzen. Es ist der Zeitpunkt, zu dem man sich doch noch überraschend

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entschloß, die Absicht des ersten Langhausmeisters, mit dem Schiff zugleich die Fassadeneu zu gestalten, wiederaufzunehmen. (1275, als die Hochschiffgewölbe geschlossenwurden, war bereits gegen diese Absicht am westlichen Joch eine abschließende Mauergegen die alte frühromanische Fassade aufgerichtet worden.) Die Rücksicht auf dieFassadenaufteilung, was vor allem gleichbedeutend ist mit der Einbeziehung der Rose in diemaßliche Festlegung der Obergadenhöhe, war allerdings schon vom ersten Langhausmeistervernachlässigt worden. (S. dagegen H. Kunze, Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins,Bd. 28, der nicht beachtet hat, daß bei der heutigen Obergadenbreite die Rose noch dieHälfte des Triforiums hätte mitbeanspruchen müssen.) Daß dann auch vom zweitenLanghausmeister die Erneuerung der Fassade preisgegeben wurde, wäre in diesem Stadiumder Architekturentwicklung in Frankreich undenkbar gewesen und zeigt an, wo beimdeutschen Baumeister (und Bauherrn!) der Punkt des geringsten Widerstandes sich befindet.

So war bereits für die Planung der Fassade eine Lage geschaffen, die die Rücksichtauf das Langhaus im Sinne der französischen Konzeptionsweise nicht begünstigen konnte.Tatsächlich sehen wir bereits den Riss A (Dehio, Gesch. d. deutschen Kunst, II, Abb. 96a)von einer Grundrißdisposition ausgehen, die mit dem Breitenverhältnis der ausgeführtenSchiffe nicht übereinstimmt (Langhaus 4 : 7; Riß A 1 : 2; Riß B 4 : 5; Ausführung + 2 : 3).Dies ist um so befremdlicher, als das Verhältnis der ausgeführten Joche für dieFassadenaufteilung viel günstigere Bedingungen (speziell für die Unterbringung der Portaleauf gleicher Höhe) geschaffen hätte als das Verhältnis 1 : 2. Eine Erklärung dafür, daß manin Straßburg den Mittelabschnitt auf Kosten der Türme verbreitern wollte, ergibt sich ausdem Umstand, daß sich der Riß A-Meister für das Mittelstück an die Nordquerschiffsfrontder Pariser Kathedrale anschließen wollte (Ausführung um 1260). Die Wahl diesesVorbildes ist aber tief bezeichnend. Schon die Pariser Westfassade war ja innerhalb derfranzösischen Entwicklung durch ihre regelmäßigen, weitgespannten Felder, die relativwenig von Strebepfeilern und Fenstern durchstoßen waren, aufgefallen. Das gleicheFormgefühl wird von der Querschiff-Fassade in verdünnter Weise aufgenommen. DasRelief der Gliederungen ist hier weiter abgemäßigt, dafür ist die dekorative Wirkung erhöht.Dadurch, daß das Portal von den Strebepfeilern ein Stück Abstand hält, blieb Raum für jeeine portalähnliche Wimpergblende. Im Verein mit je einer weiteren Verblendung an denzwei Eckstreben, die noch ein Stück schmaler und niedriger ist als jene, war so einefünffach gestufte Giebelgruppe erzielt, die im Mittelportalwimperg kulminierte. Mit ihr warauf der an sich einheitlichen Fläche der Querschiff-Front eine Wirkung erzielt, wie sie vonder Staffelung wirklicher Portale an der Reimser Fassade ausgegangen war. Daß denStraßburger Meister an der Pariser Lösung eben die bloße Blendengliederung auf einerungebrochenen Fläche anzog, geht daraus hervor, daß er die ganze Fünfergruppe auf dasMittelstück seiner Zweiturmfassade übertrug, obwohl die Portale der Turmabschnitte denRhythmus dieser Gruppe stören mußten. Denn die Pariser Blendwimperge sollten ja nur derErsatz für die fehlenden Seitenportale sein, über die der Straßburger Meister ja a prioriverfügte. Wollen wir den Riß A nicht zum Pasticcio stempeln, so bleibt nur übrig, diesesMißverständnis positiv, als beginnende Neuorientierung zu deuten. Man kann sie darinsehen, daß in der Übernahme mehr dekorativer Querschiff-Motive auf die tektonisch vielanspruchsvollere Zweiturmfassade das Streben nach deren abstrakt-funktionaler Umdeutungerkennen läßt.Daß damit nicht zuviel gesagt ist, beweist die Rolle, die die eingeschobenenWimpergstücke im ca. 1280 folgenden Riß B spielen. Hier sind diese auch den Turm-portalabschnitten zugeteilt. Es läßt keinen Zweifel, daß sie als Symbole des allseitigen Auf-sprießens und zugleich als die Organe des elastischen Hin- und Hergleitens zu inter-

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pretieren sind. Die Doppeldeutigkeit ihrerBeziehung, einmal zu den Portalen,ebensosehr aber zu den Strebepfeilern,dient der innigeren Verschmelzung derMotive, die damit zugleich etwasSchwebendes, Unwirkliches bekommen.Es ist nicht zu übersehen, daß dieWimpergstücke neben den tektonischnotwendigen Motiven hergehend abstraktfunktionale Aufgaben erfüllen (und damitdie beherrschende Wirkung jener um einBedeutendes beeinträchtigen). Auch fürdas Verhältnis der Türme zum Mittelfeldhaben die Einschiebungen insofernBedeutung, als sie die drei Portalfelderzunächst in sich gravitieren lassen. Sieschaffen drei Dreiergruppen und lassen sodie beiden Organismen der Türme und derMittelschiff-Front von unten an (einer-seits) als gesonderte Größen hervortreten.Daß die Türme auf dem Riß B alsselbstständige Faktoren aufgefaßt werdensollen, machen die folgenden Geschossenoch deutlicher. Auf der Höhe, wo dasMittelfeld mit der Rose seinenHauptruhepunkt findet, nimmt die Auf-wärtsbewegung der Türme in Gestalt vonweit ins nächste Geschoß übergreifendenWimpergen einen ruckartigen Auf-schwung.

Die folgenden Turmgeschosse setzen diese Tendenz des Auseinanderstrebens derFassadenelemente gesteigert fort. Die Fialengalerie über der Rose bricht an denTurmstrebepfeilern ab. Dies geschieht an der Stelle, wo bei der französischen Fassade dieZusammenbindung der den Schiffquerschnitt deckenden Teile noch einmal ausdrücklich er-neuert wurde, indem eine monumentale Bogengalerie über die ganze Breite der Frontherübergezogen wurde.

Dies geschah zugleich, um die Zone zu markieren, wo der Langhauskörper zu Ende istund die Türme vollends frei werden. Auf dem Riß B ist dagegen alles getan, diese Grenzezu verwischen (der bei der Ausführung allerdings kein Langschiffkontur mehr entsprochenhätte, da auf dem Riß das Rosengeschoß über den Gewölbescheitel hinausragen sollte). Wiealso diese Hauptmarkierungslinie unregelmäßig überstiegen ist, so sind auch die übrigenFassadenabschnitte ins Gleiten gebracht. Die wagrechten Geschoßteilungen, die an denfranzösischen Kathedralen nachdrücklichst herausgehoben waren, greifen hier an keinerStelle richtig durch. Sie finden an den verschleifenden W'impergen der StrebepfeilerWiderstand, soweit sie nicht durch ganze Wimpergreihen verunklärt sind. Selbst die Rosefindet kein festes Auflager, sie tanzt schwebend auf den hohen Spitzen einer Fialengalerie.Damit ist schon gesagt, daß die Fassade des Risses B, selbst wenn sie in ihren Maßen besserdem vorhandenen Langhaus angepaßt worden wäre, den Organismus eines

A b b . B . S t r a ß b u r g , R i ß B

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Abb. 9. Straßburg. Westfassade des Münsters

gotischen Innenraumes nicht hätte durchscheinen lassen können. Die Fassade folgt hiervielmehr deutlich ihren eigenen Auftriebskräften, unabhängig von den Bindungen, die sichaus der Rücksicht auf einen ganzen Innenorganismus ergaben. (In Straßburg wäre imspeziellen der romanische Ostbau zu berücksichtigen gewesen, was gewiß nicht zu einerbesonderen Höhensteigerung der Westfront hätte Veranlassung geben können.)Aber auch innerhalb der Fassade ist die klare Ordnung preisgegeben, es ist ein um-die-Wette-Sprießen, was schon in den unteren Regionen einsetzt und von der Mitte ab dazuführt, daß sich die Strebepfeiler nicht mehr an die übrigen Querteilungen halten, diesevielmehr absichtlich übersteigen. Die einzigen Motive, die diesem wogenden Höhenansturmden Halt geben, sind (nicht etwa die Geschoßteilungen sondern) die fünf großen Wimpergeder Portale und der zweiten Turmgeschosse, als selbst wieder gleitende Formen.Damit ist zugleich ausgesprochen, daß es nicht die statisch wichtigen Strukturglieder sind,die den Eindruck bestimmen, sondern dynamisch ausdrucksvolle. Daß mit dem Riß B dieTrennung dieser beiden Elemente bis in die Einzelheiten durchempfunden worden ist, ergibtsich daraus, daß wir uns die Stabwerkgliederung im unteren Fassadenabschnitt praktischnur so ausgeführt denken können, wie sie die heutige Fassade durchgeführt zeigt. Mankonstatiert die reale Ablösung einer eigentlich tragenden Wandmasse von den sieverdeckenden Maßwerkstäben, die ihre aufwärtsdrängende Energie ausschließlichvortäuschen. Dieses Prinzip kommt an der a u s g e f ü h r t e n F a s s a d e noch schärferdadurch zum Ausdruck, daß mit der Höherlegung der Stabwerkzone die Stäbe selbst undder Grund der festen Wand, vor dem sie stehen, sich stärker voneinander abheben. Mankann im Freiwerden des figürlichen Elements an der französischen Kathedrale bereits eineVorstufe zu dieser radikalen Ablösung der dynamischen Ausdrucksformen von denstatischen sehen. Das Bezeichnende aber ist, daß jetzt das plastische Element, eben diePlastik, ganz stark zurücktritt. Beherrschend sind die abstrakten Motive, dünne fleischloseStäbe und peinlich berechnete Maßwerkgeometrie.Beides drängt sich an der ausgeführten Fassade noch mehr hervor. Wie schon obenangedeutet, war hier die Einteilung des Untergeschosses gegenüber Riß B verändertworden. Die über den Portalwimpergen durchgehende Galerie fiel weg. Statt ihrer sind dieErdgeschoßfelder erhöht, das Gesims wurde einfach entsprechend heraufgerückt, sodaß man

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die Veränderung als Zusammenziehung der Galerie mit dem Untergeschoß auffassen muß,also: Ausschaltung eines Quergliedes zu Gunsten der Vereinheitlichung. (Vgl. Triforien-wegfall in Lübeck.) Ein untergeordnetes Motiv von Riß B, die Reihe der sechs dreiteiligenBlendfenster hinter den Wimpergen, ist jetzt zur Hauptsache geworden. Diese Reihe vonQuasi-Fenstern mit ihren weit nach unten greifenden Stäben bildet das bestimmendeTeilungsmotiv durch alle drei Abschnitte hindurch. Die vor ihr aufsteigenden Seitenportal-wimperge werden in ihrer Wirkung stark beeinträchtigt und auch der Wimperg des Mittel-portals kann sich nur schwer gegen ihren starren Rhythmus behaupten. Vergleicht mandamit dessen Rolle auf Riß B, wie er überströmend von sprießenden Kräften hinaufdringtüber die Galerie hinaus bis zur Rose, so ermißt man fast erschreckend deutlich die Ver-änderung. Sein Ausmaß ist ihm zwar geblieben, seine Funktion aber entscheidendgeschwächt; da er das Gesims nicht mehr übersteigen darf, ist seine Bedeutung alsVerbindungsmotiv der Geschosse ausgelöscht. Weiter ist zu beobachten, wie seineKraftwirkung nach oben, das Ausströmen in die Fialen herabgemindert ist, einmal dadurch,daß ein kleinerer Giebel in den Wimperg eingesetzt ist, der den größeren eher an denPortalbogen heranholt als ihn weiter hinauftreibt, und dann durch die Verringerung derFialenspitzen selbst, die in ihrer Vereinzelung den Wimperggiebel eher belasten alsbeschwingen.

Merkwürdigerweise ist die stilistische Wendung, die mit diesen Abweichungen vonRiß B sich kundgibt, bisher unberücksichtigt geblieben. Hans Kunze hat nur die Frageerörtert, welche Schlüsse sich aus der Tieferlegung der Rose ergeben können. Es ist zufragen, ob nicht bereits aus der Umgestaltung des Portalgeschosses baugeschichtlicheFolgerungen zu ziehen sind. Im Nordturmabschnitt entspricht die Ausführung ziemlichgenau Riß B. Auch die Pfeilergesimse liegen hier auf der ursprünglich gedachten Höhe.Von da an folgt die Ausführung Riß C. Das heißt, es wäre ein neuer Meister gekommen,hätte die dreiteiligen Blendfenster hochgezogen und damit den ganzen Fassadencharakterverändert. Für die Annahme, daß dieser Meister – es müßte Erwin sein – nun am Werk bliebund die Disposition der übrigen Geschosse nach einem völlig anderen Plan als dem von RißB bestimmte, spricht auch, daß der übrige Fassadenaufbau mit den Veränderungen unten imEinklang steht. Eine stark abschließend wirkende Galerie trennt Erd- und Obergeschoß. DasSystem unten soll nicht weiter wirken, aber auch nicht wiederholt werden (dies imGegensatz etwa zu einem Auf bau wie am Kölner Dom und der Lübecker Marienkirche).Rose und Turmfenster sind in ihrer ganzen Verschiedenheit vorgeführt, einzig dieTurmfenster schaffen zu den Stäben der Untergeschosse eine gewisse Beziehung (aberkeine Verbindung). Unmittelbare Verbindungsmotive fehlen ganz, auch die Turmfensterhaben keine Wimperge, sodaß die Felder stumpf übereinander geordnet liegen. (In dergroßflächigen klaren Felderteilung, in der alle Zerrungen und Gleitmöglichkeitenausgeschieden sind, kommt noch einmal das Vorbild von Paris, die dortige Westfassade,zum Durchbruch.)

In all dem hat man die Auswirkung der Stiltendenzen vom endenden 13.Jahrhundert zu erblicken. Denkt man zurück an die Reimser Fassade, an das wogende Vorund Zurück der bald gehäuften, bald gelockerten plastischen Glieder, an ihre prachtvolleKörperlichkeit, so fällt demgegenüber vor allem auf, wie hier die Formen in ungeheureFlächen gepreßt und alle Kontraste nivelliert sind. Die Blendfensterreihe bindet auch die indie Tiefe gestaffelten Portale zurück in die Fläche – ist sie auch nirgends real faßbar, ideellherrscht sie über alle Formen.Am deutlichsten setzt sich die Gesinnung der deutschen Hochgotik in der Ablösung des

Stabwerks von der eigentlich tragenden Mauermasse, also in der Trennung von kon-struktiven und dynamischen Bestandteilen durch. Wie auch in Regensburg und anderen

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Bauten ist das in Frankreich mit dem konstruktiven Zweck identische Stabwerk hier nur alsVereinheitlichungsmotiv benutzt. Schon damit ist das französische Gestaltungsprinzipzerstört, verwandelt – und wie schroff man sich von ihm abgewandt hat, könnte nicht besserausgedrückt sein als durch die Rücksichtslosigkeit, mit der die Fassadenfelder dasdahinterliegende Langhaussystem ignorieren. Aus einem lebenswarmen Gesicht des Bau-körpers, wie wir ihm in Laon und Reims begegnen, ist eine Maske, ein in eigentümlichschemenhafter Sonderexistenz befangenes Gebilde geworden7).

Läßt sich an einer Fassadengestaltung, die die französischen Ideen in solchemGrade absorbiert zeigt, zugleich ein Prinzip der Umwandlung feststellen, das mit dem inEinklang steht, was auch in den vereinfachten Systemen der deutschen Gotik bis 1300 zumAusdruck kommt, so mag wohl der Nachweis erbracht sein, daß es sich hierbei um dieÄußerung eines eigenen, unbeugsamen und einheitlichen Stilwillens handelt.

Abschließend seien zwei andere deutsche Münsterfassaden angeführt. Im Aufbauder Zweiturmfront der Marburger El is abe thk i rche (Wilhelm-Kästner, a. a. O. Abb. 12und 32; ca. 1265 begonnen), äußert sich ein Empfinden, das sich in mancher Hinsicht mitdem vom Straßburger Riß B berührt. Zwar sind die Flächen massig geschlossen und sindmehrere Horizontalen deutlich durchgezogen, aber die Türme dominieren in verwandterWeise gegenüber dem Mittelstück und die Höhenbewegung der Strebepfeiler ist ähnlichmitreißend wie dort (die Form der Rose hat sich in ihrem Zug in ein Spitzbogenfensterverwandelt). Wenn auch die Brüstung in Höhe des Langhausgesimses auf den SchiffkörperBezug nimmt, und die darunter sitzenden Fenster sich auf der Höhe der oberen Seitenschiff-Fenster halten, so bedeutet dies doch nicht entfernt eine wirkliche Enthüllung desLanghausorganismus, schon deshalb nicht, weil die Geschoßteilung der Langhauswände fürdas eigentliche Raumsystem nicht bezeichnend ist. Vor allem aber setzen die Türme überdem Langhausfirst nicht ab, tatsächlich sind sie schon von unten an freie Senkrechten, undihre Umrißlinie vermeidet gerade auf jener Höhe mit Absicht eine Einziehung. DieMarburger Front hat mit den Fassaden der deutschen Hochgotik vor allem auch dasgemeinsam, daß in ihren breiten, nackten Stirnflächen alles plastische Leben aufgesaugt ist.

In Freiburg i. B. ist am Münster die Zahl der Türme auf einen reduziert (entstandenseit ca. 1270). Er ist einer alemannischen Tradition folgend (Weißenburg, Zabern,Schwäbisch-Hall) als massiger Block vor die eigentliche Langhausendigung gesetzt. DieVertikale kommt so mit gesammelter Kraft an der Stirnseite des Langhauskörpers zurGeltung. Zwischen den tief und schmal ausladenden Strebepfeilern wird noch die Kante desViereckskernes sichtbar. In Marburg war dies bereits vermieden worden, so daß derTurmkern dort von den Pfeilern verschluckt war. Doch heben sich auf diese Weise inFreiburg die Strebepfeiler umso energischer gegen die Kernfläche des Turmes ab. ZumLangschiff bahnt sich ein neues Verhältnis an: von der Mitte ab übersteigen dieTurmwagrechten merklich diejenigen der Schiffe. Der Turm schiebt sich mit deutlichsteigernder Absicht über den Langhauskörper hinaus. Die fehlende Durchdringung mitdiesem wird auf andere Weise fruchtbar.

Die Krönung dieses Gedankens bringt der Oktogonmeister. Mit den Gestaltungs-ideen seines Turmabschlusses setzt die zweite Phase der deutschen Hochgotik ein*).

*) Note des Verfassers: Im Laufe der Untersuchungen hat sich die Arbeit so gewandelt, daß hiernur der erste Teil gebracht werden kann.

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A n m e r k u n g e n1) Es könnte der Eindruck entstehen, als ob hier durch die Ansetzung der Zäsur zwischen Romanik

und Gotik an der genannten Stelle die vorbereitende Bedeutung des normannischen Pfeilers und der nor-mannischen Wandauflösung unterschätzt bliebe. Das Gegenteil ist aber gemeint. Nur auf der Basis des nor-mannischen Systems konnte die so folgenreiche Umdeutung der Dienstefunktion vor sich gehen und nur vonihm aus erklärt sich deren Plötzlichkeit und Schlagkraft. Innerhalb der engeren entwicklungsgeschichtlichenAbfolge liegt aber die Bedeutung des normannischen Wandsystems mehr in seiner mittelbaren als unmittel-baren Heranführung an die gotische Bauform.

Im normannischen Basilikalbau sammeln sich die bis dahin erschlossenenAusdrucksmöglichkeiten der abendländischen Architektur unter deutlicher Vorherrschaft der spezifischnordischen Komponente. Das allgemein Mittelalterliche (und zugleich Sakrale) wird man in der engenZusammenbindung der Wand- und Gewölbeteile zum festgefügten Joch zu sehen haben, das im besonderenNordabendländische in der Durchsetzung dieses Systems der Bindungen mit vielen Stabformen. Speziell diedurchlaufenden Dienste kommen aus dieser nordischen Vorstellungswelt. Aus dem an die Quaderschichtunggebundenen Körpergefühl können sie nicht hergeleitet werden (s. das Aussehen der Dienste in den derantiken Bautradition folgenden burgundischen Basiliken). Sie müssen aus einem eingefleischten Denken imMaterial der geraden Langhölzer stammen, genauer gesagt aus der Bauweise, wie sie ausschließlich bei dennordwestlichen Germanenstämmen nachzuweisen ist (s. J. Strzygowsky, Die europäische Kunst, Belvedere1925). Nur so kann sich erklären, daß sich die Langform der Dienste im Steinbau durchsetzt, dessen Wesendas Aufeinanderschichten von nur einzelnen Quadern ist. Und weiter konnte es nur aus einer solchenTradition zur Bündelung des Pfeilers kommen, ein Vorgang, der nur möglich ist, wenn die Langformen, diedurch ihn zusammengefaßt sind, als feste, einheitliche Stäbe ( = Stämme) empfunden werden. (Auf den inEinzelheiten hervortretenden Holzbaucharakter der normannischen Frühbauten (Pfeifenkapitelle Stabmusteran Archivolten) wurde schon früher verwiesen).

Daß hingegen die Wölbung mit Rippen und schon die Verwendung von Schwibbogen nicht ur-sprünglich aus dem normannischen System hervorgegangen ist, beweist dort das Nachholen derDiagonaldienste im Obergaden (Caen, Lessay, Durham). Die Wölbung ist nachträglich aufgestülpt, denn einSystem, das sich sonst gerade dadurch auszeichnet, daß alle Teile, Bogen und Pfeiler, ihre genauenEntsprechungen finden, hätte diese Diagonalrippenverankerung auf keinen Fall vernachlässigt. Daß auch derGurtbogen entlehnt ist, ist hei einem so im Holzbau verwurzelten System auch gar nicht anders zu erwarten,denn das Prinzip des freischwebenden Bogens kann allein aus den Konstruktionsmöglichkeiten derKeilsteinmauerung geboren werden. Die südliche Genesis der Rippenwölbung hat sich auch bereitsklarstellen lassen (s. die ausgezeichnete Untersuchung von H. Glück, Belvedere, Band VI, 1926). Darnach istdie von Bogen durchzogene Wölbmasse iberischunteritalischen Ursprungs. Bei Glück ist auch der Nachweisgeführt, daß Rippen und Kappen noch lang nach ihrer Verbindung als getrennte Gebilde empfunden wordensind. Mit andern Worten, die Rippen sind ihrer Herkunft nach Gurten ( = Schwibbogen). Also auch vondieser Seite her muß es einleuchten, daß es erst eines besonderen Schöpfungsaktes bedurfte, dieDurchdringung von Rippe und Wölbfläche herbeizuführen. Dieser konnte aber nur geleistet werden auseinem Denken, das für die gerüstbaulichen Möglichkeiten, die die Gurtkappenwölbung enthielt, empfindlichwar (s. weiter unten). Denn war die Umdeutung erfolgt, so mußte im gleichen Augenblick mit ihr ein neueskonstruktives Prinzip entstanden sein, d. h. es müssen sich als Rippen und Kappen tragende und bloßfüllende Teile voneinander scheiden. Eine andere Folge: der Zusammenhang der Kappenmassen mit deraufgehenden Wandmasse (ihrem ursprünglichen Träger) mußte durch die Ablenkung ihrer Last auf diespeziellen Tragformen aufgehoben sein. Daraus geht hervor, daß die weitertreibende Kraft dieser neuenWölbart nicht der Rippenwölbung als solcher, sondern den konstruktiven Möglichkeiten, die an ihr entdecktund für den ganzen Wandaufbau fruchtbar gemacht werden konnten, verdankt wird.

Es leuchtet ein, daß eine Neuerung, die einen so ungeheuren Auftrieb erzeugte, daß über hundertJahre einer rapiden Entwicklung des Sakralbaues von ihrer Ausschöpfung gespeist wurden, nicht bloß„konstruktiv”, bloß technischer Natur sein konnte. Andrerseits ist nicht zu verkennen, daß es doch einzentrales konstruktives Denken war, von dem der in der Gotik gewonnene künstlerische Ausdrucksreichtumabhing. Wie diese Rolle des Konstruktiven zu bewerten ist, dürfte der Hinweis auf den griechischen Tempelerläutern. In beiden Fällen ist es so, daß bereits vorhandene struktive Formen in strengerer Weisekonstruktiv erlebt, „dienstbar” gemacht worden sind. Bisher nur begleitende Formen werden zuverantwortlichen. (Die literarische Parallelform dazu ist das Drama.) Es liegt darin eine Auszeichnung, dieauch im gotischen Bauwerk den Charakter der Formenwelt ausdrucksmäßig umfärbt. Die Architekturbekommt eine heroische Haltung. Dies ist gerade im Hinblick auf die deutsche Hochgotik festzuhalten. Wasaber im weiteren Sinn hinter dieser Haltung steht, ist das elementare Bedürfnis nach einer klar organischenDurchformung der baulichen Massen. Dies ist im

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besonderen das Bedürfnis der Nordvölker. Es tritt in der griechischen Kultur ebenso ausgesprochen hervor wiein allen großen Augenblicken der abendländischen Kunst.

Dieses Ausdrucksverlangen ruht aber, das dürfte bereits aus dem oben Gesagten schon hervorgehen,auf einem gestalterischen Urtrieb, der sich in der Architektur schon im primitiven germanischen Holzgerüstbaugeäußert hat. Ist dies erkannt, so wird dem Umstand das Zufällige genommen, daß sich die organischeUmdeutung des von der südabendländischen Tradition her aufokulierten Gurtkappengewölbes noch aufnormannischem Boden vollzog (s. St. Etienne in Beauvais). Denn was den Baucharakter der norwegischenMastenkirchen kennzeichnet, die nackte Freilegung des Ständergerüstes als verselbständigtem Träger derSchalbretterumhüllungen, das mußte auch den nach Süden gedrungenen Brüdern dieser NordgermanenBedürfnis sein. Man könnte es auch sonst garnicht verstehen, daß gerade hier und nicht in einer Gegend wieBurgund oder Südfrankreich, wo die Wölbetradition schon so lange und auch die Gurtrippenwölbungwahrscheinlich schon früher geläufig war, die gotische Folgerung gezogen worden ist.

So wäre zusammenzufassen: Die gotische Wendung der normannischen Architektur beruht auf einemdem Nordgermanen eingeborenen gerüsthaften Denken. Dieses äußert sich zunächst in der betontenstabförmigen Umdeutung des Basilikalsystems, wie sie zuerst im normannischen Wandsystem vollzogenwurde. Aber erst die aus der Steinbauweise gewonnene Bogenwölbung vermag dem nordischen Gestaltungs-bedürfnis das Mittel an die Hand zu geben, die letzten, eben die gotischen Folgerungen aus dem normannischenSystem zu ziehen. Die abendländische Architektur wird also zum reinen, organischen Gliederbau auf dem Wegeiner Synthese, einer Vermählung südlicher und nordischer Architekturideen. Es ist gleichnishaft die Synthese,die wir im Ganzen der mittelalterlichen Kultur in der Vereinigung von Christentum ( = Spätantike) undGermanentum als das stets unbegreifliche Wunder vor uns haben.

2) Es wird deutlich, in welchem Grade die Erfüllung der gotischen Gestaltungsabsichten von der Wahldes basilikal gestuften Raumsystems abhängt. Die Halle, oder auch der Wandpfeilersaal vermögen gerade dendualistischen Schwebezustand nicht vor Augen zu führen, da ihr konstruktiver Aufbau nicht erlaubt, mit Hilfedes freistehenden Bogenstrebewerks die Innenraumgewichte sichtbar federnd nach außen abzuleiten, EineAusdeutung, die das Basilikale als störendes Rudiment der romanischen Bautradition bezeichnen muß, läßt alsogerade den symbolischen Gehalt des gotischen Kultraumes verborgen bleiben: Paul F r an k l , Der Beginn derGotik und das allgemeine Problem des Stilbeginns, Wölfflin-Festschrift 1924. Es wird an diesem Beispiel klar,daß der heuristische Wert der Frankl'schen Begriffspaare auf die allgemeinsten Verwandtschaften, dieeuropäische Stile zueinander haben können, beschränkt bleiben muß. Der Begriff „divisiv” ist zu weitmaschig,um die Totalität des gotischen Sakralbauwerks in seiner Einmaligkeit zu umreißen.

Frankls stilistischer Ordnungsbegriff der Division, von ihm sichtlich aus der Barockarchitekturgeschöpft und von da auf die Gotik angewandt, stellt an diese die Forderung, die zwei Bedeutungen, die derBegriff bei Frankl umfaßt, zu erfüllen. Divisiv bedeutet bei ihm sowohl „Durch”- wie „Unter"-teilung. Auf diestilistische Wirklichkeit der klassisch-gotischen Architektur angewandt ergibt sich aber, daß das gotischeGliedersystem wohl den Raum frei durchteilt, daß aber diese Aktion gerade die U n t e r t e i l u n g verhindert, dieein geschlossenes Ganzes voraussetzt. Der gotische Innenraum ist aber, nach Frankls eigener, etwasüberscharfer Definition, als „Fragment des Allraums” zu betrachten, sein raumdurchlässiger Organismus kannalso nicht auch zugleich die Unterteilung dieses Allraums leisten. Frankl kam selbst an einer Stelle zumBewußtsein, daß die Gotik, um divisiv zu sein, Eigenschaften der Spätgotik in sich vereinigen müßte (in der jatatsächlich der Raum unterteilt ist), daß also diese erst die Erfüllung der Gotik sei. Damit wäre die Gotik erstim Stadium der Spätgotik (die aber in Wahrheit nicht bloß ihr Spätstadium ist) sie selber. Diesem Dilemmageht Krautheimer (a. a. O. S. 4) genauer nach, mit dem Ergebnis, daß innerhalb des gotischen bzw.spätgotischen Systems die Eigenschaften der Division sich zwangsläufig gegenseitig ausschließen. In der Tat,denn die geschlossene Wandfläche, die eine Voraussetzung der Unterteilung ist, macht die gleichzeitigeDurchteilung des Allraums, d. h. die Öffnung eben dieser Wand unmöglich. Krautheimer muß also, um dieGeltung des Begriffspaars „additiv-divisiv” zu retten, die Unreinheit sowohl des gotischen wie desspätgotischen Raumsystems in Kauf nehmen bzw. unterstellen. Es zeigt sich, daß die Frankl'sche Theorie dasOpfer der Tatsache wird, daß die Ausdrucksmöglichkeiten der europäischen Architektur in ihrem Beginn nocheinfach sind und erst im Verlauf ihrer späteren Entwicklung komplexer werden. Daß also das, was im Barockgleichzeitig auftreten kann (daß der Raum, indem er durchteilt ist zugleich auch wie unterteilt wirkt; Kirchendes Spätbarock), sich im Mittelalter erst im Nacheinander von zwei Stilperioden (Gotik – Spätgotik) zu ver-wirklichen vermag.Daraus ergibt sich, daß Begriffe, die aus späteren Kunstepochen gewonnen ohne weiteres auf frühereangewandt werden, notwendig diese verunklären und ihren Wert herabsetzen müssen. Angesichts der Kompli-kationen, die aus der Anwendung des Frankl'schen Begriffs entspringen, stellt sich besonders dringlich die For-derung, die Oberbegriffe für einen Zeitstil allein aus der T o ta l i t ät der künstlerischer Erscheinung zuschöpfen.

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Der Begriff „divisiv” macht es unmöglich, zum Kern der gotischen Gestaltungsabsicht vorzudringen. Sobezeichnend noch die „Unterteilung” für die Spätgotik ist, so wenig erfaßt die „Durchteilung” von derklassischen Gotik. Nur so konnte es kommen, daß ihre Hauptraumform, um deren höchste Ausschöpfung ihrganzes Bemühen geht, die Basilika, zum Zwitter und Hemmschuh der gotischen Stileinheit erklärt werdenkonnte. Von dem eigentlich architektonischen Erlebnis des gotischen Gliederorganismus vermag dieFrankl'sche Defination nichts auszusagen.

Es nimmt nicht Wunder, daß innerhalb des Frankl'schen Denkens in Stilantithesen auch die ganzeErscheinung der deutschen Hochgotik unter den Tisch fällt.

Eine Theorie des Stilablaufs, deren Formulierungen für die einzelnen Stilperioden zu allgemein undgleichzeitig zu wenig umfassend sind, kann schließlich auch als Ganzes nicht befriedigen. Was vomgeschichtsphilosophischen Standpunkt über sie zu sagen ist, haben bereits Panofsky und vor allem AlexanderDorner anläßlich der Wölflin'schen Grundbegriffe hinreichend zum Ausdruck gebracht. (Ztschr. f. Aesthetikund allgem. Kunstwiss. XIV, 1920; ebenda XVI, 1922.)

3) Von großer Bedeutung für die Auslegung jeder Architektur ist das Wertverhältnis von Raum undSchale. Verfasser geht von der Auffassung aus, daß in der ganzen Architektur des Mittelalters im Gegensatzzur Spätantike die tektonischen Formen das Bestimmende, die räumlichen Werte das beigeordnete Elementdarstellen, daß also die mittelalterliche Architektur speziell dem Raumstil der Spätgotik bzw. der Renaissanceals ein Körper- oder Gliederstil gegenübersteht. Damit ist die alte Definition Jakob Burkhardts wiederaufgenommen. Sie ist durch den Zusatz einzuschränken, daß die Bezogenheit der Körperform auf das „Innen”der mittelalterlichen Architektur als das Erbe der Spätantike verbleibt. Jedoch schon die sofort mit ihreinsetzende Wertbetonung der Außenarchitektur beweist ihre Abkehr von der ausschließlichen Sammlung aufdas Innenräumliche, zu der sich die Spätantike entwickelte.

Verfasser befindet sich mit dieser Auffassung vielleicht nur in einem scheinbaren Gegensatz zu derneueren Architekturforschung (E. Gall, H. Jantzen, P. O. Rave, Krautheimer; vgl. Kritische Berichte I, 1927, S.12 ff.). Ihrer Definition nach ist der Raum im Mittelalter zwar die Hauptsache und das Gehäuse eigentlich nurBegleitform des Raumes, alle Gliederformen könnten nur als mit dem Raum und dessen Ausdeutungbeschäftigt gelten; in der Praxis aber weisen es die Obengenannten selbst nach, daß die meisten Formen dermittelalterlichen Architektur nicht anders als vorwiegend der Differenzierung des Wandkörpers dienendaufzufassen sind. Daß sie wohl die Bewegung in die Tiefe bezwecken, den Raum durchmessen, in derGewölbebasilika auch direkt auf ihn bezogen sind, immer aber der Raum der passive Teil ist. So wird ihnenauch für selbstverständlich gelten, daß es Raumrhythmus erst in der Hochrenaissance gibt, im Mittelalterdagegen der Raum selber ohne formbildende Kraft – der Teil ist, der in Bewegung gesetzt, gegliedert,rhythmisiert wird.

Ein Beweis dafür ist die Tatsache, daß alle stilistischen Wandlungen des mittelalterlichen Sakral-baues durch Veränderungen der Körperform eingeleitet werden. Bezeichnend ist schon die Geschichte derVierungsbildung. Erst dann wird der architekturgeschichtliche Fortschritt d. h. die Durchkreuzung von Räumenin der Vierung empfunden, wenn sie von besonderen Bogen auf eigens vorgesetzten Pfeilern ausgedrückt ist.(Vgl. Beenken, Rep. f. Kw. LI, 1931.) Niemand wird auch das Aufkommen von neuen Raumformen wie etwades südfranzösischen Umgangschores oder der Zisterzienserchöre im Ernst als wesentliche Stilneuerungenbezeichnen. Eine gewisse Ausnahme im hohen Mittelalter bilden allein die niederrheinischen Dreikonchen-chöre, die sich daraus erklärt, daß in ihnen byzantinisches Raumgefühl wiederauflebt.

Allerdings bleibt das Verhältnis der beiden Elemente Raum und Schale im Mittelalter nicht konstantdurch die Jahrhunderte. Für unseren Zusammenhang ist zu sagen, daß das Übergewicht der Körperform inromanischer Zeit erst allmählich in Erscheinung tritt, je mehr sich die abendländische Architektur von demspätantiken Raumideal loslöst. Auf deutschem Boden herrscht in St. Michael in Hildesheim ein klassischesGleichgewicht zwischen Körper und Raum vor, das über ein Jahrhundert lang festgehalten wird. In Frankreichentfaltet sich seit Einsetzen der normannischen Architekturentwicklung die Körperform zur raum-beherrschenden Kraft. Es ist die Entwicklung, die zum differenzierten Gewölbejoch führt. Seit der StufeChartres wird dann dem Räumlichen langsam immer mehr Raum gegeben. Wenn man will, beginnt hier bereitsdie Entwicklung zum plastischen Raum der Neuzeit hin.

Die gerade entgegengesetzte Auffassung in Bezug auf französische Architektur hat Gall (a. a. O.)vertreten. Sie findet vielleicht ihre Erklärung darin, daß er die französische Frühgotik stark von der rheinischenSpätromanik her sieht, die wie oben erwähnt, den fluktuierenden Raum der Spätantike, gefördert durch süd-westfranzösische Ausdrucksformen, zum Wiederaufblühen bringt. Vgl. hierzu R. Hamann (Band Lehnin,Schlußkapitel, 1924), der schon vor Gall eine diesem entgegengesetzte Überzeugung vertritt und dessen Gotik-interpretation sich folgerichtig nach der Auffassung hin bewegt, die hier zu entwickeln versucht ist.

4) Erst kurz vor Abschluß der Arbeit wird mir der an versteckter Stelle abgedruckte Vortrag von H. J an t zen ,„Über den gotischen Kirchenraum”, bekannt (Freiburger Wissenschaftliche Gesellschaft, Heft 15,

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1928). Die in ihm entwickelte These von der „diaphanen Struktur” der (französisch) gotischenInnenraumbegrenzung ist geeignet die wenig fruchtbar gewordene Frontenstellung von Frankl, Kautzsch,Gall zu durchbrechen. (S. auch Karlinger, Propyläenkunstgeschichte; Clasen, Handbuch der Kunstw.). In ihrtritt der mehr das Tektonische, Rhythmische oder Räumliche erfühlenden Anschauungsweise eine vomOptischen ausgehende entgegen. Der Kontrolle des realen Augeneindrucks ist die Beobachtung abgewonnen,daß „die Durchsetzung der Wand mit raumhaftem Grund” (p. 9) das den gotischen Raum bezeichnende sei.Diese Feststellung ist bedeutsam. Sie leistet als erste die eindeutige Stilabgrenzung des von S. Denis bisBeauvais reichenden Entwicklungsraumes (ca. 1150-1250). Weder vorher noch nachher richtet sich derInnenraum auf die Herausbildung der diaphanen Struktur. Die neue Formulierung ist schon darum zubegrüßen, weil sie den heute herrschenden, für die klassische Gotik zu wenig besagenden Begriff der„Vereinheitlichung” (s. Frankl, Clasen) zu verdrängen vermag. Fragt man, was die Jantzen'sche Definitionvom Wesen der mit ihr eingegrenzten Bauweise erklärt, bzw. unerklärt läßt, so wird allerdings ihrebeschränkte Reichweite deutlich. Wenn am Schluß (S. 18) gesagt ist, daß im gotischen Kirchenraum „einFestes durch ein Unkörperliches der natürlichen Umwelt entrückt, der Schwere entkleidet und zum Aufstieggebracht ist”, so legen die Ausführungen Jantzens nur den ersten Punkt völlig klar. Schon der zweite bedarfder Ergänzung durch andere Feststellungen und der dritte, der Vorgang des Aufstiegs, ist mit der diaphanenStruktur überhaupt nicht zu erklären. Unverständlich bleibt durch sie vor allem auch die aus dem S t e i nblühende plastische Fülle, das struktiv wirksame Bauornament der gotischen Architektur, schließlichüberhaupt das Werden der monumentalen Plastik. (S. dazu auch Anm. 7).

5) Der Rundpfeiler in Frankfurt ist sicher unmittelbar der bei den Bettelorden besondersausgeprägten Vereinfachungstendenz entsprungen. Die gleichzeitig im Westfälischen vorkommende, nochromanisch proportionierte (und auch gegliederte) Rundpfeilerhalle (Warstein, Kr. Arnsberg; Stromberg, Kr.Beckum; Rüten, Kr. Lippstadt), bleibt provinziell beschränkt und kommt kaum als Einflußquelle für denFrankfurter Bau in Frage, ist aber ebensowenig für einen Ableger von ihr zu halten. Im ganzen 13.Jahrhundert bleibt der Rundpfeiler im Hallenbau vereinzelt, und verleugnet auch nicht seine Herkunft ausprimitiven Formvorstellungen. Erst seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wird er zu einem auchkünstlerisch starken Motiv. In bemerkenswerter Zwischenstellung zwischen beiden künstlerischen undstilistischen Haltungen steht die Heiligkreuzkirche in Gmünd.

6) Beides, die schöne Abwägung von Raum- und Körperwerten wie die Vollkommenheit des orga-nischen Gefühls gründen in der Mindener Halle auf der seit dem frühen 13. Jahrhundert einsetzendenwestfälischen Hallenraumentwicklung (z. B. findet sich bereits in Castrop die Mindener Entsprechung vonPfeilerdiensten und Gewölbeteilungen). Mit Recht hat H. R. Rosemann (a. a. 0.) als den Unterschiedzwischen den südfranzösischen und westfälischen Hallen herausgearbeitet, daß bei diesen derGliederorganismus streng die Grenze respektiert, die durch ein einheitliches Kämpferband zwischen Pfeiler-und Gewölbezone (auch bei Anwendung der kompliziertesten Wölbformen) durchgezogen ist. Dagegen hatdas wogende Auf und Ab der Kämpferhöhen in den französischen Hallensystemen die Pfeilerglieder undGurtbänder über die räumlichen Gehalte dominieren lassen. Dieser Unterschied der Absichten gilt imgleichen Grade für die Abmäßigung bzw. Ziervorkehrung der Scheiteldivergenzen. (Hierfür ist speziell dasChorsystem von Poitiers (Kathedrale) aufschlußreich: die nur ausnahmsweise hier zu findendeEinheitlichkeit der Kämpferhöhen wird durch die betonte Abstufung der Gewölbescheitel weitgehendaufgehoben. Dagegen: Dom in Paderborn.)

Diesem konsequenten Beruhigen des Raumbildes in Westfalen geht ebenfalls von Anfang an dieorganische Klärung des Gliedergefüges zur Seite. (Gleichbreite Halbsäulenvorlagen und Gewölbegurtennach dem Mittel- und Seitenschiff.) In diesem Punkt ist die westfälische Entwicklung allerdings kaum ohnedie Erziehung an französischen Vorbildern denkbar, deren Vorsprung in dieser Hinsicht sich ja imbesonderen dadurch erklärt, daß in Frankreich die Spanne zwischen den räumlichen Höhenunterschieden –sei es nun im Hallen- oder Basilikalbau – durch die organische Klärung der Körperform herausgearbeitetund bewältigt werden sollte. Es ist kaum anzunehmen, daß das auf unmittelbare Klärung der Raumbildergerichtete Vermögen der westfälischen Baumeister von sich aus auch zu einer Körperdifferenzierung gelangtwäre, deren fortgeschrittene Form zum mindesten in Frankreich gerade den entgegengesetztenRaumgestaltungsabsichten verdankt wurde (s. dagegen Rosemann a. a. O.). Die offenbareFormverwandtschaft westfälischer Baudetails zu dem niederrheinischen und westfranzösischen Formenkreislegt diese Beziehung noch besonders nahe. (Also nicht der westfälische Raumquerschnitt, wohl aber dessenbaukörperliche Ausdeutung ist als vom Westen abhängig anzusehen.)Im Stadium des noch romanisch gebundenen Form- und Konstruktionsdenkens mußte aber der westfälischeHallenbau, der immer deutlicher ein schweifendes, kontemplatives Raumerleben vermitteln wollte, seineunüberschreitbaren Grenzen finden. Selbst so einfallsreich disponierte Bauten wie die Hohnekirche in Soestoder die Kirche in Castrop, diese der Gliederbildung, jene der Wölbform nach dem Ideal der Verein-heitlichung weit angenähert, konnten keinen entscheidenden Ausweg ermitteln. Es galt speziell die beim

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romanischen Konstruktionsverfahren unumgänglichen Wölbverschiedenheiten in den Schiffen zu überwinden.So blieb es der gotischen, speziell hochgotischen Konstruktionsweise vorbehalten, den westfälischen Archi-tekten die entscheidenden Formmittel an die Hand zu geben. Erst die Bekanntschaft mit dem Verfahren derfreitragenden Rippenwölbung ermöglichte die gleichartige Einwölbung der Mittel- und Seitenschiffjoche underst die Verwendung des Pfeilers mit Rundkern und verdünnten Diensten vermochte den freien Schwung zuerzeugen, der die Raumzusammenhänge in einem gleichmäßigen Fließen fühlbar werden ließ. Darin also habenwir den hochgotischen Wert der Mindener Halle zu sehen. Der breitflüssige westfälische Hallenraum ist mitHilfe des hochgotisch vereinfachten gotischen Jochsystems zum erstenmal g e r ad l i n i g (und dabei vollEnergie) erschlossen.

Für wie bedeutungsvoll der Unterbau der westfälischen Hallenbautradition für die glückliche Lösungin Minden einzuschätzen ist, mag der Vergleich mit der Marburger Halle erkennen lassen. Dort spürt man eineMinden verwandte Absicht heraus, man sieht sie aber gewaltsam vollführt. Zur Klärung der Jochabfolge sollder enge klassisch-gotische Jochabstand und die bloß orthogonale Pfeilerdifferenzierung dienen. Indem derRaum stürmisch in die Tiefe gerissen wird, soll er die höchste Diszipliniertheit ausstrahlen. Dies konnte nur aufKosten von Wirkungen geschehen, die gerade den Mindener Raum auszeichnen. So mußte die in den betontenLängsgurten erzeugte Tiefenablenkung das Eindringen in die Seitenschiffjoche beeinträchtigen. Speziell amUnerwiedertbleiben der Diagonalkreuzungen des Gewölbes am Pfeiler ist es zu spüren, wie wenig derMarburger Architekt die Forderungen der Gewölbenähe zu den Pfeilern im Hallenraum bedacht hat. SeinVierdienstepfeiler, im hochgotischen Basilikalsystem glücklich erprobt, ist ohne Umstände zur hochgotischenOrganisation der Halle herangezogen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß dabei demHallenquerschnitt ein basilikales Denken aufgezwungen worden ist. Es ist die Bestätigung der durch Hamannsoben erwähnten Feststellung bekräftigten Annahme Wilhelm-Kästners, daß die Konzeption und die Ausführungder ersten Langhausjoche von zwei verschiedenen Meistern stammen müssen.

Daß innerhalb der hessisch-westfälischen Tradition das Mindener System das gerader gewachseneist, wird noch aus einer anderen Beobachtung deutlich. Innerhalb des Hallenbaues vor 1300 hat sich nur inMinden und einigen verwandten Bauten (vor allem der Marienkirche in Osnabrück) die hochgotische Joch-verflüssigung so gestaltet, daß sie sich im Ganzen des westfälischen Baukörpers mit dem Querschiff und demChorquadrat zu einer bruchlosen Raumfolge verbindet. In Marburg rennt sich die gesteilte Ordnung der Pfeileran den breitgefalteten Konchenflügeln tot. In der Minoritenkirche in Münster reibt sich der knappe Rhythmusder vielen Schmaljoche an der Zähflüssigkeit, die sich dem System durch die kurzen Pfeilerstümpfe und breitenGewölbeflächen mitteilt. Auch sonst tritt das Marburger Hallensystem vor 1300 innerhalb schon gegebenerBauteile ziemlich unvermittelt auf.

Im Hallenbau werden die verkürzte (klassisch-gotische) Jochfolge und der Marburger Pfeiler erst seitder Mitte des 14. Jahrhunderts so mit dem überlieferten Raumempfinden verschmolzen, daß man sie imEinklang zueinander erlebt. Dazu mußte aber das Raumgestaltungsvermögen selber ein anderes, erweitertesgeworden sein. In der Überwasserkirche in Münster z. B. (drittes Viertel 14. Jahrh.) ist die Verbindung vonGewölbe und Pfeiler so glücklich modifiziert, daß sich eine zum erstenmal räumlich geschlosseneMittelschiffbahn heraushebt, ohne daß für den Beschauer der Anteil an den seitlichen Begleitbahnenbeeinträchtigt wäre. Es ist dieselbe Absicht, die – nur unter Verwendung anderer Formmittel – dempseudobasilikalen System des Wiener Domlangschiffes zugrunde liegt. Also erst im Dienst der Verfestigungvon parallelen Raumbahnen vermag das Marburger Hallensystem für die westfälische Raumgestaltung wertvollzu werden.

7) Am Beispiel der Straßburger Fassade erweist sich der stilumgrenzende Wert des Begriffs der„diaphanen Struktur” mit besonderer Deutlichkeit. Auf den ersten Blick scheint zwar gerade mit ihr der Gipfelder Gestaltungsweise erreicht zu sein, die das Durchscheinenlassen des Raumgrundes zum Prinzip erhebt. Abervermögen wir wohl noch in Portalkämpferhöhe diesen Grund als durchgehendes Kontinuum zu empfinden, sowirkt dieses in der Höhe des ersten Gesimses durch die hier sichtbar werdende Kernmasse der Strebepfeiler(als Podest für die Reiterbilder) unterbrochen, die Gesimsbänder der Stabwerkfelder rahmen nur noch dieeinzelnen Abschnitte und erzeugen den Eindruck, als sei das Gitterwerk zu getrennten Felderflächen erstarrt.Daß bei der Ausführung das Gesims des Portalgeschosses höher gelegt worden ist (ein Stück über das derStrebepfeiler hinaus), gewinnt von dieser Betrachtung her seinen besonderen Sinn. Der Stilunterschiedzwischen Ausführung und Riß B, bei dem der Raumgrund wenigstens im Erdgeschoß noch ununterbrochenbleibt, läßt sich also durch Jantzens neuen Begriff noch mehr bekräftigen.

Das französisch-gotische Verhältnis von Grund und Gliedergerüst verliert sich also in demAugenblick, wo es zu gipfeln scheint, d. h. wo dieser Grund als reale Fläche sichtbar, verendlicht wird und dasGliedergerüst sich zum Gespinst verflüchtigt hat. Die konstruktiven Folgen davon sind, daß das freistehendeStabwerk der seitlichen Pfeilerbefestigung bedarf, wodurch die Kontinuität des Grundes an bestimmten Stellenabgeschnürt wird. Damit eben zeigt sich seine wahre, nämlich konstruktive Selbstständigkeit erloschen. Soerweist es sich, daß das Prinzip der diaphanen Struktur aufs innigste abhängt von der Identität der statischenund dynamischen Kräfte.