12 koflkurier märz 2012 neue heimat gefunden · vor der firmung wurde ich noch ein-mal katholisch...

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12 Koflkurier März 2012 Neue HEIMAT gefunden Michael Rainer Vielen älteren Leuten in Tristach ist das Schicksal der Kosaken, die zu Kriegsende nach Osttirol kamen, noch lebhaft in Erinnerung. Cirka 20.000 la- gerten im Lienzer Talboden, viele davon auch in den Tristacher Feldern, in den „Einfangern“. Ich wurde als Michael Nicolai als Sohn der Elena Borokovnova am 29. September 1940 in Odessa geboren. In den Wirren des Zweiten Weltkrieges kam ich mit meinen Eltern und dem Kosakenzug im April 1944 zunächst nach Friaul. Auf dem Weg nach Westen waren wir mit der Eisenbahn in Italien unterwegs gewesen, als Fliegeralarm zum Anhalten zwang. Der Zug blieb auf offener Strecke stehen und alle stürzten hinaus. Ich rutschte den Bahndamm hinunter. Da legte sich meine Mutter auf mich, um mich zu schützen. Das ist meine weitest zurückliegende Erin- nerung. Wir wohnten etwa ein Dreiviertel- jahr in Paluzza, als sich der Tross nach Österreich in Bewegung setzte. Dann kam der erste schwere Schicksalsschlag meines Lebens. Meine schwangere Mutter starb bei der Niederkunft und das Kind auch. Sie wurde nach ortho- doxem Ritus in Timau beerdigt. Die Tote wurde im offenen Sarg nur mit weißen Tüchern bedeckt ins Grab gesenkt. Beim Verlassen des Friedhofes reichten zwei Frauen süßen Reis. Das soll ein Symbol für ein süßes, jenseiti- ges Leben sein. Als ich später in Tris- tach mit dem Maurermeister Müller (Meixner Onkel) im Tristacher Friedhof von Grab zu Grab ging und mir die Bil- der anschaute, sollte ich gesagt haben: „Nix Mama, nix Mama.“ Mein Vater Nikolei Michailovitsch war Arzt. Eine Ohrfeige von ihm ist mir in Erinnerung, als ich unerlaubt mit sei- nem Dolch spielte. Als die Engländer hinterlistig und mit Gewalt die Depor- tation der Kosaken in der Peggetz be- trieben, wurde mein Vater erschossen. Ich stand hinter ihm. Er rutschte an mir hinunter. Da griffen zwei Hände nach mir und zogen mich aus dem Gemetzel. Es könnte die Schwester meiner Mutter gewesen sein. Wie ich auf die Tristacher Seite kam, weiß ich nicht mehr. Die „Schussn“- Mutter kam in die Einfanger. Sie woll- te nach einer Kuh schauen. Da flehte sie eine Frau an, ob sie so gut sei und das Kind zu sich nehme. Obwohl die Schussn Mutter schon ein Kind aufge- nommen hatte, nahm sie mich aus Mit- leid mit. Als sie ins Dorf zurückkam, saß der Meixner Vater vor dem Haus und sie fragte, ob er das Kind nehmen könne, da sie ja schon ein Pflegekind habe. Er soll gesagt haben: „Lass ihn lei do. A Brot und a Bett hab ma schon.“ So landete ich beim Meixner, einer großen Familie. Mit mir und einem Zwangsar- beiter, dem Nikolaus aus Polen, waren wir zehn Personen. Am Anfang habe ich überhaupt nicht gesprochen. Nach ein paar Wo- chen kamen drei Personen, ein Eng- länder, ein russischer Offizier und eine Dolmetscherin. Diese fragte mich, wel- che Sprache ich spräche. Ich sagte ganz selbstverständlich: „Deitsch“. Da zogen sie ab. Von da ab redete ich Tristache- Fotos: Beigestellt Erstkommunion Im ersten Sommer beim Meixner Michael Rainer mit dem Pass seiner Mutter Elena

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12 Koflkurier März 2012

Neue HEIMAT gefundenMichael Rainer

Vielen älteren Leuten in Tristach ist das Schicksal der Kosaken, die zu Kriegsende nach Osttirol kamen, noch lebhaft in Erinnerung. Cirka 20.000 la-gerten im Lienzer Talboden, viele davon auch in den Tristacher Feldern, in den

„Einfangern“.

Ich wurde als Michael Nicolai als Sohn der Elena Borokovnova am 29. September 1940 in Odessa geboren. In den Wirren des Zweiten Weltkrieges kam ich mit meinen Eltern und dem Kosakenzug im April 1944 zunächst nach Friaul. Auf dem Weg nach Westen waren wir mit der Eisenbahn in Italien unterwegs gewesen, als Fliegeralarm zum Anhalten zwang. Der Zug blieb auf offener Strecke stehen und alle stürzten hinaus. Ich rutschte den Bahndamm hinunter. Da legte sich meine Mutter auf mich, um mich zu schützen. Das ist meine weitest zurückliegende Erin-nerung.

Wir wohnten etwa ein Dreiviertel-jahr in Paluzza, als sich der Tross nach Österreich in Bewegung setzte. Dann kam der erste schwere Schicksalsschlag

meines Lebens. Meine schwangere Mutter starb bei der Niederkunft und das Kind auch. Sie wurde nach ortho-doxem Ritus in Timau beerdigt. Die Tote wurde im offenen Sarg nur mit weißen Tüchern bedeckt ins Grab gesenkt.

Beim Verlassen des Friedhofes reichten zwei Frauen süßen Reis. Das soll ein Symbol für ein süßes, jenseiti-ges Leben sein. Als ich später in Tris-tach mit dem Maurermeister Müller (Meixner Onkel) im Tristacher Friedhof von Grab zu Grab ging und mir die Bil-der anschaute, sollte ich gesagt haben:

„Nix Mama, nix Mama.“

Mein Vater Nikolei Michailovitsch war Arzt. Eine Ohrfeige von ihm ist mir in Erinnerung, als ich unerlaubt mit sei-nem Dolch spielte. Als die Engländer hinterlistig und mit Gewalt die Depor-tation der Kosaken in der Peggetz be-trieben, wurde mein Vater erschossen. Ich stand hinter ihm. Er rutschte an mir hinunter. Da griffen zwei Hände nach mir und zogen mich aus dem Gemetzel. Es könnte die Schwester meiner Mutter gewesen sein.

Wie ich auf die Tristacher Seite kam, weiß ich nicht mehr. Die „Schussn“-Mutter kam in die Einfanger. Sie woll-te nach einer Kuh schauen. Da flehte sie eine Frau an, ob sie so gut sei und das Kind zu sich nehme. Obwohl die Schussn Mutter schon ein Kind aufge-nommen hatte, nahm sie mich aus Mit-leid mit.

Als sie ins Dorf zurückkam, saß der Meixner Vater vor dem Haus und sie fragte, ob er das Kind nehmen könne, da sie ja schon ein Pflegekind habe. Er soll gesagt haben: „Lass ihn lei do. A Brot und a Bett hab ma schon.“ So landete ich beim Meixner, einer großen Familie. Mit mir und einem Zwangsar-beiter, dem Nikolaus aus Polen, waren wir zehn Personen.

Am Anfang habe ich überhaupt nicht gesprochen. Nach ein paar Wo-chen kamen drei Personen, ein Eng-länder, ein russischer Offizier und eine Dolmetscherin. Diese fragte mich, wel-che Sprache ich spräche. Ich sagte ganz selbstverständlich: „Deitsch“. Da zogen sie ab. Von da ab redete ich Tristache-

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ErstkommunionIm ersten Sommer beim MeixnerMichael Rainermit dem Pass seiner Mutter Elena

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risch. Beim Brugger war auch ein Kosa-kenkind, die Zilla. Sie war schon in Itali-en mit uns im Zug gewesen (sie könnte die Tochter meiner Tante gewesen sein). Als ich nach dieser Aktion zum Brugger ging, sagte die Brugger Mutter: „Zilla nix mehr da, Zilla nix mehr da.“

Einmal spielten im Tischler-Wegele ein paar Kinder, die russisch sprachen. Ich stand am Zaun und schaute zu. Da kam die Meixner Moidl und zog mich weg.

Ich litt lange an psychosomatischen Störungen, zum Beispiel Bettnässen. Die Meixner-Mutter hatte unendliche Geduld mit mir.

Bevor ich in die Schule kam, brauchte ich gültige Papiere. Dafür musste ich zum Amtsarzt. Der schaute mir in den Mund wie bei einem Ross-handel und bestimmte, dass ich 1941 geboren sei. So wurde ich jünger ge-macht und bekam einen neuen Geburts-tag, den 2. Juni. Das war der Tag, an dem ich zum Meixner kam. Und einen neuen Namen bekam ich auch, den Vul-gonamen von Meixner, Rainer. Ich hatte als „Aussteuer“ den Pass meiner Mut-ter, in dem ich mit dem tatsächlichen Geburtstag eingetragen war, zwei Fotos von meiner Mutter und ihrer Schwester (zwei schöne Frauen) und einen Löffel mitbekommen.

Vor der Firmung wurde ich noch ein-mal katholisch getauft. Als Kind wollte ich so wie alle anderen Kinder sein, der Kosak oder der Kosakenbub gefielen mir gar nicht. Es klang immer etwas abschätzig. Mit den meisten Nachbarn verstand ich mich gut, der Tischler Franz Unterluggauer wurde mein Freund. Er

hatte Bienen und konnte mich auch für diese Tiere begeistern.

In der Schule musste ich mehrere Klassen wiederholen. Der Lehrer Brunn-huber machte mich klein. Als er mir das Schlusszeugnis überreichte, sagte er: „ Michael, du bist nichts, du kannst nichts, du weißt nichts, du wirst immer Knecht bleiben.“

In den Ferien kaufte ich mir in der Buchhandlung Geiger ein Rechenbuch und begann zu üben. Da entdeckte ich, dass ich schnell begriff und Talent für Mathematik habe. Als ich im darauf-folgenden Jahr einen sechswöchigen landwirtschaftlichen Kurs in Leisach besuchte, konnte ich beweisen, dass ich inzwischen rechnen gelernt hatte. Der Lehrer Tegischer förderte mich sehr. Und er munterte mich auf.

Im nächsten Jahr musste ich wie-der zur Fortbildungsschule in Tristach. Da war es mir eine Genugtuung, dem Lehrer Brunnhuber zu beweisen, dass ich mehr als Nichts kann.

Mit 18 Jahren ging ich in die Schweiz in den Kanton Solothurn. Ich kam in einen großen Betrieb, in einen von vier Höfen einer Konsum Genossen-schaft, als Rossknecht. Dort waren alle Felder sehr steil und ich bekam fürch-terliches Heimweh. Ich weinte Rotz und Wasser. Der Verwalter fragte mich, ob es in Osttirol nicht auch steil wäre. Ich sagte, wo ich herkomme, ist es platt-eben. Erst als ich mit meiner Schwester, der Meixner Toni, telefonieren durfte, hatte ich das Schlimmste überstanden. Sie arbeitete zu der Zeit schon in der Schweiz in Eglisau. Der Verwalter hat-te ein Einsehen und versetzte mich auf

einen anderen Hof in besserer Lage. In diesem Betrieb wurde Vorzugsrohmilch für ein Kinderspital hergestellt. Mir blieb der Mund offen, als ich das ers-te Mal die fantastischen technischen Einrichtungen der Kühlanlage und den blitzsauberen, gefliesten Stall sah. Ich wurde zweiter Melker. Das erste Jahr musste noch händisch gemolken wer-den. Dann kam eine automatische Melkanlage. Erster Melker konnte mei-nes Wissens damals nur ein Schweizer Staatsbürger werden.

Nachdem ich meine Frau kennenge-lernt hatte, die nichts von der Landwirt-schaft wissen wollte, suchte ich eine andere Arbeit.

Ich fand eine Anstellung bei der Chemiefirma Roche in Grenzach Wyh-len, in der Nähe von Basel, aber auf deutschem Staatsgebiet. Nach firmen-internen Weiterbildungsmöglichkeiten hatte ich gute Aufstiegsmöglichkeiten und brachte es zum Schichtmeister. Auch hier kamen mir meine mathema-tischen Fähigkeiten zugute. Bis zu mei-ner Pensionierung blieb ich mehr als 38 Jahre bei Roche.

Etwas glaube ich ganz sicher, von meinem Volk geerbt zu haben: Mut. Ich hatte nie Angst, auch nicht vor Vorge-setzten. Die Firma wollte mich nach Schottland schicken. Ich weigerte mich, obwohl der Verlust des Arbeitsplatzes drohte. Ich begründete meine Absage damit, dass ich nie und nimmer Eng-lisch lernen würde, da Engländer mei-nen Vater ermordeten. Da hatten die Arbeitgeber ein Einsehen.

Ich heiratete 1962 Hildegard, geb. Gerbig, habe drei Kinder und drei Enkel. Ich kehrte 1999 wieder nach Osttirol zurück und kaufte ein Haus in Stribach.

Mit Michael Rainersprach Burgl Kofler

VeranstaltungshinweisHeuer ist der Gedenktag an die Ko-sakentragödie am 9. Juni.

Um 09:00 Uhr ökumenischer Got-tesdienst in der Antoniuskirche in Lienz. Um 11:00 Uhr Gedenkfeier am Kosakenfriedhof in der Peggetz.

„Die Auslieferung der Kosaken in Lienz“, Juni 1945, Gemälde von S. G. Korolkoff (1957)