135 . januar 2002 rosa-luxemburg-stiftung · zum beispiel in korea, zujubeln und zugleich das...

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VorSatz 3 Essay STEPHEN ERIC BRONNER Sozialismus neu verstehen 5 Religion & Politik HENNER FÜRTIG Islam, Islamismus und Terrorismus 19 High-Tech und Alternativen FRANZ NAHRADA Globale Dörfer und Freie Software 30 CHRISTOPH ENGEMANN Das Internet und die neue Gestalt bürgerlicher Herrschaft: Electronic Government 45 Gesellschaft -– Analysen & Alternativen CHRISTOPH BUTTERWEGGE Globalismus, Neoliberalismus und Rechtsextremismus 55 MICHAEL CHRAPA »Fremdenfeindlichkeit« im Meinungsbild 68 Festplatte WOLFGANG SABATH Die Wochen im Rückstau 78 Monatliche Publikation, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung 135 . Januar 2002

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VorSatz 3

EssaySTEPHEN ERIC BRONNER

Sozialismus neu verstehen 5

Religion & PolitikHENNER FÜRTIG

Islam, Islamismus und Terrorismus 19

High-Tech und AlternativenFRANZ NAHRADA

Globale Dörfer und Freie Software 30

CHRISTOPH ENGEMANN

Das Internet und die neue Gestalt bürgerlicher Herrschaft:Electronic Government 45

Gesellschaft -– Analysen & AlternativenCHRISTOPH BUTTERWEGGE

Globalismus, Neoliberalismus und Rechtsextremismus 55

MICHAEL CHRAPA

»Fremdenfeindlichkeit«im Meinungsbild 68

FestplatteWOLFGANG SABATH

Die Wochen im Rückstau 78

Monatliche Publikation,herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung135 . Januar 2002

Bücher & ZeitschriftenAndreas Wirsching:Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismusin Deutschland und Frankreich 1918-1933/39.Berlin und Paris im Vergleich, Quellenund Darstellungen zur Zeitgeschichte(STEFAN BOLLINGER) 80

Weltbank (Hrsg.):Weltentwicklungsbericht 2000/2001:Bekämpfung der Armut(ALJOSCHA JEGODTKA) 82

Andreas Müller, Arno Tausch and Paul Michael Zulehner(under Collaboration of Henry Wickens) (eds.):Global Capitalism, Liberation, Theology and the social Sciences. An analysis of the contradictions of modernityat the turn of the millennium(JENS LANGER) 83

Bernd Harder, Hansjörg Hemminger:Seher – Schwärmer – Bibeldeuter; Prophezeiungen zum Weltende und ihre Bedeutung(KLAUS ROEBER) 84

Uwe Soukup:Ich bin nun mal Deutscher – Sebastian Haffner.Eine Biographie(JÜRGEN MEIER) 85

Antistalinistische Opposition an der Universität Jenaund deren Unterdrückung durch SED-Apparatund Staatssicherheit (1956–1958). Eine Dokumentation von Werner Fritsch und Werner Nöckel(JOCHEN CERNY) 86

Jahresinhaltsverzeichnis 2001 89

Summaries 94

An unsere Autorinnen und AutorenImpressum 96

Mitteilung Nachdem der Verkaufspreis von UTOPIE kreativ seit 1998 stabil ge-halten wurde, die Herstellungskosten jedoch stiegen, nehmen wirmit dem neuen Jahrgang eine Anpassung vor. Gegenüber dem Ein-zelheft, dessen Preis auf 6 Euro festgelegt ist, wird künftig das Abomit 57 Euro (also unwesentlich teurer als bisher) noch attraktiver.

Der Verlag

Antiamerikanismus – zur Zeit der beliebteste Vorwurf in den Farbender BRD; schon der simulierte Vorsatz gilt als ahndungswürdig –wurzelt in zwei Geflechten. Ursprünglich war Antiamerikanismus –Amerika meinte stets die USA – eine Kampfideologie gegen die Mo-derne, in Deutschland von nationalistischen Kräften vertreten,während des Nationalsozialismus neben dem AntibolschewismusStaatsdoktrin, in Frankreich in widersprüchlicher Ausprägung bisheute virulent. Später reagierten auch Teile der europäischen Linkenamerikafeindlich – auf jene Seiten US-amerikanischer Außenpolitik,die in Lateinamerika das Stereotyp vom »häßlichen Amerikaner« ge-zeugt hatten. Unfähig zu differenzierter Kritik warfen sie jeglicheamerikanische Außenpolitik in einen Topf – vergaßen sogar denKrieg gegen Hitler – und vermittelten das Bild von genetisch aus-schließlich zu Imperialismus und Krieg fähigen US-Amerikanern.Antiamerikanismus kam plötzlich als linker Nationalismus daher.

Stand »Amerika« bei Rechten für abzulehnende Demokratie, indi-viduelle Freiheiten und angebliche Zivilisationsdefizite in Kulturund Lebensstil – so bei Linken für zu verwerfenden Imperialismus.Rechte Antiamerikaner konnten in einem der USA-Kriegführung,zum Beispiel in Korea, zujubeln und zugleich das Flachdach alsundeutsch entlarven; ebensowenig waren linke Antiamerikaner, diesich an der Moderne Amerikas begeisterten, eine Seltenheit.

Im heraufziehenden Kalten Krieg wurde im Sozialismus zwischenElbe und Stillem Ozean rechter und linker Antiamerikanismus – schoneinzeln eine Zumutung – zu einem noch ungenießbareren Gebräuverrührt. Shdanows sozialistischer Realismus, eine »linke« Rezep-tion von rechtem Antiamerikanismus, war nur eine konsequenteSchlußfolgerung aus Stalins Politik – hatte sich doch der entschlos-sen, die Restaurationsphase nicht der Rechten zu überlassen, son-dern sie selbst zu absolvieren. Nach dem Krieg rutschten an dieStelle Großbritanniens und Deutschlands im sowjetischen Feindbilddie USA. Der Mix war bereitet: verordneter Antiamerikanismus.Diesen Teil des Stalinismus beerbte später der Islamismus.

Bleiben wir in Deutschland: Man kann die Entwicklung der DDRals Geschichte einer langsamen, wenn auch nicht ganz zu Ende ge-führten Befreiung vom Antiamerikanismus lesen. Zu den etwas selt-sameren intellektuellen Vergnügungen gehört es, in Walter UlbrichtsUnterlagen aus den Jahren 1950/51 zu blättern. Wie mühte sichder arme Mann zu begreifen, warum Stalin wollte, daß die Architek-tur der Moderne als »amerikanischer Kasernenbau« zu denunzieren

VorSatz

sei. Noch weniger begriffen es die Architekten. Doch nur BaustadtratHans Scharoun ging in den Westen Berlins; die anderen entwarfenim Friedrichshain Stalins Straße – die heute unter Denkmalschutzsteht. Gebauter Antiamerikanismus; allerdings nicht nur als solcherdenkmalschutzwürdig. Denn auch in der Maskerade der Antimoder-nen blieben Henselmann und Paulick große Architekten.

Der Rest steht nicht unter Denkmalschutz, sondern ist kollektivverdrängt: der in den Antiamerikanismus eingewobene Antisemitis-mus der Nationalsozialisten, der unter der Firmierung »Kosmopoli-tismus« in die junge DDR geschleppt wurde und dort integrativeWirkungen entfaltete; der Psychoterror an den Schulen gegen Kinderin »Nietenhosen«; die Arbeitslager, in denen nach dem 11. Plenum1965 bis zur Reform 1968 vornehmlich Beatmusiker, denunziertals Gammler, die dem Vorbild amerikanischer Vietnam-Mördernacheiferten, verschwanden; und: scherenbewaffnete Direktoren,deren eigenen Haarschnitten man oft noch die HJ ansah und die bis1971 regelmäßig staatlich sanktionierte Körperverletzung begingen.

Doch die Moderne kann nur gestaltet, nicht aufgehalten, gar un-terdrückt werden – nicht einmal mit amerikanischer Unterstützung;siehe Taleban. Für bedeutende Teile der Bevölkerung auch in derDDR ging von Amerika eben nicht nur Verderben, sondern auchFaszination aus. Vor allem Jüngere waren nicht rechts noch links,noch gar rechts oder links antiamerikanisch eingestellt. Sie wolltenvor allem eines: kulturell im Einklang mit dem Zeitgeist leben. Undder entsprang im wesentlichen halt den Plattenstudios des ange-weißten Rhythm’n’ Blues und nicht den Studios von Radio Moskau.

Der auf dem Staatseigentum beruhende Sozialismus besaß nichtdie Vitalität, sich vom stalinistischen Antiamerikanismus wirklich zuemanzipieren und einen eigenen, nachhaltig spürbaren Beitrag zurModerne hervorzubringen; in der Massenkultur verlor er zuneh-mend an Attraktivität. Erich Honecker – feiger, im Hintergrundbleibender Spiritus rector des 11. Plenums – nahm zwar in der Kul-tur den verordneten Antiamerikanismus 1971 als Antrittsgabe an dieIntellektuellen und an die Jugend zurück; doch eine eigene, aufEmanzipation zielende Moderne verhinderte auch er. Geboten wur-den Kopien statt Originale – bis allzu viele Leute den Kopien denRücken kehrten. In der Architektur hatte man schon 14 Jahre zuvordem Antiamerikanismus abschwören müssen – aus Kostengründen.Aber auch da gab es mehrheitlich nur – schlechte – Kopien: WBS 70.

Außenpolitisch bröckelte der Antiamerikanismus seit Helsinki; inder Nachrüstungsfrage wagte Honecker sogar einen Alleingang.Sein großes außenpolitisches Ziel jedoch verfehlte er: Die friedlicheRevolution, mündend im entmündigenden Anschluß, spülte ihn zwarnach Amerika, aber nicht als Staatsgast, sondern als Flüchtling, zu-dem nicht nach Nordamerika, sondern in dessen Hinterhof im Süden.

Die heute gepflegten Antiamerikanismusvorwürfe meinen nichtim Ernst Antiamerikanismus, sie meinen selbst zahmste Kritik anUS-amerikanischer Außenpolitik. Letzten Endes unterscheiden sichdiese Anwürfe im Niveau nicht vom einstigen Antiamerikanismus,war er nun links, rechts oder synthetisiert. Wer das eine überstandenhat, sollte dem anderen gelassen entgegenlächeln.

JÖRN SCHÜTRUMPF

Das Gespenst geht nicht mehr um und beunruhigt niemanden mehr.Die Bedingungen haben sich verändert – ökonomisch, politisch undideologisch. Der kapitalistische Produktionsprozeß ist noch immerwidersprüchlich und wirkt polarisierend. Versuche, dies zu ändern –ob mittels Regulierung oder Deregulierung –, haben stattgefunden.Die Felder der Auseinandersetzungen sind andere geworden, undAusbeutung sieht nicht mehr so aus, wie sie in den Romanen vonDickens, Zola oder Upton Sinclair dargestellt wurde. Der ›Klassen-feind‹ ist längst nicht mehr der Kapitalist in Zylinder und Pelzmanteloder der rassistische Imperialist aus alten Zeiten. Das Gesicht desFeindes hat mildere Züge angenommen. Arbeiter haben deutlicheund greifbare Vorteile innerhalb der kapitalistischen Demokratiengewonnen.

Ironischerweise hat jedoch der Erfolg von Gewerkschaften undArbeiterparteien, den Kapitalismus zu bändigen, ihren einst soselbstverständlichen Daseinszweck – Teilhabe zu erkämpfen – er-schüttert. Auch politisch haben sich große Veränderungen vollzogen.Im Westen und heute auch im Osten hat sich die Mehrheit der Na-tionen im Prinzip dazu verpflichtet, republikanische Institutionenaufzubauen. Zusammen mit einer Garantie für politische Rechtewurde sichergestellt, daß Arbeiter heute weder sich selbst als ›vater-landslose Gesellen‹ betrachten müssen, noch von ihren Gegenspielernals solche behandelt werden können.

Mit dem Anspruch der Partei auf Unfehlbarkeit verflüchtigte sichauch die Überzeugung, daß kapitalistische Krisen und sozialistischerFortschritt im Innersten miteinander verbunden sind. Im Zusammen-hang mit der zunehmenden ökonomischen Flexibilität des Kapitalis-mus und dem Wachstum einer ›Kulturindustrie‹ verringerte ein sichmehr und mehr durchsetzender politischer Instrumentalismus jeneideologischen Spannungen, die durch die einstmals mächtige prole-tarische Bewegung erzeugt wurden. Es ist eine Tatsache, daß dieMassen nicht mehr in der gleichen Weise vom Klassenbewußtseinergriffen werden wie in vergangenen Zeiten.

Die Praxis in den ›real existierenden‹ sozialistischen Staaten hatdie Annahme bestätigt, daß eine Veränderung der Eigentumsverhält-nisse nichts dazu beizutragen vermag, Arbeit inhaltsreicher undMachtausübung erträglicher zu machen. Es sind daher nicht wenigeder Auffassung, daß der Sozialismus lediglich mehr von demselbenanbietet wie der Kapitalismus – eine Auffassung, die ursprünglichauf verschiedene Weise von Nietzsche und Weber vertreten wurde.

Stephen Eric Bronner – Jg. 1949; Professor für politische Wissenschaft undvergleichende Literatur-wissenschaft an derRutgers University,veröffentlichte zahlreicheBücher, von denen einigein Deutsch erschienen sind:»Augenblicke derEntscheidung: PolitischeGeschichte und die Krisender radikalen Linken«(Suhrkamp); »Ein Gerüchtüber die Juden: Die ›Protokolle der Weisen von Zion‹ und der alltäglicheAntisemitismus« (Propylaen);demnächst erscheint»Das Sozialismusprojekt«in deutscher Sprache.Foto: Horst Eberlein

UTOPIE kreativ, H. 135 (Januar 2002), S. 5-18 5

STEPHEN ERIC BRONNER

Sozialismus neu verstehen

Andere dagegen verweisen darauf, daß selbst die Möglichkeit, alter-native Sichtweisen zu entwickeln, durch die integrative Kraft fort-geschrittener Industriegesellschaften bedroht und in Frage gestelltist. Nicht anders als die optimistischen Annahmen von früheren So-zialreformern sind nun auch die kühnen Annahmen der MarxschenTeleologie vor der Geschichte bloßgestellt worden.

Wenn das sozialistische Projekt weiterhin in Theorie und Praxisrelevant bleiben soll, so wird das von seiner Fähigkeit abhängen, denveränderten Umständen Rechnung zu tragen. Das schließt jedochein, die Theorie von ihren teleologischen Fesseln zu befreien. Es gilt,jenes – lange unterdrückte – demokratische Konzept wieder zu bele-ben, daß Sozialismus nicht mit einer ganz bestimmten Form politi-scher Organisation oder institutionellen Arrangements gleichgesetztwerden kann. In genau diesem Sinne wäre es legitim, von einem›entfesselten‹ Sozialismus zu sprechen.

Wenn man eine neue sozialistische Position gewinnen will undbesonders den emanzipatorischen Charakter des sozialistischen Pro-jekts hervorheben möchte, so ist es zunächst erforderlich, jenepolitischen und ethischen Werte zu würdigen, die das ursprünglicheProjekt inspirierten. Es gilt, die Bedeutung dieser Werte für die Frei-heit des Subjekts zu zeigen und jene Probleme herauszustellen, diedie Verwirklichung dieser Werte behindern. Ein solches Herangehenerlaubt es, die traditionellen Forderungen nach Gleichheit, Demo-kratie und Internationalismus mit neuem Leben zu erfüllen. Es sinddiese Forderungen, die eine Grundlage dafür liefern, gegenwärtigeExperimente in die historische Tradition sozialistischer Theorie undPraxis einzufügen. Sie sind es auch, die jene innere Beziehung her-stellen, die zwischen den sozialen Bewegungen der Arbeiterklasseund den nicht verwirklichten Versprechen der einst revolutionärenBourgeoisie bestehen. All dies macht die reflexive Aneignung derVergangenheit zu einer entscheidenden Aufgabe für die Zukunft dessozialistischen Projekts.

Sozialistische EthikEine erneuerte sozialistische Theorie muß eine politische Antwortauf den Kollaps des teleologischen Marxismus geben. Aber wedereine Ontologie, noch eine, wenn auch modernisierte Festlegung aufWissenschaftlichkeit und ebensowenig eine demokratische Ethik,die vom realen Produktionsprozeß abstrahiert, scheinen dieser Auf-gabe gewachsen zu sein. Nur eine sozialistische Ethik wird die radi-kalsten Impulse des ursprünglichen Projekts wiederbeleben, dessenhistorische Fehler erkennen und seine zukünftigen Ziele bestimmenkönnen. Die Entscheidung für eine solche Ethik hat allerdings einenhohen Preis.

Eine sozialistische Ethik wird nicht den einzig richtigen, den un-fehlbaren Weg weisen können, der mit unbezweifelbarer Sicherheitzur Emanzipation führt oder praktisch die Verbindung von Mittelnund Zielen garantiert. Die politischen Schlußfolgerungen, die auseiner solchen Ethik hervorgehen, sind nicht alternativlos, keine›eherne Notwendigkeit‹ vermag die Verwirklichung der emanzipier-ten Gesellschaft zu garantieren. Diese Ethik an die Stelle der Teleo-logie zu setzen, heißt daher, die Möglichkeit und nicht die Gewißheit

Im wesentlichen gibt esdrei Wege der Annäherungan eine mögliche erkenntnis-theoretische Erwiderung aufdie gegenwärtige Krise dermarxistischen Theorie undder sozialistischen Praxis:

OntologieDie ontologische Sichtweiseist bestrebt, hinter denhistorischen Zufälligkeitenoder empirischen gege-benen Variationen dasaufzudecken, was man ihr›Wesen‹ nennen könnte.Ontologie liefert einephilosophische ›Grundlage‹sowohl für eine theoretischeAnalyse als auch für einepolitische Praxis, und zwar,indem sie grob gesehendrei verschiedene Heran-gehensweisen eröffnet.In einer ersten Heran-gehensweise wird versucht,die soziale Realität auf einegeschlossene, feste undpositive ontologische Basiszu stellen. Diese Positionwurde vor allem von GeorgLukács herausgearbeitet,lange nachdem er seinKonkordat mit dem Stalinis-mus geschlossen hatte.Lukács rechtfertigt dasFehlen qualitativer emanzi-patorischer Veränderungenin den Gesellschaftensowjetischen Typs imwesentlichen damit, daß dieRealität eine in unversöhn-licher und unnachgiebigerWeise konstruierte sei. Inder Konsequenz zieht sichdie Lukácssche Ontologievon jenen spekulativenFragestellungen der revolu-tionären Überwindung vonEntfremdung oder Verding-lichung zurück.

6 BRONNER Sozialismus

ins Zentrum sozialistischer Theorie zu rücken. Zusammen mit demGlauben, der arbeitenden Klasse gehöre die Zukunft, wird daherauch ein spezifisches historisches Verhältnis von Theorie und Praxisverschwinden.

Eine solche Ethik kann keine Lösung für jedes private oder sozio-kulturelle Problem bieten. Ganz abgesehen von allgemeineren philo-sophischen Erwägungen, die praktischen Gefahren, die derartigeAmbitionen in sich tragen, wären viel zu groß. Denn Dogmatismustritt immer dann auf, wenn das unkritische Interesse, eine einzige›Wahrheit‹ zu realisieren, an die Stelle der Versuche gesetzt wird,Bedingungen zu etablieren, die eine Suche nach Wahrheit fördern.Eine sozialistische Konzeption der Demokratie besteht daher ledig-lich darin, die formalen und materiellen Bedingungen dafür zuschaffen, daß die Individuen in wachsendem Maße frei ihr Leben zubestimmen vermögen und eigenverantwortlich Entscheidungen tref-fen können. Beispielsweise vermag eine sozialistische Ethik, nurweil sie logischerweise darauf bestehen sollte, die Entscheidungüber eine Abtreibung der Frau zu überlassen, nicht festzulegen, obeine Frau eine Schwangerschaft tatsächlich abbrechen soll odernicht. Analog gilt, daß eine solche Ethik, obwohl sie ganz offen-sichtlich säkularen Charakter trägt, sehr wenig über die persönlichenreligiösen Überzeugungen aussagen kann – außer vielleicht, daß dasHeilige keine privilegierten Einsichten in die Mechanismen des Pro-fanen bietet und daß religiöse Institutionen nicht anders behandeltwerden sollten als andere.

Auch wenn sie allen Formen des Denkens kritisch gegenübersteht,die Menschen zu verohnmächtigen suchen oder die Mystifikationenhervorbringen; auch wenn sie in der Lage ist, Entscheidungs- undAuswahlmöglichkeiten für Politik und Emanzipation anzubieten, istsich diese Ethik stets jenes bereits von Hobbes benannten Problemsder autoritären Konsequenzen bewußt, wenn versucht wird, persön-liche ›Meinungen‹ gesetzlich zu regulieren. Eine sozialistische Ethikwird also ›öffentlichen‹ Charakter tragen. Sie geht von der Fähigkeitder Subjekte zur Reflexion aus, ohne die keine kritischen Urteile ge-bildet werden können. Das Subjekt wird daher als öffentliche Personunterstellt, die in der Lage ist, die Widersprüche einer gegebenen hi-storischen Epoche zu erkennen und zu bearbeiten.

Eine so bestimmte Ethik negiert keineswegs, daß es eine freieindividuelle Entscheidung ist, wenn und ob Subjekte bereit sind, Ge-genseitigkeit zu praktizieren und sich für jene Werte einzusetzen, diejeder emanzipierten Ordnung vorausgesetzt sind. Sie geht aber da-von aus, daß eine solche Wahl nicht im leeren Raum, sondern inner-halb eines spezifischen Kontextes getroffen wird. Die sozialistischeEthik stellt daher das Subjekt in die wirkliche Welt. Dadurch vermagsie jene Bedrückungen in den Blick zu nehmen, die in Übereinstim-mung mit den von ihr vertretenen emanzipatorischen Werten Trans-formationen notwendig machen.

Um eine komplexe Kritik des jeweiligen Kontextes zu ermög-lichen und um die gegebenen Bedingungen für eine emanzipierteOrdnung zu bewerten, muß diese Ethik ein praktisches Kriteriumangeben können. Ein solches Kriterium wird weder auf ontologischenoch auf wissenschaftliche Begründungen zurückgreifen können;

In einer offenen, fließendenund negativen Ontologiewird das Moment kritischerAnalyse »dialektisch«beibehalten. Ernst Blochbeispielsweise faßt dieimmanente Entwicklung vonGeschichte als ein bloßesMoment der Ent-faltung von Wirklichkeit inRichtung auf ein ewig trans-zendentes Utopia. Leiderhat Bloch keinerlei Vor-stellung von sozialenBeziehungen, die zu ver-ändern wären. Daher drohtseine Aufforderung zuqualitativer Veränderung ineinen Wunsch nachApokalypse umzuschlagen.Die vage oder unbestimmteStruktur seines Argumentsverhindert auch die Mög-lichkeit, zwischen einer›wahren‹ und einer›falschen‹ Utopie zu unter-scheiden. Damit wird dasKonzept der Emanzipationentweder zur Tautologieoder es wird unmöglich,Emanzipation auf einkonkretes historischesMoment zu beziehen.

BRONNER Sozialismus 7

seine Legitimität kann also weder daraus abgeleitet werden, daß esvor jeder Politik existiert, noch daher, daß es in einem traditionellensozialen Zusammenhang begründet liegt. Eine solche Legitimität istvielmehr logisch, historisch, spekulativ und politisch zugleich be-stimmt: ›logisch‹ insofern, als jede emanzipatorische Ordnung dieAnwendung dieses Kriteriums voraussetzt; ›historisch‹ insofern, alses den emanzipatorischen Zweck sozialistischer Praxis bestimmt;›spekulativ‹ insofern, als es erlaubt, kritisch die emanzipatorischeQualität politischer Absichten zu bewerten und ›politisch‹ insofern,als es vermag, organisatorische Prinzipien zu benennen, mit denenmaterielle und formale Unterdrückungsstrukturen zu verändern sind.

Das ›praktische Kriterium‹ eines emanzipatorischen sozialistischenProjektes ist die demokratische Rechenschaftspflicht (accountability).

Sie kann bestimmt werden als Schranke für die willkürliche Aus-übung ökonomischer oder politischer Macht und ist folglich daraufgerichtet, Machtlose zu ermächtigen – das heißt, alle Angelegen-heiten sind danach zu bewerten, welche Auswirkungen sie auf dieSchwachen und Ungeschützten haben werden. Sozialistische Politikist dann mehr als die althergebrachte Durchsetzung von Klassen-interessen. Denn einerseits haben nicht alle, die ihre Arbeitskraftverkaufen, auch tatsächlich ein Interesse daran, das Kapital demo-kratisch rechenschaftspflichtig zu machen, solange sie nämlich per-sönlich Macht über dieses Kapital haben sowie Informationen undRessourcen monopolisieren können. Andererseits müssen arbeitendeMenschen mit sehr unterschiedlichen Kulturen und Lebensstileneinbezogen werden. Eine Bewegung zur Demokratisierung derMacht über Kapital muß also die Interessen der Arbeitenden genausowie die jener, die wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt wer-den, von Frauen, die sexistisch unterdrückt sind, oder auch der Opfervon Rassismus und Intoleranz einschließen. Eine moderne soziali-stische Politik muß also ein viel breiteres Spektrum erfassen als nurtraditionelle Klasseninteressen: deshalb ist die Ermächtigung derSchwachen ein herausragendes Ziel eines sozialistischen Verständ-nisses von Rechenschaftspflicht.

Wie bereits erwähnt, geht es nicht darum zu bestimmen, für wel-che Wahlmöglichkeiten sich das Individuum innerhalb der freienOrdnung entscheiden soll. Es geht vielmehr um das Hervorbringender Bedingungen, die jedem Individuum dieselbe materiell undrechtlich fundierte Chance gewähren, persönliche Entscheidungenfrei zu treffen. Allgemeine Ziele und besondere Interessen des ein-zelnen müssen sich nicht notwendig widersprechen. Im Gegenteil,es ist gerade die Herrschaft des Gesetzes als das Allgemeine, die diesicherste Garantie bietet, daß die Freiheit für das Besondere gewahrtund allgemeinen Notwendigkeiten Rechnung getragen wird.

Diese Ausdehnung des Prinzips eines liberalen ›Rule of Law‹ überden Bereich des Staates hinaus in die Gesellschaft erfordert eineKlassenperspektive. Weil die Vision formaler Gleichheit – die einstdurch die revolutionäre Bourgeoisie entworfen wurde – beständigdurch die Widersprüche des kapitalistischen Produktionsprozessesbedroht ist, kann eine sozialistische Ethik nicht auf bürgerlich-libe-rale Prinzipien reduziert werden. Gerade deshalb muß sie nicht nurgegen jede Form willkürlicher Machtausübung seitens des Staates

Schließlich und als drittesist da noch der großeVersuch von Jean PaulSartre, den Marxismus aufdie ontologisch gegebeneFreiheit des individuellenSubjekts zu ›gründen‹. Daseinmalige und einzigartigeSubjekt steht hiergrundsätzlich im Wider-spruch zu allen Zwängenund ist bestrebt, aus ihnenauszubrechen. Freiheit wirdin dieser Sicht allerdingsletztendlich als außerhalbvon Geschichte stehendaufgefaßt. Daraus ergibtsich, daß eine Formanarchistischer Politikbefördert wird, da das Individuum durch allebestehenden Institutionen ingleichem Maße bedroht ist,einschließlich auch jenerGruppen und Bewegungen,mittels derer seine Inter-essen zum Ausdruck ge-bracht werden können. MitSartres Zugang kann alsozwischen sozio-ökonomi-schen und politischen Sy-stemen hinsichtlich ihrer po-sitiven Möglichkeiten für einsozialistisches Projekt keineUnterscheidung getroffenwerden.

8 BRONNER Sozialismus

angehen, sondern auch in den Akkumulationsprozeß eingreifen.Indem der Akkumulationsprozeß als wesentliche Sphäre verstandenwird, in der es die Schwachen zu ermächtigen gilt, ›fusioniert‹sozialistische Ethik die allgemeinen, die verallgemeinerbaren Inter-essen des öffentlichen Lebens und die besonderen Interessen derarbeitenden Menschen. Der objektiv zentrale Punkt einer neuen, ra-dikalen Form demokratischer Rechenschaftspflicht, dessen Trans-formation zugleich die Voraussetzung einer Ordnung ist, die denBürgern erlaubt, selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen, ohnedem Zwang von materiellen Interessen und Bedingungen zu erliegen,ist nichts anderes als der Akkumulationsprozeß selbst.

Dazu bedarf es der Koordination unterschiedlichster Strömungenunter den Arbeitenden, die in einer Vielzahl unterschiedlichster Be-wegungen und (Gewerkschafts)Organisationen aktiv sind. Es gehtdarum, eine neue Art Klassenstandpunkt zu prägen, der alle dieseStrömungen einschließt, ohne eine bestimmte unter ihnen zu privile-gieren. Dies läßt sich wahrscheinlich nur über die Schaffung einesRechtssystems realisieren, das die Arbeitenden begünstigt. Der Klas-senstandpunkt oder das Klasseninteresse würde sich dann als eineArt Instrument zur Transformation der Gesellschaft darstellen, dasallerdings weder teleologische Gewißheiten verheißt noch dog-matisch verknöchert ist. Von daher handelt es sich bei der Neu-bestimmung des Klassenstandpunktes um ein zentrales Feld einersozialistischen Ethik.

Angesichts der jeder Organisation eigenen Tendenz, bürokratischzu versteinern, wird sich ›Sozialismus‹ – vom Standpunkt des Klassen-ideals – notwendigerweise in einen ›Prozeß‹ verwandeln müssen.Die Gefahr einer Versteinerung erfordert es, dem Experimentierenund der Phantasie Raum zu geben, um damit gegen alle starren For-men sozialer Organisation, die das Subjekt ganz offensichtlich ein-engen, vorzugehen. Der Springpunkt für eine sozialistische Ethikbesteht also darin, jene sozialen Kräfte zurückzudrängen, die mittelsinstrumentaler Vernunft Freiheit zu unterdrücken suchen. Das erfordertein ständiges Bemühen darum, die Entscheidungsfindung demokratisch-rechenschaftspflichtig zu gestalten und sie einer Reihe von Zielenunterzuordnen, die darauf orientieren, statt der privaten Profite dasReich öffentlicher Güter auszuweiten.

Demokratische Rechenschaftspflicht wird demnach zum Klassen-problem und eine Funktion des Klassenideals. Denn gerade unterkapitalistischen Verhältnissen hängt die Fähigkeit, die willkürliche,private Kontrolle über die Profite zu begrenzen, vom Grad politi-scher Einheit unter den Arbeitenden ab. Eine solche Einheit ist keinebloße Angelegenheit von Programmen. Klarheit über den Charaktersozialistischer Werte ist eine Voraussetzung – es geht um Werte wieökonomische Gleichheit, Gegenseitigkeit und Internationalismus.Sozialistische Theorie wird sich folglich mit Institutionen und Ideo-logie beschäftigen müssen, und dies von einem Standpunkt aus, derauf eine enorm erweiterte Arena individueller Entscheidungsmög-lichkeiten orientiert. Sozialistische Theorie ist demnach auf eineOrdnung gerichtet, in der die Subjektivität des Individuums sowohldurch formale Garantien als auch auf der Basis materieller Möglich-keiten gedeihen kann. Damit erweist sich das oben genannte ›prak-

BRONNER Sozialismus 9

tische Kriterium‹ einer sozialistischen Ethik nicht nur als ein Krite-rium der ›Kritik‹, sondern auch als ein ›positiver‹ Maßstab, insofernes die Vision einer Welt projiziert, in der Subjekte nicht mehr als Ob-jekte, als bloße Mittel für instrumentale Zwecke behandelt werden.

Eine solche Vision zu verwirklichen, kann aber nur als Bestandteileines fortlaufenden Prozesses angesehen werden. Das in der Tat istgemeint, wenn davon gesprochen wird, daß das sozialistische Pro-jekt auf einer permanenten Revolution der Subjektivität beruhenwird.

Zentralisation und DezentralisationGewalt ist immer das letzte Zufluchtsmittel eines sozialistischenProjekts. Eine wahrhaft demokratische Ordnung, sei es eine Asso-ziation von Arbeiterräten oder eine Republik, beinhaltet notwendigdie Anerkennung der Autorität der Gesetze (Rule of Law), ein-schließlich der ›Menschenrechte‹. Nur dadurch werden Konflikterational lösbar und nur so wird es möglich, Versuchen willkürlicherMachtausübung friedlich entgegenzutreten. Die Herrschaft des Ge-setzes aufrechtzuerhalten erfordert aber, sowohl die entsprechendenInstitutionen zu etablieren als auch einen sozialen Konsens durchzu-setzen. Hier nun scheint es dringlich, über die alte Überzeugung neunachzudenken, daß eine emanzipatorische Konzeption der Demo-kratie auf einer Ordnung ohne Staat beruht. Dies war immerhin dieMarxsche kommunistische Utopie, die auch die Anarchisten an-strebten.

Die bereits dargestellten Überlegungen verweisen darauf, daß So-zialismus bestenfalls die Befreiung des Subjekts zu fördern vermag.Die institutionelle Realität schließt jedoch aus, daß dies jemals voll-ständig zu verwirklichen ist.

Sozialismus ist weder eine vorherbestimmte Form oder Organisa-tion, eine fixierte Anzahl politischer Strategien (policies), noch einespezielle Daseinsform, denen sich eine gegebene sozio-historischeWirklichkeit anzupassen hat. Die Anerkennung dieser Tatsache hattiefgehende Folgen für das Konzept vom ›Übergang‹.

Die Vorstellung vom Sozialismus, daß diese Etappe historischerEntwicklung den Weg zum ›Kommunismus‹ bereiten werde, hat seitihrer Entstehung einschneidende Veränderungen erfahren. Marx undEngels gingen davon aus, daß sich der Übergang als sanft erweisenwürde, da mit der »Expropriation der Expropriateure« der Klassen-kampf aufhören und damit die Notwendigkeit verschwinden würde,einen Staat im traditionellen Sinne des Wortes zu errichten. AberMarx und Engels weigerten sich auch, spezielle Institutionen festzu-legen, die der neuen utopischen Ordnung ihren demokratischen Cha-rakter erhalten könnten. Bescheidenheit war hier nicht die Ursache.Dahinter stand vielmehr vor allem eine gewisse Blindheit gegenüberder Möglichkeit, daß bürokratische Institutionen ein inneres Inter-esse entwickeln und stabilisieren können, Macht auf Kosten der›herrschenden Klasse‹ zu akkumulieren.

Nachdem die im Denken Kautskys und der Zweiten Internationaleverinnerlichte Verbindung von ›sozialer‹ und ›politischer‹ Revolutionzerbrach, verstärkten sich unter Lenin und während der Herrschaftder Bolschewiki all jene defekten Züge, die dem ursprünglichen

WissenschaftEine Alternative zu denillusorischen Garantien derOntologie wird von neuenAnsätzen Marxscher›Wissenschaft‹ angeboten.Die Wissenschaft übttraditionell große Anzie-hungskraft auf Marxistenaus. Neu ist die Einsicht,daß es erforderlich ist,›wissenschaftliche‹ Erkennt-nis von jener Teleologie zutrennen, in die sie ursprüng-lich von Marx eingebettetwurde.

Vor allem durch das Werkvon Louis Althusser ist esseit den achtziger Jahrengelungen, den Marxismusfür den akademischenmainstream interessant zumachen. Althusser wollteden Marxismus vor allemvon allen herkömmlichenFormen des Humanismus,Idealismus und Rationalis-mus befreien, indem er dieRolle des Bewußtseins unddes Subjekts in Fragestellte. Sein gesamterneuartiger Zugang wardarauf gerichtet, die Vor-stellung von Wissenschaftinsgesamt zu relativieren.Nach Althusser ist Wissen-schaft – im völligen Gegen-satz zu ›Ideologie‹ – letztlichnicht mehr als eine Anzahlvon Regeln, die notwendigsind, ein bestimmtes Unter-suchungsobjekt ›sichtbar‹zu machen.

10 BRONNER Sozialismus

Standpunkt von Marx und Engels innewohnten. Durch die Bolsche-wiki wurde der Zuwachs an ökonomischer Stärke von einer politi-schen Liberalisierung und die Nationalisierung des Privateigentumsvon der Schaffung demokratisch rechenschaftspflichtiger Institu-tionen getrennt.

Die historische Lektion ist unabweisbar: Autoritäre Kontrolle dar-über, was und wie produziert wird, ist keine bloße ›Verirrung‹ odernur ein ›Fehler‹. Vielmehr wird dadurch der emanzipatorische Cha-rakter des sozialistischen Projektes selbst direkt untergraben. Einewirklich demokratische Kontrolle des Produktionsprozesses setztdaher aus der Sicht einer modernen sozialistischen Theorie die Re-chenschaftspflicht politischer Institutionen voraus. Diese Positionallein vermag den dynamischen Charakter des sozialistischen Projek-tes zu bewahren. Eine emanzipatorische Alternative zum Vorhandenensteht und fällt mit der Entscheidung, Institutionen zu schaffen, dieformal und substantiell gemeinsam mit den Möglichkeiten für glei-che Teilhabe auch das Feld individueller Entscheidungen ausdehnen.

Hier ist auch die Bearbeitung des Widerspruchs zwischen Zentra-lisation und Dezentralisation angesiedelt. Die Geschichte liefertjedenfalls keine Rechtfertigung für eine unkritische Bejahung derDezentralisation von Autorität, das heißt von Zuständigkeit und Ver-antwortung. Dezentralisierte Institutionen neigen dazu, schnell inProvinzialismus zu verfallen, persönliche Freundschaften und Be-ziehungen zu begünstigen, traditionelle Formen von Rassismus undSexismus zu erhalten und eine Art Tyrannei der Mehrheit über dieMinderheit zu etablieren. Wenn Dezentralisierung als einzige Alter-native angesehen wird, so kann das auch dahin führen, Entwick-lungszwänge zu ignorieren, so die Tatsache, daß bestimmte Industrien– wie zum Beispiel die Luftfahrtindustrie – durch ihre Funktions-weise für die lokale Steuerung und Kontrolle ungeeignet sind.

Abgesehen vom Staat, dessen Beseitigung in einer radikalen De-zentralisierung ihre Schatten voraus wirft, könnte einzig der Markteine Koordinierung der industriellen Einheiten bewerkstelligen. Daaber Marktentscheidungen letzten Endes auf autonomen individuel-len Wahlentscheidungen beruhen, bedeutet dies, daß die einzigereale Alternative zu staatlicher Koordinierung überhaupt keineKoordinierung wäre. Das hieße, eine vermeintlich radikale kommu-nistische Gemeinschaft anzustreben, die blinden Marktkräften unter-worfen wäre.

Einen gewissen Grad von Zentralisation als notwendig anzuerken-nen, schließt nicht aus, Apathie zu kritisieren oder ziviles Engage-ment zu ermutigen. Demokratische Rechenschaftspflicht schließt aufder Ebene der zentralen Autorität ein, die legitimen Rechte besondererInteressengruppen zu respektieren. Anhänger der dezentralistischenVision können nicht einfach die Augen vor der Tatsache ver-schließen, daß in jeder Form moderner sozialer Organisation zwi-schen den einzelnen lokalen Einheiten Konflikte entstehen und daßspezifische Agenturen der Macht gebraucht werden, um diese Kon-flikte zu lösen und Entscheidungen durchzusetzen. So verschieden-artige Denker wie Machiavelli und Kant haben nicht zufällig in derAuffassung übereingestimmt, daß ein Ziel zu verfolgen einschließt,entsprechende Mittel zu akzeptieren.

Vom Standpunkt Althussersaus ist es ohne Sinn undWert, von einem transzen-denten oder unvollendeten›Projekt‹ der Emanzipationzu sprechen. Die Position,daß die Sichtweisen unter-schiedlicher Subjekte nichtgegeneinander abgewogenund beurteilt werden kön-nen, war im Kampf gegenden Dogmatismus derKommunistischen Partei imNachkriegsfrankreich zwarsehr nützlich, erweist sichjedoch als ernsthafter Man-gel, wenn es darum geht,einen positiven Standpunktzu erarbeiten, von dem auspolitische Entscheidungenabgeleitet werden können.

Der Marxismus der ratio-nalen Entscheidungen(rational choice Marxism)unterscheidet sich grund-legend vom StrukturalismusAlthussers. Diese ›wissen-schaftliche‹ Richtung ver-sucht, das Subjekt – dasvom orthodoxen Marxismusweitgehend ausgeblendetwird – zu retten. Indem›instrumentelle‹ Vernunft alsGrundlage sozialer Verhält-nisse bestimmt wird,verflacht der Marxismusrationaler EntscheidungenGeschichte vor allemdadurch, daß er in ihr wenigmehr als die Konflikte derMenschen um die Knapp-heit materieller Güter sieht.Die Annahme wertbestimm-ten sozialen Ganzen alshistorischer Faktor wird indiesem Herangehen als pureIdeologie zurückgewiesen.Selbst ethische Entschei-dungen werden allein unterrationalen Gesichtspunktenbetrachtet, wodurchschließlich die Parameterder gegebenen Akkumu-lationslogik in unantastbare,hochheilige Werte verwan-delt werden – der kapitalisti-sche Markt wird unkritischals etwas Ewiges akzeptiert.

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Nirgendwo zeigt sich dies schlagender als auf dem Gebiet der Öko-logie. Umweltschutz ist keine rein örtliche Angelegenheit. Der na-tionale Staat und selbst internationale Aktionen sind hier gefordert.Jede sensible Umweltpolitik hat in Betracht zu ziehen, daß gravie-rende Entscheidungen über die mögliche Wirkung eines Produktesauf das Ökosystem vor und nicht nach seiner Herstellung getroffenwerden müssen. In ihrem Bestreben, eine neue Logik der Akkumu-lation zu realisieren, werden Sozialisten vom Produzenten fordern,mit hinreichender Sicherheit zu belegen, daß sein neues Produktökologisch unbedenklich ist. Die Last des Beweises würde also demProduzenten zufallen.

Um derartige Bestimmungen durchzusetzen und Gesetzesverletzerzu bestrafen, ist ein bürokratischer Apparat notwendig. Gerade weildas Kapital mit der Setzung von ökologisch bestimmten Prioritätengeringe Profiterwartungen verbindet, muß es vom sozialistischenStandpunkt die Bereitschaft geben, ganz im Gegensatz zu den Ver-fechtern von ›Ökologie und Märkten‹, den Staat und zentrale Insti-tutionen dafür zu nutzen, um zu bestimmen, was ›sozial notwendig‹ist. Die Realitäten moderner Gesellschaften machen es in der Tatschlicht unmöglich, über eine emanzipatorische Politik nachzusin-nen, ohne dabei in gewissem Maße bürokratische Organisation undStaat zu berücksichtigen.

Auch wenn alle Verfechter eines sozialistischen Projekts natürlichwünschen werden, daß die Möglichkeiten für Bürgerinitiativen, fürdie Entwicklung unabhängiger Organisationen – Kooperativen,Frauengruppen und ähnliches – ausgedehnt werden, können sie beiall dem nicht vergessen, daß Individuen auch das Recht auf ihr pri-vates Leben haben. Damit verbunden ist das Recht, ihren jeweiligenInteressen nachzugehen, und vielleicht vor allem anderen, ihre Frei-zeit zu genießen.

Mehr Freizeit war traditionell ein wichtiges Anliegen jeder ein-flußreichen Bewegung innerhalb der Arbeiterklasse. Daß Sozialistenden ›Kampf um Zeit‹ fortführen, steht daher im Einklang mit demAngriff auf die existierende Logik der Akkumulation. Auch ein ›Ent-koppeln‹ von Arbeit und Löhnen wird zentralisierte Aktionen erfor-dern. So gesehen ist der ›Kampf um Zeit‹ in der Tat nichts anderesals der Kampf um das Recht der Individuen, den Inhalt ihres Lebensüber die Grenzen der ›Notwendigkeit‹ hinaus selbst zu bestimmen.

Reform und RevolutionMarx und Engels waren sich niemals ganz klar darüber, wie derkommende »Sprung in das Reich der Freiheit« zu vollziehen sei.Diese Unsicherheit wurde noch verstärkt, als der vermeintlich beste-hende innere Zusammenhang zwischen sozialistischem Übergangund kommunistischer Utopie in der Praxis nicht bestätigt wurde.

Die Unzulänglichkeit der Mittel stellt jedoch nicht die Legitimitätder Ziele in Frage. Heute ist erneut eine Bestimmung des Verhält-nisses von Theorie und Praxis, von Zielen und Mitteln notwendiggeworden. Sie zu erarbeiten, wird aber nur dann möglich sein, wennlangfristige ›Endziele‹ nicht einfach im Namen unmittelbar anste-hender Dringlichkeiten abgetan werden. Transitionale Politik wirdin fortgeschrittenen Industriegesellschaften daher zugleich darum

Es ist daher vom Stand-punkt des Marxismusrationaler Entscheidungenaus schier unmöglich,Fragen aufzuwerfen, diesolche kulturellen Werteoder neue politische Zielebetreffen, die dem sozia-listischen Projekt einenmodernen Sinngehalt ver-leihen würden. Weil derDialog mit dem akademi-schen mainstream um jedenPreis erreicht werden soll,werden die kritischsten undradikalsten Elemente dessozialistischen Projektsaufgegeben und zwarzugunsten eines technokra-tischen Marxismus, der inrein instrumentellen Wertenstecken bleibt.

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ringen, die Bedingungen für lokale Beteiligung zu erweitern und diedemokratische Rechenschaftspflicht repräsentativer Institutionen zustärken. Der entscheidende Punkt dabei ist, daß man sich weder dog-matisch auf Zentralisation noch auf Dezentralisation festlegen darf.Es geht vielmehr darum, sich für die Förderung jenes Prozesses zuengagieren, der »die Verwaltung von Dingen« an die Stelle der »Ver-waltung von Menschen« (Marx) setzt.

Dieses Ziel steht im Einklang mit den Anstrengungen, willkürlicheMacht zu begrenzen und jene Subjektivität wiederzubeleben, die imheutigen Produktionsprozeß nur pervertiert existiert. Allerdings mußeine moderne sozialistische Theorie anerkennen, daß es keine strikteAbgrenzung der Verwaltung von Menschen und jener von Dingengeben kann, solange ›Knappheit‹ – sei es in direktem ökonomischenSinn oder aber institutionell – existiert und dadurch politischeMachtausübung wegen des ungleichen Zugangs zu ökonomischenRessourcen übermäßig beeinflußt wird.

Die alten Grundwahrheiten sind verschwunden. Das Revolutions-konzept hat den bisher für selbstverständlich angenommenen eman-zipatorischen Inhalt verloren. Aber es ist auch nicht länger legitim,mit unentwegt voranschreitenden Reformen zu rechnen oder damit,daß willkürliche Machtausübung durch die Parlamente immer wie-der erfolgreich eingedämmt werden kann. Ein neuer Versuch, diewiderstreitenden politischen Strategien von Reform und Revolutionins Verhältnis zu setzen, gehört deshalb auf die Tagesordnung.

Hier gilt es zunächst, Vereinseitigungen zurückzuweisen. Vor allemrichtet sich dies gegen jene, die es ablehnen, über Institutionen, dieeinen willkürlichen Machtmißbrauch in der neuen Ordnung begren-zen könnten, auch nur zu reden. Diese scheinbar doch so ›kritische‹Haltung besteht darauf, daß es unmöglich ist, ›wirkliche‹ Reformenherbeizuführen, während jede andere Reform nie radikal genug seinwird. Gestützt auf die Vorstellung von einer ›eindimensionalen‹ Ge-sellschaft, die in ihrem Innersten jede potentiell gefährliche Opposi-tion zu integrieren und damit zu entschärfen vermag, ist für dieseDenker jede positive Reform nur eine andere Maskierung der Unter-drückung. Jeder Schritt, der das Leben des Individuums freiergestalten soll, verkehrt sich in sein Gegenteil.

Es wird einfach ignoriert, daß bestimmte Reformen Demokratietatsächlich befördern und der herrschenden Kapitallogik den Vor-rang des Subjekts politisch aufzwingen können. Hinter der pseudo-radikalen Position verbirgt sich eine sehr willkürliche Auffassungvon qualitativer Veränderung. Mehr noch, mit ihr wird Utopia selbstin ein Abstraktum verwandelt und von jeder realen Bewegung derMassen gelöst. Das radikalste Konzept wird schließlich zu nichts an-derem als zu einem ästhetischen, intuitiven und apolitischen Spielder Phantasie.

Es gibt aber noch eine andere offensichtliche Gefahr. Sie bestehtdarin, aus ›sozialistischer‹ Politik alles auszuschließen, was nicht ei-nem revolutionären Angriff auf den Akkumulationsprozeß und denStaat gleichkommt.

Die grundlegendsten Reformen des Sozialstaates, sei es die Ver-kürzung der Arbeitszeit, die Garantie eines Mindestlohns und dieSchaffung eines ›sozialen Netzes‹, sind ein Angriff auf die gegebene

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Logik der Akkumulation. Dadurch werden nicht nur die Willkür-herrschaft des Kapitals eingedämmt und die Exzesse des freienMarktes gezügelt, damit werden auch die existierende Akkumula-tionslogik in Frage gestellt und der Produktionsprozeß humaner ge-staltet. Genau das ist es, was der Ausdehnung von Demokratie in dieZivilgesellschaft hinein ›sozialistische‹ Bedeutung verleiht.

Sozialismus von seinem traditionellen Engagement für sozio-ökonomische Reformen und republikanische Werte zu trennen, istgleichbedeutend damit, Sozialisten die Chance abzusprechen, in derGegenwart etwas zu verändern. Angesichts der Zwänge, unter denenzu handeln Sozialisten gezwungen waren, hat das Argument, diegroßen sozialdemokratischen Experimente im Europa der zwanzigerund dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, die in Österreich, Frankreichund Deutschland unternommen wurden, hätten keinen spezifisch›sozialistischen‹ Charakter getragen, wenig Bedeutung. Es bleibteine Tatsache, daß die Sozialisten dem ›freien Markt‹ und dessenLogik selbst in Ländern wie den Vereinigten Staaten vom Standpunktder Arbeiterklasse aus entgegentraten, daß sie den Liberalismus ver-änderten, der längst schon im Mülleimer der Geschichte verschwundenwäre, hätte er sich nicht einige der grundlegenden, von Sozialistenseit Generationen vorgebrachten Anliegen zu eigen gemacht.

Die Bewegungen der zwanziger und dreißiger Jahre revolutionier-ten die Rolle des Staates und verpflichteten ihn, in die zuvor unan-gefochten bestehenden Rechte des Kapitals einzugreifen. Ob sie nunauf lange Sicht ›erfolgreich‹ waren oder nicht, in jedem Fall erzieltendiese Bewegungen einen »Sieg der Politischen Ökonomie der Arbeitüber die Politische Ökonomie des Kapitals« (Marx).

Reformen können das Leben der Arbeitenden also durchaus mate-riell verbessern, ihre Selbstwahrnehmung verändern, ihnen mehrfreie Zeit verfügbar machen oder auf andere Weise helfen, sozialeUngleichheit und willkürlichen Machtgebrauch zu begrenzen. Der-artige Reformen machen Institutionen und Personen rechenschafts-pflichtig gegenüber der Gesellschaft und erfüllen auf diese Weise dieErfordernisse des ›praktischen Kriteriums‹, das einer sozialistischenEthik zugrunde liegt. Reformen können also radikale Funktionenund Wirkungen haben.

Der Charakter der jeweils angestrebten Reformen offenbart das›Klassenwesen‹ der Bewegung. Einige der Forderungen dienenscheinbar nur dazu, die existierende Ordnung rationaler zu gestalten.Andere jedoch können durchaus als Vorbedingungen einer emanzi-pierten Gesellschaft der Zukunft angesehen werden. So setzt zumBeispiel eine neue Form des Akkumulationsprozesses eine öffentli-che Investitionskontrolle voraus, was unter bestimmten Umständenlegislative Form annehmen mag.

Inwieweit bestimmte Reformen radikalen Charakter besitzen,kann nicht abstrakt beurteilt werden. Das Klassenideal hat seine ei-gene Logik. Ist die Begründung einer Reform durch die Interesseneiner Klasse bestimmt, so ist ihre Radikalität immer in diesem Kon-text definiert. Nur bezogen auf beide Aspekte, den Kontext und dasspekulative Ziel, ist es möglich zu bewerten, inwieweit eine Reform-maßnahme jenen Akkumulationsprozeß, der Arbeitende lediglich als›Produktionsfaktoren‹ unterstellt, tatsächlich verändern kann.

EthikDa die Wirklichkeit deren›wissenschaftliche‹ Voraus-sagen als richtig zu bestä-tigen schien, entwickelte dieorthodoxe Teleologie keinBedürfnis nach einer eigen-ständigen Ethik. Die darausresultierenden Konsequen-zen wurden von Lenin aufdie Spitze getrieben. Ervertrat eine spekulativeAuffassung von der Revolu-tion als Ziel und von derPartei als ihrer Triebkraftund förderte einen ethischenRelativismus, den er mitteleologischen Voraus-setzungen untermauerte.Auf diese Weise konnten dieschlimmsten Handlungengerechtfertigt werden, wennsie von Kommunistenbegangen wurden und siekonnten delegitimiert wer-den, sobald sie von›Konterrevolutionären‹ausgingen.

In den Vereinigten Staatenwurden wohl die bestenmodernen Vorschläge füreine progressive Ethikunterbreitet. Sie kamen auszwei Lagern von radikal-liberalen Befürwortern einer»demokratischen Theorie«.Auf der einen Seite stehendie ›neuen Kommunitarier‹,die die Tradition des kan-tischen Rationalismuszurückweisen und danachstreben, Rezepte für diePraxis aus dem Verständnisvon Normen und Sitteneiner gegebenen Gesell-schaft abzuleiten. Dieandere Gruppierung bildentraditionelle Rationalistenwie John Rawls, die ver-suchen, auf dem Vermächt-nis Kants aufzubauen undPrinzipien zu entwickeln,die eine demokratischePraxis durchdringen sollten.

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Natürlich setzt all das Bedingungen voraus, die es erlauben, Refor-men zu propagieren und durchzusetzen. Das aber kann man nicht alsselbstverständlich gegeben voraussetzen. Was gestern galt, bleibtauch heute richtig: ob und wie revolutionäre Gewalt durch die Un-terdrückten angewandt wird, ist letzten Endes von jenem Grad anDemokratie abhängig, den die Unterdrücker zulassen. Das Bestre-ben, die existierende Ordnung revolutionär zu verändern, ist dannvollkommen verständlich, wenn die Autorität des Gesetzes durch dieUnterdrücker weitgehend erstickt wird.

Die Notwendigkeit, eine Revolution Reformen vorzuziehen, mußjedoch auf dem Nachweis beruhen, daß ein radikaler Kurs, zumin-dest der Möglichkeit nach, den besten Weg bietet, auf dem man sichden emanzipatorischen Werten der Zukunft in der Gegenwartannähern kann. Garantien wird es freilich nie geben können. Dereinzige Weg zu beurteilen, ob eine Revolution erforderlich ist, liegtdarin zu bestimmen, ob das System reformiert werden kann.

Die Forderung nach einer Revolution ist folglich nur dann legitim,wenn die Unterdrücker eine Form der Machtausübung installiert ha-ben, die jede Möglichkeit institutioneller Veränderung blockiert.Wieweit Sozialisten einem revolutionären Regime Unterstützunggewähren werden, hängt davon ab, in welchem Maß ein solches Re-gime demokratische Rechenschaftspflicht garantiert und die Wahr-nehmung bürgerlicher Freiheiten im Rahmen von offensichtlichen,ihm aufgedrängten Zwängen ermöglicht.

Ebenso wie es – für manche Sozialisten – ein Dogma der Revolu-tion gibt, so gibt es – für andere – auch eines der Reform. Letzteresignoriert die Tatsache, daß auch der Sozialstaat ein kapitalistischerStaat bleibt, daß die Investitionen in privaten Händen bleiben, daßReformen nur dann durchsetzbar sind, wenn ihre Kosten den exi-stierenden Akkumulationsprozeß nicht zu sehr bedrohen oder einefür die kapitalistische Klasse akzeptable Profitrate nicht zu sehr inFrage stellen. Das Reform-Dogma verweigert sich der Tatsache, daßes noch immer für die Reichen bedeutend leichter ist als für die Ar-men, sich zu organisieren, Koalitionen zur Lösung bestimmter Pro-bleme zu schließen, Zugang zu Informationen und Fonds für politi-sche Zwecke zu erhalten. In der Tat macht das Dogma der Reformseine Anhänger blind für die strukturellen Mechanismen, durch dieder Wohlfahrtskapitalismus stets die kapitalistische Klasse privile-giert und die arbeitenden Menschen noch immer zwingt, ein unter-geordnetes und oftmals prekäres Leben zu führen.

Das Bemühen, Reform und besonders Revolution zu relativieren,geht einher damit, das Konzept vom Ende der Geschichte aufzuge-ben. Eine transitionale Politik ist heute eine Politik, die es vermag,die Perspektive einer emanzipierten Zukunft in praktisch-gegenwär-tige Schritte umzusetzen. Sowohl Reform als auch Revolution er-scheinen so als bloße Mittel, über deren Anwendung dadurch ent-schieden wird, wie innerhalb eines bestimmten Kontextes am bestendie Ziele eines sozialistischen Projektes durchzusetzen sind.

Sozialistischer InternationalismusWährend die Konzentration und Vernetzung des Kapitals internationalwie national zunimmt, droht den arbeitenden Menschen die Verein-

Die Kommunitarier, obschonsich viele von ihnen alsProgressive und sogar alsSozialisten sehen, leitenihre erkenntnistheoretischePosition eigentlich aus einerromantisch-pragmatischenInterpretation Rousseausher. Ihre wichtigste Forde-rung besteht darin, daßPolitik von den existierendenBräuchen und Institutioneneiner bestimmten Gesell-schaft ausgehen müsse.Von einer solchen Positionaus gibt es allerdings keineMöglichkeit, einen kritischenStandpunkt zu entwickeln,mit dem zwischen repres-siven oder emanzipatori-schen Traditionen, Bräuchenund Gewohnheiten zuunterscheiden wäre.

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zelung. Dabei könnte die wachsende ökonomische Interdependenzsehr wohl die materielle Basis für eine künftige internationale Ord-nung darstellen. Aber darin liegen auch Gefahren, weil in einer inter-dependenten Welt die Handlungen einzelner immer auch anderebetreffen. Mit der Unsicherheit wächst daher der Nährboden fürKonflikte. Diesen Problemen muß sich ein sozialistisches Projektstellen.

Spätestens mit der Durchsetzung der Stalinschen Theorie vom»Aufbau des Sozialismus in einem Land« und mit der von ihm in-itiierten Auflösung der Komintern ist offensichtlich geworden, daßes keine innere Übereinstimmung zwischen den Bedürfnissen einespartikulären Staates und der Weltgemeinschaft gibt und daß die In-teressen der Arbeitenden innerhalb einer Nation nicht notwendig mitdenen in anderen Staaten zusammenfallen müssen. Heute ist einfachnicht vorstellbar, wie die Schwächung nationaler Souveränität andersvor sich gehen könnte, als durch einen graduellen Machtzuwachs be-reits existierender internationaler Organisationen wie der VereintenNationen. Die Idee einer apokalyptischen Transformation von Natio-nalstaaten in eine ›Welt-Gemeinschaft‹ ist mehr denn je im schlech-testen Sinn utopisch. Selbst wenn eine Revolution notwendig wäre,um das politische System und die kulturellen Werte einiger Staatenzu transformieren, würden diese Saaten dennoch über die Bedingungenzu verhandeln haben, unter denen ein Eingriff in ihre Souveränitäthingenommen werden könnte. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ist es zunächst wichtig, neue internationale Bündnisse zuformieren. Für die westlichen Sozialisten bedeutet dies, daß siedamit anfangen sollten, das Beste aus den neuen Möglichkeiten zumachen, indem sie transnationale Beziehungen stärken und Verbin-dungen mit den demokratischen Kräften im ehemaligen Ostblockund der ›Dritten Welt‹ knüpfen.

Man sollte sich allerdings keiner Illusion hingeben. Die neueinternationale Arena wird auch neofaschistischen Strömungen, wiedenen LePens, Haiders und anderer, neue politische Chancen bieten.Internationalismus wird jene seit jeher bekannten Reaktionen her-vorrufen: Chauvinismus, Irrationalismus und Rassismus, Angriffesowohl auf demokratische wie sozialistische Werte und Organisatio-nen. Der Rahmen für eine neue regionale und internationale Politikeröffnet daher nicht nur Möglichkeiten, Programme und Perspektivenzu entwickeln, die das sozialistische Projekt neu beleben können. Erbirgt auch Gefahren. Die Schaffung einer neuen politischen Umwelt,die das neue Millennium zumindest mitbestimmen wird, ist keinerein ökonomische Frage und kein bloßes Organisationsproblem,sondern vor allem auch ein kulturelles.

Internationalismus hat sich folglich aus der bloßen Alternativezwischen Altruismus oder Eigeninteresse in etwas davon sehr Un-terschiedenes verwandelt. Was vor einem Jahrhundert richtig war, istheute mehr denn je gültig. Internationalismus kann nicht nur ausTaktik bestehen; er muß zum Prinzip werden und als Prinzip wirken.

Die global ungleiche Verteilung des Reichtums zu verändern, istletzten Endes eine politische Frage. Eine darauf gerichtete Poli-tik wird auf die Schaffung von Institutionen setzen müssen, die im-stande sind, die Aktivitäten multinationaler Unternehmen wie inter-

Während die Kommunitariernicht in der Lage sind, einereflexive Distanz zum All-tagsleben der Gesellschaftzu gewinnen, bleiben ihreOpponenten – die demo-kratischen Rationalisten –im Abstrakten stecken. IhreÜberlegungen zu Demo-kratie handeln von einerabstrakten Welt von Indi-viduen, die von allen realexistierenden sozio-histo-rischen und politischenUmständen entkleidet ist.Der abstrakte Gebrauch vonAllgemeinheiten erzeugtBlindheit gegenüber denunterschiedlichen Effekten,die der Produktionsprozeßauf die Subjekte und auf diestrukturellen Antagonismeninnerhalb der Gesellschafthat.

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nationaler Banken zu regulieren, eine Lösung der Schuldenproblemein der ›Dritten Welt‹ herbeizuführen und die grundlegenden Errun-genschaften des Sozialstaates in die internationale Arena auszudeh-nen. Dies wird die Entwicklung von politischen Linien einschließenmüssen, die Organisationen wie den Internationalen Währungsfondszu Refinanzierung und Demokratisierung verpflichten. Neue trans-nationale Organisationen werden nötigt sein, um Steuern zu erheben,Kapitalströme zu kontrollieren und die Tendenz zu ›ungleicher Ent-wicklung‹ abzuschwächen. Kurz gesagt, ökonomische Reformenvon globalem Ausmaß setzen politische Macht voraus.

Dabei ist Bürokratie kaum zu vermeiden, schon weil internatio-nale oder regionale Institutionen wie die Vereinten Nationen oder dieEuropäische Kommission sonst nicht arbeiten könnten. Dies wirdzweifellos auch Tendenzen fördern, immer mehr Macht aufKosten der Nationalstaaten zu konzentrieren – Verantwortlichkeitund Rechenschaftspflicht sind dann nur noch schwer zu garantieren.Tendenzen solcher Art kann nur durch neue Formen politischerAktionen begegnet werden und möglicherweise vor allem durcheine neue Form ziviler Verantwortung. Für Sozialisten steht dieFrage, ob sie willens sind, die Streitarena zu betreten, um Wege vor-zuschlagen, die die demokratische Rechenschaftspflicht internatio-naler Institutionen sichern.

Wenn sich sozialistische Theorie und politische Praxis fest zuDemokratie und Gleichheit bekennen, die auf den Prinzipien vonGegenseitigkeit und Herrschaft des Gesetzes beruhen, dann könnendemokratische und sozialistische Werte nicht mehr länger nur als›westlicher Import‹ in Nationen, in denen die Traditionen von Auf-klärung und Arbeiterbewegungen fehlen, betrachtet werden. Abge-sehen von der Tatsache, daß es ganz einfach illegitim ist, das eman-zipatorische Potential einer Idee auf jene Region zu reduzieren, inder sie entstand, war es immer Ziel des Internationalismus, willkür-lichen Machtgebrauch seitens der Nationen einzudämmen. Eine in-ternationalistische sozialistische Position müßte daher sowohl Kritikals auch mögliche Sanktionen gegenüber jenen Nationen einfordern,die Herausbildung freier Gewerkschaften oder anderer Organisa-tionsformen der Arbeiterklasse behindern.

Erforderlich ist eine Politikkonzeption, die es vermeidet, daß dieInteressen der Bevölkerung mit jenen einer partikulären bürokrati-schen Organisationsform des Landes gleichgesetzt werden. Es gehtdarum, die verschiedenen demokratischen Möglichkeiten unter-schiedlicher nationaler Organisation anzuerkennen, und es müssengeeignete Kriterien dafür gefunden werden, wie eine sozialistischeAntwort auf nationale und internationale Konflikte aussehen kann.Wenn eine politische Theorie des Sozialismus die Schaffung vonBedingungen zum Gegenstand hat, die die Solidarität unter den ar-beitenden Menschen fördern – wobei die Stärkung der schwächstenein wichtiger Maßstab ist –, so muß sich eine internationalistischePolitik darauf richten, dauerhafte sozialistische und demokratischeBedingungen in den schwächsten der Nationen herzustellen. Natür-lich schließt dies die Wahrung kultureller Traditionen ein.

Nun steht jedoch die Frage, wie man einer unerwünschten Inter-nationalisierung der Kultur entgegentreten kann, die vor allem

Im Gegensatz zu denAnhängern des Kommuni-tarismus haben sich dieherausragendsten Vertreterdes demokratischenRationalismus jedochaußerordentlich bemüht,jene institutionellen Vor-bedingungen näher zudefinieren, die eine gerechteOrdnung zu berücksichtigenhat: bürgerliche Freiheiten,Mehrparteiensystem, pro-portionale Repräsentation,öffentliche Subventionen fürkonkurrierende politischeGruppen, Verteilungs-gerechtigkeit, öffentlicheInvestitionskontrolle,Wirtschaftsdemokratie,Chancengleichheit und einedemokratisch informierteAußenpolitik. Einige An-hänger dieser Richtungwaren sogar bereit, dieBeiträge von Marxistenoder Sozialisten wieRosa Luxemburg zu diesenFragen zu würdigen.

BRONNER Sozialismus 17

durch die Massenmedien befördert wird. Deren Ausstrahlungskraftist real, und somit kann eine progressive Erwiderung darauf nichtdarin bestehen, eine ›geschlossene Gesellschaft‹ zu schaffen, odersich auf Traditionen der Vergangenheit zurückzuziehen und dieohnehin vorhandenen Tendenzen zu Provinzialismus und Mystizis-mus zu fördern.

Die ›Kulturindustrie‹ ebenso wie auch moderne Spielarten desRomantizismus stellen starke Gegenkräfte dar. Aber, wie in so vie-len anderen Bereichen auch, bleibt auch hier nur die Wahl zwischenWiderstand oder Resignation. Das sozialistische Projekt muß folg-lich hervorheben, worin seine oft vergessene kulturelle Komponentebesteht. Nur aus erneuerter internationalistischer Perspektive kanneine progressive Opposition gegen die mechanistische Standardisie-rung Hollywoods wie auch gegen jene Versuche entwickelt werden,›Tradition‹ um ihrer selbst willen zu retten. Nicht ohne gewisse Ironiemuß man feststellen, daß allein der internationalistische Gesichts-punkt es erlaubt, jene emanzipatorischen kulturellen Beiträge, dievon Nationalitäten auf der ganzen Welt hervorgebracht werden,wirklich zu respektieren und sie innerhalb einer Umgestaltung undNeubewertung der ästhetischen Erbschaft der Vergangenheit zu inte-grieren.

Genauso wie die Demokratie ist auch Internationalismus eineSache von Herz und Verstand, weniger eine Sache von Schemataund Notizbuch. Die Verpflichtung zur Globalität ist die Hingabe aneine Idee. Der Fetisch von ›technique‹ und ihrer ›Ausführung‹ wirdeben genau das bleiben, ein Fetisch, wenn keine positive Antwortauf Chauvinismus und Partikularismus vom Standpunkt einer nochimmer nicht thematisierten und schon gar nicht realisierten ›Vielfaltin der Einheit‹ gefunden wird. Kultur also ist ein Gebiet, auf demsozialistische Intellektuelle eine entscheidende Rolle zu spielen ha-ben. Nur durch ein solches kulturelles Engagement können verblei-bende Formen sowohl des Autoritarismus als auch die entkräftendekapitalistische Akkumulationslogik herausgefordert werden; nur aufdiese Weise ist es möglich, den Sozialismus als ein sich entwickeln-des ›Projekt‹ zu verwirklichen, ein Projekt, das darauf gerichtet ist,jenen unendlichen Reichtum menschlicher Erfindungsgabe und Pro-duktivität freizusetzen, dessen Möglichkeiten niemals im vorausfestgelegt werden können.

Aus dem Amerikanischen von EVA GRÜNSTEIN-NEUMANN

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Mit den Terroranschlägen auf wirtschaftliche und militärische Wahr-zeichen der westlichen Führungsmacht erhielt das junge 21. Jahr-hundert sein erstes weltweites Diskussionsthema: Was ist der Islam,was wollen die Muslime, entsteht nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation eine neue globale Konfliktachse?

Zwar fiel in den unzähligen Medienberichten und Talkshowshierzulande manches kluge, abwägende und erhellende Wort zumProblem, das Gros der Berichte wurde aber einmal mehr von grobvereinfachenden Positionen beherrscht, die den Westen und die par-lamentarische Demokratie im Entscheidungskampf mit dem Islamund Terrorismus sahen und – wenn sie noch die Geschichte bemüh-ten – das christliche Abendland in seiner jahrhundertealten Ausein-andersetzung mit morgenländischem Dunkelmännertum. Dieses Bildvermitteln nicht nur die Balkenüberschriften der Boulevardzeitun-gen, sondern auch die Kolumnen manch ›seriösen‹ Blattes und selbstwissenschaftliche Werke, von denen Samuel Huntingtons Kampf derKulturen, das unlängst eine weitere deutsche (Taschenbuch)Ausgabeerfuhr, wohl das prominenteste ist. Als prägend müssen aber auchdie Positionen westlicher Politiker und Militärstrategen gelten, diebis in die jüngste Vergangenheit hinein weniger als Korrektiv, son-dern eher als Katalysator wirkten.

Seitdem 1979 Schah Mohammed Reza Pahlavi durch islamischeRevolutionäre vom iranischen Pfauenthron gestoßen wurde, hattenoch jeder amerikanische Präsident einen ›Erzfeind‹ in der islami-schen Welt. Mit dem Sturz des Schahs, ihres damaligen Hauptver-bündeten im Mittleren Osten, mußten die USA eine strategischeSchlappe hinnehmen. Nicht nur, daß Iran, das Land mit der zweit-längsten Landesgrenze zur damaligen Sowjetunion, aus dem westlichenLager ausschied, auch der Militärpakt CENTO brach auseinander.Die amerikanische Präsenz am Persischen Golf, der wichtigsten Re-gion für die Weltenergieversorgung, die Präsident Carter noch 1977als von »vitalem Interesse« für sein Land erklärt hatte, war gefähr-det. Ihn kostete der Fehlschlag der US-amerikanischen Iran-Politikzunächst einmal die Wiederwahl. Sein Nachfolger, Ronald Reagan,pflegte die Gegnerschaft zum iranischen Revolutionsführer AjatollahKhomeini, erkor sich dann aber doch den libyschen PräsidentenGaddafi zum Hauptfeind. Bush senior führte den zweiten Golfkrieggegen den irakischen Präsidenten Saddam Hussain, sein NachfolgerBill Clinton verteilte seine Antipathie in seiner ›dual-containment‹-Politik auf den irakischen und den iranischen Staatsführer. Mit dem

Henner Fürtig – Jg. 1953;Dr. phil. habil., studierte inLeipzig Arabistik undGeschichte, arbeitete an derUniversität Leipzig, inTeheran, Kairo und amZentrum Moderner Orient,Berlin, zahlreiche Arbeitenzur Zeitgeschichte undPolitik des Vorderen Orients,insbesondere der Golf-region; kürzlich erschien:»Islamische Welt undGlobalisierung. Aneignung,Abgrenzung, Gegenent-würfe« (Würzburg 2001).Foto: privat

UTOPIE kreativ, H. 135 (Januar 2002), S. 19-29 19

HENNER FÜRTIG

Islam, Islamismusund Terrorismus

»Kreuzzug« von Bush junior gegen Usama bin Laden beginnt nichtetwa ein neuer Konflikt, damit endet (vorläufig?) eine lange Reihevon Auseinandersetzungen.

Gleichwohl verfügte und verfügt die US-amerikanische Regierungüber verläßliche Verbündete in der islamischen Welt: seien es dieägyptischen Präsidenten Sadat und Mubarak oder die saudi-arabi-schen Könige Faisal, Khalid und Fahd. Nur wurden und werdendiese, wie viele ihrer muslimischen Landsleute, immer wieder durchdie traditionelle Parteinahme der USA im Nahostkonflikt für Israeldüpiert. Damit wird die Ebene der Personalisierung des Konfliktesverlassen, die zwar das Bild schärft, es jedoch auch vereinfacht. ZurVervollständigung des Überblicks gehört zudem unbedingt die Neu-orientierung des westlichen Verteidigungsbündnisses nach dem Endedes Kalten Krieges. Mag diese auch dadurch geprägt worden sein,daß der in diesem Krieg siegreiche Westen den ersten Waffengangdanach mit der Operation ›Wüstensturm‹ gegen ein islamischesLand richtete, ihre Substanz ist klar und findet sich in Äußerungenführender NATO-Vertreter wieder. Der damalige OberbefehlshaberJohn Galvin verabschiedete sich aus Brüssel nicht ohne die neueRichtung vorzugeben: »Den Kalten Krieg haben wir gewonnen.Nach einer siebzigjährigen Abirrung kommen wir nun zur eigentli-chen Konfliktachse der letzten 1300 Jahre zurück. Das ist die großeAuseinandersetzung mit dem Islam.«1 Und Generalsekretär WillyClaes erklärte 1995, daß der islamische Fundamentalismus eineebenso große Gefahr für den Westen bedeute wie vordem der Kom-munismus.

Nun soll hier keine einseitige Schuldzuweisung vorgenommenoder gar eine Umkehrung der Tatbestände versucht werden. Aber der11. September hatte eine Vorgeschichte. Und auch wenn die Opferdieses Schreckenstages bekannt sind, die Täter sind es nicht – zu-mindest nicht eindeutig und nicht für jedermann. Schon die Projek-tionen der zitierten NATO-Repräsentanten zeigen sich widersprüch-lich. Für Galvin hieß der Gegner »der Islam«, für Claes »islamischerFundamentalismus«, für seinen Amtsnachfolger Robertson heißt er»islamistischer Terrorismus«. Wie verhalten sich diese Begriffe zu-einander? Sind sie deckungsgleich oder haben sie nichts miteinanderzu tun? Zwischen diesen Polen suchen die folgenden Ausführungenihren Platz.

IslamDer Islam ist in erster Linie eine monotheistische Weltreligion, diein ihrer jahrhundertelangen Geschichte ein reiches und vielfältigeshistorisches Erbe entwickelte. Die gegenwärtig mit dem Islam in Zu-sammenhang gebrachten Erscheinungen können schon allein des-halb nicht zur ausschließlichen Wesensbestimmung herangezogenwerden, weil sie nur auf einen außerordentlich kleinen und häufiggenug auch willkürlich gewählten Ausschnitt dieser Geschichtezurückgreifen. Aber: Auch der Islam des – hier willkürlich gewähl-ten – 14. Jahrhunderts bleibt Islam. Im Kern bedeutet das, daß sichin seiner langen Geschichte stets Phasen der Reaktion und Besin-nung mit Phasen der Aktion und Erneuerung ablösten, nicht aus-schließlich chronologisch, sondern sich an vielen Orten gleichzeitig

1 Zit. nach: Der Islam –eine Gefahr für die Welt?In: Zeit-Punkte, Hamburg,(1993)1, S. 24.

20 FÜRTIG Islamismus

entwickelnd, überlappend oder ablösend. Der ›Atem‹ der Religionist ruhig und gemessen, seine Bewegungen schlagen lange Bögen.

Zum Islam bekennen sich gegenwärtig über eine Milliarde Men-schen auf verschiedenen Kontinenten. Er besitzt mithin so viele lo-kale ›Färbungen‹, daß von ›dem Islam‹ nicht gesprochen werdenkann. Selbst der Verweis auf seine theologischen Grundlagen wider-spricht dieser Aussage nicht. Die Religion zeigt sich extrem diffe-renziert, nicht nur zwischen Sunniten und Schiiten, sondern auchinnerhalb dieser großen Konfessionen, die etwa verschiedeneRechtsschulen entwickelten oder unterschiedlichen Imamen folgtenund folgen; ganz zu schweigen von den verschiedenen Spielartendes Volksislam oder der islamischen Mystik, zum Beispiel des Su-fismus.

Erst vor diesem Hintergrund als traditions- und facettenreiche Re-ligion kann der Islam auch als Lebensweise, Weltanschauung undKultur beschrieben werden, der moralische und ethische Wertvor-stellungen seiner Anhänger prägt und somit auch in ihr soziales, po-litisches und kulturelles (Alltags)Leben hineinreicht. Deshalb hat eszum Beispiel auch zu allen Zeiten Bestrebungen gegeben, den Islampolitisch zu instrumentalisieren. Ebenso gab und gibt es in Vergan-genheit und Gegenwart immer einen hohen Prozentsatz an Musli-men, die sich einer Politisierung ihrer Religion verweigern, weil siedarin eine ›Beschädigung‹ oder gar ›Entweihung‹ sehen. Allerdingsläßt sich feststellen, daß die Tendenzen zur Politisierung immer dannzunahmen, wenn sich die islamische Welt in Umbruchs-, Krisen-oder Bedrohungssituationen wähnte oder tatsächlich befand.

Eine besonders einschneidende derartige Situation entstand mitdem neuerlichen (nach den Kreuzzügen) massiven ›Einbruch‹ desWestens in die islamische Welt. Napoleons Sieg bei den Pyramiden1798 war eben mehr als nur eine Episode, denn er bereitete demKolonialismus und Imperialismus des 19. und 20. Jahrhunderts denBoden. Neben den primären Folgen von Ausplünderung und Unter-jochung beschäftigte die Muslime auf geistiger Ebene jetzt vor allemdie Frage, wie es dem Westen so nachhaltig gelingen konnte, diedoch im eigenen Selbstverständnis überlegene, da zuletzt verkündeteund somit vollendete Buchreligion und die aus ihr hervorgegangeneKultur und Gesellschaft zu besiegen?

Eine der Antworten bestand im Entstehen einer Reform- und Er-neuerungsbewegung des Islam im ausgehenden 19. Jahrhundert, dieallein schon durch die Tatsachen, daß sie Bestehendes in Fragestellte, politisch wirkte.

Etappen der PolitisierungDie erste Generation der Reformer stand dem Westen und damitBegriffen wie Modernisierung, Reform und Entwicklung im allge-meinen positiv gegenüber und versuchte nicht nur auf materiellem,sondern auch auf geistigem Gebiet, Anschluß zu finden beziehungs-weise Übereinstimmungen herzustellen. In der ersten Hälfte des20. Jahrhunderts entstand eine zweite Generation, geprägt von denErfahrungen des Kolonialismus, des Sozialismus, des Faschismus,der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkrieges. Während dieerste Generation den Westen und seine Errungenschaften im we-

FÜRTIG Islamismus 21

sentlichen schätzte, verband sich in der zweiten Generation dieAnerkennung der industriellen und technischen Überlegenheit desWestens mit Zweifeln an den Folgen von Modernisierung und Ent-wicklung. Es wurde eine Kluft zwischen materieller Macht und gei-stigen, insbesondere moralischen und ethischen Mängeln ausgemacht.Schon diese Generation prägte das im gegenwärtigen politischenIslam virulente Axiom von der materiellen Überlegenheit des Okzi-dents bei gleichzeitiger geistiger Überlegenheit des Orients. Sielegte den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten deshalb in den Kultur-, vorallem in den Bildungsbereich. Explizit politische Forderungen undAktionen blieben demgegenüber die Ausnahme.2

Politischer Kampf hieß in dieser Periode vor allem antikolonialerKampf und dieser fand vornehmlich unter der Flagge des Nationa-lismus statt. Das Ziel bestand darin, in den von den Kolonialmäch-ten definierten Grenzen die ›nationale‹ Unabhängigkeit zu erreichen.Als sich an der politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeit vonden ›Mutterländern‹ auch nach dem Erreichen dieses Zieles nichtsGrundlegendes änderte, wurde der Nationalismus in der zweitenHälfte des vergangenen Jahrhunderts vielfach durch (Proto)Sozialis-mus ergänzt oder ersetzt. Die sich ab diesem Zeitpunkt formierende›Zweite Welt‹ versprach Beistand, Beispiel, Modell und Kontrast-programm gegenüber und zu den bisherigen Hegemonialmächten,die im islamischen Kerngebiet des Mittleren Ostens und Nordafrikasausschließlich aus dem Westen kamen. Um so größer die Ernüchte-rung, als sich die Erkenntnis durchsetzte, daß damit im Regelfall nureine Abhängigkeit gegen eine andere ausgetauscht worden war.

Erst vor diesem Hintergrund erhielt eine dritte Generation islami-scher Reformer Zulauf, die sich gegen jede weitere Übernahmefremder ›-ismen‹ wandte und die Lösung der Probleme in der Rück-besinnung auf das Eigene und Authentische, den Islam, propagierte.Der Westen wurde jetzt nicht länger als Quelle von Fortschritt undEntwicklung angesehen, sondern als ›Krankheit‹, deren Erregerauch auf die islamische Welt übergegriffen hätten und die es zu eli-minieren galt.3 Aus dieser Positionierung erwuchs auch die bis in dieGegenwart zu beobachtende Manie, den Westen für alle Mängel,Ungerechtigkeiten und Gebrechen im eigenen Lebensumfeld verant-wortlich zu machen und so endogene Verursachungszusammen-hänge entweder nicht wahrzunehmen oder zu negieren.4

GlobalisierungHistorischer Zufall oder nicht, bestechend ist die zeitliche Überein-stimmung der Herausbildung und Reife dieser dritten Generationmit der rasant beschleunigten Globalisierung im ausgehenden20. Jahrhundert. Um dieses Wechselverhältnis zu verstehen, hilft diein vielen Fällen nützliche, weil instrumentelle und abstrahierendeDefinition von Globalisierung als immer dichtere und schnellere,tendenziell den gesamten Erdball umfassende Verflechtung zwi-schen räumlich weit entfernten Strukturen, Prozessen und Ereignis-sen, wie sie 1990 von Anthony Giddens vorgenommen wurde5, nicht.In der islamischen Welt werden nämlich die prinzipiellen Asymme-trien dieser wachsenden globalen Verflechtungen viel stärker wahr-genommen. Globalisierung wird hier nicht so sehr als weltweite

2 Vgl. Rajaee, Farhang:Globalization and Factio-nalism in Revolutionary Iran,Draft Paper, o. O., o. J.,p. 4f.

3 Vgl. Arkoun, Muhammad:Rethinking Islam; CommonQuestions, UncommonAnswers, Boulder u. a.1994, p. 12.

4 Vgl. Massarat, Mohssen:Einleitung: Aufstieg desOkzidents und Fall desOrients, in: Ders. (Hg.),Mittlerer und Naher Osten:Geschichte und Gegenwart.Eine problemorientierteEinführung, Münster 1996,S. 13.

5 Vgl. Giddens, Anthony:The Consequences ofModernity, Cambridge1997, p. 64.

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Homogenisierung erfahren, sondern vielfach mit der Durchsetzungvon Interessen, Werten und Lebensformen ›des Westens‹ gleich-gesetzt.

Zu dieser Sichtweise trug gleichfalls bei, daß die Mehrzahl dermuslimischen Intellektuellen und Politiker – wie übrigens auch ihreKollegen im Westen – der Globalisierung jede historische Tiefe ab-sprachen und sie in ursächlichen Zusammenhang mit dem Sieg desWestens im Kalten Krieg setzten. »Wissenschaftler quer durch allesozialwissenschaftlichen Disziplinen glauben, daß sie Zeugen derEntstehung einer neuen Welt sind. Übereinstimmend wird 1989, je-nes memorable Jahr, in dem die alte bipolare Ordnung zusammen-brach, als Wendepunkt angesehen... Es wurde notwendig, neue Kon-zepte zu entwerfen, unter denen ausführliche Bestimmungen vonGlobalität einen zentralen Platz einnehmen. Globalität, so scheint es,ist genau der Begriff, der treffend die entstehende neue Welt be-scheibt.«6 So beschrieb 1993 der damalige Direktor des renommier-ten Al-Ahram-Zentrums für Strategische Studien in Kairo, SayyidYasin, seine Sicht auf die neue Ära. Globalisierung wäre nicht ent-standen, wenn die ›Zweite Welt‹, das ›Evil Empire‹, noch bestehenwürde, ist sich Zuhair Dibaya sicher.7 Vor diesem Hintergrundlassen sich drei wesentliche muslimische Wahrnehmungen von Glo-balisierung ausmachen:

Erstens führt Globalisierung zur politischen Marginalisierung derislamischen Welt. Bei der ›Neueinrichtung‹ der Welt unter Globali-sierungsbedingungen scheint der Westen den islamischen Staaten of-fensichtlich nur eine untergeordnete Rolle zugestehen zu wollen.8

Zweitens bewirkt Globalisierung wirtschaftliche Abkoppelung.Viele Experten in der islamischen Welt teilen die weltweit vorherr-schende Meinung, daß sich der Schwerpunkt des internationalenWettbewerbs unter Globalisierungsbedingungen vom kulturellen,ideologischen oder militärischen auf das wirtschaftliche Feld verla-gert hat.9 Die islamischen Staaten können sich dieser Entwicklungnicht entziehen. Allerdings scheinen die Rollen verteilt; Muslimewerden einerseits als Konsumenten westlicher Produkte, westlicherProduktionstechniken und Technologien sowie andererseits als Lie-feranten billiger Arbeitskraft und billiger Rohstoffe geschätzt.10 Dieden Muslimen zu Gebote stehenden ökonomischen Voraussetzun-gen, um daran Grundsätzliches zu ändern, sind allerdings nur geringentwickelt. Per Saldo wird ökonomische Globalisierung daher alsweitere Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich, als Verelen-dung großer Bevölkerungsteile, grassierende Korruption und Ver-schuldung sowie als steigende Abhängigkeit von ausländischemknow-how und Technologietransfer wahrgenommen.11

Drittens schafft Globalisierung kulturelle Identitätsprobleme. Un-geachtet der Anerkennung des Primats ökonomischer Faktoren beider Positionsbestimmung in der Globalisierung, überwiegen in derislamischen Welt zahlenmäßig Wortmeldungen zu kulturellen As-pekten. Das ist möglicherweise auch ein Ausdruck der tiefen Wir-kung, die Huntingtons ›Kriegserklärung‹ an den Islam – Zivilisationund Kultur zum Schlachtfeld bestimmend – hinterlassen hat. VieleMuslime vertreten die Meinung, daß der Westen sein ökonomisches,finanzielles und technologisches Übergewicht nutzt, um den Globa-

6 Yasin, Sayyid: Futuremapping of the new globalorder, in: The Arab StrategicReport 1993, Kairo 1994,p. 2.

7 Vgl. Dibaya, Zuhair:Globalization: The Last Sky.Helsinki: Institute of Devel-opment Studies, WorkingPapers No. 11, 1996, p. 5.

8 Vgl. Said, Abdel Moneim:After the Cold War: TheInternational Systembetween Chaos and Sta-bility, in: The Arab StrategicReport 1993, a. a. O., p. 3 f.

9 Vgl. Najjar, Said: An-nizam al-iqtisadi al-‘alamiala ‘ataba al-qarn al-hadiwa'l-ishrin (Das globaleWirtschaftssystem an derSchwelle zum 21. Jahrhun-dert), in: Ders. (Hg.), Tajdidan-nizam al-iqtisadiwa's-siyasi fi Misr (DieErneuerung des wirtschaft-lichen und politischenSystems in Ägypten). Bd. 2,Kairo 1997, S. 13-41.

10 Vgl. Ehteshami,Anoushiravan: Islamic Fun-damentalism and PoliticalIslam, in: White, B./Little,R./Smith, M. (eds.), Issuesin World Politics, Basing-stoke 1997, p. 197.

11 Vgl. Azzam, Mahmoud:Islamist Attitudes to theCurrent World Order, in:Islam and Christian MuslimRelations, (1993)2, p. 254 f.

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lisierungsprozeß zu dominieren. Im kulturellen Austausch bestündenerhebliche Diskrepanzen. So würden zum Beispiel westliche Seifen-opern auch in arabischen und afrikanischen Städten die Straßen lee-ren. Immer blieben Quelle und Richtung des Gebens gleich; vonNord nach Süd beziehungsweise von West nach Ost. Es existierestets nur ein Sender: der Westen, während die Empfänger immer imSüden säßen.12 Diese mediale Omnipräsenz westlicher sozialerNormen, Lebens- und Denkweisen erzeugt deshalb bei vielen mus-limischen Konsumenten einerseits Gefühle der Unterlegenheit undUnzulänglichkeit13 und andererseits der Gefährdung eigener Normenund Werte.

Hier schließt sich der Kreis zum oben erwähnten Wechselverhält-nis zwischen der ›dritten Generation‹ muslimischer Reformer undder Globalisierung. »Sie (die Muslime) befürchten, daß ... (Globali-sierung) ihre Sprache ausrotten wird. Ihre Religion. Ihre Art zu le-ben. Verwestlichung als der herrschende Lebensstil. Kapitalismusals das überlegene Wirtschaftssystem. Englisch als dominierendeSprache. Tourismus als führender Industriezweig. Diese Erscheinun-gen werden als bedrohlich empfunden, und das nicht nur von eini-gen Verrückten.«14 In der Quintessenz bedeutet dies, daß weder Ko-lonialismus noch Imperialismus den Muslim in seiner eigentlichenSubstanz und Identität so gefährdeten wie die Globalisierung. DenKolonial- wie den imperialistischen Mächten ging es um die Mus-lime als Arbeitskräfte und Konsumenten beziehungsweise (später)als ›Verfügungsmasse‹ im Kalten Krieg. Wenn sich im Verlauf derjahrzehntelangen Einflußnahme in den islamischen Ländern eineprowestliche beziehungsweise ›verwestlichte‹ Schicht herausbil-dete, so blieb sie doch immer Minderheit. Globalisierung durch-dringt jedoch alle Lebensbereiche und verfügt nicht über ein identi-fizierbares ›Gesicht‹. Es hält sich nur der diffuse Eindruck, daß sievom Westen ausgeht und von dort geprägt wird.

Vor diesem Hintergrund erscheint nur der Islam als immun, verheißtnur er einen authentischen Ruhe- beziehungsweise Fluchtpunkt, so er-klärt sich auch seine Bedeutung als am schnellsten wachsende Welt-religion. Aber, wie bereits angeführt, nicht jeder Muslim, der in derMoschee Zuflucht und Geborgenheit sucht, vertritt die Absicht, ausseiner Religion eine Politik zu machen. Nur die Anhänger dieserRichtung, die eine Rückkehr zu den idealisierten Zeiten des Prophe-ten Muhammad und der vier rechtgeleiteten Kalifen fordern und dieEinheit von Religion und Staat (din wa daula) predigen, werden imallgemeinen als islamische Fundamentalisten bezeichnet.

IslamismusDer Begriff Fundamentalismus entstand ursprünglich im Zusammen-hang mit Erneuerungsbewegungen innerhalb der protestantischenKirche und scheint damit ›besetzt‹ zu sein. Außerdem beschreibt erdie politische Ausrichtung nicht präzise genug. Viele Experten bevor-zugen deshalb den Begriff Islamismus.

Für Islamisten muß der Islam als das ursächlich Eigene nur von›folkloristischen Zutaten‹ und ›fremden Hinzufügungen‹ befreitwerden, um als den Muslimen gemäßer, dynamischer und progressiverpolitischer Faktor zu wirken.15 Politische Modelle und Modernisie-

12 Vgl. Muhammad, AliAbdel: The Arabs and theWest: Towards a Construc-tive Dialogue, in: StrategicPapers, (1995)36, p. 18 f.

13 Vgl. Ali, Hussein: TheNew World Order and theIslamic World, in: The Ame-rican Journal of IslamicSocial Sciences, (1991)3,p. 465.

14 Lamy, Peter in: TIMEMagazine, New York,24. September 2001, p. 42.

15 Vgl. auch Turner, BryanS.: Politics and Culture inIslamic Globalism, in:Robertson, R./Garrett, W. R.(eds.), Religion and GlobalOrder, New York 1991,p. 172.

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rungsversuche nach westlichem Vorbild hätten Muslime dagegenstets zu Objekten degradiert und damit verhindert, daß sie sich zuaktiv handelnden Subjekten entwickelten.16 Da der Islam aber diehöchste Vollkommenheit verkörpere, halte er auch eine Lösung fürjedes mögliche soziale, politische, wirtschaftliche oder kulturelleProblem bereit (al-Islam huwa al-hall – Der Islam ist die Lösung!).

Einer wünschenswerten, vollständigen Durchsetzung des Islamstellen sich aus islamistischer Sicht vor allem zwei Kräfte in denWeg: erwartungsgemäß ›der Westen‹ als geistig-kulturelle, wirt-schaftliche und politische Macht sowie die existierenden Regimes inder islamischen Welt mit ihren Repräsentanten, denen Komplizen-schaft mit dem Westen vorgeworfen wird. Nicht von ungefähr ist derIslamismus in den Ländern, deren außenpolitische Ausrichtung alsprowestlich gilt (Ägypten, Jordanien, Algerien, Tunesien) oder diesogar Mitglied der NATO sind (Türkei), am stärksten.

Wie diese Aufzählung zeigt, ist der Islamismus hier vor allem Op-positionsbewegung. Seine Protagonisten stammen im wesentlichenaus der erwähnten ›dritten Generation‹ von Reformern und hierbeiexemplarisch aus der 1928 in Ägypten gegründeten Muslimbruder-schaft; entweder aus ihr selbst oder aus ihren zahlreichen Ablegern,Zweigorganisationen oder Neugründungen. Die Verheißung eines›gerechten und egalitären islamischen Staates‹ schon im Diesseitsverschaffte und verschafft ihnen ungebrochenen Zulauf aus jenerMehrheit der Muslime, die sowohl unter kolonialen Bedingungender Vergangenheit als auch unter den gegenwärtigen realen Gege-benheiten der meisten islamischen Länder überzeugt war bezie-hungsweise ist, bei der Verteilung des materiellen und geistigenReichtums sowie der politischen Macht nur unzureichend beteiligtzu sein. Gerade die ägyptische Muslimbruderschaft beweist aberauch, daß Islamismus und Gewalt sich nicht zwangsläufig bedingen.Schon vor langer Zeit hat die Organisation der Gewalt zur Errei-chung ihrer politischen Ziele abgeschworen und plädiert für diefriedliche Etablierung einer ›islamischen Gesellschaft‹. Erst nachderen Vollendung könnten dann Politik und Religion in einem ›isla-mischen Staat‹ verschmelzen.

Radikalität, wenn auch nur verbaler Natur, zeigt sie lediglich inder Ablehnung des Westens. Die Weltpolitik unterliegt ihren Dogmenzufolge westlichem Diktat. Muslimische Belange und Anliegen wür-den in der Regel ignoriert; in jüngster Zeit besonders exemplarischbei der Lösung des Nahostkonflikts, im Bürgerkrieg in Jugoslawienund bei der Kuwaitkrise.17 Besonders das zuletzt genannte Ereignisbildete einen wichtigen Bezugspunkt für die islamistische Wahrneh-mung von Globalisierung. Die im Zusammenhang mit dem zweitenGolfkrieg von Präsident Bush senior proklamierte ›Neue Welt-ordnung‹ war offensichtlich als universeller Rahmen zukünftigerinternationaler Beziehungen gedacht. Für Islamisten war aber vorallem entscheidend, daß sich diese neue Ordnung gerade über dieNiederlage eines Landes der islamischen Welt profilierte. DurchVerlauf und Ausgang des zweiten Golfkriegs ausgelöst und durchdie weitere Entwicklung in den neunziger Jahren bestärkt, gewannnun eine Position die Oberhand, die Globalisierung als ›alten Weinin neuen Schläuchen‹, als westlichen Imperialismus in neuem

16 Vgl. Kamal Pasha,Muhammad/Samatar, Ali:The Resurgence of Islam,in: Mittelman, J.H. (ed.),Globalization: CriticalReflections, Boulder 1996,p. 188.

17 Vgl. Azzam, Mahmoud:Islamist..., a. a. O., p. 255 f.

FÜRTIG Islamismus 25

Gewande, ja als höchste Entwicklungsform des westlichen Imperia-lismus definierte.18

Auch wenn ihnen diese Sichtweise gemeinsam war, so entstanddoch mit der iranischen Revolution 1979 – neben der fortbestehen-den ›dritten‹ – eine ›vierte‹ Generation islamischer ›Politiker‹. Sieunterscheidet sich in Anspruch und Aufgabe dadurch von der drittenGeneration, daß sie versucht, aus deren abstrakten Theorien einefunktionierende Praxis werden zu lassen. Mit ihrem Sieg formiertendie iranischen Islamisten aus der Protest- und Oppositionsbewegungheraus eine machtausübende Bewegung. Revolutionsführer AjatollahKhomeini wurde zur Galionsfigur der vierten Generation.19 In seinemHauptwerk Velayat-e Faqih (Die Herrschaft des Rechtsgelehrten,auch unter »Der islamische Staat« bekannt) begründete Khomeiniseine Auffassung, daß die Trennung der Religion von der Politik undihre Beschreibung als Regelwerk von Gebet und Ritual dem Geistund den Lehren des Islam fundamental widersprächen. Damit kannDer islamische Staat als das Standardwerk des politischen Islam unddessen Kernthese von der Untrennbarkeit von Religion und Politikim Islam gelten. Der Islam sei vor allem ein göttliches Gesetz, nichtdazu gegeben, um studiert und in religiösen Schulen gelehrt zu wer-den, sondern angewendet und in Form eines Staates institutionali-siert zu werden. Der Prophet habe eindeutig einen islamischen Staatvorgesehen.20 Die Trennung sei daher künstlich und den Muslimenvom imperialistischen Westen aufgezwungen worden, um sie besserkontrollieren und ausplündern zu können. »Während der BesetzungIraks fragte einmal so ein Kerl, ein englischer Militär, ob das, wasder Gebetsrufer vom Minarett ausruft, der Politik Englands schadet.Die Antwort war: ›Nein‹. Dann sagte er: ›Laßt ihn rufen!‹

Wenn ihr euch nicht gegen die Politik der Kolonialisten wendet,wenn ihr den Islam nur als Bündel Gesetze betrachtet, immer nurvon ihnen redet und diese Sphäre nie verlaßt, unternimmt niemandetwas gegen euch. Ihr könnt rituelle Gebete verrichten, soviel ihrwollt. Sie wollen euer Erdöl. Um eure rituellen Gebete kümmern siesich nicht. Sie wollen unsere Bodenschätze. Sie wollen unser Landzu einem Absatzmarkt für ihre Waren machen...«21

Die unmittelbar nach dem Sieg der Revolution einsetzendenVersuche, sie selbst und damit das islamistische Staatsmodell zu ex-portieren (sudur-e enqelab), scheiterten aus vielen Gründen, unteranderem an ihrem schiitischen Charakter angesichts einer achtzig-prozentigen sunnitischen Mehrheit unter den Muslimen der Welt.Die iranische Führung sah sich gezwungen, den ›islamischen Staat‹zunächst in den Landesgrenzen zu errichten und ihm möglichst Bei-spielcharakter zu verleihen. Das führte zur charakteristischen ›Zer-rissenheit‹ iranischer Politik zwischen der Verfolgung nationalstaat-licher Interessen und islamischem Sendungsbewußtsein.

Für letzteres fühlt sich vor allem die geistliche Führung verant-wortlich. Sie sah nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine neueChance gekommen, das fast zeitgleiche Scheitern des Revolutions-exports, den Tod Khomeinis und die faktische Niederlage im Krieggegen Irak zu kompensieren. Dabei beriefen sie sich auf den – auchfür andere Weltreligionen typischen – Anspruch des Islam, universellgültig zu sein. Der Zusammenbruch des sozialistischen Weltsystems

18 Vgl. Yasin, Sayyid: Fimafhum al-aulama (ZumVerständnis der Globali-sierung), in: Huli, U. A. al-(Hg.), Al-arab wa’l-aulama(Die Araber und die Globa-lisierung), Beirut 1998,S. 23-34.

19 Vgl. Rajaee, Farhang:Globalization..., a. a. O.,p. 5.

20 Vgl. Zubaida, Sami:Islam. The People & TheState, London, New York1993, p. 16.

21 Itscherenska, Ilse/Hassan, Nader (Hg.):Ajatollah Chomeini: Derislamische Staat, Berlin1983, S. 30.

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habe nun eine einzigartige Gelegenheit geboten, der Menschheit denIslam als das ›gerechteste‹ soziale und politische Ordnungsangebotzu unterbreiten22 und ihn als neue, in sich geschlossene Alternativezum westlichen Kapitalismus zu propagieren. Die geistlichen FührerIrans verkündeten deshalb mit Bedacht eine neue Bipolarität in derWeltpolitik, auf deren einem Pol sie sich selbst als Kern eines revi-talisierten und politisierten Islam ausmachten, während der anderePol dem Westen und insbesondere seiner amerikanischen Führungs-macht zugeschrieben wurde. Dieser Anspruch wurde nicht nur vonsunnitischen Muslimen, sondern auch im Westen aufgegriffen bezie-hungsweise kommentiert. So behauptete Musa Saleem, der Direktordes Islamischen Instituts in London: »Wie auch der Kommunismus,dessen unausweichlicher Untergang sich früher als erwartet ereig-nete, kommt nun mit großen Schritten auch die Zeit des Untergangsdes westlichen Systems, wie wir es bisher kannten. Es gibt aus un-serer Sicht kein anderes System als den Islam, der dieses ersetzenkönnte. Eher früher als später werden islamische Werte und Ideale inunterschiedlichem Maße in die westliche Kultur und Politik vor-dringen. Wir sagen voraus, daß sich dieser Prozeß in den kommenden25 Jahren vollziehen wird.«23 Und der bekannte US-amerikanischeExperte Graham Fuller bestätigte: »Nach dem Zusammenbruch desKommunismus gibt es außer dem radikalen Islam kein anderes insich geschlossenes Glaubenssystem, das über ein großes geographi-sches Gebiet verbreitet ist und das scharf, eindeutig und systema-tisch den Westen kritisiert«.24 Für die iranische vierte Generation wardabei vor allem von Bedeutung, daß die Islamische Republik Iran alsZentrum dieses islamischen Pols anerkannt war.

Von diesem Bestreben beseelt, beteiligten sich ihre Repräsentan-ten auch am Globalisierungsdiskurs. Die iranischen Argumente be-tonten nicht so sehr das Eigene beziehungsweise die Abgrenzungvom Globalisierungsprozeß, sondern sie versuchten, den islamischenUniversalismus mit der Globalisierung zu amalgamieren, indemman das Wesen letzterer veränderte, faktisch eine ›Gegenglobalisie-rung‹ einleitete. Wenn Globalisierung nichts anderes ist als ein Syn-onym für »permanente Versuche des Westens, sein Wertesystemweltweit zu exportieren«25, dann müsse der Islam dem sein eigenesWertesystem entgegenstellen, also zum Beispiel Gerechtigkeit,Genügsamkeit und Egalitarismus. Wenn die westliche Moderne aufsäkularem Materialismus basiere und Wissenschaft sowie Vernunftvor Ethik und Moral rangierten, dann müsse der Islam dem eine Mo-derne gegenüberstellen, die sich auf Glauben, Geduld, Augenmaßund Ausgleich stützt.26 Im Kern der ›Gegenglobalisierung‹ stündender Koran und seine Botschaft, das heißt das beständige Bestrebender Menschheit, »auf zwei Ebenen zu reagieren ... mit dem äußerenProjekt der Schaffung einer gerechten sozialen Ordnung und dem in-neren Ziel der Annäherung der Menschen an ihren Schöpfer«27. Dieislamische ›Gegenglobalisierung‹ verdient ihren Namen, denn siezielt auf den gesamten Erdball. Sie ist ein Versuch, »auf der globa-len Ebene eine neue Gemeinschaft zu schaffen...«28, ein Versuch, dieislamische Gemeinschaft, die umma, in einem ›Weltstaat‹ zu einen,damit sie ihre göttliche Verpflichtung erfüllen kann, »die Welt zuführen...«29

22 Vgl. Hazim Shah,Muhammad: Islam andContemporary WesternThought: Islam and Post-modernism, in: The Ameri-can Journal of IslamicSocial Sciences, (1996)2,p. 260.

23 Saleem, Musa: TheMuslims and the New WorldOrder, London 1993, p. 4.

24 Fuller, Graham E./Lesser, Ian O.: A Sense ofSiege, New York 1998, p. 2.

25 Sanjar, Ibrahim: Nofuz-e Amrika dar Iran: Barra-si-ye siyasat-e khariji-yeAmrika va ravabet-e ba Iran(Der amerikanische Einflußin Iran. Die Ziele der ameri-kanischen Außenpolitik unddie Beziehungen zu Iran),Teheran 1989, S. 33.

26 Vgl. Ahmad, Ali S.:Media Mongols at theGates of Baghdad, in: NewPerspectives Quarterly,(1993)3, p. 10.

27 Eaton, Roul M.: IslamicHistory as Global History,in: Adas, M. (ed.), Islamic &European Expansion. TheForging of a Global Order,Philadelphia 1993, p. 31.

28 Turner, Bryan S.:Politics and Culture...,a. a. O., p. 178.

29 Issawi, Charles: Cross-Cultural Encounters andConflicts, Oxford 1998,p. 15.

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Es kann hier nicht darum gehen, den Realitätsgehalt der ›Gegenglo-balisierung‹ zu bewerten, der sogar von vielen Muslimen bezweifeltwird. Für die geistliche Führung Irans manifestiert sie trotzdemeinen Teil der Staatsdoktrin, weil islamisches Sendungsbewußtseineine der Säulen bleibt, auf der die Islamische Republik Iran ruht.

Die hier vorgestellten Muster der dritten, oppositionellen und dervierten, staatstragenden Generation muslimischer ›Politiker‹ wurdenals besonders plastische Beispiele ausgewählt und nicht mit dem An-spruch der Vollständigkeit. Dafür existieren zu viele Sonder-, Zwi-schen- und Mischformen; man denke nur an die Staatsführung inSudan oder das Taliban-Regime in Afghanistan.

TerrorismusDas afghanische Taliban-Regime verkörpert einen naheliegendenÜbergang zum Terrorismus. Nicht nur der Überschaubarkeit halbersollen aber die folgenden Beispiele an die bisher genannten anknüp-fen, denn es gilt festzuhalten, daß der Terrorismus wiederum nur ei-nen kleinen Teil, und dabei wiederum auch nur des gewaltbereitenIslamismus’, ausmacht.

Aus den Reihen der dritten, vornehmlich sunnitischen Generationentstanden viele Terrorgruppen als Abspaltungen von der Muslim-bruderschaft. Zu den namhaftesten ägyptischen extremistischenSplittergruppen zählen die jama’a islamiyya (islamische Gemein-schaft) und der jihad al-islami (islamischer Heiliger Krieg). Beibeiden Organisationen ersetzen Aktionismus und die Bereitschaftzur Anwendung terroristischer Mittel bei der Überwindung der ›un-haltbaren unislamischen Zustände‹ die Programmatik.

Vielen ihrer Mitglieder und Sympathisanten kann möglicherweisenicht abgesprochen werden, aus einer – wenn auch nur bruchstück-haft geistig verarbeiteten – gleichwohl aber tiefen Religiosität her-aus zu handeln und nach den als richtig angesehenen Grundsätzen zuleben. Das schützte jedoch nie vor wachsender, profaner Kriminali-sierung. Ausgehend vom gelungenen Anschlag auf Präsident Sadat(1981), der ihnen unter ihresgleichen ein gewisses Renommee ver-schaffte, wiesen viele weitere Attentatsversuche des islamistischenUntergrundes deutliche Anzeichen von Querverbindungen zurRauschgift- und Devisenmafia Ägyptens auf, insbesondere im Be-reich der Waffen- und Sprengmittelbeschaffung aber auch bei derBereitstellung gefälschter Personaldokumente, von Fluchtfahrzeu-gen usw.

Für die jama’a islamiyya und den jihad al-islami stehen alle Mus-lime, die sich ihnen nicht anschließen, auf der gleichen Stufe wieUngläubige. Schneidend ist ihre Kritik an den anerkannten islamischenRechtsgelehrten als ›Marionetten des Regimes‹ und den »korrum-pierten staatlichen Moscheen, besonders der al-Azhar-Moschee«30.Auch ihren geistigen und organisatorischen Ahnen, den Muslim-brüdern, warfen sie Kapitulantentum und Verrat vor. Seit Mitte derachtziger Jahre kam es wiederholt zu gewalttätigen Auseinanderset-zungen zwischen Anhängern der Muslimbruderschaft und des jihadal-islami.

Drei herausragende Führer sollen hier genannt werden, um eineLinie aufzuzeigen: Abd as-Salam Faraj, den 1982 hingerichteten

30 Vgl. Gordon, John:Political Opposition inEgypt, in: Current History,Washington DC., (1990)2,p. 68.

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Hauptinitiator des Attentats auf Sadat, Umar Abd ar-Rahman, dersich wiederholt selbst als »Terroristen und Zeloten im NamenGottes«31 bezeichnete und der im Zusammenhang mit dem Anschlagauf das World Trade Center 1993 in den USA verhaftet und verur-teilt wurde, sowie Aiman az-Zawahiri, die rechte Hand und für vieleauch der Ideengeber Usama bin Ladens.

Bleibt ein letztes Wort zu den staatstragenden Islamisten in Tehe-ran. Trotz aller anders lautenden Rhetorik, stellten diese schon unterAjatollah Khomeini – und seitdem immer offensichtlicher – natio-nale vor islamische Interessen und agieren damit realpolitisch. Esexistiert eine – den Beobachter oft verwirrende – Arbeitsteilung zwi-schen Regierung und geistlicher Führung. Während erstere auf dastraditionelle, das heißt im wesentlichen friedliche Kompendiumaußenpolitischer Instrumente setzt, wurde letztere häufig terroristi-scher Aktivitäten verdächtigt, und zumindest in einem Fall, demMykonos-Prozeß, auch überführt.

FazitDie Untersuchung des Ordnungsverhältnisses Islam – Islamismus –Terrorismus blendet einen muslimischen Standpunkt aus, der sichfür eine, zumindest selektive, Aneignung von Elementen modernerWeltsicht und Ordnung ausspricht, die er als unverzichtbare Grund-lage für die gleichberechtigte Teilhabe an der Moderne, für Adaptionin der Globalisierung ansieht.32 Auch wenn er hier nicht Gegenstandist, sollte er doch Erwähnung finden. Diese als ›islamisch-säkular‹oder ›modernistisch‹ zu beschreibende Position betont, daß der Is-lam keine statische Sicht auf die materielle Welt verlange, sondernVernunftentscheidungen herausfordere. Ihre Anhänger streben eineErneuerung der religiösen Konzepte an, um sie in der Globalisierungvital zu erhalten. Sie propagieren einen Islam, der seinen AnhängernWillensfreiheit zugesteht und sie in die Lage versetzt, die moderneWelt zu interpretieren und in ihr einen Platz zu finden. Hierzugehören auch die Ansichten des syrischen Historikers George Tara-bischi, der daran erinnerte, daß das ›goldene Zeitalter‹ des Islamgleichzeitig auch eine Zeit kultureller Offenheit und des intensivenKulturaustauschs zwischen den Zivilisationen gewesen sei.33

Der traditionsreiche und vielgestaltige Islam ist neben Lebens-weise, Kultur und Wertesystem in erster Linie Religion. Der mit Ver-weisen auf den und unter Verwendung von Versatzstücken des Islamagierende Islamismus verkörpert dagegen primär eine Ideologie undpolitische Bewegung, die sich sowohl politischer als auch gewalt-samer Mittel und Methoden bedient. Islamistischer Terrorismusstellt lediglich die extremste Zuspitzung innerhalb seiner gewaltbe-reiten Strömung dar. Verbale ›Kriegserklärungen‹ gegen den Westenergingen aus verschiedenen Lagern des Islamismus, aber nur dessenterroristischer Zweig überschritt den Rubikon und erklärte damitnicht nur dem Westen, sondern auch eigenen friedlichen Glaubens-brüdern, letztlich der gesamten zivilisierten Menschheit den Krieg.Ergo herrscht auch nach dem 11. September 2001 kein Krieg zwi-schen dem Islam und dem Westen, sondern zwischen Zivilisationund Terror.

31 Al-Watan, Kuwait, vom23. Februar 1989.

32 Vgl. Krämer, Gudrun:Politischer Islam, Kurs-einheit 1, Hagen 1994,S. 32.

33 Vgl. Heller, Erdmute/Mosbahi, Hushang (Hg.):Islam, Demokratie,Moderne: Aktuelle Ant-worten arabischer Denker,München 1998, S. 19.

FÜRTIG Islamismus 29

Subsistenz und Kooperation sind keine GegensätzeIn UTOPIE kreativ 133 hat Hans-Jürgen Krysmanski die Frage nachder »Assoziation freier Produzenten durch Computer und Netz-werke« aufgeworfen und in diesem Zusammenhang zugleich dieironische Bemerkung von Wolfgang Neuhaus über »einige Informati-ker« zitiert, »die eben schon wegen ihrer Profession im Zentrum derModernisierung des Kapitalismus arbeiten«: Sie »kommen, wenn sieden Arbeitstag in einem gut bezahlten normalen Job in ihrer Firmaverbracht haben, nach Hause, setzen sich wieder vor den Computer,programmieren freie Software wie andere ihre Hobbies pflegen undverkaufen das als (illusionäre) revolutionäre Tat« (Neuhaus, Wolf-gang: Lizenz zum Kommunismus? Telepolis [http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/konf/7584/html]).

In der Tat stellt sich die Frage nach dem Verwertungszusammen-hang freier Software. Stimmt es, daß damit letztlich sogar Gratis-produktion für Unternehmen betrieben wird, die sich Entwicklungs-kosten ersparen? Ist der ganze ›Hype‹ um freie Software nicht eineeinzige große Selbsttäuschung, der in der Realität nichts anderes istals Selbstausbeutung, die als Selbstentfaltung getarnt wird? Waskann man denn schon mit freier Software anfangen als wiederumComputer zu betreiben? Wessen Lebenslage soll sich eigentlich da-durch ändern, was soll dadurch bewegt werden, daß es einige Infor-mationsmonopolrentiers weniger gibt?

Vielleicht läßt sich diese Frage in einem positiven Sinn dadurchbeantworten, daß wir uns daran erinnern, daß es verschiedene Bewe-gungen gibt, die sich in verschiedenen Richtungen und in verschiede-nen Geschwindigkeiten vom mainstream der kapitalistisch formiertenund staatlich verwalteten Welt abzusetzen versuchen. Erst im Zu-sammendenken und im realen Zusammenbringen dieser Absetz-bewegungen, die einander noch sehr fremd sein mögen, kann soetwas wie eine reale Alternative und eine vernünftigere Form derVergesellschaftung entstehen. Dabei sehen wir uns unversehenszurückgeworfen auf fundamentale Fragen der Arbeiterbewegung,auf Spaltungen, die älter sind als Computer und World Wide Web.

Grob gesprochen und sehr idealtypisch vereinfacht sind dies aufder einen Seite diejenigen, die die emanzipatorischen Potentiale derVergesellschaftung hochhalten. Auf der anderen Seite stehen ihnenjene gegenüber, die auf das Erreichen von Autonomie durch Eigen-arbeit und Subsistenz setzen. Mein Ziel ist zu zeigen, daß sich dasErreichen realer Autonomie und die Herstellung einer vernünftigen

Franz Nahrada – Jg. 1954;Soziologe, beschäftigte sichnach dem Studium als Entwicklerbetreuer für Apples HyperCard mitneuen Medien und derenpraktischer Anwendung, betreibt seit 1992 »GIVE –das Labor für globale Dörfer«,ein autonomes Forschungs-projekt; derzeit befaßt ersich mit mehreren prakti-schen Pilotversuchen zu»dezentraler Urbanität« (Electronic Cafés, digitaleKlöster, Mediatheken) undarbeitet an einer virtuellenBibliothek (»Inventar derglobalen Dörfer«, www.globalvillage.at); wichtigeVeröffentlichungen: »Woh-nen und Arbeiten im GlobalVillage« (Wien 1994), »Netzwerke« (Wien 2000).Der nebenstehende Artikelentstand im Kontext derökonux-Konferenz undwurde für UTOPIE kreativüberarbeitet.Foto: privat

30 UTOPIE kreativ, H. 135 (Januar 2002), S. 30-44

FRANZ NAHRADA

Globale Dörferund Freie Software

Form der Vergesellschaftung gegenseitig bedingen – das eine kannohne das andere nicht sein. Erstmals sind die Bedingungen der einenauch unmittelbar die Bedingungen der anderen.

Die Rede von ›globalen Dörfern‹ ist ein Versuch, die Synthese vonVernetzung und Selbstbestimmung konkret zu denken. Eine Neube-stimmung von Vergesellschaftung und Autonomie erfordert zunächstdie Wahrung einer historischer Perspektive. Die durchaus nicht trivialeEinsicht, daß eine Erhöhung des Vergesellschaftungsgrades mensch-licher Arbeit keineswegs zwangsläufig eine Erhöhung menschlicherHandlungsmöglichkeiten mit sich bringt, steht dabei am Anfang.

In einer eingeschränkten historischen Perspektive, die die letzten300 Jahre umfaßt, könnte man sagen, daß wir am Ende einer kolos-salen Vergesellschaftungswelle stehen und daß wir aufgrund derResultate dieser Vergesellschaftungswelle ein neues Potential an Au-tonomie gewonnen haben. Alvin Toffler und Marshall McLuhanführen diese Entwicklung direkt auf die Technologie zurück, die eserlaubt, daß wir uns direkt – quasi in Selbstbedienung – der verkör-perten gesellschaftlichen Intelligenz bemächtigen.

Die Geschichte der modernen Industrie ist die Dialektik von Zer-störung und Wiederherstellung des Eigenarbeitsraumes. Alvin Tofflerzeigt, wie die »Selbstbedienungsgesellschaft« notwendiges Konkur-renzmittel des Kapitals ist, Externalisierung von Produktionsarbeitund Verminderung der Fertigungstiefe als Fortsetzung der Rationali-sierung demselben Zweck dient: Senkung der Stückkosten, Erhö-hung des relativen Mehrwerts. Zugleich wird auch die Zirkulations-sphäre revolutioniert; an die Stelle der klassischen kommerziellenFunktionen und Dienstleister treten die Großmärkte, der Konsumentwird in die Produktlogistik einbezogen, als Besteller, Abholer,Assemblierer.

Dabei treten sehr eigenartige Phänomene auf: Eigenarbeit wird ge-fördert, Autonomie wird verhindert. Kompatibilität von Produktenuntereinander ist nicht das Thema: Die Eigenarbeit ist eine subtileVariante der Abhängigkeit, der realen Zeitenteignung. Auf der einenSeite wird professionelle Eigenarbeit abgebaut – ›wozu nähen, wennes billige Klamotten gibt?‹ – auf der anderen Seite wird sie als blindesBefolgen ›benutzerfreundlicher‹ Gebrauchsanweisungen massenhafterzwungen: ein »Wechselspiel von Amputation und Prothesen-verkauf« (Ulrich Sigor).

Je mehr die reale Möglichkeit der Substitution industrieller Pro-duktion durch dezentrale Automation den Waren immanent ist, umso mehr muß diese Möglichkeit der Autonomisierung von Arbeit ver-hindert werden – arbeitslos darf schließlich jeder werden, aber nichtdas Kapital! Also wird auf der Ebene der Produkte, aber auch auf derEbene der Vergesellschaftungsmöglichkeit vorgebaut. Wissenschaftund ihre Resultate werden privatisiert, Kultur wird ›geistiges Eigen-tum‹. Diese Phänomene sind allgemein bekannt, weniger allerdingsihr generalpräventiver Charakter: Einer »Assoziation der unmittel-baren Produzenten« einen um so deutlicheren Riegel vorzuschieben,je mehr diese tatsächlich über die gesellschaftlichen Potenzen derProduktion verfügen.

Die Strategen des Produktdesigns und Marketings scheinen zuwissen, daß aufgrund der informationstechnologischen Vernetzung

Toffler hat für die Ver-wischung der Grenzenzwischen Produktion undKonsumtion den Ausdruckdes »Prosuming« gebraucht.Die industriell produziertenAutomaten ermöglicheneine Steigerung der Eigen-tätigkeit im kleinen. Die Bei-spiele sind Legion: Von derNähmaschine bis zur Stich-säge sind die Produkte derSelbstbedienungsgesell-schaft Teil unseres Alltagsgeworden und ermöglichenuns Tätigkeiten, die frühernur durch Spezialisten erle-digt werden konnten. DerPersonal Computer ist derbislang spektakulärste Falldieser ›industriellen Basisder Eigenarbeit‹ und damitauch zum Paradefall sowohlder Entwicklung als auchder Zerstörung von Eigenar-beitsraum geworden.

»Die ›häusliche‹ Technik-ausstattung hat beinaheeinen Sanktionscharakter.Je weniger begütert, destoweniger funktional, völligungeachtet der eigentlichenKosten für die Dinge. Istjemand vermögend, tritt andie Stelle fehlender Funktio-nalität die Verschwendung«.Ulrich Sigor (»Die Ver-engung des Eigenarbeits-raumes«, unveröffentlichtesManuskript).

NAHRADA Freie Software 31

die Potentiale einer bewußten und organisierten Gestaltung der ge-sellschaftlichen Voraussetzungen im Sinne einer Erweiterung desEigenarbeitsraumes nicht nur gewaltig sind, sondern auch zum Sy-stemkonflikt und zur Aufhebung der derzeitigen Produktionsverhält-nisse führen können und müssen. Gerade die beliebte Trennung in›Vergesellschaftung ohne Autonomie‹ und ›Autonomie ohne Verge-sellschaftung‹ stellt dieses systemsprengende Potential ruhig.

Konservativität einer technikfeindlichen SubsistenztheorieLange Zeit hatten die sogenannte Subsistenztheorie (ausgehend voneiner Gruppe Bielefelder Soziologinnen und Soziologen) und diedarauf aufbauenden praktischen Versuche einer Subsistenzbewegungfast ein Monopol auf die konsequente Kritik an der herrschendenForm der Vergesellschaftung, an Ware und Geld. Es wurde auf Tat-sachen verwiesen, die im offiziellen Bewußtsein der Gesellschaftlängst ausgeblendet waren. So zum Beispiel, daß unser Leben an einerKette von gewaltsam hergestellten Ausbeutungs- und Ausgrenzungs-verhältnissen hängt, die »nach unten zu« immer prekärer werden;daß die Formen des Geldes und der Ware weniger dem idyllischenTausch gleichberechtigter Partner entsprechen, sondern ganz imGegenteil wesentlich Mittel der Herstellung und Verfestigung vonAbhängigkeitsverhältnissen (›Schuldknechtschaft‹) sind; daß hinterder Fassade des Konsums und der Dienstleistung eine systematischeExternalisierungskette steht, die in Naturzerstörung und Marginali-sierung mündet.

Den Modernisierungsideologien wird ein praktisches Gegenbildvon Widerstand und Eigenmacht entgegengesetzt, in dem die be-wußte Entscheidung für kleinräumige, auf unmittelbarer Produktionder Lebensvoraussetzungen basierende Selbstversorgungsstrukturengefordert wird. Wer sich nicht abhängig machen läßt, der ist auchweniger erpreßbar, so die Logik.

Doch die Kritik der Subsistenzbewegung an Ware und Technik istin sich widersprüchlich. An vielen Beispielen wird gezeigt, wie dieursprünglichen, ›moralischen Ökonomien‹ sich ganz freiwillig in dieAbhängigkeit von fremden Produkten und daher in die Akkumula-tionslogik von Kapital begeben haben. Ohne jede historische Dia-lektik wird den Produkten der großen Industrie der Gebrauchswert-charakter abgesprochen. Gegenüber dem kapitalistisch produzierten›Ramsch‹ wird eine Rückbesinnung auf die ›wirklichen Bedürf-nisse‹ eingefordert. Die gesamte Entwicklung der industriellen,nicht agrarischen oder nicht handwerklichen Technologie erscheintals Destruktionskraft.

Weil sie an eine untergegangene Produktionsweise appelliert unddie realen Fortschritte in bezug auf Wohlstand und menschlicheHandlungsmöglichkeiten leugnet, bleibt die Kritik der Subsistenz-theorie der industriellen Realität gegenüber theoretisch und prak-tisch ohnmächtig. Daher können umgekehrt die skandalösen undenormen Wohlstandsverluste, die das Prokrustesbett betriebswirt-schaftlicher Rentabilität dem menschlichen Fortschrittspotential inden letzten Jahrzehnten auferlegt hat, auch gar nicht für sich zumGegenstand werden – wer Personal Computer und Tarnkappenbom-ber für so ziemlich das Gleiche hält, kann gar nicht erfassen, welcher

32 NAHRADA Freie Software

Gegensatz zwischen den Vernetzungspotentialen autonomer Arbeitund den Schikanen der ruinösen Bewirtschaftung einer an sich un-endlich reichen Gesellschaft besteht und wie die Untauglichkeit desKapitalismus für ›High Technology‹ uns seit den siebziger Jahreneinen schleichenden Verfall von Infrastruktur und Lebensqualitätgebracht hat, der sich zum Beispiel im Auseinanderdriften der Indi-katoren für das Bruttoinlandsprodukt und die Lebensqualität (ISEW– Index of Sustainability and Economic Welfare) zeigt.

Die Vermutung liegt nahe, daß die Subsistenztheorie gar keineKritik an den Formen kapitalistischer Vergesellschaftung enthält,sondern die Argumentation lediglich zur Camouflage einer imGrunde moralischen Unterscheidung zwischen ›gut‹ und ›böse‹dient.

Und richtig: Die ›gute Frau‹ und der ›böse Mann‹ bilden den Kerneiner Theorie, für die ökonomische Kategorien nur als scheinbareBegründung dienen. So wird Geld in Frauenhänden unversehensvom Ausbeutungsmittel zum Gegenstand sozialer Vor- und Einsicht(so beispielsweise in einem Buch über die Frauen von Juchitan; dort»wirtschaftet« die Händlerin »nicht, um zu akkumulieren und anderefür sich lohnarbeiten zu lassen, sondern um den Unterhalt zu garan-tieren und vor allem, um Ansehen innerhalb der Gemeinschaft, ins-besondere der Frauengesellschaft, zu erwerben«). In der Tat wird dieGeschlechterdifferenz für die absurden Konsequenzen der ökonomi-schen Form verantwortlich gemacht und nicht umgekehrt gezeigt,wie über die ökonomische Form die Geschlechterspaltung herbeige-führt wird.

Für eine neue – globale – SubsistenztheorieAus diesen wenigen Bemerkungen (die eher auf eine fällige Ausein-andersetzung verweisen, statt sie selbst zu führen) sollte klar gewor-den sein, daß es um nicht weniger als die Rettung der Perspektiveder Eigenarbeit vor ihren Theoretikern geht. Die Perspektive, die ichder landläufigen Subsistenztheorie gegenüberstellen will, sollte viel-leicht besser als ›globale Subsistenz‹ bezeichnet werden. In ihr wirdganz bewußt das gesamte kulturelle Potential an Handlungsmög-lichkeiten aufgenommen, um in intensiver Auseinandersetzung miteinem realen lokalen Handlungsfeld Autonomie (Eigenmacht) zu er-langen. Anders hat es übrigens niemals in der Geschichte so etwaswie Subsistenz gegeben: Schon der Übergang von nomadischen zuagrarischen Gesellschaften ist ein Werk von weitläufiger Vergesell-schaftung, Wissenstransfers, Austauschprozessen, Schutznetzwerkenetc. Um wieviel mehr bieten uns die durch die kapitalistische Pro-duktion gestiegenen Potentiale menschlicher Wissenschaft und Pro-duktion eine Perspektive des realen Ausbaus von Eigenmacht? Undwie sehr ist die isolierende Vorstellung von Subsistenz selbst nochZeichen theoretischer und praktischer Hilflosigkeit!

Die globale Marktwirtschaft stellt auf der einen Seite einen uni-versellen Reproduktionszusammenhang her und zerstört alle lokalen,beschränkten Austauschverhältnisse durch den Hebel der Konkur-renz. Auf der anderen Seite schließt sie einen dramatisch zunehmendenTeil der Menschheit von ihren Lebensmitteln aus, da die Verfügungdarüber an den Erwerb von Geld gebunden ist. »Der absurde Sy-

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stemwiderspruch, daß mit immer weniger ›Arbeit‹ immer mehr Gü-ter hergestellt werden, gleichzeitig aber die Aneignung dieser Güteran Kaufkraft (Geld) und somit an die ›rentable‹ Verausgabungs-fähigkeit von ›Arbeit‹ gebunden ist, tritt in sein historisches Reife-stadium ein« (Robert Kurz). Dieser Prozeß erzeugt »Geldsubjekteohne Geld«, die in den Metropolen als ständig steigende »Sockel-arbeitslosigkeit«, in den Peripherien als »demographische Zeitbombe«und als Statisten einer sekundären Barbarei in Erscheinung treten,und damit zum Ausdruck bringen, daß die Marktwirtschaft als glo-bale Reproduktionsform in gerade dem Moment ausgedient hat, alssie sich am »Ende der Geschichte« angekommen wähnte.

Der Ausstieg aus dieser Reproduktionsform ist freilich individuellkaum möglich. Heute kommt es in den Metropolen der ›DrittenWelt‹ durchaus vor, daß Marginalisierte wieder auf das Land zurück-gehen wollen, das sie einst gezwungenermaßen oder freiwillig ver-lassen hatten. Allein, sie stehen vor der Situation, daß dieses Landihnen nicht mehr gehört. Es ist inzwischen Privatbesitz. Ihr Versuchder Wiedergewinnung von Subsistenz endet so hoffnungslos wie dieRevolte der Campesinos von Chiapas. Alles produktive und ertrag-reiche Land ist längst dem Zweck zugeführt, monetären Ertrag vomWeltmarkt einzufahren – und wenn es durch die schiere Masse derProduktion ist.

Jeder ›lokale Kommunismus‹ scheitert am Anspruch der organi-sierten Macht des Geldes, jedweden stofflichen Reichtum als Mittelfür die Vermehrung von Kapital zu betrachten. Sich diesem Zweckzu entziehen, ist schon eine komplette Kriegserklärung an geltendePrinzipien und wird dementsprechend geahndet. Immerhin ist derHandel und die industrielle Produktion als subtiles Mittel der Plün-derung in die Welt gekommen. Dem ›friedlichen‹ Produktivitätsver-gleich ausgeliefert zu werden, ist dasselbe wie die Unmöglichkeit, inFrieden zu leben.

Darüber hinaus werden das Grundwasser, die Atmosphäre, dieErde selbst vom Externalisierungszwang der Gewinnerinseln der-artig in Mitleidenschaft gezogen, daß die peripheren Regionen zu-nehmend den Status von Mülldeponien erhalten, damit die Natur inden Zentren relativ gebrauchsfähig bleibt. Auch dies kein besondersguter Boden für Subsistenz. Damit jedoch nicht genug, die Markt-wirtschaft in ihrer Wandlung zum neofeudalen Informationsbezol-lungsunternehmen ist mittlerweile verrückt genug geworden, lebendigeProzesse und genetische Muster zu patentieren, was tendenziellheißt, den nicht zahlungsfähigen Gebrauch der Natur einfach zu ver-bieten.

Waren schon die sogenannten ›primitiven‹ Subsistenzgesellschaftennur lebensfähig, weil sie keineswegs nur lokal definiert, sondern in einweitläufiges Netz von bestandssichernden Austausch- und Schutz-beziehungen eingebunden waren, so gilt dies noch mehr in einer Zeit,in der nicht nur der marktförmige Zugriff der wenigen verbleibendenSieger, sondern auch die Plünderungsökonomien der von Robert Kurzals »sekundäre Barbarei« bezeichneten Zusammenbruchsformen derVerlierer jede Perspektive auf gesicherte Entwicklung unmöglich ma-chen. Einzig als gezielte Ausbreitung von Subsistenzformen innerhalbdes Weltsystems scheint eine Lösung denkbar.

Der Journalist Greg Palastschreibt im Londoner Ob-server vom 15. Oktober2001 anläßlich eines Inter-views mit dem ehemaligenWeltbankökonomen JosephStiglitz: »Durch die TRIPS-Abkommen über (handels-bezogene) geistige Eigen-tumsrechte hat die neueWeltordnung Menschenzum Tod verurteilt, indemsie unmögliche Tarife undTribute an die pharma-zeutische Industrie fürgeschützte Produkte ver-langt. ›Sie kümmern sichnicht‹, sagt der Professorüber die Unternehmen undBanken mit denen er ge-arbeitet hat, ›ob die Men-schen leben oder sterben‹«(http://www.GregPalast.com).

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Eine solche Ausbreitungsdynamik könnte durch eine Vernetzungzwischen der Entstehung von Subsistenzformen und dem freien zurVerfügungstellen von aufgehäuftem Subsistenzwissen und entspre-chenden Technologien entstehen. Denn dann bleiben Solidarität undWiderständigkeit keine abstrakten Begriffe. Wenn jedes ›globaleDorf‹ ein Experimentallabor für die Verbesserung des Wirkungs-grades von Eigenarbeit und damit letztlich für die Abkopplungs-fähigkeit von der marktförmigen Reproduktion wird, dann ist aktiveEntwicklungshilfe bei der Entstehung ›globaler Dörfer‹ ein Gebotder Stunde.

Eine solche Allianz der ›globalen Dörfer‹ hätte also ein gemein-sames Projekt. Man kann sich das bildlich so vorstellen: buddhisti-sche und katholische Klöster, israelische Kibbuzim, schottische undamerikanische ecovillages, gemeinschaftliche Wohnprojekte inZürich und Wien, traditionelle Dörfer in Kamerun und Nepal undGriechenland, Bauhütten und experimentelle Projekte wie Arcosanti,New Alchemy, New Work, Akteursverbünde in Stadtvierteln, länd-liche Gemeinden, Genossenschaften, Stadtteilprojekte usw. usf. er-kennen, daß sie ein Problem haben – eine gemeinsame Wissensbasisder Nutzung und nachhaltigen Gestaltung lokaler Ressourcen zu er-stellen, zu pflegen, zu erweitern.

Sie würden sehr rasch draufkommen, daß es nicht mehr um dieAusbreitung einer bestimmten Ideologie oder Religion geht, sondernum die Herstellung eines Referenzrahmens für die Sammlung kultu-reller und materieller Technologien selbstbestimmten Lebens. Daswäre das größte Open Source Projekt der Geschichte – und alssolches in der Lage, dem kapitalistischen Projekt der Entwicklungproprietärer Kontrolle der Produktivkräfte ein ebenbürtiges Projektgegenüberzustellen.

Telearbeit als Arbeit am TelosIn gewisser Weise wäre dieses Projekt, das die globalen Dörfer ver-bindet, identisch mit der Vollendung des Projektes der Arbeit.

Die kapitalistische Formierung der Arbeit hat quasi nebenbei einwesentliches Element der Bedingungen eines wahrhaft menschli-chen Lebens geliefert – nämlich die Verwissenschaftlichung der Pro-duktion. Wenn man wie Ulrich Sigor ›Arbeit‹ als menschliche Tätig-keit definiert, die ihre eigene Verringerung zum Ziel hat, dann läßt sichauf den ersten Blick erkennen, daß die kapitalistische Produktionsich von diesem Sinn- und Zielgehalt immer weiter entfernt. Auchder berühmte ›Arbeitsethos‹ hat dann nichts mit einer rationellenAuffassung von Arbeit zu tun. Sachgemäß hieße es: Der Mensch kannZeit und physische Freiheit gewinnen durch Nutzung von ›Struktur‹oder ›Natur‹, indem er geschickt Gestelle konstruiert, beziehungs-weise Handlung vorbereitet. Der Begriff der Arbeit erschöpft sichalso nicht in der physischen Tätigkeit oder der »Verausgabung vonNerven, Hirn und Muskeln«, wie dies bei Marx als Real-Absurditätder Verengung des Begriffs produktiver Arbeit unter kapitalistischenBedingungen heißt, sondern Arbeit ist die organisierte Aneignungvon Natur in Hinsicht auf ein Jenseits, auf eine arbeits-freie Zeit.

Die Automation ist sozusagen die Wahrheit dieses Begriffes vonArbeit. Die Handlungsvorbereitungen entscheiden in immer größe-

Die Fragen, ob Karl Marxim Kapital eine »Arbeits-ontologie« geschaffen hatund ob nicht die Scheidungder Arbeit vom Kreismenschlicher Tätigkeitenschon den »Sündenfall desWertes« anzeige, möchteich verneinen. Einerseitswar es nicht Marx' primäresInteresse, eine »ewigeNaturnotwendigkeit« zukonstatieren, vielmehr sinddie historischen Formenderselben viel interessanterals ihre dürren abstraktenBestimmungen. Anderer-seits ist Arbeit struktur-analog mit prognostischerIntelligenz: zu wissen, daßgeringe Mühe zur richtigenZeit größere Mühe zurfalschen Zeit spart. Diekapitalistische ›Abstraktheit‹der Arbeit ist Folge einerTrennung der Mühe von derprognostischen Intelligenz.

Natürlich macht der Begriffder Arbeit als eine vonanderen unterschiedenemenschliche Tätigkeit nurSinn, wenn auf eine arbeits-freie Zeit abgestellt wird.Gerade diese arbeitsfreieZeit, die erlangte Fähigkeit,die Notwendigkeiten derLebenserhaltung hinter sichzu lassen und die Sphäreder Reflexion und Entschei-dung zu betreten, ist einMaß nicht nur der Qualitätdes Lebens, sondern vorallem auch der Qualitätder Arbeit.

NAHRADA Freie Software 35

rem Ausmaß über die Qualität der Arbeit. Der eigentliche Produk-tionsakt ist nicht mehr das zeitliche Zentrum des Arbeitsprozesses.Er wird verdichtet oder vervielfacht und rückt an die Peripherie. Erbedarf oft nicht einmal mehr des Arbeiters, sondern kann das Resul-tat der Kommunikation des automatisierten Produktionssystems mitdem Konsumenten sein, der die zur Produktion benötigten Parametereingibt. Dies ist der abstrakte Grund, warum die Differenz zwischenArbeiter und Konsumenten verschwimmt.

Informatisierung und Automation sind eigentlich handlungstheo-retische Universalia und weisen im Unterschied zur landläufigenMeinung gerade über die industrielle Epoche hinaus beziehungs-weise lange vor sie zurück. Einerseits ist Automatisierung ein uraltesPhänomen, wie Marx im ›Maschinenkapitel‹ des Kapital beschreibt.Andererseits wird durch die Verbindung des Mediums der Informa-tion mit dem Medium der Aktion ein Quantensprung herbeigeführt:Allgemeine Arbeit verbindet sich unmittelbar mit besonderer. DasErstellen eines Programmes, eines Algorithmus und die Ausführungdieses Algorithmus sind nicht bloß metaphorisch im Medium derElektrizität verbunden.

Ganz klar vorausgeahnt hat die Konsequenzen dieser VerbindungMarshall McLuhan. Er beschrieb die Automatisierung als Antitheseder Industrialisierung: Während das industrielle (»mechanische«)Zeitalter eine »große Explosion« mit sich gebracht habe, eine Spe-zialisierung der Funktionen, ein Auseinanderfallen der Lebensbereiche,der Berufe, der sozialen Funktionen, der menschlichen Tätigkeits-bereiche, so wäre das (»elektrische«) Zeitalter der Automatisierungein Zeitalter der »großen Implosion«.

Lernen – der Umgang mit Information – wird bei McLuhan zurpotentiell wichtigsten Form von produktiver Konsumtion: »Daherdie sinnlose Aufregung um Arbeitslosigkeit. Bezahltes Lernen wirdjetzt schon zur Hauptbeschäftigung und außerdem zur Quelle neuenReichtums in unserer Gesellschaft« (McLuhan).

Das liest sich heutzutage schon wie ein Aufruf zur Revolution!Eine sehr subversive Wahrheit, der aus den Buchhaltungen entge-gengeblökt wird: ›Können wir nicht bezahlen!‹. Die naheliegendeKonsequenz wäre, die Buchhaltungen abzuschaffen, die das realeReichtums- und Fortschrittspotential der Menschheit blockieren, zu-sammen mit den Marketingabteilungen, die es pervertieren. Ratio-nell gesehen müßte nämlich der Umgang mit Information genauumgekehrt laufen als er heute läuft: nicht kasuistische ›Problem-lösung‹, sondern prognostische ›Problemvermeidung‹ müßte dieMaxime sein.

Informatisierung und Automation bedingen sich wechselseitig; dieFolgerung aus dieser Einsicht ist freilich für heutige Verhältnisseungeheuerlich. In einem Aufsatz in freedevelopers.net schreibt TonyStanko, daß die Frage des intellektuellen Eigentums darauf zuge-spitzt werden kann, ob Software eher so etwas wie Literatur – alsoein subjektives geistiges Produkt – oder so etwas wie ein Gesetzes-text – also etwas von allgemeiner Gültigkeit – ist. Wenn klar ist, daßSoftware im wesentlichen Modellierung von Arbeitsvorgängen ist,dann kann die Forderung nur lauten, Softwareproduktion als bestim-mendes Moment der materiellen Wirklichkeit ernst zu nehmen und

»In terms of the way inwhich the machine alteredour relations to one anotherand to ourselves, it mat-tered not in the leastwhether it turned out corn-flakes or Cadillacs. Therestructuring of human workand association was shapedby the technique of frag-mentation that is theessence of machine techno-logy. The essence of auto-mation technology is theopposite. It is integral anddecentralist in depth, just asthe machine was fragmen-tary, centralist and super-ficial in its patterning ofhuman relationships.«Marshall McLuhan: Under-standing Media – TheExtensions of Man, NewYork 1994, p. 23.

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sie als Grundlage menschlicher Handlungsfreiheit – als quasi Geset-zestext – zu begreifen und zu behandeln.

Dann wäre freilich an die Softwareentwicklung ein doppelter ethi-scher Anspruch zu stellen: Axiomatik von Standards verbunden mitmodularen Verfahren wären zu fördern, so daß Individualität derAufgabenlösungen und Allgemeinheit der Voraussetzungen in größt-möglicher Weise und gleichzeitig erreicht werden können.

Informatisierung und Automation enthalten in sich den Gegensatzvon ›Urbild‹ und ›Kopie‹. Während die Automatisierung letztlichdie Umsetzung des Modells in ein Verfahren ist, zielt die Arbeit derInformationsgewinnung auf die Optimierung und auf die Abstim-mung der Verfahren. Ob sie es will oder nicht, menschliche Arbeitverwandelt sich sukzessive in die Setzung und Bewertung vonZwecken. So wird die Arbeit, die sich vom Verfahren räumlich ent-fernt, auch in einem anderen Sinn zur ›Tele-Arbeit‹: Sie konstruiertund simuliert das Telos der Produktion. In ihrer Abstraktion liegtauch ein moralisches Element, eine präskriptive Struktur, die dasVerhalten anderer Menschen beeinflußt. Dies war in der alten Tren-nung von Hand- und Kopfarbeit schon angelegt, wird aber nun ver-allgemeinert.

In gewisser Weise ähnelt das Modelldenken der Sprachlichkeit;der adäquate Umgang mit den Errungenschaften der Informations-technologie wäre auch, sie als komplexe Repräsentationstechnikenvon Realität aufzufassen, wie Sprache. Sprache ist Kultur, gemeinsa-mes Erbe und gemeinsame Handlungsvoraussetzung von Menschen.

Die Forderung, gesellschaftlich relevante und das heißt im weite-sten Sinn allgemeine oder verallgemeinerbare Information frei vonprivatisierender Einschränkung zu halten, ist daher nur eine Seite derMedaille; die andere ist, in kulturellen Gemeinschaften Informationunter dem Gesichtspunkt ihrer Bedeutung als ›Repository‹ zu sam-meln, zu kondensieren, zu kommentieren, zu evaluieren und zu ko-difizieren.

Eine neue Verbindung von Theorie und Praxis täte not, wo ge-meinsam ›experimentiert‹ wird. Hier liegt ein Einbruchsfeld in die›offizielle‹ Gesellschaft: es gilt, ihr Experimentalorte und Felder ab-zuringen. Nur so werden die Institutionen Wissenschaft und Kunstletztlich überhaupt noch handlungsrelevant bleiben können. Ande-rerseits ist das riesige Revier an Universitäten, Klöstern, Bibliothe-ken, Archiven auch real und physisch ein Fall für die beschleunigteTransformation und somit für die Suche nach Ausgangspunkten ei-ner globalen Subsistenzbewegung.

In der heutigen Gesellschaft ist der Begriff des ›Nutzens‹ gleich-bedeutend mit dem situativen Vorteil. »Ordnung wird nicht um ihreslangfristigen Gesamtnutzens willen erstrebt, sondern individuell undregional als Mittel zum Zweck, der im Effekt diesem Gesamtnutzenauch entgegenlaufen kann« (Ulrich Sigor).

Ein Beispiel: Software gründlich zu dokumentieren und dafür einWerkzeug zu bauen, verkauft sich schlechter als kasuistische Schu-lungen mit ›Tips und Tricks‹. Mit reduziertem Einsatz läßt sich ausder Chance auf einen situativen Vorteil ein größerer ökonomischerHandlungsspielraum gewinnen als mit einer Arbeit, die vor allemdem Allgemeinnutzen dient. Letztere ist nicht mehr wettbewerbs-

Bei der MarxschenBestimmung der Arbeit – inAnlehnung an das Biene-Baumeister-Beispiel – wirddas innere Verhältnis vonEntwurf und Ausführungs-handeln nicht zum Gegen-stand der Reflexion. DasKapital trennt die Potenzender Hand- und Kopfarbeitbis zum feindlichen Gegen-satz, das bleibt nicht ohneAuswirkungen auf dieStruktur der Technologie.Pointiert gesagt: Eine ›so-zialistische‹ Kreissäge wirdsich mit Sicherheit von einer›kapitalistischen‹ Kreissägesinnlich-stofflich unterschei-den – denn an der Strukturder Technologie zeigt sichauch das Produktionsver-hältnis. Der Hinweis auf den›Gebrauchswert‹ oder die›Produktivkraft‹ ist pureökonomische Ideologie undmacht eine entscheidendeSchwäche der Kritik derpolitischen Ökonomie deut-lich. Wertkritik muß auchGebrauchswertkritik sein,und diese ist nicht mit Be-dürfniskritik zu verwechseln.Auf der kategorialen Ebenereflektiert die Bestimmungdes Gebrauchswerts dieDiktatur der Ware – ›dieÖkonomie läßt sich von derstofflichen Seite nicht ihreGesetze vorschreiben‹, aberjeder Beipackzettel einesMedikamentes erinnert unsdaran, daß die Stoffseiteder permanenten Reflexionbedürfte, die unter kapitali-stischen Bedingungen aberein ziemlich armseliges undfolgenloses Dasein führt.

NAHRADA Freie Software 37

fähig und wird verdrängt. Die Grundtendenz der Wirtschaft, mut-willig und ›fahrlässig‹ Widrigkeiten zu schaffen, um diese dann op-portunistisch auszunutzen, ist eben alltäglich geworden und sorgt füreine ›negative Auslese‹. Es obsiegen diejenigen, die mit dem ge-ringsten Einsatz von Arbeit in der größten Geschwindigkeit mit frag-mentarischen Mitteln zur Lösung von Scheinproblemen auftreten.Am allerbesten funktioniert dies beim Rückgriff auf Information, diezurückgehalten wurde, um schließlich als eigenständiges ›Produkt‹verkauft zu werden.

Aus einer Gesellschaft von zumindest formal freien Subjekten, dieüber Sachzwänge zur Zusammenarbeit gepreßt werden – wobei sichder Nutzen auf der einen Seite und die prekäre Reproduktion der Ar-beitskraft auf der anderen Seite reproduziert –, wird eine Gesell-schaft, deren ökonomische conditio sine qua non die Ruinierung derabhängigen Produzenten und ihre laufend steigende Verschuldungist. In langer Sicht wird wohl solche Abhängigkeit kaum geschaffen,um in einem ›Jubeljahr‹ die Schulden zu entsorgen. Statt dessen istder Sinn der Sache die erweiterte Dienstbarkeit. Vom Kapitalismusbewegen wir uns nicht vorwärts, sondern rückwärts in die Ge-schichte: Willkommen im Informationsfeudalismus!

Wirtschaft bewegt sich heute in der Logik des ›outsorcing‹, dasheißt Zugriff auf und Verkoppelung von externen Leistungen statt ei-gener Produktion. Die Automobilbranche ist da nur ein Beispiel vonvielen. Die gesamte Logistik der Netzwerke hat in diesem Wettbe-werb um die Entkopplung von Kapital und Arbeit ihren abstraktenGrund!

Wenn wir heute die reale Möglichkeit einer Selbstorganisation ge-sellschaftlicher Arbeit diskutieren, dann deswegen, weil die Markt-sphäre der kapitalistischen Wirtschaft sich zunehmend von der Pro-duktionssphäre trennt und die gesellschaftlichen Produzenten dasfrüher despotisch als Organisator der fabrikmäßigen Produktion auf-tretende Kapital gar nicht mehr benötigen, um vergesellschaftet zusein. Um die mehr als prekäre Situation der bezollten Arbeit aufzu-heben, die sich noch ihr Produktionswissen lizensiert von Verknap-pern besorgen muß, bedarf es einer Transformation von einer Verge-sellschaftung ›an sich‹ zu einer Vergesellschaftung, die sich selbstreflektiert.

Auf der einen Seite zeigen Phänomene innerhalb der kapitalisti-schen Produktion selbst, daß der Kampf der Kapitale um die gesell-schaftliche Arbeit mit elementaren Notwendigkeiten der Produktionkonfligiert. Ein besonders possierliches Beispiel ist der Versuch vonFirmen, ihre Produkte zu Standards zu machen oder die immer häu-figer auftretenden Standardisierungsinstitutionen zu dominieren.Nichtsdestoweniger bedarf heute jedes Kapital der externen gesell-schaftlichen Potenzen, die es sich bei Strafe des Unterganges zunutzemachen muß – an die Seite seiner despotischen Natur tritt unver-hohlenes Werben um ›Partnerschaften‹ und ›Allianzen‹.

Zivilgesellschaftliche Selbstorganisation könnte hier versuchen,taktisch den Spieß umzudrehen. Denn erst die gemeinsame Pflegevon Standards macht den Übergang in Eigenarbeit sinnvoll möglich.Die Entgesellschaftung der ›Produktion‹ durch eigenes Tun verbin-det sich mit einer Vergesellschaftung der strategischen, politischen

Die Besetzung von Infor-mationen als abstraktenRechtsgrund, um Abhängig-keiten und Verkopplungs-punkte mit Kapitaleinsatzbetreten und bewirtschaftenzu dürfen; der Kampf umstrategische Punkte in derLandschaft, wo sich Wege-zölle erheben lassen (eine›Informationsrente‹), ist kei-neswegs eine ökonomischeForm unter anderen, wieRalf Krämer meint (»Zurpolitischen Ökonomie desInformationskapitalismus«[http://www.oekonux-konfe-renz.de/dokumentation/texte/kraemer.html]) Die»Lichtgeschwindigkeit derKontrollmöglichkeiten« führtdie erfolgreichen Kapitalehinüber in eine neue Gesell-schaftsformation, in der dieProduktion nichts, das Logoalles bedeutet!

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Aspekte. Eine Subsistenz, die sich der Systematik gesellschaftlicherArbeitsorganisation nicht versichert, wäre bestenfalls lächerlicheHandwerkelei – entweder ineffektiv gegenüber dem dominierendenwirtschaftlichen Betrieb, oder dessen Spielball.

Eine globale Subsistenz wäre eine, die sich ausdrücklich die ›Kul-tivierung‹ der Arbeit und deren Produkte zum Ziel setzt. Was lokalnicht bewältigt werden kann, erfordert globale Ebenen der Verstän-digung, ohne daß damit automatisch ein Vergesellschaften der Pro-duktion verbunden wäre.

Raum und Technologie – Bausteine für ›Globale Dörfer‹›Globale Dörfer‹ ist ein Name für die Idee, die Kultur der koopera-tiven geistigen Arbeit mit einer Subsistenzperspektive, mit einemUmsetzen der Potentiale globalen Wissens in eine sukzessive Sen-kung der Lebenshaltungskosten und mit der Wiederaneignung vontragfähigen Lebensgrundlagen jenseits des totalen Ausgeliefertseinsan Märkte zu verbinden. Diese Idee hat verschiedene Facetten, ver-schiedene Bestandteile. Fehlt einer dieser Bestandteile, ist das Konzeptkaum zu realisieren, dann trifft es auf unüberwindliche Schwierig-keiten. Doch paradoxerweise sind alle Bestandteile schon vorhanden,die Idee ›globaler Dörfer‹ ist eine reale Möglichkeit.

Zunächst geht es allerdings darum, den Unterschied zur herkömm-lichen Subsistenzbewegung klarzumachen. Von letzterer wird Subsi-stenz mit dem selbstversorgenden Leben in ländlichen Räumen iden-tifiziert. Städte waren aus dieser Sicht eigentlich parasitäre Gebilde,weil sie Ressourcen verbrauchen. Im Unterschied dazu steht dasKonzept der ›globalen Dörfer‹ nicht im Gegensatz zu verdichtetenurbanen Räumen, sondern lebt geradezu von der wechselseitigenBefruchtung von Stadt und Land.

In diesem Konzept sind Städte Netzwerkknoten, die uns zu ko-operativen und komplexen Produktionsvorgängen befähigen. ›GlobaleStädte‹ sind nicht zuletzt eine Folge der Informationstechnologien.Die Ballungslogik betrifft vor allem alle jene, die eine hochent-wickelte Infrastruktur für globales Management benötigen oder aberdiese bereitstellen – worunter auch diejenigen Dienstleister fallen,die ihren Kundenkreis primär im Hersteller- und Unternehmensbe-reich haben, zu denen sie räumliche Nähe unterhalten müssen. Ausdieser Logik fallen jedoch viele Tätigkeiten heraus, die sich entwe-der im Inneren von Organisationen oder von Firmen oder aber ›aus-gelagert‹ jenseits intensiver lokaler Kommunikation abspielen – wieDesign, Back Offices, Call Center etc.

Wie sich diese ›Auslagerung‹ aus dem städtischen Zentralraumpraktisch vollzogen hat, ist freilich eine Katastrophe. Die ökologi-sche Belastung durch den halbländlichen Siedlungsbrei der Vor-städte mit ihren freistehenden Häusern und Zwangsautomobilismussamt Dauerpendeln zu Arbeitsplatz und Einkaufszentrum ist nachBerechnungen von Ernest Callenbach bis zu 500 Prozent höher alsin verdichteten Stadträumen. Der Stau auf der Autobahn ist keinMerkmal von Lebensqualität, sondern allenfalls das Ergebnis einerAkkumulation absurder ›Sachzwänge‹, die aus der ökonomischenLogik betriebswirtschaftlicher Einheiten und der ihr immanentenExternaliserung von Problemen und Kosten entspringt. In dieser Art

Autoren wie Saskia Sassenund Manuel Castells habengegen die oft zu hörendeMutmaßung, Zusammen-ballungen würden mitfortschreitender globalerTelekommunikation hinfälligund einer größtmöglichenStreuung weichen, eineFülle von empirischenGegenbeweisen zusam-mengetragen. Ihre Theseist: Gerade weil die durchdie Telekommunikationermöglichte territorialeStreuung Fortschritte macht,kommt es zu riesigenAgglomerationen von zen-tralisierenden Tätigkeiten.Dies ist keine bloße Fort-schreibung der hergebrach-ten Ballungsstrukturen,sondern könnte als neueBallungslogik bezeichnetwerden (vgl. Castells,Manuel: The InformationalCity, London 1989); Ders.:The Networked Society,Oxford 1996; Sassen,Saskia: The Global City,Princeton 2000).

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Ökonomie müssen immer größere Teile des gesellschaftlichenReichtums zur Überwindung von Hindernissen aufgewandt werden,die die Gesellschaft durch unsystematische und kasuistische Tech-nologieentwicklung selbst aufgetürmt hat. Das äußert sich in einerhistorisch einmaligen aggressiven Form der Komplexitätsentwick-lung. Claus Offe spricht von der »Komplexitätsfalle«, in die das mo-derne soziale Leben geraten ist.

Evolutionäre Komplexitätsentwicklung durch Erweiterung der ge-sellschaftlichen Arbeitsteilung ist in den Städten fast unauflöslichamalgamiert mit dieser Form von destruktiver Komplexitätsent-wicklung durch betriebswirtschaftliche Irrationalität. Zwar werdengemeinhin die allzu störenden Faktoren an die Ränder des Welt-systems exportiert, von giftigen Produktionsvorgängen bis zur Res-sourcenknappheit, dennoch erweist sich das moderne Stadtsystemals tickende Zeitbombe, in der der permanente Verkehrsstau und dieleeren Kassen der Kommunen auf eine wenig rosige Zukunft hin-deuten.

Paolo Soleri, ein in den USA lebender italienischer Architekt, derschon früh den Kampf gegen die Vorstadtwüsten aufnahm, hat einesimple Theorie der Technologie und der Stadt aufgestellt. Jede Tech-nologieentwicklung ist mit einer Zunahme an Komplexität verbun-den. Biologische Evolution geht von einfachen zu komplizierterenLebenwesen. Die dabei auftretende Vergrößerung der Organismenist jedoch begrenzt und wird im Laufe der Evolution notwendiger-weise umgekehrt. Genauso verhält es sich mit der Evolution vonmenschlichen Lebensräumen. Auf Dauer werden sie nur funktio-nieren, wenn sie die Vermehrung der Komplexität durch Miniaturi-sierung kompensieren. Eine ›Stadt der kurzen Wege‹ ist ein dringen-des Erfordernis, nicht nur im Sinn unmittelbarer Lebensqualität,sondern auch wegen unseres ›ökologischen Fußabdrucks‹.

Die Informationstechnologie ermöglicht die teilweise Substitutionvon physischer Mobilität. Telearbeit, Telelernen, Telemedizin undandere Dienste stellen einerseits vermehrte Beweglichkeit, aber auchumgekehrt die Möglichkeit zunehmender Konzentration auf einenLebensraum als reale Möglichkeit zur Verfügung.

›Globale Dörfer‹ im engeren Sinne sind jene Siedlungsformen, andenen die Knotenpunkte der unendlichen Stadt mit den Lebensmög-lichkeiten der ländlichen Räume eine nachhaltige Symbiose eingehen.In diesem Sinn geht es weniger um die ›Neugründung von Dörfern‹,als um die Transformation von Stadtsystemen – beziehungsweisefällt beides eigentlich zusammen. Die Stadtsysteme transformierensich, indem sie die Bio-Logik des Mehrzellertums für sich ent-decken.

Die ›globalen Dörfer‹ – in diesem Sinn verstanden als bio-logischeStadterweiterung auf der Grundlage raumübergreifender Telematik –sind eine Synthese aus zwei Paradigmen: aus dem der Pflanze und ausdem Paradigma des Schmetterlings. Die ortsfeste Pflanze ist einegenügsame und höchst effiziente Hülle, in der aus dem Licht derSonne und aus den Mineralstoffen der Erde – aus lokalen Ressourcen– eine synthetische Struktur mit erstaunlichen Eigenschaften wird.Der Schmetterling befruchtet und belebt mit seinen Informationen dielokale Sphäre und trägt zu ihrer evolutionären Entfaltung bei.

»Mechanische, lineare, Uhr-werks-Logik erzeugt simpleSysteme. Wirklich komplexeSysteme wie eine Zelle, eineWiese, eine Wirtschaft oderein Gehirn, natürlich oderkünstlich, erfordern eineBio-Logik. Keine Logikaußer einer Bio-Logik kannein denkendes Gerät oderüberhaupt ein komplexeresSystem zusammensetzen.Es ist eine erstaunlicheEntdeckung, daß man dieBio-Logik aus dem Biosextrahieren kann und in eineandere Sphäre transpo-nieren kann. Erst mit Com-putern und komplexenmenschlichen Produktenwar das möglich. Es mutetunwirklich an, wieviele derEigenschaften des Lebenswir übertragen können.«Der ehemalige Wired-Redakteur Kevin Kelly inseinem Werk Out of Control,ein unbedingt lesenswertesBuch, das in voller Längevom Internet herunter-geladen werden kann(http://www.well.com/user/kk/OutOfControl/).

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Die technologische Basis ›Globaler Dörfer‹ ist die Anwendung derLogik lebender Systeme, wie sie erst im Gefolge der kybernetischenRevolution langsam verstanden werden konnte und deren Elemen-tarform die Permakultur darstellt. Diese kommt ohne aufwendigetechnologische Schöpfungen aus und erzielt doch erstaunliche Re-sultate. Das Geheimnis der Permakultur besteht darin, daß keine ge-gebene natürliche Tatsache per se nützlich oder schädlich ist, son-dern immer in der Interaktion mit anderen Elementen eines Systemswirkt. Permakultur ›geschieht nicht‹, sie ist ein Prozeß intensivsterNaturbeobachtung und der quasi kybernetischen Umsetzung einesmöglichst ›gut‹ funktionierenden ›Programms‹, wobei grobe Para-meter vorgegeben werden und die Selbstorganisationsfähigkeit derNatur ständig neue Lösungen en gros und en detail hervorbringt. DasTelos der Arbeit ist hier der geringste Eingriff mit optimalem Resul-tat – und dieses ist immer Vielfachnutzen.

Ein Netzwerk, das sich dem intensiven Austausch von Wissenüber natürliche Systeme widmet, ist das global ecovillage network(www.gaia.org). Einen ähnlichen Ansatz, aber verbunden mit tech-nologischen ›Implantaten‹, versucht der ›living-machines‹-Ansatzvon John Todd (www.livingmachines.com/htm/machine.htm). Hiergeht es im wesentlichen um die Beschleunigung und Konzentrationsolcher komplexen natürlichen Prozesse durch Einbettung in archi-tektonische und technologische Umgebungen, die ein wenig tradi-tionellen Produktionsprozessen ähneln, aber vom Inhalt her radikalüber sie hinausgehen, indem sie nicht den einzelnen Prozeß, sondernden gesamten Stoffkreislauf reflektieren. »Biomasse«, »Solare Re-volution« (Scheer, Altvater) und viele weitere Faktoren lassen das›Dorf‹ unter dem Gesichtspunkt einer Entscheidung, ›Informationstatt Materie fließen zu lassen‹, als zukünftig optimalen Lebensraumerscheinen, aber sie haben auch Auswirkungen auf Stadtsysteme.Die hier vertretene Hypothese über die künftige Entwicklung vonStädten und ländlichen Räumen ist, daß sich die klare Unterscheidungdieser beiden Lebensbereiche auflösen wird. Die Stadt wird von ei-nem räumlich abgegrenzten Gebiet zu einem Geflecht miteinanderintensiv kommunizierender Knotenpunkte oder ›Stadtpflanzen‹.

Die gesamte Siedlungsform unterliegt einem gewissen Zwang zurMiniaturisierung, zur optimalen Nutzung vorhandener Räume, umdie vielfältigen und komplexen Funktionen auf einem überschaubarenGebiet unterzubringen. Gleichzeitig steigt die Bedeutung der umlie-genden Natur als Naherholungs- und Rückzugsraum sowie als Ge-genstand einer dauerhaften Symbiose, eines stabilen Stoffwechsels.

Nirgendwo ist dieses Konzept eines dauerhaften Stadtorganismusderart eindrucksvoll demonstriert worden wie in der StadtbaustelleArcosanti in der Wüste von Arizona. Eine Stadt, die nur wenige Hek-tar eines riesigen Grundstücks beansprucht, die mit Glashäusern ei-nen klimatischen Austausch pflegt, in der Sonnenenergie zum Be-treiben von Fahrstühlen eingesetzt wird, die sich automatisch ›an-kleidet‹ und ›auszieht‹, in der sich die architektonischen Formen ausder optimalen Ausnutzung der Jahreszeiten ergeben usw. (www.arcosanti.org).

Die Vision der physischen Gestalt der ›globalen Dörfer‹, so sehrsie sich radikal von den herkömmlichen Siedlungsmustern unter-

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scheiden mag, erschöpft sich freilich keineswegs in den verdichtetenStadtpflanzen Soleris. Ein radikal anderes Grundmuster hat der anglo-amerikanische Architekt Tony Gwilliam aufgezeigt (www.Austria.EU.net/give/Salzburg/TONY2.GIF). Bei ihm wird Miniaturisierungverknüpft mit symbiotischer Expansion; die herkömmlichen öffent-lichen Gebäude verschwinden zugunsten einer Erweiterung deshäuslichen Funktionskreises – »every Home can be a school, a work-shop, a spiritual place«. Miniaturisiert wird auch das Verkehrssy-stem, während die Bereiche der fußgängerorientierten ›greenways‹versuchen, nicht nur eine neue lokale Kultur zu beherbergen, son-dern auch mit der ›eingeladenen‹ Natur zu einer Symbiose zu finden.

Von der ökologischen zur sozialen InnovationDie Verstädterung und Individualisierung liefert aber auch die Vor-aussetzung zur bewußten Auswahl eines Lebensmodells und zudessen Realisierung mit gleichgesinnten Partnern. Die moderneStadtentwicklung öffnet zunächst den Raum für mehr Selbstbestim-mung. Vorstädtische Bauvorhaben locken die Bewohner mit ›The-men‹. In Wien entstehen autofreie Siedlungen, ›Frauenwerkstätten‹und ähnliche Komplexe, die sich nicht als Ghetto, sondern schlichtals synergetischer Lebensraum verstehen.

Wenn wir diese drei Elemente im globalen Dorfraum beisammenhaben: die Technologien im Umgang mit der Natur, die Gestalt einesnachhaltigen Lebensraumes und das neuartige ›soziale Betriebs-system‹, dann kann die Tatsache voll zum Tragen kommen, daß diese›Dörfer‹ eigentlich keine Dörfer sind, sondern räumlich verteilteElemente einer virtuellen globalen Metropole. Ein weiteres und un-abdingbares Element tritt hinzu, das ich als den ›globalen Ort‹ be-zeichnen möchte, quasi ein Stück der globalen Metropole im ›Dorf‹.

Der Raum ist durchlässig geworden für Information, die sich in Ak-tion umsetzt. Diese Einsicht macht die Zweiteilung der Architektur ineine, die sich den physischen Räumen widmet und eine, die sich aufvirtuelle Räume spezialisiert, langsam unwirklich. Wir brauchen eineduale Architektur. Am Beispiel Colletta di Castelbianco sehen wir,wie ein mittelalterliches Bergdorf zu neuem Leben erwacht; doches ist eben nur scheinbar ein isoliertes Dorf (www.colletta.it/eng_menu.htm). Im Amphitheater von Colletta begegnet uns der Ar-chetyp dieses ›globalen Ortes‹, einer sich in den realen Ort hineinent-wickelnden Begegnungsstätte von lokalem und globalem Leben. DieLernorte bewegen sich von den realen hin zu den virtuellen Räumenund damit ist eine Dezentralisierung der Institutionen verbunden. ImBereich der Bildungsinstitutionen spielen sich noch dramatischereWandlungsvorgänge ab als im Bereich der Architektur. Die guten al-ten Bibliotheken sind bereits lange im öffentlichen Raum existierendeInstrumente einer informierten Bürgerschaft und zugleich Orte desLernens und damit Teil unserer Zivilisation.

In einem Projekt mit der niederösterreichischen Dorferneuerunghaben wir die Hypothese verfolgt, daß der kürzeste und nachhaltig-ste Weg zur Wiederauferstehung des Dorfs als Lebensraum die dra-matische Aufwertung der Bibliotheken ist, indem sich diese zu denzentralen Orten des Lernens entwickeln. (Projekt Bildung und Be-gegnung – www.Austria.EU.net/give/Salzburg/sbg8.html).

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Die Ausgestaltung des ›globalen Ortes‹ ist eine der spannendstenAufgaben des Designs ›globaler Dörfer‹. Die Art, wie der ›globaleOrt‹ mit dem ›globalen Dorf‹ verwächst, als ›Dorfbrunnen‹ und›Quelle‹, um die herum es sich anzusiedeln lohnt, wird ganz we-sentlich das Gepräge künftiger Siedlungsformen bestimmen. In ähn-licher Weise wird aber auch die Entwicklung der Metropolen davonbestimmt sein.

Diese kleinräumigen, von einer natürlichen Ökosphäre umgebe-nen ›Städte‹ und ›Dörfer‹ werden sich von den heutigen dadurch un-terscheiden, daß sie ein wesentlich breiteres Spektrum an Dienstlei-stungen anbieten. Die Basis für das Entstehen von Community Tele-service Centers, Global University Outlets, Gesundheitszentren, Fle-xible Factories usw., die mit Hilfe von Wissensressourcen und Da-tenhighways die Bandbreite lokaler Dienstleistungen verhundertfa-chen, wird nur durch eine hochspezialisierte Organisation und dasProduktionspotential von Städten geliefert werden können; insofernist Saskia Sassen zuzustimmen, daß das ›globale Dorf‹ die ›globaleStadt‹ erfordert.

Dennoch wird der neue und vermutlich vorherrschende Lebens-raum, die lokale Sphäre einer ressourceneffizienten Verknüpfungvon Natur, lokaler Eigenarbeit und globaler Vernetzung, sich in ei-nem anderen Selbstbewußtsein gegenüber der Stadt artikulieren undpositionieren als das traditionelle Dorf oder die Bezirksstadt. Wie-wohl angelehnt an das regionale Kommunikationssystem einerStadtregion, steht doch das ›globale Dorf« von vornherein in einemAustauschverhältnis zu vielen Städten, vielen konkurrierenden An-bietern von industriellen und informationellen Ressourcen für einereichhaltige lokale Entwicklung.

›Globale Dörfer‹, ›lernende Gemeinden‹ stehen so in einer inten-siven Beziehung zueinander; sie verleihen dem Wissen Realität, siemanifestieren es. Gerade durch die lokale Anwendung und Integra-tion entstehen vor Ort neue Arbeits-, Forschungs-, Bildungs- undLebensmöglichkeiten. All das gesammelte Wissen und die Erfahrun-gen fließen wieder zurück und bereichern beziehungsweise poten-zieren das globale Wissen. Eine ›Spirale der Nachhaltigkeit‹ ent-steht, wenn wir bereit sind, an einem oder einigen Orten mit diesemProzeß zu beginnen. Jeder neue Ort bereichert die Möglichkeiten deranderen, wenn wir das, was wir tun, als Teil eines globalen Experi-mentes tun.

Und solche Experimente sind bitter notwendig. Denn die traditio-nelle Form der Entwicklung, sei es der landwirtschaftlichen oder derindustriellen, ist eigentlich in einer Sackgasse angelangt. Die ›Er-folge‹ bei der Entwicklung und Verdichtung der globalen Märkte ha-ben dazu geführt, daß der Eintrittspreis für profitable Produktion fürviele zu hoch geworden ist. Demgegenüber steht eine wachsendeEinsicht, daß die Lebenshaltungskosten – bei gleichzeitiger Steige-rung von Lebensqualität – durch den nachhaltigen Einsatz von loka-len Ressourcen deutlich abgesenkt werden können. Das Beispiel derPermakultur zeigt, daß gerade dort, wo nicht der ökonomischeErtrag, sondern die Selbsterhaltungsfähigkeit eines Systems im Zen-trum steht, sich auch der ökonomische Ertrag quasi als Nebenpro-dukt einstellt.

Wenn es einen Entwurf gibt,der die Intention des›globalen Dorfes‹ am präg-nantesten ausdrückt, dannist, vielleicht die Vision desbritischen ArchitekturhausesRichard Rogers für denParc B.I.T. in Mallorca. DerIdeenwettbewerb für eineWohn- und Lebensform des21. Jahrhunderts war imJahr 1994 von der Provinz-regierung der Balearen imGefolge der Telework 1993veranstaltet worden, um einSignal für nachhaltigere undeinkommensträchtigereFormen des Tourismus zusetzen. Die Ausschreibungfür die Entwürfe der eingela-denen Architekturbüros sahweitgehende Gestaltungs-freiheit vor. Auflage warlediglich, daß ein attraktivermultifunktioneller Ort ent-stehen sollte, der sowohldem Wohnen als auch derArbeit dienen sollte. DerEntwurf von Rogers kom-biniert die Idee eines›urbanen‹ Mikrokerns miteiner ›ruralen‹ Flachbau-weise, die ähnlich gewach-senen Dorfstrukturen stern-förmig in die umgebendeKulturlandschaft hinaus-reicht. Während der›urbane‹ Kern stark öffent-lichen oder Piazza-Charakter trägt und inmehrstöckigen Bauten einestarke Verdichtung aufweist,hat die ›rurale‹ Peripherieeinen stark an Rückzug undPrivatheit orientiertenCharakter(www.Austria.EU.net/give/Salzburg/sbg8.html).

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Wollte man sich das ›globale Dorf‹ als Schema vorstellen, so denktman am besten an drei konzentrische Kreise; im Inneren die Sphäredes globalen Wissens, darum die Sphäre der lokalen Eigenarbeit,und als äußersten Kreis die restituierte Natursphäre. ›Globale Dörfer‹sind offene, dissipative Systeme, das heißt, sie stehen im permanen-ten Energieaustausch mit der Umwelt, um ihre Struktur aufrechtzu-erhalten. Der permanente Kontakt mit belebter, nichtmenschlicherNatur ist nicht bloß ideologischer und individualpsychologischerRückzugsraum aus dem Feld gesellschaftlicher Anforderungen; erhat höchstwahrscheinlich eine darüber hinausgehende konstitutiveBedeutung für unsere Identität. Diese Bedeutung zu erforschen, wirdnicht zuletzt die Faszination der ›globalen Dörfer‹ ausmachen.

Und wo bleibt der Antikapitalismus?Das eingangs anvisierte Thema hieß »High Tech Antikapitalismus«und wurde scheinbar verfehlt. Werden in den ›globalen Dörfern‹nicht Marktbeziehungen herrschen? Werden die ›globalen Städte‹mit ihren ›Prosumer-Industries‹ für Subsistenztechnologien vonDorfdimensionen nicht geradezu einen neuen Akkumulationsboomerleben, wenn ihre Binnenmärkte geographisch wachsen? Unterstel-len wir nicht die Lohnarbeit der Telearbeiter, wenn sie bei den loka-len Subsistenzbauern ihre All-Inclusive-Miete zahlen?

Das mag alles sein. Die Frage ist so müßig wie die, ob die Fürsten,denen Adam Smith mit einem Traktat vom Reichtum der Nationenein neues Produktionsverhältnis andrehte, nicht gerade dadurch erstso richtig ihre Armeen füttern konnten. In ›the long run‹ fördern glo-bale Dörfer die kooperative geistige Produktion, eine neue Kulturder Arbeit und die kooperative Gestaltung eines nicht mehr markt-förmigen, sondern planmäßig-organischen Reproduktionsraumes.Und je schneller sie zu ihrem gemeinsamen Projekt finden, um soweniger hart werden die Geburtswehen des Neuen in einer Gesell-schaft, deren gegenwärtiges Leiden immer eindeutiger ›Marktwirt-schaft‹ heißt. Es sollte übrigens aus dem Vorangegangenen klar sein,daß das Neue mitnichten ein Abkömmling der ›Planwirtschaft‹ seinwird.

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Mit dem Internet verbinden sich quer durch alle gesellschaftlichenSchichten Aufbruchs- und Hoffnungsideen. In seltsamer Einigkeitsehen Wirtschaftsmanager, Politiker, Bürgerrechtsbewegte und nichtzuletzt ›Linke‹ in diesem technischen System Möglichkeiten ihrer jespezifischen Form der Weltverbesserung aufgehoben. Gerade inner-halb der ›Linken‹ überwiegt nach wie vor die Begeisterung für dieInfrastruktur Internet. Unter dem Eindruck des anarchistischen Ha-bitus der Hacker, der ›eigentumsfreien‹ Produktionsformen wieOpen Source, der unabhängigen Berichterstattung aus Chiapas,Seattle, Genua und anderswo werden andere zentrale Entwicklungenund der Formenwandel des Internet kaum wahrgenommen. Im fol-genden soll gezeigt werden, daß ›electronic government‹ eine, wennnicht ›die‹ Entwicklung ist, die sowohl das Internet als auch büro-kratisches Herrschen und Verwalten dramatisch verändern wird.

Um näher zu bestimmen, worum es sich bei ›electronic govern-ment‹ handelt, sei stellvertretend für die gegenwärtig in der Debattekursierenden Definitionen hier die des Verbands der Elektrotechnik(VDE) angeführt: ›Electronic government‹ ist demzufolge »...dieDurchführung von Prozessen der öffentlichen Willensbildung, derEntscheidung und der Leistungserstellung in Politik, Staat und Ver-waltung unter sehr intensiver Nutzung der Informationstechnik. Ein-geschlossen sind in diese Definition selbstverständlich zahlreicheHilfs- und Managementprozesse, sowie Prozesse der politischen undfinanziellen Rechenschaftslegung«.1

Politische RahmenbedingungenPolitisch gesehen gehört ›electronic government‹ zu dem mit Beginnder achtziger Jahre einsetzenden Umbau der Industrienationen, dergewöhnlich mit dem Begriff Neoliberalismus verbunden wird. Einwesentlicher Bestandteil dieser Entwicklung war spätestens seit Endeder achtziger Jahre neben der Privatisierung der Versorgungs-, Ver-kehrs und Telekommunikationssektoren der Umbau der Verwaltungs-apparate.2 Vor diesem Hintergrund und der rasanten Entwicklung desInternet entstand die Idee des ›electronic government‹, die aufgrundder neuen technologischen Möglichkeiten weit über die ursprüngli-chen Konzepte der Verwaltungsmodernisierung hinausgeht. Späte-stens seit 1998 ist ›electronic government‹ zum Motor der Verwal-tungsmodernisierung geworden3, zumal diese infolge der erheblichenWiderstände der Beschäftigten sowie durch rechtliche Probleme weithinter den eigentlichen Zielsetzungen zurückgeblieben war.4

Christoph Engemann –Jg. 1972; studiert Psycho-logie an der UniversitätBremen, verfaßt derzeitseine Diplomarbeit zumThema »Electronic Govern-ment, Bürokratie und Sub-jektivität«, war Mitorgani-sator des Kongresses »thisis not a love song – radikalelinke und psychologie heute«(2000 in Berlin) und derdaraus hervorgegangenenSeminarreihe (vgl. www.notalovesong.org).Foto: privat

1 Verband der Elektrotech-nik, Elektronik, Informations-technik e.V. (VDE): Memoran-dum Electronic Government›http://www.vde.de/vde/html/d/fach/itg/publikationen/herunterladen.htm‹.

2 Einen Überblick gibtunter anderem MichaelFelder: Verwaltungsmoder-nisierung. Die Transforma-tion von Staatlichkeit unddie neue Sozialdemokratie,

UTOPIE kreativ, H. 135 (Januar 2002), S. 45-54 45

CHRISTOPH ENGEMANN

Das Internet und die neueGestalt bürgerlicher Herrschaft:Electronic Government

In Deutschland ist ›electronic government‹ ein von der Öffentlich-keit wenig wahrgenommenes, gleichwohl zentrales Politikfeld derregierenden rot-grünen Koalition. Mit erheblichem Engagement undebenso erheblichen Mitteln wird zur Zeit unter diesem Schlagworteine »Verwaltungsrevolution« vorangetrieben.5

Die Grundsätze dieser Politik finden sich im Kabinettsbeschluß derBundesregierung »Moderner Staat – Moderne Verwaltung –Deutschland erneuern« vom 1. Dezember 1999. Dort heißt es unter1. Leitbild aktivierender Staat: »Methoden der Staats- und Verwal-tungsmodernisierung sind seit längerem bekannt; was auf derBundesebene bisher fehlt, ist der entscheidende Schritt zu einerkonzentrierten Gesamtreform. (…) Der Bund wird … moderneInformations- und Kommunikationstechnik in breiter Form einset-zen, um den Übergang zur ›Elektronischen Verwaltung‹ (ElectronicGovernment) zu vollziehen.«6 Allein auf Bundesebene existieren15 hochsubventionierte Leitprojekte wie Media@komm (vgl.www.mediakomm.net – mit einem Volumen von 60 Millionen DM)und 23 zusätzlichen Projekte, die allesamt den Einstieg in ein neues»bürgerfreundliches« und »bürokratiearmes« Zeitalter preisen.International vollziehen sich im übrigen ähnliche Prozesse; dieTransition der Verwaltungen ins »Internet-Zeitalter« zählt zu ei-nem der wichtigsten Faktoren in der Standortkonkurrenz.7

›Electronic government‹ eröffnet verschiedene neuartige Spiel-räume. Dazu gehört vor allem die Möglichkeit der weitgehendenAutomation bürokratischer Vorgänge mittels vernetzter Computer-technik. Die Strukturmerkmale von Computersystemen entsprechenim Prinzip denen der Bürokratie.

Nach Max Weber zeichnet sich die Bürokratie in Wirtschaft undGesellschaft aus durch Regel, Zweck, Mittel und sachliche Un-persönlichkeit.8 »Die bürokratische Organisation bedeutet (…) Per-fektionierung von Herrschaft, indem sie dem Herrn die Chance ge-währt, das Handeln des Verwaltungsstabes lückenlos, auf der ganzenLinie, primär mittels formaler Regeln programmieren, mithin fest-legen und binden zu können.«9

Die Analogien zwischen einem idealtypischen bürokratischemApparat und einer programmgesteuerten Maschine wie dem Com-puter sind augenscheinlich – beide sind im Grunde regelgeleiteteinformationsverarbeitende Systeme.

Computernetzwerke ermöglichen die Ausdehnung solcher Struk-turen über große Bereiche, wobei die Netzdichte und die Schnitt-stellen darüber entscheiden, welche (gesellschaftlichen) Bereicheerfaßt werden können. Darüber hinaus bringen Computersystemekeine Loyalitätsprobleme mit sich. Das mit zunehmender Kom-plexität der Verwaltungen dort akkumulierte Herrschaftswissen, dasvon den Beamten und Angestellten tendenziell für partikulare Inter-essen verwandt werden kann, setzte die Bürokratie immer schonin ein Spannungsverhältnis zur Politik. Die daraus resultierende Not-wendigkeit, die in der Verwaltung Tätigen mit Hilfe von Diszipli-narordnung und Karrierechancen zu lenken und zu binden, fällt beiComputern weg. ›Electronic government‹ kann also auch als einVersuch der Politik gedeutet werden, sich der Verwaltung, die sichtendenziell verselbständigt, wieder zu bemächtigen.

in: UTOPIE kreativ, Nr. 121/122 (November/ Dezember2000), S. 1090-1102.

3 Im folgenden werden dieBegriffe ›Verwaltungs-modernisierung‹ und ›elec-tronic government‹ synonymverwandt.

4 Vgl. zum Beispiel dieRede des Bundesinnen-ministers Otto Schily aufdem Kongreß »EffizienterStaat« am 5. April 2001in Berlin(www.effizienter-staat.de).

5 Vgl. Dieter Grunow,Hellmut Wollmann (Hg.):Lokale Verwaltungsreform inAktion: Fortschritte undFallstricke, Basel, Boston,Berlin 1998.

6 Vgl. ›www.staat-modern.de/programm/index.html‹;über die Fortschritte dieserInitiative geben die ein-schlägigen und gut betreu-ten Websites mit den Titeln:›www.staat-modern.de‹,›www.effizienter-staat.deundwww.bundonline2005.de‹Auskunft.

7 Vgl. für Europa ›www.europa.eu.int/information_society/eeurope/index_en.htm‹, einen kurzen Über-blick der Entwicklungen inAsien bietet:›www.heise.de/newsticker/result.xhtml?ur=/newsticker/data/wst-2105.01-002/‹, einbesonders ehrgeizigesProgramm mit 10 MilliardenUS-Dollar Volumen hatJapan vorzuweisen:›http://www.kantei.go.jp/foreign/it/network/priority-all/index.html‹.

8 Vgl. Max Weber: Wirt-schaft und Gesellschaft,Tübingen 1972, S. 650.

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›Downsizing‹ und ›outsourcing‹ in der staatlichen VerwaltungNach innen bedeutet ›electronic government‹ also zunächst die Er-setzung vieler Beamter und Angestellter durch Maschinen. Innerhalbder Verwaltungen kommt es zu starken Veränderungen der Abläufeund Hierarchien, die nach dem Vorbild von moderner, Softwaregestützter Unternehmensführung reorganisiert werden. ZentralenStellenwert hat bei allen ›electronic-government‹-Projekten die Ein-führung sogenannter Enterprise Ressource Management Software(ERM) wie zum Beispiel SAP/R3. Diese oder vergleichbare Soft-ware ermöglicht neben der automatisierten Abwicklung vieler Pro-zesse das controlling von Materialflüssen und Personalleistungen inEchtzeit. Die anfallenden Daten fließen dabei direkt der Führungs-ebene zu, die wiederum über das Computersystem die einzelnen Be-reiche direkt steuern und beeinflussen kann.10 Die gesamte mittlereFührungsebene wird also überflüssig; hierin besteht der tiefereGrund für das ›downsizing‹ – mitsamt dem ganzen Rattenschwanzangeblicher horizontaler Hierarchien sowie der zugehörigen A&O-Psychologien – in vielen Unternehmen in den neunziger Jahren. Mitdem Ziel, per Verwaltungsmodernisierung11 auch staatliche Bürokra-tien nach betriebswirtschaftlichem Muster zu führen, wird mit Hilfedieser Technologien der Umstieg von der kameralen Buchführungauf die in der Wirtschaft übliche doppelte Buchführung vorangetrie-ben.

Dabei betreibt der Staat die automatisierten Verwaltungsvorgängezunehmend nicht mehr selbst, sondern vergibt die Durchführung imRahmen sogenannter Public Private Partnerships an privatwirt-schaftliche Unternehmen, wie IBM, Siemens usw. Die Stadt Leipzigzum Beispiel hat unlängst im Rahmen eines joint ventures die ge-samte Datenverarbeitung der Kommune an IBM übertragen. In Bre-men und Ludwigshafen sind ähnliche Projekte im Gange.12

Neben der Datenverarbeitung werden auch andere bisher öffent-lich getragene Leistungen per ›outsourcing‹ in Public Private Part-nerships ausgelagert, zum Beispiel das »Facility Management«,Teile des Renten- und Sozialversicherungswesens und in Zukunftauch Teile des Einwohnermeldewesens. In den Vorgaben, die dieserPraxis zugrunde liegen, ist offen von einer ›Verschlankung des Staa-tes‹, seiner Reduzierung auf ›Kernaufgaben‹, die Rede. Was im Kerndarunter verstanden wird, findet sich im Zwischenbericht13 der vomBerliner Senat eingesetzten Expertenkommission für Staatsaufgaben-kritik besonders prägnant formuliert:

»Die in Berlin als öffentlich angesehenen Aufgaben sind durch po-litische Entscheidungen in der historischen Entwicklung gewachsen.Eine Systematik liegt diesen öffentlichen Aufgaben nicht zu Grunde.Dies entspricht der Gesamtsituation der öffentlichen Verwaltung inDeutschland.A: Staatliche Kernaufgaben – (verfassungs)rechtlichvorgegebene AufgabenUnzweifelhaft sind die politischen Leitungsaufgaben (politischePlanung, Grundsatzangelegenheiten, Steuerung, Legitimation ›poli-tischer Preise‹, Aufsicht, Controlling…) Kernaufgaben des öffent-lichen Bereichs. Andere Aufgaben rechnen ebenfalls zu den Kern-aufgaben (z. B. Polizei-, Justiz- Steuerverwaltung…). Die konkrete

9 Tyrell 1981, S. 85; zit.nach: Stephan Breuer: MaxWebers Herrschaftssozio-logie, Frankfurt/New York1991, S. 210.

10 ERM-Systeme sindalso Feedbacksysteme. Esist zu vermuten, daß darinein bisher wenig beachtetermaterieller Hintergrund derneuen Arbeitsorganisations-formen liegt.

11 Die Literatur dazu istsehr umfangreich. FürDeutschland zentral sind diebeiden folgenden Papiereder Kommunalen Gemein-schaftsstelle (www.kgst.de):Das neue Steuerungsmo-dell. Begründung, Konturen,Umsetzung, Bericht Nr.5/1993, außerdem: Wegezum Dienstleistungsunter-nehmen Kommunalverwal-tung. Fallstudie Tilburg,Bericht Nr. 19/1992.

12 Vgl. c‘t, 9/2001. S. 51;Busso Grabow, HolgerFloeting: Wege zur tele-matischen Stadt; JahrbuchTelekommunikation undGesellschaft: Multimedia @Verwaltung – Marktnäheund Bürgerorientierung mitelektronischen Diensten,Bd. 7, 1999.

13 Dieser Bericht wirdnach dem Kommissions-vorsitzenden Rupert Scholzgemeinhin als »Scholz-Papier« bezeichnet.

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Abgrenzung zu anderen Anbietern ist aber bereits eine politischeFrage (z. B. Überwachung von gefährlichen Betrieben durch Privateoder durch die Polizei).Die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben – muß vom Staatgewährleistet, aber nicht vollzogen werden.Der Staat hat die Erfüllung öffentlicher Aufgaben (Dienste undGüter) zu gewährleisten (Gewährleistungsverantwortung); dieDienstleistungen müssen jedoch nicht in Eigenproduktion erstelltwerden (keine Produktionsverantwortung).«14

Identische Aussagen finden sich in allen einschlägigen Papierenund Modellvorhaben.15 Idealtypisch gesprochen fungiert der Staat indiesem Modell nicht mehr als ausführender, sondern er setzt ledig-lich (demokratisch legitimiert) die Verfahrensregeln, die in den Kon-trakten zwischen öffentlicher und privater Seite festgelegt werden –er schmilzt ab auf eine Moderations- und Legitimationsinstitution.16

Die privatisierten staatlichen Tätigkeitsfelder, die bislang dem Marktentzogen waren, werden Geschäftsfelder. Das Internet und die Infor-mationstechniken (vor allem das ›datamining‹) dienen dabei als zu-sätzliche Transmissionsriemen, die Verwaltungsbereiche, die bishernicht profitabel organisierbar waren, potentiell gewinnträchtig ma-chen. Gleichzeitig sinken die konsumtiven Ausgaben des Staateserheblich.

Mit Blick auf die rechtlichen Rahmenbedingungen, die eine ge-winnträchtige Verarbeitung der anfallenden Daten betreffen, ergibtsich ein widersprüchliches Bild. Im schon zitierten Kabinetts-beschluß Moderner Staat heißt es unter dem Punkt Rechtliche Rege-lung(en) für Public Private Partnerships: »Die Bundesregierungwird rechtliche Rahmenbedingungen für kooperative Vertragsver-hältnisse zwischen privaten Verwaltungsdienstleistern und öffent-licher Verwaltung schaffen.«17 Angestrebt ist außerdem »Identifizie-rung und Abbau rechtlicher Hemmnisse für neue Dienstleistungen:Anhand konkreter Fälle werden Probleme in neuen Dienstleistungs-bereichen ermittelt, die auf rechtliche Bestimmungen zurückzu-führen sind.«18 Während jüngst das Bundesdatenschutzgesetz, dasdie Möglichkeiten der personengebundenen Weiterverarbeitungohne vorherige Einwilligung der Betroffenen stark einschränkt, no-velliert wurde19, ist die Verarbeitung solcher Daten gängige Praxis.Im Internet wird den Nutzern häufig bei der Registrierung zu be-stimmten Diensten das Einverständnis zur Verarbeitung der anfal-lenden Daten abgenötigt20, überhaupt wird generell nach dem Motto»wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter« verfahren.21

In Gutachten zu ›electronic government‹, die von Unternehmens-beratungen erstellt wurden, wird davon ausgegangen, daß es imZuge dieser Verwaltungsauslagerung zu einer Ausdünnung desBehördennetzes in der Fläche und zu einer Zentralisierung staatli-cher Stellen auf die Regierungssitze als Kompetenzzentren kommenwird.22 Gleichzeitig wird eine Dezentralisierung der Verwaltungs-zugänge in Form von kommunalen Serviceläden, mobilen Service-einheiten und durch den individuellen Internetzugang angestrebt.Das räumliche Auseinandertreten von Produktion und Distributionder Verwaltungsleistungen führt zu einer neuen Geographie derMacht. Es ist die, von Saskia Sassen schon für die Wirtschaft be-

14 »Scholz-Papier«,S. 6 (Hervorhebungen imOriginal).

15 Vgl. zum Beispiel denschon erwähnten Kabinetts-beschluß »Staat Modern«und die dort vorgestelltenProjekte.

16 Das ist keineswegsmit einem Verlust an staat-lichem Einfluß gleichzuset-zen. Vielmehr besteht dasSpezifikum dieser Entwick-lung zu einem schlankenStaat darin, daß dieser sichnicht zurückzieht, sondernlediglich weniger ausgibt.Tatsächlich weitet er seineZugriffskompetenzen aus –er bemächtigt sich derBürokratie, indem er sieabschafft; vgl. MichaelFelder: Verwaltungs-modernisierung..., a. a. O.

17 Moderner Staat –Moderne Verwaltung, S. 6(www.staat-modern.de/programm/index.html).

18 Moderner Staat –Moderne Verwaltung, S. 7.Das entspricht der Positionder EU; vgl. AktionsplaneEurope2002, S. 9(www.europa.eu.int/ISPO/basics/eeurope/i_europe_follow.html).

19 Gesetzestext unter›www.bfd.bund.de/information/bdsg_hinweis.htlm‹; außerdem: NeuesDatenschutzgesetz in Kraftgetreten, in: c‘t, 12/2001,S. 44.

20 So unter anderem beimFree-Mailer GMX, vgl.›www.bigbrotherawards.de‹.

21 Werner Schmid,Sprecher des Bundesdaten-schutzbeauftragten, fordertdenn auch, daß die Realitätder Datenverarbeitung an-erkannt werden müsse undnicht verteufelt gehöre:

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schriebene, scheinbare Überwindung von Raum und Zeit durch dasInternet, bei gleichzeitig verstärkter Resituierung von Individuenund Stätten der Macht im Raum.23

Soweit zu dem, was ›electronic government‹ nach innen für denadministrativen Apparat bedeutet. Nach außen erscheint ›electronicgovernment‹ vor allem als Projekt, das Internet als Kommunika-tionsmedium verwaltungskompatibel zu machen. Damit soll einegrößere Bürgernähe und Vereinfachung von Verwaltungsvorgängenerreicht werden – Stichwort: »Die Daten sollen laufen, nicht dieBürger«24. Durch die Abwicklung von Behördengängen über das In-ternet per »single click government« im »virtuellen Rathaus«, indemes im übrigen keine Warteschlangen gibt, sollen die Bürger vomlästigen Gang zur Amtsstube befreit werden. Auch gegenüber derWirtschaft wird ein neues bürokratiearmes Zeitalter beschworen, indem durch die Automation der Behördeninteraktion per Internet,etwa bei Handelsstatistiken oder der elektronischen Vergabe, weni-ger Mitarbeiter für die Bearbeitung von administrativen Anforde-rungen abgestellt werden müssen.25

Die Digitale Signatur – Voraussetzung für E-Governmentund E-CommerceUm solche Dienste zu ermöglichen, muß ein zentrales Problemgelöst werden. Die eindeutige Zuordnung eines Nutzers zu seinerbürgerlichen Identität ist die zentrale Voraussetzung, um rechtsver-bindliche Abläufe über das Netz zu organisieren. Die Lösung desProblems nennt sich »Digitale Signatur«.26 Das digitale Äquivalentder eigenhändigen Unterschrift wird technisch derzeit über eine»multifunktionale Chipkarte« und über »Trust Center« realisiert.Trust Center sind eine Art elektronischer Notar, über die alle Trans-aktionen, die eine digitale Signatur beinhalten, abgewickelt werden.Derartige Einrichtungen werden als Public Private Partnerships vonFirmen wie der Telekom betrieben.27 Die Betreiber vergeben auchdie Chipkarten und die zugehörige Signatur und stellen quasi einEinwohnermeldeamt im Netz dar.

Digitale Signaturen ermöglichen den Abschluß von Verträgen überelektronische Netzwerke, bei denen die Urheberschaft der Datensowie deren Unverändertheit nach erfolgter Signatur sichergestelltwerden kann. Diese Technologie hat eine Schlüsselstellung für›electronic government‹, aber auch für den ›e-commerce‹. Erst da-durch wird die vollständige wirtschaftliche Nutzung des Internetmöglich, weil nur über die eindeutige Identifikation des Verkäufersund des Käufers die notwendige Rechtssicherheit in Form der staat-lichen Gewährleistung der Eigentümerrechte auch im Netz herge-stellt werden kann.

Darüber hinaus sind digitale Signaturen auch aus steuerrechtlichenErwägungen interessant. Die Frage nach der Verbrauchsbesteuerungvon über das Internet gehandelten Waren ist eindeutig geklärt. DieUmsatzsteueraufkommen aus dem Handel mit digitalen Produktenfließen dem Land zu, in dem diese Güter genutzt oder verbrauchtwerden (Bestimmungslandprinzip). In Hinblick auf die Ertragsbe-steuerung von digitalen Gütern dagegen existiert das Problem derErmittlung des Produktionsstandortes, der Einkünfte und der Ver-

»Nicht Daten sind zuvermeiden, sondern derenPersonenbezug«. Anony-mität und anonymitätsnahePseudonyme sollen perGesetz als Vorzugslösungvorgeschrieben werden (vgl.c‘t, 14/2001, S. 48; Daten-schutz mit kleinen Fehlern,in: ebenda, 5/2001, S. 222).

22 Vgl. Rathaus von zuHaus, in: c‘t, 7/2001,S. 218; außerdem›www.de.forrester.com/forit/home.nsf/AllByUID/B294DD976C92501541256A09003DD1E7?OpenDocument‹.

23 Vgl. Saskia Sassen:Kontrollverlust? Der Staatund die neue Geographieder Macht, in: Gewerk-schaftliche Monatshefte,7-8/99.

24 So lautet der Titel derInformationsbroschüre zumneuen Meldegesetz, vgl.›www.bundesregierung.de/top/dokumente/Artikel/ix_48106.htm?template=single&id=48106_434&script=1&ixepf=_48106_434‹.

25 Vgl. den Bericht derInitiative »Abbau bürokrati-scher Hemmnisse« desBundesministeriums fürWirtschaft und Technologie,›www.bmwi.de/textonly/Homepage/Presseforum/Pressemitteilungen/2001/1320prm1.jsp‹.

26 Vgl. auch die Hinweiseder hier zuständigenRegulierungsbehörde Tele-kommunikation und Post,›www.regtp.de/tech_reg_tele/start/in_06-02-00-00-00_m/‹.

27 Vgl. ›www.telesec.de/‹.

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rechnungspreise. Digitale Signaturen ermöglichen potentiell denNachvollzug des Weges der für diese Fragen relevanten Transaktio-nen in Netzwerken.28

Digitale Signaturen sind also Instrumente, die neben der genann-ten Herstellung von Rechtssicherheit bei Verwaltung und Handelauch der Durchsetzung der Steuerhoheit des Staates im Netz dienen– sie sind die Schlüsseltechnologie, um das Internet endgültig ver-waltungs- und wirtschaftskompatibel zu machen.

Perspektiven einer vernetzten WeltEs ist davon auszugehen, daß es – vermittelt über die digitalen Sig-naturen – zu einer fortschreitenden De-Anonymisierung des Internetkommt. Gleichzeitig wird das Internet zur universalen Infrastrukturin den Industrienationen, über die die Organisation und Koordina-tion einer wachsenden Zahl von Vorgängen abgewickelt wird. Nichtnur die beschriebenen Verwaltungsvorgänge und der ›e-commerce‹,die Kulturindustrie und ähnliches sind damit gemeint, sondern auchso profane Dinge wie Zugangskontrollen an Universitäten etwa29, dieüber die Signaturchipkarten geregelt werden, elektronische Fahraus-weise und dergleichen mehr. Nicht zuletzt das Geld selbst wird inzunehmendem Maße über elektronische Netzwerke laufen – mit demUmstieg auf den Euro ist erklärtermaßen der Einstieg in den bar-geldlosen Alltag angestrebt. Digitales Geld so anonym zu machenwie das vorhandene Geld, ist extrem teuer und aufwendig, teilan-onyme oder nicht-anonyme Lösungen sind deutlich billiger. Überdie Qualität von Datenschutzstandards, auch in bezug auf elektroni-sches Geld, herrscht derzeit Uneinigkeit zwischen verschiedenen be-teiligten Stellen. Es zeichnet sich aber ab, daß sich eine sehr legèreHaltung durchsetzen wird. Von seiten der EU zum Beispiel heißt esim Rahmenprogramm eEurope2002: »Der Schutz der Informationenmuß hohe Priorität haben, kann aber teuer werden und die Ge-schwindigkeit des Netzes mindern. Daher können nicht irgendwel-che Lösungen vorgeschrieben werden, sondern es muß so weit wiemöglich dem Markt überlassen werden, darüber zu entscheiden,welcher Sicherheitsgrad den Bedürfnissen der Benutzer ent-spricht.«30

Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß es im Internetzu einer Verdopplung des Bestehenden bei gleichzeitiger weitgehen-der Überwindung der physikalischen Beschränkungen von Raumund Zeit kommt. Gleichzeitig wird das Internet zur universalen In-frastruktur.31 Die Universalisierung des Internet sowie die über all-tägliche Vorgänge vermittelte ständige Repräsentanz der Individuendarin führt zwangsläufig zu einem gigantischen Datenaufkommenüber deren Aufenthaltsorte, Bewegungen, Interaktionen, Handelnund dergleichen.32 Mit Hilfe dieser Daten ist eine Erhöhung der ra-tionalen Tiefenschärfe von Entscheidungsprozessen in Bürokratieund Wirtschaft möglich. An Stelle der gruppenzentrierten Entschei-dungsraster der klassischen Bürokratie können jetzt individual-zentrierte Verfahren treten. Der Zugriff ist dabei unglaublich vielkleinräumiger, als dies mit der traditionellen Bürokratie bisher reali-sierbar war; winzige Kostenbereiche müssen jetzt nicht mehr pau-schal berechnet werden, sondern können individuell erfaßt werden.

28 Vgl. Aktionsprogrammder Bundesregierung: Inno-vation und Arbeitsplätze inder Informationsgesellschaftdes 21. Jahrhunderts,›www.iid.de/aktionen/aktionsprogramm/deckblatt.html‹.

29 Vgl. ›www.studierende-fzs.de/unsere_politik/chipkarte/chip-index.htm‹ und ›www-user.uni-bremen.de/~asta/links.htm#chip‹.

30 Vgl. AktionsplaneEurope2002, S. 9(www.europa.eu.int/ISPO/basics/eeurope/i_europe_follow.html).

31 Vgl. Rainer Rilling:Textprojekt »Internet«,›www.rainer-rilling.de/texte/inkrit-internet.html‹.

32 Selbst das Daten-aufkommen von konservativausgerichteten ›electronic-government‹-Projekten gehtweit über das der Volkszäh-lung von 1983 hinaus –faktisch bietet sich hier dieMöglichkeit einer perma-nenten Volkszählung.

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Verwaltung ist damit außerdem kein in der Regel zeitlich nach-laufendes Phänomen mehr, sondern bekommt potentiell simultanenCharakter. Die über das Internet vermittelte unmittelbare Einbezie-hung der Individuen in Verwaltungsprozesse ermöglicht die Anwen-dung von Evaluations- und Benchmarkprozessen, wie sie bisher in-nerhalb von Betrieben genutzt wurden, auf größere soziale Einheiten.

Technisch beschränkt ist ein solches Modell, wie oben bereits an-gemerkt, durch die Netzdichte und die Schnittstellen. Die Netzdichtewird spätestens mit der Einführung der nächsten Mobilfunkgenera-tion UMTS total; bis die Schnittstellen die Alltagswelt der Indivi-duen durchdrungen haben, wird es sicherlich länger dauern. DieDurchsetzungsgeschwindigkeit wird nicht zuletzt vom Erfolg sol-cher Projekte wie die Ersetzung des Personalausweises durch dieSignaturkarte – die »BürgerInnenkarte«33 – abhängen.

Von den technischen Voraussetzungen her gesehen entwickelt sicheine Herrschaftsinfrastruktur, die der von Michel Foucault in Über-wachen und Strafen beschriebenen Architektur des Panopticons ent-spricht. »Der perfekte Disziplinarapparat wäre derjenige, der es einem einzigen Blick ermöglichte, dauernd alles zu sehen.«34 Einde-anonymisiertes Internet wäre (beinahe) ein solcher Apparat, einuniverselles dynamisches Panoptikum, in dem der Blick zu jedemZeitpunkt, an jeden beliebigen Punkt, auf jedes beliebige Subjekt ge-richtet werden könnte. Letztlich bedeutet das eine groteske Verkeh-rung der Befreiungsphantasien, die die Linke mit dem Netz verband– die sozusagen auf ein inverses Panopticon hoffte; also die Mög-lichkeit, »die Macht« ständig sehen und (demokratisch) kontrollie-ren zu können.

Bürokratie und Individualität – kein Wiederspruch mehr?Ein solches Modell läßt den Gedanken an ein totalitäres Regime à la1984 aufkommen. Es ist aber zu vermuten, daß die beschriebenenStrukturen entscheidende Unterschiede gegenüber der klassischenOrwellschen Vorstellung vom Überwachungsstaat aufweisen.Während in jenem das zu kontrollierende die Subjektivität derStaatsbürger war, den es als potentiellen Störfaktor ständig zu über-prüfen und einzuschüchtern galt, zielen die den ›electronic-govern-ment‹-Diskurs flankierenden Konzepte im Gegenteil gerade auf dasHervorbringen einer bestimmten Art von Subjektivität ab.

Sie folgen damit einer Entwicklung, wie sie in der Arbeitsweltschon seit etwa dreißig Jahren zu beobachten ist. Die tayloristischenKonzepte der Betriebsorganisation, die im Fordismus hegemonialwaren, zielten auf eine größtmögliche Unterdrückung und Kontrollevon Subjektivität. In den siebziger Jahren trat hier ein wichtigerFormwandel ein – die Subjektivität und Individualität der Mitarbei-terinnen und Mitarbeiter wurde zunehmend als das Intensivierungs-potential entdeckt.35 Diese Entwicklung hält bis heute ungebrochenan und hat ihren vorerst letzten Ausdruck im Schlagwort vom »Un-ternehmer der eigenen Arbeitskraft« gefunden.

Entlang dieser Linie bringt ›electronic government‹ ein veränder-tes Verhältnis zwischen Staatsbürger und Staat hervor. Moderne Ver-waltung tritt dem Vorwurf der Entmündigung der Subjekte, der fürdie klassische regelgesteuerte Konditionalbürokratie sprichwörtlich

33 Vgl. ›www.-user.uni-bremen.de/~asta/themen/chip/reader/02-media-komm.htlm‹;vgl. auch diese Meldungüber digitale Signaturen inder Schweiz,›www.heise.de/newsticker/data/cp-08.07.01-003/‹.

34 Michel Foucault:Überwachen und Strafen,Frankfurt/M. 1994, S. 224.

35 Vgl. Peter Groskurth,Walter Volpert: Lohnarbeits-psychologie, Frankfurt/M.1975 (immer noch dasbeste Lehrbuch zurArbeits- und Organisations-psychologie).

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ist, offensiv entgegen. In Deutschland lautet die Losung »aktivieren-der Staat«36, in dem eine »neue Verantwortungsteilung« zwischenStaat und Bürger vorgesehen ist: »Im aktivierenden Staat sind siegleichberechtigte Partner bei der Wahrnehmung von Aufgaben fürdas Gemeinwohl.«37 An die Stelle von Regelwerken für alle mögli-chen (Alltags)Vorgänge tritt ein ›outcome-orientiertes‹ Kontraktma-nagement. Definiert wird nicht mehr, wie bestimmte Leistungen zuerlangen oder zu erbringen sind, sondern nunmehr das Ziel desganzen Vorgangs. Die Ausführung wird den Subjekten und ihrem jeeigenen ›Stil‹ überlassen. Ein profanes Beispiel mag das verdeutli-chen. Bei der Einführung der digitalen Chipkarte mit Signaturfunk-tion an der Universität Bremen wurde als ein Anwendungsfall diePrüfungsanmeldung per Internet vorgestellt. Im Gegensatz zu frühermüsse der Student jetzt nicht mehr persönlich zu einer bestimmtenZeit im Prüfungsamt erscheinen, sondern er könne, wenn es ihmbeliebt, auch um 3.21 Uhr nachts seine Prüfung anmelden. Von denBeteiligten wird das als Ent-Bürokratisierung und Freiheitsgewinnerlebt. Tatsächlich handelt es sich aber um eine Vereinnahmung auchindividuellster Eigenschaften in bürokratische Erkennungs- und Ent-scheidungsprozesse.

Die Subjekteffekte, die mit ›electronic government‹ einhergehenkönnten, lassen sich weiterhin an der Analyse des gegenwärtigenUmbaus der Sozialversicherungssysteme von Henning Schmidt-Semisch vedeutlichen.38 Diesen Umbau begreift er als die Durchset-zung versicherungsmathematischen Gerechtigkeit gegenüber dervon ihm so genannten »sozialen Gerechtigkeit« des Sozialstaates.

Die klassischen Sozialversicherungssysteme, so Schmidt-Semisch,setzen sich aus weitgehend zwangskollektivierten Versicherungs-nehmern zusammen, die bezüglich ihrer Lebensumstände sowieihrer Risiken große Unterschiede aufweisen. Bei einer Inan-spruchnahme der Leistungen, zum Beispiel im Falle des Verlustesdes Arbeitsplatzes bei der Arbeitslosenversicherung, werden dieseUnterschiede nur insofern berücksichtigt, als daß sich die gezahltenLeistungen am letzten Einkommensniveau der Versicherten orientie-ren. Gerechtigkeit, so die Legitimationsformel, stellt sich über dieVerteilung der Risikolast auf möglichst viele Schultern her. Dieindividuellen Unterschiede werden durch die mit steigenden Ver-sichertenzahlen sinkenden Einzelabgaben ausgeglichen. Zugespitztformuliert: Nur durch die erzwungene39 Teilnahme möglichst allerkönnen die Beiträge klein gehalten werden und gleichzeitig erwirbtjedermann das Recht auf Inanspruchnahme der Leistungen, unab-hängig von der individuellen Situation – eine abstrakte Form gegen-seitiger Fürsorge.

Die Gerechtigkeit von privatwirtschaftlichen Versicherungenrekurriert dagegen auf der möglichst umfassenden Kenntnis derindividuellen Gegebenheiten, die als sogenannte Risikofaktoren inversicherungsmathematische Modelle eingehen. Bei diesen Metho-den werden aus den subjektiven Umständen, wie zum Beispiel Cha-rakter, moralische Einstellung etc., und objektiven Faktoren, wieAlter, Geschlecht, Wohnort, Beruf usw., individuelle Risikokombi-natorien errechnet, aus denen sich dann die jeweiligen Prämien undVersicherungssummen ergeben. Außerdem können bestimmte

36 Vgl. Kabinettsbeschluß:Staat Modern – ModerneVerwaltung; diese Formelfindet sich in fast allendeutschen Konzepten zum›electronic government‹wieder.

37 Moderner Staat –Moderne Verwaltung, S. 2.

38 Vgl. Henning Schmidt-Semisch: Selber schuld –Skizzen Versicherungs-mathematischer Gerechtig-keit, in: Bröckling, U.,Lemke, T., Krasmann, S.:Gouvernementalität derGegenwart, Frankfurt 2000,S. 168 ff.

39 Schmidt-Semischinteressiert sich nicht fürden Hintergrund dieserIntervention des bürger-lichen Staates. Dieser liegtknapp gesagt in dem Inter-esse zu garantieren, daß dieArbeitskraft erhalten wird,wenn kein Lohn fließt –sei es wegen Krankheitoder aufgrund vonArbeitslosigkeit.

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Pflichten, sogenannte Obliegenheiten, abgeleitet werden – bei einemteuren Auto das Anbringen einer Alarmanlage etwa.

Gerechtigkeit bedeutet hier, daß hohe individuelle Risiken mit ho-hen und geringe individuelle Risiken mit geringen Tarifen belegtwerden. Diesen Bedingungen stellen sich die Teilnehmer auf ›frei-williger‹ Basis. Von dieser Warte aus scheinen die großen Unter-schiede zwischen den Zwangsversicherten und ihre ›Gleichbehand-lung‹ im Schadensfall als ungerecht – ›Wieso soll ich für den Tumordes Rauchers aufkommen?‹ lautet die empörte Frage der sich mitsteigenden Beiträgen konfrontiert sehenden Versicherungsteilneh-mer der Krankenversicherung. Der Vorwurf geht hier an den ver-meintlich unverantwortlichen Umgang anderer Leistungsnehmer mitden knappen gemeinsamen Ressourcen. Zur Schonung dieser habenalle die Pflicht, und jene, die aufgrund bestimmter Umstände oderbestimmter Verhaltensweisen mehr Ressourcen beanspruchen alsandere, können dies tun – solange sie dafür entsprechend belangtwerden.

Das spezifische Paradox dieser Entwicklung ist, daß individuelleHandlungsfreiheit zunimmt, indem die Individuen von der soge-nannten Gleichmacherei des überkommenen Sozialstaates freige-setzt werden, diese gleichzeitig aber um so mehr (gesellschaftliche)Risiken zu tragen haben, die nun nur noch als Konsequenzen ihresje eigenen Handelns erscheinen – der Preis der Freiheit eben. DieNotwendigkeit der Risikovorsorge wird an die Individuen abgege-ben; eine, als subjektiver Freiheitsgewinn erlebte, repressive Aufhe-bung des staatlichen Paternalismus.

Schmidt-Semisch schließt weiter, daß individuell antizipierte Res-sourcenschonung zum zentralen Prinzip wird. Der Staat hat dieSorge zu tragen, daß jeder sich prophylaktisch verhält und auf dieseWeise der Gesamtheit dient. »Die ›Rede vom sozialen Netz alssoziale Hängematte im Freizeitpark Deutschland‹ (Freyberg 1997:185) macht tendenziell alle ›Netto-Empfänger‹ der Sozialversiche-rung verdächtig. Nur die propagierte versicherungsmathematischeRationalität – so die implizite Botschaft – kann dieser betrügeri-schen ›Vollkasko-Mentalität‹ ein Ende setzen, weil sie alle Risiko-unterschiede der Personen berücksichtigt.«40 Dazu ist die umfas-sende Kenntnis der individuellen Lebensführung notwendig. »In der›verdächtigen Gesellschaft‹ wird tendenziell jeder zu einem poten-tiellen ›Täter‹, dessen Risikokombinatorium es zu durchdringengilt.«41

Innerhalb eines solchen Modells gesellschaftlicher Freisetzung beigleichzeitigem In-Verantwortungnehmen der Subjekte erscheinendie Datenerfassungs- und Verarbeitungskapazitäten, die mit ›electro-nic government‹ realisierbar sind, in einem anderen Licht. Erst mitihnen ist die für die Erstellung von Risikokombinatorien notwendigeEinholung der Alltagswelt der Individuen möglich. Die realpoliti-sche Umsetzung solcher Modelle steht zweifelsohne auf einemanderen Blatt. Wenn auch mit der Rentenreform das von Schmidt-Semisch skizzierte Modell »versicherungsmathematischer Gerech-tigkeit« schon eine gesellschaftliche Konkretion gefunden hat.

Es dürfte bis hier deutlich geworden sein, daß mit ›electronicgovernment‹ entscheidende Veränderungen der politisch-institutio-

40 Henning Schmidt-Semisch: Selber schuld...,a. a. O. S. 178.

41 Ebenda.

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nellen Ausformung bürgerlicher Staatsgewalt anstehen. Bürokratiewar und ist die institutionelle Ausdrucksform des bürgerlichen Staa-tes, die konkret der Herstellung und Gewährleistung von Bedingun-gen der Akkumulation dient: in Form der Organisation von Infra-strukturen für Verkehr, Telekommunikation, Versorgung etc., inForm der Aufrechterhaltung der ›öffentlichen Ordnung‹ und nichtzuletzt in Form der Herstellung des bürgerlichen Subjektstatus durchdie Organisation von Erziehung, Bildung und Wissenschaft.

Die Perspektiven von über ›electronic government‹ vermittelterVergesellschaftung zu einem ›neuen‹ Staatsbürgersubjekt sind der-zeit notwendig prognostischer Natur. Gleichwohl ist es sicher, daßmit ›electronic government‹ in naher Zukunft ein erhebliches volks-wirtschaftliches Rationalisierungs- und Einsparungspotential zu er-schließen ist. Dieser Prozeß betrifft mehr oder minder schnell dieLebensführung aller Subjekte im Einzugsbereich einer solcherartmodernisierten Verwaltung. Das Internet wird in diesem Prozeßseine Unschuld verlieren und wieder offen zu einer Infrastruktur vonHerrschaftstechnologie werden – die Wiederkehr des Verdrängtensozusagen.

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Der heutige Rechtsextremismus ist nicht mehr derselbe wie zur Zeitdes Nationalsozialismus beziehungsweise Hitlerfaschismus, viel-mehr hat er sich seither umfassend modernisiert, was natürlich nichtheißt, daß sich sein zutiefst inhumanes Wesen, seine Hauptstoßrich-tung gegen eine soziale Demokratie und seine fortschrittsfeindlicheGrundfunktion gewandelt hätten. Gleichwohl drängt sich die Frageauf, welche Besonderheiten ultrarechte Strömungen, Parteien undOrganisationen der Gegenwart aufweisen. Während in der medialenund Fachdiskussion selten über Zusammenhänge zwischen ökono-mischer Globalisierung einerseits und rechtsextremer Mobilisierungandererseits reflektiert wird, steht diese Kausalbeziehung hier imMittelpunkt. Bevor jedoch spezifische, die extreme Rechte begünsti-gende Folgen des Globalisierungs- beziehungsweise neoliberalenModernisierungsprozesses thematisiert werden, sind ein paar termi-nologische Klärungen und allgemeinere Überlegungen gesellschafts-theoretischer Art nötig.

Begrifflichkeit und theoretische GrundlagenAls die nach Verträgen der Bundesrepublik mit mehreren südeuro-päischen, später auch mit zwei nordafrikanischen Staaten seit 1955angeworbenen »Gastarbeiter« während der wirtschaftlichen Krisen-phase der sechziger Jahre auf Ressentiments stießen, setzte sich hier-zulande ein Terminus durch, den es nur im deutschsprachigen Raumgibt: »Ausländerfeindlichkeit« war eine Wortschöpfung, die dasPhänomen als individuelles und nicht als gesellschaftliches Problemdefinierte. Welche sozial-historischen Zusammenhänge zwischenHitlerfaschismus und zeitgenössischem Rechtsextremismus beste-hen, blieb ausgeblendet, weil die Juden ja Deutsche und eben keineAusländer/innen gewesen waren. »Ausländerfeindlichkeit« wurdenicht mit jenem fanatischen Antisemitismus, der Auschwitz erstmöglich gemacht hatte, in Verbindung gebracht, sondern schien et-was völlig Neues, nämlich die Skepsis, Vorsicht beziehungsweiseAntipathie gegenüber einzelnen Bürger(inne)n anderer Nationalitätzu charakterisieren.

Der erste Teil des Wortes ist irreführend, der zweite Teil verharm-losend. »Ausländerfeindlichkeit« betrifft weder alle noch nurAusländer/innen: Schweizer Bankiers, Skandinavier und weißeUS-Amerikaner/innen leiden nicht darunter; umgekehrt nützt esSchwarzen, zum Beispiel »Besatzungskindern«, überhaupt nichts,von Geburt an Deutsche zu sein. Wie die Analogie zur »Hunde-

Christoph Butterwegge –Jg. 1951Prof. für Politikwissenschaftan der Universität zu Köln.Foto: privat

UTOPIE kreativ, H. 135 (Januar 2002), S. 55-67 55

CHRISTOPH BUTTERWEGGE

Globalismus, Neoliberalismusund Rechtsextremismus

feindlichkeit« zeigt, von der manche Tierfreunde im Frühsommer2000 sprachen, als viele Mitbürger/innen für einen Maulkorb- oderLeinenzwang bei sogenannten Kampfhunden plädierten, wird derrassistische Haß eher bagatellisiert, wenn man ihn »Ausländerfeind-lichkeit« nennt.

»Fremdenfeindlichkeit« erscheint noch fragwürdiger, weil unwill-kürlich der Eindruck entsteht, die persönliche Abneigung oder Ab-wehrhaltung gegenüber »den Anderen« sei angeboren und natürlich.Man unterschlägt oder übersieht so, daß bestimmte Menschen erstdurch einen als »Ethnisierung« bezeichneten Etikettierungs- undStigmatisierungsprozeß zu Fremden »gemacht« werden.1 In dem engdamit verwandten Begriff »Xenophobie« wird ein Kausalzusam-menhang zwischen Furcht und Fremdenfeindlichkeit hergestellt,womit sich zuweilen die Behauptung verbindet, gemeint sei etwasNatürliches und biologisch Vorgegebenes, also nicht etwa sozial Ge-lerntes und Veränderbares.2 Bedenklich stimmt auch, daß hierzu-lande selbst von erklärten Gegnern der Übergriffe schon lange nichtmehr so viel von »den/dem Fremden« gesprochen wurde3, wodurchman – meist ungewollt beziehungsweise unbewußt – Ausgrenzungs-prozesse unterstützt hat, denen bestimmte Gruppen seither verstärktunterliegen.

»Rassismus« bezeichnet im Unterschied zu den oben genanntenBegriffen ein gesellschaftliches Macht- und Gewaltverhältnis (insti-tutioneller beziehungsweise struktureller Rassismus), eine Weltan-schauung, die Rangunterschiede zwischen Menschengruppen pseu-dowissenschaftlich zu rechtfertigen sucht (intellektueller Rassismus)sowie Vorurteile, Klischees und Stereotype gegenüber beziehungs-weise die daraus resultierende Diskriminierung von ethnischen Min-derheiten (individueller beziehungsweise Alltagsrassismus).Während der Rassismus die – biologische beziehungsweise kultu-relle – Differenz betont und damit in letzter Konsequenz den Aus-schluß, die Ausgrenzung oder gar Ausmerzung »der Anderen« ver-langt, hält der Ethnozentrismus die eigene Überlegenheit für ein zuvermittelndes Gut und neigt eher zu der Annahme, andere Völker be-ziehungsweise Volksgruppen müßten sich assimilieren.4

Versucht man, Rassismus zu definieren, so handelt es sich im Kernum ein die Haltung und das Handeln von Millionen Menschen, aberauch die Praxis staatlicher Institutionen bestimmendes Denken, wel-ches nach körperlichen beziehungsweise nach kulturellen Merkma-len gebildeten Großgruppen (zum Beispiel »den Weißen« und »denSchwarzen« oder »den Christen« und »den Muslimen«) unter-schiedliche Fähigkeiten, Fertigkeiten oder Charaktereigenschaftenzuschreibt, wodurch die Ungleichverteilung von Rechten und mate-riellen Ressourcen erklärt, also die Existenz eigener Privilegien be-ziehungsweise der Anspruch darauf legitimiert, die Gültigkeit uni-verseller Menschenrechte hingegen negiert wird. Wer bei Gruppenvon Menschen somatische Unterschiede (zum Beispiel der Haut-und Haarfarbe, Physiognomie, Gesichtsform) feststellt, ist deshalbnoch kein Rassist, selbst dann nicht, wenn er sie als »Rassen« be-zeichnet, obwohl eine solche Unterteilung der Menschheit wissen-schaftlich unhaltbar, dieser Terminus durch den NS-Völkermord inDeutschland zusätzlich diskreditiert und kaum geeignet ist, eine

1 Vgl. Wolf-DietrichBukow: Feindbild: Minder-heit. Ethnisierung und ihreZiele, Opladen 1996.

2 Vgl. K. Peter Fritzsche:Bürger im Streß – eineErklärung der Xenophobie,in: Verantwortung in einerunübersichtlichen Welt.Aufgaben wertorientierterpolitischer Bildung. Referateund Diskussionsergebnissedes Bundeskongresses derDeutschen Vereinigung fürPolitische Bildung inZusammenarbeit mit derBundeszentrale für politi-sche Bildung vom 10. bis12. März 1994 in Erfurt,Bonn (Schriftenreihe,Bd. 331) 1995, S. 165 f.

3 Vgl. Lutz Hoffmann;Das deutsche Volk undseine Feinde. Die völkischeDroge – Aktualität undEntstehungsgeschichte,Köln 1994, S. 53.

4 Vgl. Johannes Zerger:Was ist Rassismus? EineEinführung, Göttingen 1997,S. 91.

56 BUTTERWEGGE Globalismus

sachliche Diskussion zu ermöglichen. Rassismus beginnt dort, wophänotypische Merkmale oder kulturelle Spezifika einer bestimmtenGroßgruppe so mit »inneren Werten« in Verbindung gebracht wer-den, daß man den Gruppenmitgliedern die Möglichkeit zur Ent-wicklung einer eigenen Persönlichkeit abspricht. Verletzt wird da-durch die Fundamentalnorm der Verfassung »Die Würde des Men-schen ist unantastbar« (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG).

Seit den rechten Gewalttaten von Hoyerswerda, Hünxe, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen läßt sich in der Bundesrepublikeine gewisse Enttabuisierung des Rassismusbegriffs feststellen, derzwar als Fachterminus international gebräuchlich ist, hierzulandeaber jahrzehntelang als polemisch überzogen galt. Der enorme Vor-teil dieses Terminus besteht freilich darin, daß er gesellschaftlicheStrukturzusammenhänge und historische Kontinuitäten seit demMittelalter (Kolonialismus) erfaßt, ohne Modifikationen und Ausdif-ferenzierungen (biologisch beziehungsweise kulturell begründeteSpielarten des Rassismus) zu ignorieren.5 Neben dem Nationalis-mus, Biologismus und Sozialdarwinismus bildet der Rassismus einKernideologem des Rechtsextremismus, das sich nicht nur im Be-wußtsein vieler Europäer/innen festgesetzt, sondern auch institutio-nalisierte Formen (der Diskriminierung durch Behörden und Ämter)angenommen hat.6

Wirtschaftsfundamentalismus, neoliberaler Wettbewerbswahn undWohlstandschauvinismus als Ursachen für rechte GewaltEs wäre falsch, Rechtsextremismus als Desintegrationsphänomenoder Jugendproblem zu begreifen. Sein organisierter Kern ist auchkeine Protestbewegung, die sich für sozial benachteiligte Deutscheeinsetzt.7 Vielmehr grenzt er Menschen mit Behinderungen, Obdach-lose, Homosexuelle und andere »Randgruppen« genauso aus wieAsylbewerber/innen, will ihnen staatliche Leistungen vorenthaltenund/oder sie durch Zwangsmaßnahmen disziplinieren. Es geht alsonicht um eine Negation, sondern gerade um die – bis zur letztenKonsequenz getriebene – Realisation gültiger Normen (Beurteilungeiner Person nach ihrer ökonomischen Verwertbarkeit, Leistungs-fähigkeit beziehungsweise Angepaßtheit) und gesellschaftlicherFunktionsmechanismen wie der Konkurrenz.8

Hier wird für ein Erklärungsmodell plädiert, das die Konkurrenzals Triebkraft des kapitalistischen Wirtschaftssystems, bestimmteErblasten der politischen Kultur sowie aktuell die Globalisierung be-ziehungsweise neoliberale Modernisierung nicht nur des Wohl-fahrtsstaates9, sondern beinahe aller Bereiche der Gesellschaft für(Standort-)Nationalismus, Rassismus und rechte Gewalt verantwort-lich macht.

Ulrich Beck unterscheidet zwischen der Globalität (als Ziel undTeilrealität einer Überwindung von nationalstaatlichen Begrenzun-gen beziehungsweise Beschränktheiten), der Globalisierung (alsProzeß, in dessen Lauf die Nationalstaaten schrittweise an Souverä-nität und Bedeutung einbüßen) sowie dem Globalismus (als Ideolo-gie des Neoliberalismus, Wirtschaftsfundamentalismus beziehungs-weise Marktradikalismus): »Der Globalismus unterstellt, daß ein sokomplexes Gebäude wie Deutschland – also der Staat, die Gesell-

5 Vgl. dazu EtienneBalibar: Gibt es einen»Neo-Rassismus«?, in:Ders., Immanuel Waller-stein, Rasse – Klasse – Na-tion. Ambivalente Identitä-ten, Hamburg/Berlin 1990,S. 23 ff.

6 Vgl. hierzu ChristophButterwegge: Nationalismusund Rassismus – Kern-ideologien des Rechts-extremismus als Leitbilderfür die Jugend?, in: ManfredBüttner (Hrsg.), Braune Saatin jungen Köpfen. Grund-wissen und Konzepte fürUnterricht und Erziehunggegen Neonazismus undRechtsgewalt, Bd. 1:Theorie und Ideologie desRechtsextremismus undNationalsozialismus inGeschichte und Gegenwart,Baltmannsweiler 1999,S. 13 ff.

7 Vgl. zur Kritik dieser undvergleichbarer AnsätzeChristoph Butterwegge:Rechtsextremismus, Ras-sismus und Gewalt.Erklärungsmodelle in derDiskussion, Darmstadt1996.

8 Vgl. Dieter Bott: Jugendund Gewalt, in: DeutscheJugend 2/1993, S. 87.

9 Vgl. hierzu: ChristophButterwegge: Wohlfahrts-staat im Wandel. Problemeund Perspektiven derSozialpolitik, 3. Aufl.Opladen 2001.

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schaft, die Kultur, die Außenpolitik – wie ein Unternehmen zuführen sei. Es handelt sich in diesem Sinne um einen Imperialismusdes Ökonomischen, unter dem die Unternehmen die Rahmen-bedingungen einfordern, unter denen sie ihre Ziele optimierenkönnen.«10

Im viel beschworenen »Zeitalter der Globalisierung« erscheint derNeoliberalismus als umfassende und in sich schlüssige Lehre, ja alspolitische Zivilreligion oder Weltanschauung, mit der man sich dieEntwicklung von Staaten und Gesellschaften erklären, sie aber auchbeeinflussen sowie in eine markt-, leistungs-, und konkurrenzorien-tierte Richtung lenken kann. Daß der Neoliberalismus eine beherr-schende Position im öffentlichen und Fachdiskurs erringen konnte,verdankte er weniger der Überzeugungskraft seiner Theorie, dieihren Hauptvertretern, zum Beispiel den Ökonomie-Nobelpreisträ-gern Friedrich A. Hayek und Milton Friedman, großen Einfluß aufdie herrschende Meinung gab, als deren geschickter Vernetzung, sy-stematischer Unterstützung durch sogenannte Denkfabriken (thinktanks) und von Stiftungen geförderter Lobbyarbeit.11

Der modernisierte Rechtsextremismus stützt sich auf eine ideolo-gische »Verklammerung von Wirtschaftsliberalismus und Nationa-lismus«, die aufgrund ihrer Zuspitzung für populistische Anrufungeninstrumentalisierbar ist: »Konstruktionen des Nationalen werdendann als ideologisches Bindemittel genutzt, um soziale Frustrationin autoritäre, obrigkeitsstaatliche Orientierungen zu überführen.« 12

Da neoliberale Kräfte das Elite- und Leistungsdenken früherer Epo-chen heute in verschiedenen Gesellschaftsbereichen rehabilitierenwollen, deckt sich die Rechtsentwicklung partiell durchaus mit ihrenZielsetzungen, auch wenn nicht – nach Art einer Verschwörungs-theorie – unterstellt werden soll, diese Interessenkonvergenz sei vonden handelnden Personen intendiert.

Neben den ökonomischen Macht- und Herrschaftsverhältnissen,die im Zuge der Globalisierung eine neue Gestalt annehmen, prägtdie politische (Un-)Kultur eines jeden Landes seine extreme Rechte,deren Ideologie, Organisationsstruktur und Führerpersönlichkeiten,aber auch die Art und Weise, wie ihnen demokratische Kräfte be-gegnen.13 Unter der »politischen Kultur« sind geistige Traditions-linien, Mentalitätsbestände sowie Haltungen der Bürger/innengegenüber den staatlichen Institutionen und Strukturen, also die sub-jektive Dimension des Politischen, zu verstehen. Erblasten der poli-tischen Kultur in Deutschland waren und sind zum Teil noch immer:ein ausgeprägtes Freund-Feind-Denken, die Fixierung auf Staat(Etatismus) und Obrigkeit (Untertanenmentalität), politischer Kon-formismus und übertriebene Harmoniesucht, Autoritarismus undAntipluralismus, Antiintellektualismus und Irrationalismus, einHang zum (rechtlichen) Formalismus, die preußische Ordnungsliebesowie eine Schwäche der Männer für militärische Disziplin.14 Siegipfelten in einem Nationalismus, der von der Reichsgründung 1871bis zur Niederlage 1945 besonders aggressiv war, weil Deutschlandals »verspätete Nation« (Helmuth Plessner), von der Ungleichzeitig-keit zwischen Industrialisierung und Demokratisierung geprägt,wenn nötig mit Waffengewalt einen »Platz an der Sonne« – dasmeinte: Weltmachtstatus – zu erlangen suchte.

10 Ulrich Beck: Was istGlobalisierung? Irrtümer desGlobalismus – Antwortenauf Globalisierung, Frankfurtam Main 1997, S. 27.

11 Vgl. dazu: DieterPlehwe, Bernhard Walpen:Wissenschaftliche undwissenschaftspolitischeProduktionsweisen im Neo-liberalismus. Beiträge derMont Pèlerin Society undmarktradikaler Think Tankszur Hegemoniegewinnungund -erhaltung, in: PROKLA115 (1999), S. 203 ff.

12 Klaus Dörre: Globali-sierung – Ende desrheinischen Kapitalismus?,in: Dietmar Loch, WilhelmHeitmeyer (Hrsg.): Schatten-seiten der Globalisierung.Rechtsradikalismus,Rechtspopulismus undseparatistischer Regionalis-mus in westlichen Demo-kratien, Frankfurt am Main2001, S. 79.

13 Vgl. ergänzend:Christoph Butterwegge:Ambivalenzen der politi-schen Kultur, intermediäreInstitutionen und Rechts-extremismus, in: WilfriedSchubarth, Richard Stöss(Hrsg.): Rechtsextremismusin der BundesrepublikDeutschland. Eine Bilanz,Opladen 2001, S. 292 ff.

14 Vgl. dazu vor allem:Kurt Sontheimer: Deutsch-lands Politische Kultur, 2.Aufl. München/Zürich 1991;Wolfgang Bergem: Traditionund Transformation. Einevergleichende Untersuchungzur politischen Kultur inDeutschland. Mit einemVorwort von Kurt Sont-heimer, Opladen 1993;Martin Greiffenhagen, SylviaGreiffenhagen: Ein schwieri-ges Vaterland. Zur politi-schen Kultur im vereinigtenDeutschland, München/Leipzig 1993.

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Das sogenannte Dritte beziehungsweise Großdeutsche Reich fußteweniger auf Sympathien der Bevölkerung mit dem Nationalsozialis-mus als auf ihrer Identifikation mit dem im monarchischen Obrig-keitsstaat wie in der Weimarer Republik übermächtigen Nationalis-mus: »Jede Binnenordnung schien akzeptabel, solange sie behauptenkonnte, nationale Ziele zu verwirklichen. Die vermeintliche Stär-kung deutscher Einheit und Weltgeltung wurde so zu einem Krite-rium der politischen Kultur, aus dem sich autoritäre Regime nach in-nen und expansionistische und imperialistische Politik nach außenrechtfertigen konnten.«15 Das NS-Regime hat den Nationalismusnicht – wie oft behauptet wird – pervertiert, also für Kriegsverbre-chen und Völkermord mißbraucht16, vielmehr nur auf die Spitze ge-trieben. Obwohl Deutschlands bedingungslose Kapitulation und Ok-kupation durch die alliierten Siegermächte nicht bloß bedeuteten,daß der Nationalsozialismus gescheitert, sondern auch, daß der Na-tionalismus seiner Legitimationsgrundlage beraubt war, blieb letzte-rer – genauso wie der Antisemitismus – im »kollektiven Gedächtnis«der Deutschen haften, weil sie ihre eigene NS-Vergangenheit wederkritisch aufgearbeitet noch wirklich bewältigt hatten.

Wenngleich die Nation in der Altbundesrepublik trotz einer vonRegierung und Opposition geübten Wiedervereinigungsrhetorik kei-nen zentralen Bezugspunkt der kollektiven Identitätsbildung mehrdarstellte,17 blieb der Glaube, die Deutschen seien ein besonderstüchtiges, fleißiges und begnadetes Volk, tief im Massenbewußtseinverankert. Eine Renaissance des Nationalismus setzte aber auchnicht erst mit der DDR-»Wende« im Herbst 1989 und der Wieder-vereinigung am 3. Oktober 1990, sondern spätestens nach dem Re-gierungswechsel im Oktober 1982 ein, als sich die CDU/CSU/FDP-Koalition der sogenannten Deutschen Frage zuwandte und diese in»Berichten zur Lage der Nation« wieder für »offen« erklärte.Gleichzeitig verkündete das Bundeskabinett unter Helmut Kohl eineneue Ausländerpolitik, welche die sogenannten Gastarbeiter – imGesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern –durch eine Geldprämie zur Rückkehr ins Herkunftsland ermunterte,sie damit jedoch als unerwünscht brandmarkte und die Neidgefühledeutscher Kollegen weckte. Wenig später hielt das Deutschlandlied(manchmal sogar mit allen drei Strophen) in Schulbücher, Klassen-räume, Fußballstadien sowie Rundfunkanstalten Einzug.

Forderungen nach einer Neukonturierung der »nationalen Iden-tität« fungierten als Brücke zwischen der »liberal-konservativenMitte« und der extremen Rechten. Ähnliches gilt für die DDR, wodas SED-Regime die Wurzeln des Nationalsozialismus nicht – wiein der neuen Verfassung von 1974 behauptet – ausgerottet, patrioti-sche Stimmungen vielmehr schon früh rekultiviert hatte, um seineeigene Position zu festigen, Bündnispartner in bürgerlichen Kreisenzu gewinnen und dem Kampf gegen den westdeutschen Separatstaateine geistiges Fundament zu verschaffen. Durch nationales Pathosund sozialistische Indoktrination entstand eine paradoxe Situation:»Zwar traf der von der SED propagierte Nationalismus, insofern erinhaltlich mit den Emotionen beziehungsweise Vorurteilen der Be-völkerung korrespondierte, auf Akzeptanz, trug aber nicht zu der ge-wünschten Distanz der Ostdeutschen insbesondere zur westlichen

15 M. Rainer Lepsius:Das Erbe des Nationalsozia-lismus und die politischeKultur der Nachfolgestaatendes »GroßdeutschenReiches«, in: Ders.:Demokratie in Deutschland.Soziologisch-historischeKonstitutionsanalysen.Ausgewählte Aufsätze,Göttingen 1993, S. 235.

16 Vgl. Georg Paul Hefty:Der Nationalismus – Giftoder Medizin?, in: Frank-furter Allgemeine Zeitung,23. Juli 1990.

17 Vgl. Heinrich Haferkamp:Nationen und Nationalis-mus. Zur Konstitution einesfolgenreichen Prinzipspolitischer Legitimität, in:Probleme des Friedens2/1993, S. 19.

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Lebensweise bei, sondern verstärkte im Gegenteil deren Renitenzgegen eine Sowjetisierung von Kultur und Alltagsleben in derDDR.«18

Die grenzrevisionistischen beziehungsweise revanchistischen Be-strebungen innerhalb der Vertriebenenverbände wurden von derCDU/CSU/FDP-Regierung mehr oder weniger offen unterstützt.1984/85 kam es zum Eklat, als die Landsmannschaft Schlesienankündigte, daß Bundeskanzler Kohl auf ihrem bevorstehendenDeutschlandtreffen unter dem Motto »40 Jahre Vertreibung – Schle-sien bleibt unser« sprechen werde. Zwar wurde diese Losung leichtabgewandelt (»40 Jahre Vertreibung – Schlesien bleibt unsere Zu-kunft im Europa freier Völker«), an der Stoßrichtung dieser Veran-staltung und der Teilnahme hochrangiger Unionspolitiker ändertesich aber nichts mehr. Als Helmut Kohl am 8. Mai 1985 gemeinsammit US-Präsident Ronald Reagan den Soldatenfriedhof in Bitburgbesuchte, wo sich auch zahlreiche Gräber von Angehörigen der Waf-fen-SS befinden, wurden die NS-Täter durch einen symbolischenAkt rehabilitiert. Micha Brumlik sah in diesem »obszönen Ritual«ein klares Signal zur »Rechtsverschiebung des bürgerlichen Lagers«durch die CDU/CSU: »Im Jahre 1985, vierzig Jahre nach dem Endedes Zweiten Weltkrieges, der Befreiung Deutschlands vom National-sozialismus, leitete die große konservative Volkspartei den ideologi-schen Rechtsruck ein.«19

1986/87 wurde im sogenannten Historikerstreit versucht, die Li-beralisierung der politischen Kultur, meist mit dem Höhepunkt derSchüler- und Studentenbewegung im Jahr 1968 assoziiert, durcheine Relativierung des Holocaust und Rehabilitierung der NS-Täterrückgängig zu machen.20 Langsam verschob sich das politische Ko-ordinatensystem der Bundesrepublik nach rechts. Später knüpftenDebatten über das Buch »Hitlers willige Vollstrecker« von DanielGoldhagen und Martin Walsers Frankfurter Friedenspreis-Rede imOktober 1998 daran wenigstens mittelbar an.21 In jüngerer Zeitließen die Forderung des CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden im Bun-destag, Friedrich Merz, nach Anpassung von Migrant(inn)en an die»deutsche Leitkultur« und die nach polemischer Kritik des grünenUmweltministers Jürgen Trittin an einer Skinhead-Parolen gleichen-den Interview-Äußerung von CDU-Generalsekretär Laurenz Meyergeführte »Nationalstolz«-Debatte deutlich erkennen, daß Kulturras-sismus und Deutschnationalismus weiterhin präsent, ja sogar ein-flußreiche Strömungen innerhalb der politischen Öffentlichkeit sind.

Deutschnationalismus, völkischer Ungeist und rechte Gewaltnach der Wiedervereinigung 1989/90Die deutsche Vereinigung hat den Nationalismus wieder zu einerrelevanten Größe gemacht. Nun bekamen Kräfte spürbar Auftrieb,denen »das Nationale« immer schon mehr als »das Soziale« am Her-zen gelegen hatte. Zwar konnten REPublikaner, DVU und NPD vondem »Jahrhundertereignis« nicht profitieren, sondern eher die Unions-parteien, als eigentliche Sieger fühlten sich aber jene, die nach»Mitteldeutschland« nun auch die ehemaligen Ostgebiete des so-genannten Dritten beziehungsweise Großdeutschen Reiches »heim-holen« wollten.

18 Michael Lemke: Natio-nalismus und Patriotismusin den frühen Jahren derDDR, in: Aus Politik undZeitgeschichte. Beilagezur Wochenzeitung DasParlament 50/2000, S. 18.

19 Micha Brumlik: DasÖffnen der Schleusen.Bitburg und die Rehabilita-tion des Nationalismus inder Bundesrepublik, in:Georg M. Hafner, EdmundJacoby (Hrsg.): Die Skan-dale der Republik, Frankfurtam Main 1989, S. 264.

20 Vgl. Heinrich Senfft:Kein Abschied von Hitler.Ein Blick hinter die Fassadendes »Historikerstreits«,Köln 1990.

21 Vgl. : Wolfgang Wipper-mann: Wessen Schuld?Vom Historikerstreit zurGoldhagen-Kontroverse,Berlin 1997; MartinDietzsch, Siegfried Jäger,Alfred Schobert (Hrsg.):Endlich ein normales Volk?Vom rechten Verständnisder Friedenspreis-RedeMartin Walsers. Eine Doku-mentation, Duisburg 1999;Johannes Klotz, GerdWiegel (Hrsg.): GeistigeBrandstiftung? Die Walser-Bubis-Debatte, Köln 1999.

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Wiewohl es nach der Vereinigung von DDR und Bundesrepublikweder hüben noch drüben einen »Nationalrausch« (Wolfgang Her-les) gab, hat eine partielle Renationalisierung der Politik und der po-litischen Kultur stattgefunden.22 Die am 20. Juni 1991 getroffeneEntscheidung des Parlaments, in das Reichstagsgebäude nach Berlinüberzusiedeln, wurde zumindest in Teilen der Öffentlichkeit als Di-stanzierung von der »Bonner Republik«, als definitive Abkehr vonder Westorientierung und längst überfällige »Rückbesinnung auf dieNation« interpretiert. Seit nicht mehr zwei miteinander verfeindeteTeilstaaten existieren, erscheint Deutschland wieder als politischesKollektivsubjekt, das »selbstbewußt« handeln soll und seinen Bür-ger(inne)n mehr Leistungs- beziehungsweise Leidensfähigkeit ab-verlangen muß.23

Politisch-kulturelle Traditionen entscheiden mit darüber, auf wel-che Art eine Wirtschaftskrise oder eine gesellschaftliche Umbruch-situation, etwa DDR-»Wende« und deutsche Wiedervereinigung,kollektiv »verarbeitet« werden. Sofern ausgrenzend-aggressive Mo-mente in der politischen Kultur eines Landes dominieren, werdendie gesellschaftlichen Verteilungskämpfe zu Abwehrgefechten derEinheimischen gegen »Fremde« und zu interkulturellen Konfliktenhochstilisiert, was für die Entstehung und Entwicklung von organi-satorischen Zusammenschlüssen (Parteien, Gruppen beziehungs-weise »Freie Kameradschaften«), aber auch bei der Überwindungindividueller Hemmschwellen eine Rolle spielt: »Einerseits kann derkulturelle Kontext die Herausbildung von Fremdenfeindlichkeit undrechtsextremen Handlungsformen direkt beeinflussen. Andererseitskann er einen vermittelnden Einfluß ausüben. Als Verstärker kann erzur Aktivierung einer schlummernden Fremdenfeindlichkeit führen,die Legitimation senken und somit die Auftrittswahrscheinlichkeitrechtsextremer Handlungsformen erhöhen.«24

Die 1991/92 extrem zugespitzte Asyldebatte hat nicht nur demGrundrecht geschadet, sondern auch die Verfassung und die demo-kratische Kultur der Bundesrepublik lädiert.25 Günter Grass sprachmit Blick auf die Asylhysterie vom »Niedergang der politischenKultur im geeinten Deutschland«, gar von einem »Rechtsrutsch«,welcher als »bundesweite Verlagerung der politischen Mitte« begrif-fen werden müsse.26 Obwohl im Rahmen des Asylkompromisseszwischen CDU/CSU, FDP und SPD avisiert, blieb die Reform desStaatsbürgerschaftsrechts, das sich hierzulande immer noch auf dievölkische Abstammungslehre des »deutschen Blutes« stützt, bis zumRegierungswechsel im Herbst 1998 aus und wurde anschließend nurhalbherzig verwirklicht: »Trotz aller in der Bundesrepublik erfolgtenAngleichung an die westliche politische Kultur scheint eine zentraleKategorie noch nicht heimisch geworden: die der republikanischenStaatsbürgernation.«27

Symptomatisch dafür war die Unterschriftensammlung von CDUund CSU gegen den »Doppelpaß« (gemeint ist die Tolerierung derdoppelten Staatsbürgerschaft) vor der hessischen Landtagswahl imFebruar 1999, durch deren Ausgang sich die Mehrheitsverhältnisseim Bundesrat entscheidend zugunsten der Union verschoben. Dievom bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (CSU) initi-ierte und gemeinsam mit dem damaligen CDU-Vorsitzenden Wolf-

22 Vgl. : Andreas Dietl,Heiner Möller, Wolf-DieterVogel: Zum Wohle derNation, Berlin 1998;Siegfried Jäger u. a.: DerSpuk ist nicht vorbei.Völkisch-nationalistischeIdeologeme im öffentlichenDiskurs der Gegenwart,Duisburg 1998; MargretJäger, Siegfried Jäger:Gefährliche Erbschaften,Berlin 1999.

23 Vgl. Arnulf Baring:Deutschland, was nun? EinGespräch mit Dirk Rumbergund Wolf Jobst Siedler,Berlin 1991; Heimo Schwilk,Ulrich Schacht (Hrsg.): Dieselbstbewußte Nation.»Anschwellender Bocks-gesang« und weitere Beiträgezu einer deutschen Debatte,2. Aufl. Berlin/ Frankfurt amMain 1994; Arnulf Baring:Scheitert Deutschland?Abschied von unserenWunschwelten, Stuttgart1997.

24 Jürgen R. Winkler:Bausteine einer allgemeinenTheorie des Rechtsextre-mismus. Zur Stellung undIntegration von Persönlich-keits- und Umweltfaktoren,in: Jürgen W. Falter, Hans-Gerd Jaschke, Jürgen R.Winkler (Hrsg.): Rechts-extremismus. Ergebnisseund Perspektiven derForschung, Opladen 1996(PVS-Sonderheft 27), S. 43.

25 Vgl. : Heribert Prantl:Deutschland – leicht ent-flammbar. Ermittlungengegen die Bonner Politik,München/Wien 1994; AlfonsSöllner: Asylpolitik, Frem-denfeindschaft und die Kriseder demokratischen Kulturin Deutschland – eine zeit-geschichtliche Analyse, in:Uwe Backes, Eckhard Jesse(Hrsg.): Jahrbuch Extremis-mus und Demokratie 7,Baden-Baden 1995, S. 43 ff.

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gang Schäuble sowie Roland Koch, dem Spitzenkandidaten inHessen, organisierte Kampagne ließ eine politische Arbeitsteilungbeziehungsweise Doppelstrategie der beiden Schwesterparteien er-kennen: »Die CSU sprach mit populistischen Parolen gegen krimi-nelle Ausländer und Terroristen ›das Volk‹ an, die CDU begegnetedanach den Vorwürfen, die Aktion sei ausländerfeindlich, mit derBeteuerung, alles geschehe im Namen der Integration, also irgend-wie auch zum Wohle der Ausländer.«28

Diesem geschickten Schachzug der Opposition hatte die rot-grüneKoalition nichts Substantielles entgegenzusetzen, weil sie das Re-formziel nur halbherzig verteidigte und auf eine Mobilisierung fürdie grundlegende Modernisierung des antiquierten deutschen Staats-bürgerschaftsrechts verzichtete. Statt dessen schwenkte man sofortauf den Kompromißvorschlag, das sogenannte Optionsmodell derFDP, ein. Die politische Bewertung der Gesetzesnovellierung fälltdaher widersprüchlich aus: Während beispielsweise Eberhard Seidelim Hinblick auf die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts – m. E.viel zu pathetisch – von einem »Quantensprung« spricht29, heben an-dere Kommentator(inn)en die Ambivalenz des verwirklichten Mo-dells stärker hervor. Einerseits gilt das Abstammungsprinzip nichtmehr absolut, andererseits müssen sich die betreffenden Jugendli-chen in der Regel bis zu ihrem 23. Lebensjahr für eine Staatsbürger-schaft entscheiden. »Entscheidend dürfte sein, wie in der Praxis diebeiden Ausnahmefälle für den ansonsten erforderlichen Verzicht aufdie ausländische Staatsangehörigkeit (nicht möglich oder dem/derBetreffenden nicht zumutbar) definiert werden.«30

Gudrun Hentges erklärt die Brisanz und Resonanz der im Oktober2000 entbrannten »Leitkultur«-Diskussion mit dem Zeitpunkt, zuwelchem sie geführt wurde: »Ein Jahrzehnt nach der Auflösung dessozialistischen Staatensystems und der Wiedervereinigung der bei-den deutschen Staaten stellt sich die Frage nach der ›selbstbewußtenNation‹ neu – nicht nur in der sogenannten Sicherheits- und Vertei-digungspolitik, sondern auch im Bereich der Ausländer- und Asyl-politik.«31 Tatsächlich befindet sich die Bundesrepublik an einemmöglichen Wendepunkt ihrer Entwicklung, wo eine zentrale Wei-chenstellung auf unterschiedlichen Politikfeldern erfolgt. Ob dasvereinte Deutschland wieder nach einer Weltmachtrolle strebt undsich dafür ökonomisch-technologisch wie militärisch rüstet, dürftevon den dominanten Diskursen abhängen, deren Verlauf jedoch auchganz wesentlich beeinflussen.

Gegenwärtig scheint es so, als würden die Themen der Rechten zuThemen der Mitte: Beispiele für eine Ethnisierung und Kulturalisie-rung sozialer, politischer sowie ökonomischer Prozesse belegen, daßsich dieser Prozeß quer durch das etablierte politische und öffent-liche Gefüge hindurchzieht.32 Wie man ungewollt rechte Gewaltlegitimiert, demonstriert die öffentliche Kontroverse über dasBekenntnis des als Nachfolger von Ruprecht Polenz zum CDU-Generalsekretär ernannten Laurenz Meyer im Focus (v. 30. 10. 2000),er sei stolz, ein Deutscher zu sein. In einem Interview, das er demWDR gab, konterte Bundesumweltminister Trittin eine Meyer-Attacke zum Parteitagsbeschluß der Bündnisgrünen, den ursprüngli-chen Asylparagraphen 16 im Grundgesetz wieder herstellen zu

26 Günter Grass: Redevom Verlust. Über denNiedergang der politischenKultur im geeinten Deutsch-land, Göttingen 1992, S. 22.

27 Bruno Schoch: DerNationalismus – bekannt,nicht erkannt, in: BertholdMeyer (Red.): Eine Weltoder Chaos? Frankfurt amMain 1996, S. 53.

28 Andreas Klärner: Auf-stand der Ressentiments.Einwanderungsdiskurs,völkischer Nationalismusund die Kampagne derCDU/CSU gegen die dop-pelte Staatsbürgerschaft,Köln 2000, S. 94.

29 Siehe Eberhard Seidel:Die Jahrhundertreform. Vonder doppelten Staatsbürger-schaft zum Einwanderungs-gesetz, in: Blätter für deut-sche und internationalePolitik 8/1999, S. 968.

30 Wolfgang Grenz: DieAusländer- und Asylpolitikder rot-grünen Bundesre-gierung, in: Christoph But-terwegge, Gudrun Hentges(Hrsg.): Zuwanderung imZeichen der Globalisierung.Migrations-, Integrations-und Minderheitenpolitik,Opladen 2000, S. 107.

31 Gudrun Hentges: DieBüchse der Pandora. Deut-sche Leitkultur und natio-nale Interessen, in: UlrichSchneider (Hrsg.): Tut was!,Strategien gegen Rechts,Köln 2001, S. 65.

32 Vgl. Christoph Butter-wegge u. a. : Themen derRechten – Themen derMitte. Diskurse umdeutsche Identität, Leitkulturund Nationalstolz, Opladen2002.

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wollen (»Rückfall in Müsli-Nostalgie«), unter Bezugnahme auf dieGlatze des Zitierten am 12. März 2001: »Laurenz Meyer hat dieMentalität eines Skinheads und nicht nur das Aussehen.« Als kurzdarauf Bundespräsident Johannes Rau nach Rücktrittsforderungender Union gegenüber Trittin bemerkte, man könne nur auf eigeneLeistungen, nicht jedoch auf die Nationalität stolz sein, mußte sichsogar das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik einen Mangel anPatriotismus vorwerfen lassen. Weit über das ultrarechte Spektrumhinaus dominierte die Position, Deutschsein verlange den entspre-chenden Nationalstolz wie zu Zeiten des Kaiserreiches oder des NS-Regimes.

Zuwanderung am Wirtschaftsstandort: Globalisierung –Neoliberalismus – StandortnationalismusVon der »Leitkultur«-Diskussion führte ein gerader Weg zur »Natio-nalstolz«-Debatte, wie schon von der Asyldiskussion zur Standort-debatte, die Mitte der neunziger Jahre das Einfallstor für eine neueSpielart des Nationalismus darstellte.33 War zuerst die Furcht ver-stärkt worden, Ausländer nähmen »den Deutschen die Arbeitsplätze«weg, so entstand nunmehr der Eindruck, das deutsche Kapital wan-dere ins Ausland ab, was ähnliche Ängste hervorrufen mußte (Titel-zeile auf Seite 1 von Bild am 6. Oktober 1999: »HochsteuerlandDeutschland: Haut Daimler ab in die USA?«).

Das verbreitete Bewußtsein, auf den internationalen Märkten einer»Welt von Feinden« gegenüber zu stehen und durch »deutschenErfindungsgeist«, größeren Fleiß und mehr Opferbereitschaft diestrukturelle Überlegenheit des »eigenen« Wirtschaftsstandortes do-kumentieren zu müssen, nenne ich »Standortnationalismus«. Kon-kurrenzfähigkeit avanciert zum Dreh- und Angelpunkt, was nichtohne verheerende Konsequenzen für das gesellschaftliche Klimabeziehungsweise die politische Kultur bleibt: »Die Betonung desökonomischen Nutzenkalküls sieht nicht nur von schlichten mit-menschlichen Verpflichtungen ab, sie grenzt auch all jene aus, dieuns tatsächlich oder vermeintlich nur zur Last fallen.«34 Für dieNichtdeutschen in Deutschland ergaben sich damit automatischungünstigere Aufenthaltsbedingungen: »In einer Situation, in der das›ganze Volk‹ angehalten wird, ›den Gürtel enger zu schnallen‹, liegtes auf den Stammtischen, daß ›Fremde‹, seien es Arbeitsmigranten,Asylbewerber oder Flüchtlinge, nicht auch noch von den ohnehinknappen Mitteln bedient werden können. ›Deutsch sein‹ heißt unterden Bedingungen des modernen Wohlfahrtsstaates, den eigenenWohlstand zu verteidigen und Ansprüche anderer Gruppen zu de-legitimieren und abzuwehren.«35

Hierdurch eröffnen sich dem Rechtsextremismus ideologische An-knüpfungspunkte. Was bereits in der Ablehnung »deutschstämmi-ger« Aussiedler/innen durch Anhänger/innen und Gliederungen derREPublikaner zum Ausdruck kam, bestätigt sich: Nicht mehr dermythisch-völkische, sondern ein modernisierter, neoliberal undmarktradikal orientierter Nationalismus beherrscht mittlerweile dieultrarechte Szene.36 Aufgrund der Tatsache, daß Wirtschaft und So-ziales zum zentralen Politikfeld der extremen Rechten gewordensind37, befindet sich hier ein Konfliktherd für die demokratische Kul-

33 Vgl.: Christoph Butter-wegge: Marktradikalismus,Standortnationalismus undWohlstandschauvinismus –die Sinnkrise des Sozialenals Nährboden der extremenRechten, in: ChristophButterwegge, Rudolf Hickel,Ralf Ptak: Sozialstaat undneoliberale Hegemonie.Standortnationalismus alsGefahr für die Demokratie,Berlin 1998, S. 121 ff.

34 Gert Schäfer: Aus-länderfeindliche Topoi offi-zieller Politik, in: WolfgangKreutzberger u. a.: Aus derMitte der Gesellschaft –Rechtsradikalismus in derBundesrepublik, Frankfurtam Main 1993, S. 88.

35 Frank-Olaf Radtke:Fremde und Allzufremde.Der Prozeß der Ethnisierunggesellschaftlicher Konflikte,in: Forschungsinstitut derFriedrich-Ebert-Stiftung,Abt. Arbeits- und Sozialfor-schung (Hrsg.), Ethnisierunggesellschaftlicher Konflikte.Eine Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung am 11. Okto-ber 1995 in Erfurt, Bonn1996, S. 14.

36 Vgl. : Herbert Schuiu. a.: Wollt ihr den totalenMarkt? Der Neoliberalismusund die extreme Rechte,München 1997.

37 Vgl. Ralf Ptak: Diesoziale Frage als Politikfeldder extremen Rechten.Zwischen marktwirtschaft-lichen Grundsätzen,vormodernem Antikapitalis-mus und Sozialismus-Demagogie, in: Jens Meck-lenburg (Hrsg.): BrauneGefahr. DVU, NPD, REP –Geschichte und Zukunft,Berlin 1999, S. 98.

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tur. Je enger die Verteilungsspielräume einer Gesellschaft werden,desto mehr wächst nämlich die Versuchung, sogenannte Randgrup-pen von bestimmten Ressourcen auszuschließen. Ethnisierung, vonder oben schon die Rede war, ist ein dafür geeigneter Exklusions-mechanismus, der Minderheiten konstruiert, diese negativ (etwa als»Sozialschmarotzer«) etikettiert und damit eigene Privilegien ze-mentiert. Vordergründig geht es hierbei um die »kulturelle Iden-tität«; dahinter stecken aber meist handfeste Interessenkonflikte,knappe beziehungsweise verknappte gesellschaftliche Ressourcenbetreffend.

Ende der achtziger/Anfang der neunziger Jahre gewann die Ethni-zität nicht nur in Ländern der südlichen Hemisphäre und den ost-mitteleuropäischen Transformationsstaaten, sondern auch in denmeisten westeuropäischen Gesellschaften an Bedeutung. Der imKalten Krieg verbreiteten Angst vor einer »Unterwanderung« durchKommunisten folgte hierzulande die Angst vor einer »Überfrem-dung« durch »Asylanten« und Arbeitsmigranten. Jeder Ethnisie-rungsprozeß hat zwei Seiten: Zuerst erfolgt eine Stigmatisierung»der Anderen«; mit der Konstituierung/Konturierung einer nationa-len beziehungsweise »Volksgemeinschaft« sind allerdings weiterreichende politische und ökonomische Ziele verbunden. Mit derEthnisierung sozialer Beziehungen korrespondiert eine »Kulturali-sierung« der Politik, die nicht mehr auf materielle Interessen zurück-geführt, sondern auf die Wahrung kollektiver Identitäten reduziertwird.

Ein »nationaler Wettbewerbsstaat« (Joachim Hirsch), der kein her-kömmlicher Wohlfahrtsstaat mit einer umfassenden Verantwortungfür soziale Sicherheit und Gerechtigkeit mehr sein möchte, ver-schärft durch seine marktradikale Wirtschaftspolitik die sozialeUngleichheit und bereitet damit den Resonanzboden für gesell-schaftliche Ausgrenzungs- und Ethnisierungsprozesse. Je mehr dieKonkurrenz gegenwärtig in den Mittelpunkt zwischenstaatlicher und-menschlicher Beziehungen rückt, um so leichter läßt sich die ethni-sche beziehungsweise Kulturdifferenz politisch aufladen. Jutta Men-schik-Bendele und Klaus Ottomeyer diagnostizieren einen Trendzum »hedonistisch-konsumistischen Sozialdarwinismus«, der ver-stärkt um sich greife: »Nach dem globalen Sieg der Marktwirtschafthat jenes Prinzip, demzufolge der Stärkere sich durchsetzt und dasSchwache auf der Strecke bleibt, noch an Plausibilität gewonnen.Der aktuelle Rechtsextremismus und Rechtspopulismus beruht aufeiner Brutalisierung, Ethnisierung und Ästhetisierung alltäglicherKonkurrenzprinzipien.«38

Sozialdarwinismus fällt nicht vom Himmel, wurzelt vielmehr inder Erfahrungswelt einer Jugend, die durch das kapitalistische Lei-stungsprinzip, die Allgegenwart des Marktmechanismus und denKonkurrenzkampf jeder gegen jeden geprägt wird.39 Rivalität fun-giert als Haupttriebkraft einer zerklüfteten, zunehmend in Arm undReich gespaltenen Gesellschaft. »Die sozialdarwinistische Alltags-philosophie, die damit einhergeht, erzeugt eine unauffällige, sichvon direkter Gewalt fernhaltende und als ›Sachzwang‹ der Ökono-mie erscheinende Brutalität.«40 Wo die permanente Umverteilungvon unten nach oben mit dem Hinweis auf Globalisierungsprozesse

38 Jutta Menschik-Bendele, Klaus Ottomeyer:Sozialpsychologie desRechtsextremismus. Ent-stehung und Veränderungeines Syndroms, Opladen1998, S. 303.

39 Vgl. Reinhard Kühnl:Nicht Phänomene beschrei-ben, Ursachen analysieren.Zum Problem der extremenRechten in der Bundes-republik Deutschland, in:Ulrich Schneider (Hrsg.):Tut was!, a. a. O., S. 32 f.

40 Arno Klönne: Schwie-rigkeiten politischer Jugend-bildung beim Umgang mitdem Thema »Rechts-extremismus«, in: ChristophButterwegge, Georg Loh-mann (Hrsg.): Jugend,Rechtsextremismus undGewalt. Analysen undArgumente, 2. Aufl. Opladen2001, S. 266.

41 Vgl. Franz JosefKrafeld: Zur Praxis derpädagogischen Arbeit mitrechtsorientierten Jugend-lichen, in: Wilfried Schu-barth, Richard Stöss (Hrsg.):Rechtsextremismus in derBundesrepublik Deutsch-land, a. a. O., S. 287.

42 Siehe Samuel P.Huntington: Der Kampf derKulturen (The Clash of Civi-lizations). Die Neugestaltungder Weltpolitik im 21. Jahr-hundert, München/Wien1996; Bassam Tibi: Kriegder Zivilisationen. Politikzwischen Vernunft undFundamentalismus, 3. Aufl.Hamburg 1998.

43 Vgl. : Christoph Butter-wegge, Gudrun Hentges,Fatma Sarigöz (Hrsg.):Medien und multikulturelleGesellschaft, Opladen 1999;Christoph Butterwegge,Gudrun Hentges: »Ausländerund Asylmissbrauch« als

64 BUTTERWEGGE Globalismus

– als für die Sicherung des »eigenen Wirtschaftsstandortes« nützlich,ja unbedingt erforderlich – legitimiert wird, entsteht ein gesell-schaftliches Klima, das (ethnische) Ab- und Ausgrenzungsbemühun-gen stützt. In einer Zeit verschärfter Konkurrenz eine ideologischeRechtfertigung der Mißachtung ethischer Grundwerte und größerersozialer Ungleichheit (im Sinne von Ungleichwertigkeit) zu offerie-ren, bildet Franz Josef Krafeld zufolge einen Hauptgrund für diewachsende Attraktivität rechtsextremer Orientierungen.41

Wenn renommierte Wissenschaftler von einem »Kampf der Kultu-ren« oder gar einem »Krieg der Zivilisationen« sprechen42, wundertes nicht, daß Jugendliche zur Gewalt gegenüber Migranten greifen,die sie als Konkurrenten um knapper werdende Arbeitsplätze,Lehrstellen, Wohnungen und Sexualpartnerinnen empfinden. Die(den Verwertungsmechanismen privater Profitmaximierung unter-worfenen) Massenmedien tun ein übriges, um die Bevölkerung in»gute Einheimische« und »böse Fremde« aufzuteilen, wobei Journa-list(inn)en ihrer Verantwortung hinsichtlich einer seriösen Bericht-erstattung nicht immer gerecht werden.43

Nach mehreren Jahrzehnten massiven Widerstandes in der politi-schen Öffentlichkeit bildet sich in der Bundesrepublik Deutschlandgegenwärtig ein Konsens darüber heraus, daß es keine Alternativezur Einwanderungsrealität gibt und daß man sich damit arrangierenmuß. Seit dem Anwerbestopp im Jahre 1973 bestanden nie mehr sogroße Chancen für eine breite Akzeptanz von Immigration wieheute, obwohl kritisch einzuschränken bleibt, daß die Interessen derWirtschaft am Import und an der Verwertung von Arbeitskräften er-neut den Anstoß dazu gegeben haben und der »eigene« Nutzen beider Diskussion über die Green Card für ausländische IT-Fachleutedas Leitmotiv bildete.44

Ausdifferenzierung und Dualisierung des Rechtsextremismusim Zeichen der GlobalisierungWenn vom »globalisierten Rechtsextremismus« gesprochen wird,meint man meist seine weltweite organisatorische Vernetzung und/oder seine Internet-Präsenz.45 Sehr viel wichtiger ist jedoch dieFrage, welche Folgen der Globalisierungsprozeß für die Entwick-lung von Politik, Programmatik und Massenbasis des Rechtsextre-mismus hat. Kernideologien, organisatorische Formen, politischeStrategien und soziale Wählerpotentiale des Rechtsextremismus dif-ferenzieren sich im Rahmen der Globalisierung aus: Neben denvölkischen (Abwehr-)Nationalismus in Bevölkerungsschichten, dieAngst vor einem sie überfordernden »Turbo-Kapitalismus« (EdwardN. Luttwak) haben, tritt ein Standortnationalismus, den in ersterLinie solche Schichten unterstützen, die von einer neoliberalen Mo-dernisierung profitieren, den »Umbau« des Wohlfahrtsstaates nachMarktgesetzen forcieren und die soziale Ausgrenzung der wenigerLeistungsfähigen intensivieren möchten.

Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt sind keineswegs bloß»hinterwäldlerisch« anmutende Reaktionsweisen direkt betroffeneroder benachteiligter Gruppen auf Globalisierungs-, neoliberale Mo-dernisierungs- und soziale Marginalisierungsprozesse. Vielmehrverursachen diese auch in der gesellschaftlichen Mitte beziehungs-

Medienthema: Verantwor-tung und Versagen vonJournalist(inn)en, in:Christoph Butterwegge,Georg Lohmann (Hrsg.):Jugend, Rechtsextremismusund Gewalt, a. a. O., S. 83 ff.

44 Vgl. : Christoph Butter-wegge: Zuwanderung undWohlfahrtsstaat im Zeichender Globalisierung –antagonistischer Widerspruchoder nützliche Wechsel-beziehung?, in: Ders.,Gudrun Hentges (Hrsg.):Zuwanderung im Zeichender Globalisierung, a. a. O.,S. 258 ff.

45 Siehe Thomas Grumke:Globalisierter Rechtsextre-mismus, in: Die NeueGesellschaft/FrankfurterHefte 4/2001, S. 220 ff.

46 Michael Vester: Wersind heute die »gefährlichenKlassen«? Soziale Milieusund gesellschaftspolitischeLager im Wandel, in:Dietmar Loch, Wilhelm Heit-meyer (Hrsg.): Schatten-seiten der Globalisierung,a. a. O., S. 343.

47 Vgl. : Sebastian Her-kommer (Hrsg.): SozialeAusgrenzungen. Gesichterdes neuen Kapitalismus,Hamburg 1999; Hans-JürgenBieling: Dynamiken sozialerSpaltung und Ausgrenzung.Gesellschaftstheorien undZeitdiagnosen, Münster2000.

48 Vgl. Christoph Butter-wegge, Gudrun Hentges(Hrsg.): Zuwanderung imZeichen der Globalisierung,a. a. O.

49 Vgl. : Wilhelm Heit-meyer u. a. (Hrsg.): DieKrise der Städte. Analysenzu den Folgen desintegra-tiver Stadtentwicklung fürdas ethnisch-kulturelle

BUTTERWEGGE Globalismus 65

weise genauer: auf den »höheren Etagen« bedrohliche Erosionsten-denzen. »Gefahren der Entwicklung – auch solche der sozialen Des-integration und rechtsextremer Potentiale – gehen nicht von der›Masse‹ der Bevölkerung aus. In der politischen Qualifikation der al-ten und neuen Eliten liegt das Problem.«46

Globalisierung, als neoliberale Modernisierung ins Werk gesetzt,führt zu diversen Spaltungen: Soziale Polarisierung innerhalb derund zwischen Gesellschaften47; Dualisierung des Prozesses trans-nationaler Wanderungen in Experten- beziehungsweise Elitenmigrationeinerseits und Elendsmigration andererseits48; Krise beziehungsweiseZerfall der Städte, bedingt durch Marginalisierung und sozialräum-liche Segregation49, gehören zu den negativen Folgen, auf die derRechtsextremismus eine demagogische, keine wirklich überzeu-gende Antwort gibt.

Die neoliberale Modernisierung bewirkt auch eine Umstrukturie-rung, politisch-organisatorische wie geistig-ideologische Ausdiffe-renzierung und Dualisierung des Rechtsextremismus, der seither ineinen traditionalistischen und einen modernistischen Flügel zerfällt.Sozialstrukturell zieht ersterer primär die Globalisierungs- bezie-hungsweise Modernisierungsverlierer, letzterer besonders die Glo-balisierungs- beziehungsweise Modernisierungsgewinner in seinenBann. Mir scheint, daß der traditionalistisch-orthodoxe, sehr starkam Faschismus der Zwischenkriegszeit und dem noch älteren Anti-semitismus orientierte Rechtsextremismus eher in Ostmitteleuropadominiert, während der modernisierte, ökonomistisch und marktra-dikal orientierte Rechtsextremismus in Westeuropa bereits über die»Blut-und-Boden«-Variante triumphiert.

Mit diesem Deutungsmuster sind auch Entwicklungsunterschiededes Rechtsextremismus in Ost- und Westdeutschland erklärbar:Während in den alten Bundesländern eher Standortnationalismusund Wohlstandschauvinismus das ideologische Terrain beherrschen,feiert in den neuen ein mehr »konventioneller«, auf gesellschaftlicheund politische Modernisierungsrückstände verweisender Deutsch-nationalismus fröhliche Urständ. »In der politischen Alltagskulturund im politischen Denken der östlichen Bundesländer scheint einTrend zum ›Völkischen‹ beobachtbar, den es zwar auch in West-deutschland (wohl gleichfalls zunehmend) gibt, der dort aber auf-grund der großen politischen und größeren ethnischen Heterogenitätdieser Gesellschaft nicht so deutlich in den Vordergrund tritt.«50

Außerhalb der Bundesrepublik existieren Mischformen in Gestaltrechtspopulistischer Parteien, die soziale Aufsteiger und sozialBenachteiligte mit Erfolg ansprechen. Wenn die Kritik an einem»überbordenden«, angeblich den Wirtschaftsstandort gefährdendenWohlfahrtsstaat im Mittelpunkt der Wahlkampfpropaganda einerRechtspartei steht, spricht Frank Decker von »ökonomischem Popu-lismus«, den er gegenüber einer »politischen« (beziehungsweise»institutionellen«) und einer »kulturellen« Variante desselben Phä-nomens innerhalb westlicher Demokratien abhebt.51 Zwischen dersogenannten Neuen Rechten52, die sich überall extrem marktradikalgebärdete, bevor sie – aus wahltaktischen Gründen – zumindest pro-grammatische Konzessionen an breitere Schichten (Arbeitermilieu,sozial Benachteiligte) machte, und dem Neoliberalismus besteht ein

Zusammenleben, Frankfurtam Main 1998; Jens S.Dangschat (Hrsg.): Moderni-sierte Stadt – gespalteneGesellschaft. Ursachen vonArmut und sozialer Aus-grenzung, Opladen 1999;Klaus Ronneberger u. a.:Die Stadt als Beute, Bonn1999; Peter Bremer: Aus-grenzungsprozesse und dieSpaltung der Städte. ZurLebenssituation von Mi-granten, Opladen 2000;Wilhelm Heitmeyer, ReimundAnhut (Hrsg.): BedrohteStadtgesellschaft. SozialeDesintegrationsprozesseund ethnisch-kulturelleKonfliktkonstellationen,Weinheim/München 2000.

50 Dietmar Fricke: Wohl-stand den Deutschen! Wierechtsextreme Positionenwieder salonfähig werden,in: Christoph Butterwegge,Georg Lohmann (Hrsg.):Jugend, Rechtsextremismusund Gewalt, a. a. O., S. 56.

51 Siehe Frank Decker:Parteien unter Druck. Derneue Rechtspopulismus inden westlichen Demokratien,Opladen 2000, S. 213 f.

52 Vgl. Christoph Butter-wegge: Von der »Vaterlands-liebe« zur Sorge um denWirtschaftsstandort. Meta-morphosen nationalerMythen im vereintenDeutschland, in: Ders.,Gudrun Hentges (Hrsg.):Alte und Neue Rechte anden Hochschulen, Münster1999, S. 28 ff.

53 Herbert Kitschelt:Politische Konfliktlinien inwestlichen Demokratien:ethnisch-kulturelle und wirt-schaftliche Verteilungs-konflikte, in: Dietmar Loch,Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.):Schattenseiten der Globali-sierung, a. a. O., S. 439.

66 BUTTERWEGGE Globalismus

politisches Wechselverhältnis. »Selbst dort, wo neue rechtsradikaleParteien ihre wirtschaftsliberale Rhetorik einschränken, bedeutendie Konsequenzen ihres Aufstiegs Wasser auf die Mühlen neolibera-ler Sozialstaatskritik.«53

Geradezu prototypisch für den Rechtspopulismus in Westeuropastehen Jörg Haider und seine FPÖ, deren Erfolge primär darauf be-ruhen, daß sie über einen längeren Zeitraum hinweg neben sozialenAufsteiger(inne)n und Befürworter(inne)n eines Modernisierungs-kurses auch sozial Benachteiligte und zutiefst verunsicherte Mittel-ständler/innen gewinnen konnten,54 bis die stärkere Belastung derArbeitnehmer/innen durch die österreichische Bundesregierung un-ter maßgeblicher Beteiligung der Partei vor allem bei der WienerGemeinderats- beziehungsweise Landtagswahl im März 2001 Stim-menverluste nach sich zog. Krisen- und Auflösungserscheinungeninnerhalb des politischen Systems führen jedoch auch dann, wennsich keine rechtspopulistische Partei fest etablieren oder auf Dauerhalten kann, zu tektonischen Verschiebungen zwischen seinem Zen-trum und der Peripherie, die sich quasi »nach innen« bewegt, wasUrsula Birsl und Peter Lösche folgendermaßen kommentieren: »Dieäußerste Rechte befindet sich nicht mehr am Rand des politischenSpektrums, sondern in dessen Mitte.«55

Wilhelm Heitmeyer vertritt die These, »daß sich ein autoritärer Ka-pitalismus herausbildet, der vielfältige Kontrollverluste erzeugt, dieauch zu Demokratieentleerungen beitragen, so daß neue autoritäreVersuchungen durch staatliche Kontroll- und Repressionspolitik wieauch rabiater Rechtspopulismus befördert werden.«56 Noch in eineranderen Hinsicht bereitet die neoliberale Hegemonie, die außer der»sozialen Symmetrie« des wohlfahrtsstaatlich organisierten Kapita-lismus auch die Demokratie gefährdet, den Nährboden für Rechts-extremismus und Neofaschismus. Die scheinbare Übermacht der ka-pitalistischen Ökonomie gegenüber der Politik beziehungsweisetransnationaler Konzerne gegenüber dem einzelnen Nationalstaatzerstört den Glauben junger Menschen an die Gestaltbarkeit von Ge-sellschaft, treibt sie in die Resignation und verhindert so demokrati-sches Engagement, das im Zeichen der viel beschworenen »Globali-sierung« allerdings nötiger denn je wäre.57

Götz Eisenberg führt auch die sich nicht bloß in den USA häufen-den Fälle einer unpolitischen, eher willkürlich anmutenden Gewaltmeist männlicher Jugendlicher, die er »Kinder der Kälte« nennt, aufdie Prädominanz des Ökonomischen, die Glorifizierung des Marktesund die Konsequenzen der neoliberalen Modernisierung zurück:»Die Deregulierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zieht alsungewollte Nebenfolge die Deregulierung der psychischen Struktu-ren nach sich, was weitere ungeahnte ›Kollateralschäden‹ verur-sacht, die unter anderem die Form des Amoklaufs annehmen. Einberühmtes Diktum Max Horkheimers abwandelnd, könnte man sa-gen: Wer von Neoliberalismus und Deregulierung, vom ›Terror derÖkonomie‹ (Viviane Forrester) nicht reden will, sollte auch vomAmoklauf schweigen!«58

54 Vgl.: Brigitte Bailer-Galanda, Wolfgang Neu-gebauer: Haider und dieFreiheitlichen in Österreich,2. Aufl. Berlin 1997; ChristaZöchling: Haider. Licht undSchatten einer Karriere,2. Aufl. Wien 1999; KlausOttomeyer: Die Haider-Show. Zur Psychopolitik derFPÖ, 2. Aufl. Klagenfurt2000; Hans-Henning Schar-sach (Hrsg.): Haider.Österreich und die rechteVersuchung, Reinbek beiHamburg 2000; Ders., KurtKuch: Haider. Schatten überEuropa, Köln 2000.

55 Ursula Birsl, PeterLösche: (Neo-)Populismusin der deutschen Parteien-landschaft. Oder: Erosionder politischen Mitte, in:Dietmar Loch, WilhelmHeitmeyer (Hrsg.): Schatten-seiten der Globalisierung,a. a. O., S. 369 f.

56 Wilhelm Heitmeyer:Autoritärer Kapitalismus,Demokratieentleerung undRechtspopulismus. EineAnalyse von Entwicklungs-tendenzen, in: ebd., S. 500.

57 Vgl. Arno Klönne:Schwierigkeiten politischerJugendbildung beimUmgang mit dem Thema»Rechtsextremismus«,a. a. O., S. 262.

58 Götz Eisenberg: Amok –Kinder der Kälte. Über dieWurzeln von Wut und Haß,Reinbek bei Hamburg 2000,S. 114.

BUTTERWEGGE Globalismus 67

Offenes, mitunter noch leicht verschämt geäußertes, Mißtrauen gegen-über »Fremden« und »Ausländern« ist in Deutschland wieder da –falls es überhaupt je ganz verschwunden war. Die tragischen Ereig-nisse des 11. September 2001, die Furcht vor erneuten Terroranschlägenund die, zum Glück umstrittene, Kriegführung gegen ein fernes, düsterwirkendes Land – all dies schürt in breitem Maßstab Ängste, die po-pulistisch aktiviert und genutzt werden können. In der Öffentlichkeitist eine mitunter fast hilflos anmutende Debatte entstanden, wie inZukunft mit »fremden Kulturen« umzugehen sei.

»Fremdenfeindlichkeit« wurde in den letzten Jahren recht um-fangreich erforscht (siehe Literaturübersicht), dennoch treten immerwieder »weiße Flecken« zutage. Das ist nicht überraschend: Zum ei-nen beinhaltet diese komplexe Kategorie sehr viele Facetten kultu-reller, politischer und philosophischer Art; zum anderen sind dieKontexte für dem Umgang mit Fremden in die Widersprüchlichkeitvon sich rasant entwickelnden modernen Gesellschaften eingebettet.Mit Blick auf Deutschland (in sonderheit: Ostdeutschland) kommtnoch ein weiterer Faktor hinzu. Die erschreckend hohe Zahl frem-denfeindlich motivierter Gewalttaten im Osten während der 1990erJahre bis zur Gegenwart hat die Kategorie politisch und moralisch»aufgeladen«. »Fremdenfeindlichkeit« – dieses Wort macht einschlechtes Gewissen und fördert Verdrängung, es figuriert aber ebensoals »Kampfbegriff« und wird mitunter politisch instrumentalisiert.Oft, allzuoft bleibt dabei die sachliche, auch schmerzhaft ehrlicheAuseinandersetzung mit diesem Thema auf der Strecke.

Das Anliegen dieses Beitrages ist vergleichsweise bescheiden: Aufder Basis längerfristig empirisch gewonnener Erhebungsdaten sollenEinstellungen zu Ausländern und einige Faktoren, die auf diese Ein-stellungen Einfluß ausüben, in der Ost-West-Relation betrachtetwerden. Dabei geht es hier nur um die Zusammenhänge »makrosko-pischer«, das heißt statistisch gesehen, größerer Menschengruppen.Bei weiter führenden Analysen müssen selbstverständlich auch stär-ker individuenzentrierte Ansätze zur Anwendung kommen.

Die Resultate aktueller empirischer Untersuchungen belegen, daßThemen, die im Kontext zwischenmenschlicher Beziehungen an dieProbleme Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus geknüpftsind, von großen Teilen der deutschen Bevölkerung aufmerksamwahrgenommen werden (siehe Tabelle 1). Nur sehr kleine Minder-heiten sehen solche Fragen wie Rechtsextremismus, Gerechtigkeit,Beziehungen zu Ausländern oder Solidarität als gesellschaftlich un-

Michael Chrapa – Jg. 1950;Dr., freiberuflicher Soziologeund Sozialwissenschaftler,Vorsitzender der Forschungs-gemeinschaft für Konflikt-und Sozialstudien (FOKUS e.V.)Foto: privat

»Unser Verhältnis zufremden Menschen undfremden Kulturen ist mitdem verknüpft, was uns anuns selbst fremd ist. Das›innere Ausland‹ (Freud)bestimmt entscheidend,wie Ausländer erfahrenwerden.«Peter Altvater: Zur Sozio-logie des Fremden und derFremdenfeindlichkeit, in:Alltägliche Fremdenfeind-lichkeit. Interpretationensozialer Deutungsmuster,Münster 2000, S. 60.

»Es gibt kaum eine Anomalie,die anormaler wäre als derFremde. Er steht zwischenFreund und Feind, Ordnungund Chaos, dem Innern unddem Außen. Er steht für die

68 UTOPIE kreativ, H. 135 (Januar 2002), S. 68-76

MICHAEL CHRAPA

»Fremdenfeindlichkeit«im Meinungsbild

problematisch an. Allerdings fällt auf, daß die individuelle Betrof-fenheit – auch beim Thema »Zusammenleben mit Ausländern« – um20 bis 30 Prozentpunkte geringer als die gesellschaftsbezogene Re-flexion betont wird. Dies kann sowohl bedeuten, daß persönlicheProblemlösungskompetenzen zum Tragen kommen; es kann aberauch ein Anzeichen für Gleichgültigkeit darstellen. Das im Vergleichzum Westen deutlich niedrigere individuelle Problembewußtseinzum Thema »Ausländer« in der ostdeutschen Bevölkerung (sieheTabelle 1, Zeilen 5 und 6) ließen sich in dieser Art interpretieren.

Im Rahmen der »Allgemeinen Bevölkerungsumfrage (ALLBUS)«werden seit Jahren sehr fundiert anhand ausgewählter IndikatorenMeinungen zum Thema »Ausländer-« beziehungsweise »Fremden-feindlichkeit« ermittelt (siehe Tabelle 2). Die Daten belegen zum ei-nen, daß es weiterhin erkennbare Ost-West-Unterschiede gibt, die je-doch zum anderen (siehe Items 1 und 3) nicht durchgängig, sondernnur bei bestimmten Fragen ins Gewicht fallen. »Anpassungsforde-rungen« beispielsweise (siehe Item1) werden aktuell im Westen so-gar noch stärker erhoben als im Osten, hier dagegen befürchtet manvor allem Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt (siehe Item 2). Die mitdem Item 4 (»Heiraten unter sich«) gemessene kulturelle Distanz zuPersonen nichtdeutscher Herkunft bleibt allerdings in Ostdeutsch-land erschreckend groß.

Um diese Zusammenhänge genauer zu beleuchten, wurden mitHilfe faktoranalytischer Verfahren anhand der UntersuchungsdatenTypen gebildet, die sich entweder durch eine positiv-zugewandteHaltung zu Ausländern auszeichnen (Ablehnung zu Aussagen inTabelle 2) oder die im Grunde »ausländerfeindliche« Positionen ver-treten. (Zustimmung zu Aussagen in Tabelle 2). Die in Tabelle 3 dar-gestellten Ergebnisse belegen: Die Ost-West-Unterschiede bliebenim ganzen über die 1990er Jahre hin gewichtig erhalten und wärennicht allein durch unmittelbare »Wende-Schocks« erklärbar. Im Jahr2000 brachte in Ostdeutschland etwa jeder Sechste, in Westdeutsch-land jedoch nur ungefähr jeder Neunte eine ausländerfeindliche Po-sition zum Ausdruck. Gewissermaßen tröstlich ist allerdings, daßsich im Zeitverlauf eine Tendenz der allmählichen Angleichung beiden Gruppenanteilen mit »ausländerfreundlichen« Positionen abzu-zeichnen scheint (siehe Grafik 1).

Im Zusammenhang mit Meinungen über »Fremde« sind auch Um-fang und Art sozialer Kontakte von Interesse. Auf diesem Gebietkönnen empirisch recht klare Aussagen getroffen werden: Die Dif-ferenz zwischen der Situation in den alten und neuen Bundesländernist – mit 20 bis 30 Prozentpunkten auf den Gebieten Arbeit, Nach-barschaft und Freundeskreis – enorm zu nennen (siehe Tabelle 4). ImWesten hat fast jede zweite Person durch Arbeitstätigkeit oder denFreundeskreis Kontakt zu Ausländern, im Osten beträfe dies besten-falls jeden Fünften. Während die »Kontaktmenge« in Westdeutsch-land während der 1990er Jahre auf hohem Niveau etwa konstantblieb, stieg sie im Osten nur sehr langsam an.

Eine erneute Typenbildung zeigt den krassen Ost-West-Unterschiedauf dem Gebiet menschlicher Begegnungen noch deutlicher auf(siehe Tabelle 5). Mit der Gruppe »Kontakt Oft« wurden diejenigenerfaßt, die mindestens auf drei der vier Felder (Familie, Arbeit,

Treulosigkeit von Freunden,für die schlaue Verstellungvon Feinden, für die Fehl-barkeit von Ordnung, dieVerletzlichkeit des Innern.«Zygmunt Baumann: Am-bivalenz und Moderne,Frankfurt/Main 1995, S. 83.

»Bei wachsenden sozialenProblemen und sinkenderAufnahmekapazität desArbeitsmarktes werden sichdie Konflikte in den Städtenvermutlich weiter verschär-fen. Zugleich verlieren dieKommunen zunehmend diepolitische und ökonomischeKraft, solche Konflikte ein-zugrenzen oder zu lösen.Die großen Städte werdenin Zukunft ihre geschicht-liche Rolle als ›gigantischeIntegrationsmaschinen‹nurmehr eingeschränktwahrnehmen können.«Stefan Luft: Eine negativeDynamik. Ob Deutsche undAusländer gut zusammenle-ben, entscheidet sich in denStädten, in: FrankfurterAllgemeine Zeitung,30. Oktober 2001, S. 10.

»Auch mit Kleidung, diePolen also, die kriegendoch genug Geld, warumkönnen die sich keinevernünftigen oder einiger-maßen vernünftigen Kla-motten leisten, echt, Polenerkenn ich auf fünf Kilo-meter anne Klamotten.Können sich doch anpassenoder nich, warum nich?Machen die Türken dochzum Beispiel auch, diepassen sich auch hiernormal an, wieso nich?«Interview mit Frank, in: ZurSoziologie des Fremdenund der Fremdenfeindlich-keit, in: Alltägliche Frem-denfeindlichkeit. Interpre-tationen sozialer Deutungs-muster, Münster 2000,S. 169-170.

CHRAPA Fremdenfeindlichkeit 69

Nachbarschaft, Freundeskreis) regelmäßige Begegnungen mit Men-schen nichtdeutscher Herkunft haben. Bei der Interpretation derDaten ist natürlich zu beachten, daß der Ausländeranteil in den ver-schiedenen Bundesgebieten unterschiedlich ist und zwischen Ostund West etwa im Verhältnis 1 zu 5 steht (2 Prozent zu 10 Prozent).Dies entspricht etwa der Proportion beim Vergleich der »Kontakt-Typen Oft« (siehe Tabelle 5, 1. Zeile). Eine solche statistischeBetrachtung kann jedoch nicht über das eigentliche Problem hin-wegtäuschen: Im Osten leben fast zwei Drittel der erwachsenen Per-sonen in einem – mit verantworteten – Zustand des faktischen »Null-Kontaktes« zu Ausländern.

Wie wären »ausländerfreundliche« beziehungsweise »ausländer-feindliche« Haltungen mit Hilfe der aktuellen Untersuchungsdatengenauer zu bestimmen? Sind sie allein Ausdruck einer bestimmtenpolitischen Ausrichtung, was sich beispielsweise anhand der diffe-renten Meinungen von Wählerschaften wichtiger Parteien zeigt(siehe Anhang, Tabelle I) oder fallen noch andere Faktoren insGewicht? Zwecks vertiefter Nachforschungen wurden gezielte stati-stische Analysen vorgenommen, um Größen zu ermitteln, die beson-deren Einfluß auf die gegensätzlichen Haltungen zu Ausländernhaben. Man verwendete dabei soziodemographische Aspekte (Alter,Geschlecht usw.), »Ausstattungen« beziehungsweise Ressourcen(Einkommen, Bildung, Zugriff auf Erwerbstätigkeit), charakteristi-sche politische Einstellungen (Interesse an Politik, Bewertung derIdee des Sozialismus und sozialer Gerechtigkeit, Rechts-Links-Verortung), die Bindung an Institutionen (20 Institutionen, wie zumBeispiel Bundestag, Gerichte, Polizei, Kirchen, Hochschulen, Äm-ter, Medien usw.), die Einschätzung der persönlichen und allgemei-nen Wirtschaftslage in Gegenwart sowie Zukunft sowie die bereitsskizzierten Faktoren des Kontaktes mit Ausländern (siehe AnhangTabelle II).

Selbstverständlich stellen auch die hier verwendeten Größen nureine Auswahl dar, allerdings eine, die – theoretisch begründbar – we-sentliche Erklärungs-Elemente enthält: Lebenslage, Ressourcen, Er-fahrungen oder politische Meinungen kommen durchaus in Betracht,wenn man nach Interpretationen für fremdenfeindliches Verhaltensucht.

Die Ergebnisse der Regressionsanalyse sind verblüffend: Wederdie oft beschworene wirtschaftliche beziehungsweise Lebenslage,noch politische Einstellungen (allein), noch die Bindungsstärke anInstitutionen wirken sich, statistisch gesehen, besonders prägend aufpositive oder negative Haltungen gegenüber Ausländern aus. Im We-sten fallen die Faktoren »Alter« (zunehmende Fremdenfeindlichkeitmit dem Lebensalter) und »Stolz, ein Deutscher zu sein« spürbar,aber nicht allzu stark ins Gewicht. Gleichermaßen in Ost- wie inWestdeutschland sind dagegen die Elemente »Bildung« und »Kon-taktumfang« diejenigen Größen, die in klarer (statistisch hoch signi-fikanter) Wechselbeziehung mit den Positionen zu Ausländernstehen (siehe Tabelle 6).

Wie wären diese Befunde zu interpretieren? Zunächst wird eineelementar anmutende Aussage statistisch bestätigt: Die Basisausstat-tung mit Bildung und Kompetenzen – der Schulabschluß – formt

»Ja, sicher, warum sollense, warum sollen sie dasnich ausleben, ihre Kulturenund Religionen da, nech?Bloß es darf nich übertrie-ben werden, daß nur nochMoscheen und russisch-orthodoxe Kirchen gebautwird und unser Gotteshausis irgendwie inne Ecke. Ichbin zwar nich gläubig, nichalso, aber es gibt vieleLeute, die ihre Kirche da gutmit klar kommen könne.Und wenn ich jetzt in Kurdi-stan bin oder so, dann kriegich auch keine Kirchegebaut. Aber bloß, es muß,mittlerweile is Deutschlandja das größte Einwanderer-land in Europa geworden,weil, das is das Problem, damüssen wir für aufpassen.«Interview mit Gerd, in: ZurSoziologie des Fremdenund der Fremdenfeindlich-keit, in: Alltägliche Frem-denfeindlichkeit. Interpre-tationen sozialer Deutungs-muster, Münster 2000,S. 133.

70 CHRAPA Fremdenfeindlichkeit

dem Anschein nach in beträchtlichem Maße die spätere Ausprägungvon Grundeinstellungen in bezug auf die soziale Umwelt, dabei auchdie Art und Weise, wie man andere Menschen bewertet.

In Hinsicht auf die zweite Faktorengruppe könnte eingewandtwerden, daß der enge Zusammenhang zwischen Kontaktumfang undMeinungen gegenüber Ausländern eine Selbstverständlichkeit bezie-hungsweise »Scheinkorrelation« verkörpert: Wer ohnehin »ausländer-freundlich« ist, sucht den Kontakt und umgekehrt. Wie die Faktenzeigen, ist diese Logik allein jedoch wenig überzeugend bezie-hungsweise wahrscheinlich nur in Einzelfällen zutreffend. Dennnicht nur im »freiwillig gewählten Freundeskreis«, sondern auchdort, wo das Zusammentreffen eher neutral bestimmt und relativunabhängig von vorgeprägten Einstellungen ist (zum Beispiel beider Erwerbsarbeit), geht ein häufiger Kontakt zu Ausländern mitüberdurchschnittlich positiven und mit geringeren Negativ-Wertun-gen einher (siehe Tabelle 7, Spalten 2 und 7). Diese Tatsachen spre-chen recht klar für die These, daß das gegenseitige Kennenlernenund die Interaktion dem Abbau von Vorurteilen dienlich sind.

Ale einige zusammenfassende Überlegungen sollen hervorgeho-ben werden:

Erstens bleibt das Thema »Fremdenfeindlichkeit« ein in Zukunftpolitisch hoch brisanter Gegenstand. Dies betrifft sowohl die ein-gangs erwähnten Konstellationen in bezug auf Sicherheitsfragen,Probleme der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus als auchdie in den nächsten Jahren zu erwartenden Veränderungen in derBevölkerungszusammensetzung. »Einwanderungen« nach Deutsch-land wird es ganz ohne Zweifel weiter geben – offen sind allerdingsdie Reaktionen darauf und die Art, mit möglichen Konflikten umzu-gehen. Die in Tabelle III im Anhang aufgeführten Daten belegenalarmierend, daß ein zahlenmäßig nicht geringer Personenkreis mit»ausländerfeindlichen« Positionen sich generell gegen »Zuzügefremder Menschen« ausspricht. Das betrifft solche, die in Deutsch-land Schutz oder Heimat suchen (Asylbewerber, Aussiedler), alsauch solche, die aus Gründen der Erwerbstätigkeit hierher kommen(EU- und Nicht-EU-Arbeitnehmer). Die EU-Osterweiterung wirfteinen langen Schatten voraus.

Zweitens wird deutlich, daß sich das Thema »Fremdenfeindlichkeit«unvermindert im Osten Deutschlands schärfer artikuliert als imWesten. Auch wenn dies für ostdeutsche Bürgerinnen und Bürgerunangenehm klingen mag, bleiben die Tatsachen bestehen. Politi-sches Ringen um das schrittweise Lösen sozialer Probleme muß kul-turell-ethnische Gleichberechtigung einschließen, ansonsten wärenEntwick-lungsschritte moralisch fragwürdig (und aller Wahrschein-lichkeit nach instabil).

Drittens sprechen die Daten dafür, daß im Rahmen vielfältig aus-gearbeiteter Konzepte gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeind-lichkeit auch – oder gerade – die »einfachen« Aktivitätsformen nichtzu vergessen wären. Bildungsarbeit und Wissensvermittlung, Be-gegnungen und Kontakte – dies sind Elemente, die, wenn sie überlängere Zeit befördert werden, Erfolge mit sich bringen. Aus eige-nem Erleben bei der Erstellung eines »Aktionsplanes für Toleranzund Demokratie« in einer mitteldeutschen Stadt will der Autor mit

CHRAPA Fremdenfeindlichkeit 71

Nachdruck gerade solche Ansätze befürworten, die alltags- und le-bensweltorientiert sind und die vor allem auf die Selbstorganisationder Akteure setzen. Der produktive Umgang mit »Fremden« konntenoch nirgendwo erzwungen, sondern er muß aus eigener Krafterlernt werden. Im Osten, wo mitunter Konzepte der im Westen er-probten »interkulturellen Arbeit« an der Tatsache scheitern, daß die(relativ) wenigen Ausländer zwar anwesend, aber schwer zu errei-chen sind, bedarf es deshalb besonderer Kreativität und der Zähig-keit, mit Widersprüchen und Fehlern umzugehen.

Doch vielleicht kann in vielen Alltagssituationen auch auf dasTheoretisieren verzichtet werden. Denn wir sollten uns – gerade inschwierigen Zeiten – an unser Mensch-Sein erinnern. Jede und jederkann die eigene Unsicherheit einmal vergessen und den kleinen Mutaufbringen, auf Menschen aus »fremden« Ländern zuzugehen. ImGrunde ist es so einfach.

Literatur:ALLBUS 1990-2000:Allgemeine Bevölkerungsumfrage, ZUMA, Mannheim.Altvater, Peter; Stamer, Maren; Thomssen, Wilke, 2000:Alltägliche Fremdenfeindlichkeit. Interpretationen sozialer Deutungsmuster,

Westfälisches Dampfboot Münster 2000.Chrapa, Michael; Wittich, Dietmar (2001): Bürgermeinung 2001. Politische Einstellungen in der

deutschen Bevölkerung. Studie. Berlin/Halle.Jaschke, Hans-Gerd (2001): Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Begriffe, Positionen,

Praxisfelder, Westdeutscher Verlag Wiesbaden.Stolz, Jörg (2000): Soziologie der Fremdenfeindlichkeit. Campus Verlag Frankfurt/Main.

Aussagen zum Problembewußtsein (2001)

Folgender Gegenstand ... ist in der Gesellschaft ein ungelöstesernstes Problem ..., von dem ich mich selbst betroffen fühle:

ist ernstes fühle michProblem betroffen

Ja Nein Ja Nein

Rechtsextremismus West 69 9 25 48Ost 68 6 26 44

Erleben sozialer Gerechtigkeit West 58 6 34 26Ost 61 6 46 17

Zusammenleben mit Ausländern West 51 8 27 38Ost 50 7 17 52

Solidarität zwischen den Menschen West 49 8 26 28Ost 49 7 29 26

(Angaben in Prozent, gerundet)Quelle: Studie Bürgermeinung 2001.

Tabelle 1

72 CHRAPA Fremdenfeindlichkeit

Meinungen zu Ausländern 1990 bis 2000

West Ost

Aussagen/Jahr: 90 GA 94 96 00 94 96 00

(1) »Die in Deutschland lebenden Ausländer sollten ihren Lebensstilein bißchen besser an den der Deutschen anpassen.«

ja 34 30 43 52 37 47 45teils 43 51 43 38 47 40 44nein 23 19 14 10 16 13 9

(2) »Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die in Deutschlandlebenden Ausländer wieder in ihre Heimat zurück schicken.«

ja 20 14 18 14 22 31 21teils 39 35 40 44 35 43 49nein 41 51 42 42 43 26 30

(3) »Man sollte den in Deutschland lebenden Ausländernjede politische Betätigung in Deutschland untersagen.«

ja 27 24 28 22 23 30 25teils 34 37 36 40 32 37 42nein 39 39 36 38 45 33 33

(4) »Die in Deutschland lebenden Ausländer sollten sichihre Ehepartner unter ihren eigenen Landsleuten auswählen.«

ja 18 13 15 10 22 23 17teils 25 24 25 26 29 29 36nein 57 63 60 64 49 48 48

(1990: Frage nach Gastarbeitern, Angaben in Prozent, gerundet, spaltenweise)Quelle: ALLBUS 1990-2000, eigene Berechnungen.

Typen »Haltung zu Ausländern« im Zeitvergleich

West Ost90 94 96 00 94 96 00GA

Typen: Positionausländerfreundlich 27,9 29,8 22,8 21,1 23,8 16,1 17,6teils, teils 57,4 61,2 63,9 67,5 61,6 65,5 66,0ausländerfeindlich 14,7 9,0 13,3 11,4 14,6 18,4 16,4(Angaben in Prozent, spaltenweise, GA = Gastarbeiter) Quelle: ALLBUS 1990-2000, eigene Berechnungen.

Kontakte im Umgang mit Ausländern im Zeitvergleich

West Ost DifferenzWest-Ost

Kontakte in/bei: 90 GA 94 96 00 94 96 00 94 96 00

Familie 11 20 19 23 7 6 9 13 13 14Arbeit 34 45 46 43 15 14 18 30 32 25Nachbarschaft 28 38 37 37 6 7 13 32 30 24Freundeskreis 31 48 51 49 15 16 18 33 35 31(Angaben in Prozent, gerundet, GA = Gastarbeiter)Quelle: ALLBUS 1990-2000, eigene Berechnungen.

Tabelle 2

Tabelle 3

Tabelle 4

CHRAPA Fremdenfeindlichkeit 73

Kontakt-Typen im Umgang mit Ausländern im Zeitvergleich

West OstTyp: Kontakt 90 GA 94 96 00 94 96 00

oft 11,7 22,2 22,9 26,5 2,1 2,2 5,1mittelmäßig 47,0 52,7 52,2 43,1 25,6 26,9 32,5nie 41,3 25,1 24,9 30,4 72,3 70,9 62,4(GA = Gastarbeiter, Angaben in Prozent, spaltenweise)Quelle: ALLBUS 1990-2000, eigene Berechnungen.

Typen »Haltung zu Ausländern« und Vergleichmit Bildungsabschlüssen und Kontakt-Typen

West Ost

Ges davon: davon: Ges davon: davon:mit Kontakt mit Kontakt

Bildungsabschluß zu AL Bildungsabschluß zu AL

Typen: Position VS/HS HSR oft nie VS/HS HSR oft nie

ausländer-freundlich 21,1 13,3 49,3 37,2 10,5 17,6 9,4 31,6 53,8 12,4teils, teils 67,5 69,4 52,9 58,1 68,8 66,0 64,8 63,3 46,2 66,3ausländer-feindlich 11,4 17,3 3,8 4,7 20,7 16,4 25,8 5,1 0 21,2(2000, Ges = Gesamtpopulation, VS/HS = Volks-/Hauptschulabschluß, HSR = Hochschulreife,Angaben in Prozent, spaltenweise)Quelle: ALLBUS 2000, eigene Berechnungen.

Typen »Haltung zu Ausländern«und Differenzierung nach Kontaktorten

West Ost

Ges davon Kontakt: Ges davon Kontakt:bei im bei im

Arbeit Freundeskreis Arbeit Freundeskreis

Typen: Position oft nie oft nie oft nie oft nie

ausländerfreundlich 21,1 31,8 13,4 28,6 13,9 17,6 31,1 14,9 32,3 14,4teils, teils 67,5 61,1 71,7 66,9 67,8 66,0 63,3 66,3 63,4 66,4ausländerfeindlich 11,4 7,1 14,9 4,4 18,3 16,4 5,6 18,8 4,3 19,2(Ges = Gesamtpopulation, Angaben in Prozent, spaltenweise)Quelle: ALLBUS 2000, eigene Berechnungen.

74 CHRAPA Fremdenfeindlichkeit

Tabelle 5

Tabelle 6

Tabelle 7

CHRAPA Fremdenfeindlichkeit 75

Anhang: Ausgewählte Tabellen

Tabelle I:

Typen »Haltung zu Ausländern und Differenzierungnach Parteianhängerschaften« (2000)

West OstParteianhängerschaft Parteianhängerschaft

B/ CDU/ FDP PDS SPD Rechte B/ CDU/ FDP PDS SPD RechteGr CSU Gr CSU

Typen: Position Ges Ges

ausländerfreundlich 21,1 52,4 12,8 24,1 28,6 23,1 16,7 17,6 26,1 15,6 12,5 29,5 15,9 11,1teils, teils 67,5 44,3 74,4 75,9 71,4 65,3 33,3 66,0 73,9 61,0 75,0 64,1 67,4 44,5ausländerfeindlich 11,4 3,3 12,8 0 0 11,6 50,0 16,4 0 23,4 12,5 6,4 16,7 44,4(Ges = Gesamtpopulation, Angaben in Prozent, spaltenweise)Quelle: ALLBUS 2000, eigene Berechnungen.

Tabelle II:

Übersicht zu Modellen für multivariate Regressionsanalyse:Erklärungsfaktoren für »Haltung zu Ausländern«

West OstModell 1:Soziodemographische Faktoren Geschlecht / /

Alter ++ +Wohnortgröße + +

Modell 2:Ressourcen Bildung +++ +++

Einkommen + +Zugriff auf Erwerbsarbeit + +

Modell 3:Allgemeine politische Einstellungen Politisches Interesse / +

Bewertung sozialer Gerechtigkeit / /Meinung »Sozialismus: Gute Idee, schlecht realisiert« / /Rechts-Links-Verortung + +

Modell 4:Einstellung zu Institutionen Vertrauen zu Institutionen:

Nur: TV (-), Zeitungen, Europa-Institutionen + +Stolz, Deutscher zu sein ++ +

Modell 5:Bewertung wirtschaftliche Lage Bewertung allgemeine Wirtschaftslage und Zukunft / /

Bewertung individuelle Wirtschaftslage und Zukunft / /Modell 6:Kontakt Kontakt in verschiedenen Bereichen +++ +++(Zeichen für Stärken von statistischen Zusammenhängen: / = Kein, + = Gering, ++ = Mittelmäßig, +++ = Stark)

Tabelle III:

Aussagen zum Zuzug von Personen nichtdeutscher Herkunftund Differenzierung nach Typen »Haltung zu Ausländern« (2000)

West OstMeiner Meinung nach sollte davon: AL- davon: AL-man den Zuzug von ... gesamt freundlich feindlich gesamt freundlich feindlich

Aussiedlernuneingeschränkt gewähren 15 28 5 12 22 6begrenzen 75 68 67 73 75 62völlig unterbinden 10 4 28 15 3 32

Asylsuchendenuneingeschränkt gewähren 11 27 1 9 20 0begrenzen 73 68 49 70 71 63völlig unterbinden 16 5 50 21 9 37

EU-Arbeitnehmernuneingeschränkt gewähren 33 53 7 13 29 2begrenzen 61 44 71 66 65 73völlig unterbinden 6 3 22 21 6 25

Nicht-EU-Arbeitnehmernuneingeschränkt gewähren 9 21 1 4 10 0begrenzen 71 74 45 56 74 40völlig unterbinden 20 5 54 40 16 60

(Angaben in Prozent, gerundet, spaltenweise)Quelle: ALLBUS 2000, eigene Berechnungen.

76 CHRAPA Fremdenfeindlichkeit

Bankverbindung: HypoVereinsbank AG, Kto. 982 56 49, BLZ 100 208 90 Der Verein ist als gemeinnützig anerkannt und kann steuerabzugfähige Spendenquittungen ausstellen.

Berliner Verein zur Förderung der MEGA-Edition e.V.

Anschrift: c/o Rolf Hecker 10315 Berlin, Ribbecker Str. 3 Tel./Fax: 030/5296525 Internet: www.marxforschung.de Email: [email protected]

Berlin, den 29. November 2001

David -Rjazanov -Preis 2002

Für die beste Nachwuchsarbeit auf dem Gebiet der Marx-Engels-Forschung und -Edition lobt der Vor-stand des Fördervereins den jährlich zu verleihenden David-Rjazanov-Preis aus. Erwartet werden ein in-novatives Herangehen an Marx’ und Engels’ Schrif-ten, eine kritische Auseinandersetzung mit Marx’ und Engels’ Theorie und ein Beitrag zur Herausgabe der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA²). Von Interesse sind ebenso Arbeiten zur Geschichte der Marx-Engels-Forschung und -Edition nicht nur in der UdSSR und DDR, sondern weltweit.

Die Dotierung für die beste Arbeit wird auf 500 Euro festgelegt. Der Einreichungstermin für die Aufsätze, Teilausarbeitungen für Dissertationen, Studien, Rezensionen ist der 30. Juni 2002. Der Umfang soll 30–50 Seiten (50.000 bis 90.000 Zeichen) betragen. Teilnahmeberechtigt sind Personen im Alter bis 35 Jahre. Die besten Arbeiten werden zur Veröffentlichung in den Bei-trägen zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge 2003 vorgeschlagen. Natürlich können auch bereits veröffentlichte Arbeiten eingereicht werden.

Die Präsentation der besten Arbeiten erfolgt auf einem wissenschaftlichen Se-minar am Sonnabend, den 14. September 2002 in Berlin.

Wir wünschen uns eine große Anzahl eingereichter Arbeiten mit einer breiten Themenpalette.

Prof. Dr. Rolf Hecker Vorstandsvorsitzender

Vorstand: Prof. Dr. Rolf Hecker Prof. Dr. Martin Hundt Norbert Liebsch

Es sind, was das Mitregieren der PDS in Berlin angeht, durchausunterschiedliche Szenarien denkbar. Angenehme und höchst unan-genehme. Welche Szenarien schließlich zur Bühnenreife gelangen,ist natürlich kaum bis überhaupt nicht vorherzusagen. Als GregorGysi zu Beginn der Koalitionsverhandlungen mit der KriegsparteiSPD (aus dem Off: Das, Genossen, wollen wir jetzt mal ganz schnellvergessen ...!) seinem einstigen Pressesprecher im Bundestag undjetzigen ND-Chef Jürgen Reents ein Interview gab, war zwar auchvon allerlei Unwägbarkeiten und möglichen Schwierigkeiten dieRede, die sowohl bei den Verhandlungen als auch späterhin beimeventuellen Regieren auftreten könnten, aber eine ganz bestimmteHorrorvorstellung blieb dabei ausgeblendet: Lehrer, Kindergärtne-rinnen, Feuerwehrleute und vielerlei Lohnanhängige anderer Berufeziehen vor das Rote Rathaus und protestieren gegen die rot-rote Lan-desregierung, gegen Stellenabbau und soziale Einsparungen. Undkeine PDS ist in die Arbeiter-, Angestellten- und Bürgerprotesteinvolviert – weil sie es vorzog, auf der anderen Seite zu sitzen.

Ja doch, Genossinnen und Genossen, Leserinnen und Leser, Siemüssen mir hier die Reden vom Gestalten und Mitgestalten und vomPolitikmachen als dem A und O und Sinn von Partei(en) nicht wie-derholen. Doch die Frage, warum die Sozialisten nun unbedingt an-treten mußten, den versifften Berliner Haushalt sanieren zu helfen,hat mir noch keiner schlüssig beantworten können oder eben nur mitdem Auflegen der Platte von der Verantwortung und so weiter.

Ach, ja richtig, die Wähler ... Interessant finde ich immer wieder,wenn sich solche Mitbürger wie Hundt & Henkel gesellschaftspoli-tisch äußern. Nicht, daß Wirtschaftsführer nicht ihre politischen

Foto: Henrik Pohl

Wolfgang Sabath – Jg.1937, Journalist und Autor,Berlin.

78 UTOPIE kreativ, H. 135 (Januar 2002), S. 78-79

WOLFGANG SABATH

Festplatte.Die Wochen im Rückstau

Ansichten mitteilen dürfen sollten. Aber sie äußern sich ja nicht nur,sondern nehmen – ein Narr, wer das bestritte – auch politischen Ein-fluß. Da dürfen wir doch ruhig mal einen kleinen Zwergenaufstandanzetteln und uns dümmer stellen als wir sind und also naiv fragen,woher diese Personen eigentlich ihre Legitimation dafür beziehen.Als PDS und SPD in Berlin ihre Verhandlungen begannen, inter-viewte der Tagesspiegel Berlins Siemens-Chef von Brandenstein»über die PDS und die Risiken für die Stadt«, Überschrift des Artikels:»Uns passt das nicht«.

Ja, und? Schon allein dieser Satz könnte eigentlich Grund genugsein, das PDS-Mitregieren gutzuheißen. Es sei denn, die PDSmöchte auch vom Siemens-Vorstand als »passend« empfunden undvon ihm geliebt werden ..., dann müßte ich erneut nachdenken.

Über »die Wehrmachtsausstellung«, die jetzt in Berlin zu sehenist, wurde schon viel geschrieben. Dennoch habe ich bis heute nichtbegriffen, worin eigentlich ihr – um es einmal salopp auszudrücken– Aha-Effekt bestehen soll. Das liegt wahrscheinlich am verordnetenAntifaschismus. Ich möchte ja nicht hochmütig erscheinen, aber das,was man einen Neuigkeitswert nennt, hatte sie nicht, die Schau.Dem Neuen Deutschland gewährte Jan Philipp Reemtsma ein Inter-view. Jetzt einmal abgesehen davon, daß der Leiter des HamburgerInstituts für Sozialforschung für Journalisten ganz offensichtlich einschwerer Brocken ist – er bekrittelte fortwährend Fragestellungenund dachte überhaupt nicht daran, höflich über deren etwaige Män-gel hinwegzuschweigen ... – brachte er eine Angelegenheit auf denPunkt, die verdeutlicht, daß Nazisein oder nicht Nazisein auch eineFrage von Charakter, von – um ein altmodisch gewordenes Vokabu-lar zu bemühen – von Herzensbildung ist. Frage: »Die Ausstellungtreibt besonders junge Rechtsextreme auf die Barrikaden, die wederdie Zeit des Nationalsozialismus erlebt haben, noch über fundierteGeschichtskenntnisse verfügen. Wie kann man jene dazu bringen,sich die Ausstellung vorurteilsfrei anzusehen? Reemtsma: Gar nicht.Jemand ist ja nicht darum rechtsradikal, weil er falsch informiert ist.Jemand ist rechtsradikal, weil es ihm Spaß macht, bestimmte Leutezu hassen. Glauben Sie doch nicht, daß die Teilnehmer der NPD-Demonstration gegen die Ausstellung ihre Väter und Großväter gegenVerleumdung in Schutz nehmen wollen. Sie müssen das in solcheParolen kleiden, aber mehrheitlich dürften sie der Meinung sein, daßder Krieg der Wehrmacht im Osten gerade wegen der Verbrechen,die dort begangen worden sind, genau das Richtige gewesen ist.«

Diese Worte all jenen Projektefuzzis (»Wir haben hier ein Pro-jekt«) in die Gehörgänge, die sozialpädagogischen Lehrbuchfloskelnhinterherträumen und immer noch glauben, man müsse mit Jung-nazis nur dreimal nach Auschwitz gefahren sein und ihnen nur genü-gend Tischtennisplatten hingestellt haben, dann ließen sich aus ihnenschon demokratische, friedfertige Softies herbeipädagogisieren.

Nein, einen praktikablen Ausweg weiß ich auch nicht. Aber ichbin mir sicher, daß – nur als Beispiel – jeder Korruptionsskandal, inden hochrangige Grundgesetzdemokraten und Parteipolitiker ver-strickt sind, sei es in der Zentrale Berlin, sei es in einem Landkreis,Demokratieabstinenz fördert und neue, junge, saubere Nazis gebiert.Ich hoffe, wenigstens Sie sind gut ins Neue Jahr gekommen.

SABATH Festplatte 79

Andreas Wirsching:Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg?Politischer Extremismus inDeutschland und Frankreich1918-1933/39. Berlin und Parisim Vergleich, Quellen undDarstellungen zur Zeitgeschichte.Hrsg. vom Institut fürZeitgeschichte. Bd. 40,R. Oldenbourg Verlag München1999, 702 S. (148,00 DM)

Seine Habilitationsschrift hat Andreas Wirsching,jetzt Professor für Neuere und Neueste Geschichtean der Universität Augsburg, zu einem derspannendsten und für die Wertung des 20. Jahr-hunderts entscheidenden Kapitel verfaßt. Detail-reich untersucht er den Extremismus inDeutschland und Frankreich in der Zwischen-kriegszeit und exemplifiziert ihn an den politi-schen Vorgängen in den Hauptstädten derverfeindeten Nachbarn. Titel und inhaltlichesKonzept sind von Ernst Nolte beeinflußt, auchwenn Wirsching sich von den späten inhaltli-chen Eskapaden des Erfinders der durchausfruchtbaren These des »Weltbürgerkriegs« zudistanzieren sucht. Vor allem im Antisemitis-mus sieht er eine besondere Qualität, die überden reinen Antibolschewismus hinausgeht.

Nicht Eric Hobsbawms Zeitalter der Extremeist sein Ansatz, sondern die sehr einseitig aus-gerichtete These von der »totalitären Signaturder Epoche«. Für ihn führt eine Faschismus-theorie, die wie Max Horkheimer Kapitalis-mus und Faschismus zusammendenken will,in die Irre. Nicht solche sozialökonomischenZusammenhänge bewegen ihn, sondern alleindie Ebene der politischen Auseinandersetzung,denn es gehe eigentlich um die »Interdepen-denz der Extremismen im demokratischenRaum« (S. 14).

Hier kann nicht auf die Fülle des von Wirschingausgebreiteten Stoffes eingegangen werden.Er beleuchtet vielfältige Facetten von Akteu-ren und Politik vornehmlich im linken undrechten Lager in Berlin und Paris. Aufmerkenläßt das zeitgeistgemäße Herangehen an dieseVorgänge und die Fähigkeit, mit wissenschaft-lichem Deutungsanspruch doch eine bis in die

Gegenwart reichende politische Lesart an-zubieten, die die Vergangenheit mit ihrenKonflikten und ihren Folgen geradlinig zu Be-weisstücken der Entscheidungen der jüngstenGeschichte macht.

Der Nebeneffekt ist das Relativieren des»Erfolgs« des deutschen Faschismus mit sei-ner Vernichtung zunächst der Weimarer Repu-blik, dann der meisten anderen europäischen(mehr oder minder demokratischen) Staateneinschließlich des Verursachens von Krieg undGenozid an Juden, Zigeunern, Slawen. Derdeutsche Faschismus blieb ja keineswegs»nur« bei Mord und Terror gegenüber dem po-litischen Gegner stehen. Und damit wird auchdie Zerschlagung des Faschismus durch dienicht zuletzt auch von Kommunisten mitge-tragene Widerstandsbewegung – bei Wirschingder »Mythos Résistance« (?!) – wie auch dieBefreiung durch die Sowjetarmee disqualifi-ziert. Nicht zuletzt wird verordneter wie nichtverordneter Antifaschismus und damit auchEngagement von Kommunisten und Linkengegen Faschismus und Neofaschismus relati-viert, eigentlich ad absurdum geführt.

Methodisch hat der Autor konsequent dieTotalitarismustheorie für den gewählten Un-tersuchungsgegenstand umgesetzt und weiter-entwickelt. Unter diesem Mikroskop erwächstein Kampf der sich extrem gegenüberstehen-den nationalsozialistisch-faschistischen undkommunistischen Strömung, der kaum verste-hen läßt, warum die vermeintlich so überle-gende, zukunftssichere Demokratie an Spreeund Seine diesem Ansturm nicht standhielt –bei allen Unterschieden zwischen Deutsch-land und Frankreich. Vor allem ist so nichtausreichend zu erklären, warum zunächstdieser radikale Bruch von links und die ebensoharte Reaktion von rechts sich etablierenkonnten und vielleicht auch mußten.

Konsequent wendet Wirsching auf die deut-schen wie die französischen Kommunisten diegängigen Kategorien der Totalitarismustheoriean. Er sucht nachzuweisen, wie Ideologiemo-nopol, Parteiorganisation, letztlich auch ge-heimdienstliche Organisationen, Waffen- undNachrichtenmonopol in solchen oppositionel-len, oft unterdrückten und zu Zeiten der Wei-marer Republik auch verfolgten Strukturenangelegt und wo immer möglich auch prakti-ziert wurden.

80 Bücher . Zeitschriften

Für die Totalitarismustheorie eröffnet er eine»historisch-genetische Dimension«, die erklärt,wie solche Parteien nach der Machteroberungtatsächlich genau die bereits in Ideologie undPolitik angelegten antidemokratischen, ebentotalitären Züge entfalten konnten. Dabei er-scheint ihm die KPD als eine idealtypische to-talitäre Partei, während der FKP eine gewisseAbweichung von diesem Idealtyp, dennochaber ein totalitärer Zuschnitt bescheinigt wird.Der Forschungsstand zur FKP wird gerade des-halb kritisiert, weil deren Charakter als tota-litäre Bewegung weitgehend ignoriert wurde.Die »totalitäre Bewegung« ist für Wirschingein Schlüsselbegriff. In Anlehnung an Carl F.Friedrich ist diese idealtypisch eine Bewegung,»die sich durch eine Ideologie, eine diszipli-nierte Partei, einen Propagandaapparat und dasStreben nach paramilitärischer Organisationauszeichnet«. Letztlich ordnet sie »das gesamtepolitisch-soziale Leben einem konsequent ver-absolutierten Freund-Feind-Gegensatz unter.Politik wird als Kampf begriffen, als Kampfgegen einen gefährlichen Gegner«. Aus diesemergibt sich die »Legitimation des Versuches,das Gewalt- und Gesetzgebungsmonopol derdemokratischen Rechtsstaaten im Namen von›Notwehr‹ und ›Selbsthilfe‹ zu durchbrechen«(S. 612).

Die Arbeit durchzieht der teilweise berech-tigte Nachweis, daß sich faschistische undkommunistische Politik gegenseitig bedingtenund aufschaukelten als eine »Art kumulativeRadikalisierung«. Im Kern läuft dies allerdingsdarauf hinaus, daß die faschistische Bewegungletztlich nur eine Reaktion, eine durchaus ver-breitet anerkannte »Notwehr« gegen die kom-munistische Bedrohung seit der Oktoberrevo-lution gewesen sei. »Das Grundempfinden derBedrohung durch den Kommunismus, wiederund wieder geäußert ..., wurde zu einer bewe-genden Kraft rechtsextremen Denkens undHandelns. Und es wäre unangemessen, diesesGrundempfinden als bloß ›hysterischen‹ Anti-kommunismus abzutun« (S. 617).

Eines bleibt allerdings rätselhaft: Warumkonnte die kommunistische Bewegung über-haupt solche Chancen bekommen? Zu rechtweist der Autor auf den Ersten Weltkrieg, auf»die Erfahrung von Krieg und Gewalt« hin, aufdas »Ausbleiben von durchgreifender sozialerMachtverschiebung« (S. 610). Im Hintergrund

seiner Argumentation lauert allerdings ein idea-lisiertes Verständnis der demokratischen Struk-turen, der Demokratie an sich, ohne allzu sehrnach den konkreten Auswirkungen insbesonderefür die arbeitenden Menschen zu fragen, nachden Gründen, warum soziale Machtverschiebun-gen, Veränderungen in den Verteilungsverhältnis-sen, auch in der praktischen Teilhabe an dieserscheinbar so perfekten Demokratie offenbar zuden fraglichen Zeiten von vielen Menschen alsunabdingbar angenommen wurden. Insofern istsein Betonen eines funktionalistischen Ansatzes,das Ausblenden der »subjektive(n) Bemüheneinzelner kommunistischer Akteure oder Grup-pierungen um diese oder jene ideologische Orien-tierung oder politische Aktion« zugunsten der»je spezifischen Wirkung kommunistischenHandelns sowie die hierdurch hervorgerufenenReaktionen« (S. 20f.) gelinde gesagt problema-tisch. Damit geht der Erklärungswert verloren,erscheint kommunistische Politik und faschisti-sche Reaktion als isolierte Vorgänge jenseitsder Realitäten in Deutschland und Frankreich.

Ein solch fundamentaler Einwurf entschärftallerdings die notwendige Kritik an der konkretenkommunistischen Politik im Untersuchungs-zeitraum nicht im geringsten und hebt keines-wegs die Notwendigkeit des Aufzeigens vonautoritären, ja totalitären Zügen in der kommu-nistischen Bewegung auf. Mit der Übernahmedes leninistisch-stalinistischen Parteimodellssind zwangsläufig undemokratische, hierarchi-sche Züge in die Partei hineingekommen, dieverstärkt durch die konkreten Klassenkampfer-fahrungen genau jenen Weg pflasterten, der zumRealsozialismus einschließlich seiner stalinisti-schen Exzesse führte. Nur – und das ist das Pro-blem totalitarismustheoretischer Ansätze – alldies geschah weder voraussetzungs- und bedin-gungslos noch losgelöst von tatsächlichen gesell-schaftlichen Interessen, die die Kommunistenversuchten zu artikulieren und durchzusetzen.Das Schlimme ist, daß sie ihre heiligen Ziele mitunheiligen Mitteln durchzusetzen suchten, daßsie Demokratie in den eigenen Reihen wie ge-genüber der Gesellschaft, in der sie wirkten, ver-nachlässigten, weitgehend ausschalteten und da-mit genau ihren Gegnern in die Hände arbeiteten.So trugen gerade die deutschen Kommunistendurch ihre fehlerhafte Politik eine Mitverant-wortung am Erfolg Hitlers 1933.

STEFAN BOLLINGER

Bücher . Zeitschriften 81

Weltbank (Hrsg.):Weltentwicklungsbericht2000/2001: Bekämpfungder Armut, UNO Verlag 2001,391 S. (77,26 DM/39,50 )

Im Vorwort zum Weltentwicklungsbericht2000/2001, der sich, einem zehnjährigen Tur-nus folgend, mit dem Armutssyndrom befaßt,schreibt der Weltbank-Präsident James D. Wol-fensohn, daß »Armut inmitten des Überflusses... die größte Herausforderung (ist), vor der dieWelt heute steht« (S. V) – eine Einsicht, dieschon im Weltentwicklungsbericht 1990 ver-breitet wurde und die schon damals keineswegsneu war. Allerdings scheint es den Weltbank-Experten nicht wirklich um die Bedürfnisbe-friedigung der Menschen zu gehen. Denn imfolgenden wendet sich der Bericht – mit einerbeeindruckenden Faktenmenge unterfüttert –ganz anderen Fragen zu. Wenn nämlich die un-gleiche Verteilung des stofflichen Reichtums dasProblem der Weltbank wäre, dann würde sichzwingend die Frage nach den Gründen stellen.Dann müßte aus dem Problem, daß die Armender Welt wegen »zu geringen Einkommen undKapital, ... die Kosten für die notwendigstenDinge des Lebens wie Nahrung, Obdach, Klei-dung und für ein annehmbares Gesundheits-und Bildungsniveau« (S. 41) nicht bestreitenkönnen, der Schluß gezogen werden, daß dieungleiche Eigentumsverteilung der Grund für dieNot der Menschen ist. Daß es der Weltbank abergenau darum nicht geht, ist natürlich nicht ver-wunderlich.

Die Experten der Weltbank gehen im erstenKapitel »von der heute traditionellen« – aberleider trotzdem falschen – »Definition von Ar-mut aus, ... nach der Armut nicht nur materiel-len Mangel (gemessen anhand eines geeig-neten Einkommens- und Verbrauchsbegriffs),sondern auch schlechte Leistungen im Bil-dungs- und Gesundheitswesen umfasst. (...)Dieser Bericht erweitert den Armutsbegriffum die Faktoren Schutzlosigkeit und Risiko-anfälligkeit – sowie den Mangel an Mitspra-che und die Machtlosigkeit« (S. 19). Für dieSchätzung der Menge der Armen gilt die»Grundlage eines Einkommens von 1 oder 2US-Dollar pro Tag« (S. 21).

Armut ist aber – und nur so macht dieserBegriff analytisch Sinn – eine Verhältnisbe-stimmung. Das Verhältnis kann aber nur daszwischen dem vorhandenen stofflichen Reich-tum einerseits und der individuellen Verfü-gung über ihn andererseits sein.

Für die so bestimmte Armut soll es – darumgeht es in Kapitel zwei – verschiedene Gründegeben. Als erster Grund (vgl. S. 42 f.) werdenArbeitslosigkeit und Unterbezahlung der Be-schäftigten aufgeführt. Beides sind aber im ei-gentlichen Sinne gar keine Gründe, denn dieAbwesenheit von etwas – Arbeitslosigkeit undeine Lohnhöhe, bei der das Geld nicht reicht,um die Dinge des Bedarfs zu kaufen – kanngar kein Grund für etwas sein. Dabei ist näm-lich einfach unterstellt, daß nur mit Geld Ge-brauchswerte zu erwerben sind und daß die,die kein Eigentum haben, sich dieses durch denVerkauf ihrer Arbeitskraft erwerben müssenund darum auch abhängig von den Kalkulationender Arbeitgeber sind. Gegen die der Einkom-menslosigkeit geschuldete Armut soll ein Wirt-schaftswachstum helfen, welches aber auchProbleme mit sich bringe (vgl. Kapitel 3-5).

Der zweite Grund (vgl. S. 43 f.) für die Ar-mut soll der »Mangel an Mitspracherecht undMacht« sein. Weil die Armen kein Geld haben,seien sie auch dem Staat hilflos ausgeliefertund kämen dadurch auch nicht aus der Armutheraus, denn »die Gefahr körperlicher Gewaltoder die Machtwillkür seitens der Bürokratiemacht es ihnen schwer, sich in öffentliche An-gelegenheiten zu engagieren, ihre Interessenkundzutun und diesen Geltung zu verschaf-fen« (S. 43). Dabei wird wieder, wie in Grundeins, nichts darüber und dagegen gesagt,warum die Staaten so mit den Paupern verfah-ren. Im Teil III – »Empowerment« (vgl. S.121 ff.) – wird als Reaktion auf das so defi-nierte Problem vorgeschlagen, »staatliche In-stitutionen (zu) schaffen, die stärker auf dieBedürfnisse der Armen eingehen« (S. 121).

Als dritter Grund (vgl. S.44 f.) wird dieSchutzlosigkeit der Armen vor Naturkatastro-phen und der Staatsgewalt genannt. Beides ist,laut Weltbank, aber nicht der eigentlicheGrund für die Verschärfung des Elends zumBeispiel durch Regenfälle und anschließendeÜberschwemmungen. Vielmehr können dieArmen darauf nicht reagieren, da sie ihre Mit-tel für das tägliche Leben brauchen und nichts

82 Bücher . Zeitschriften

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für schwere Zeiten zurücklegen können.Hinzu soll dann noch kommen, daß der Staatrespektive die Gesellschaft keinen Mechanis-mus entwickle, der diesem entgegenwirke.Nachdem im Teil III des Berichts schon daraufgedrungen wurde, daß staatliche Organisatio-nen stärker auf eine Unterstützung der Armenausgerichtet sein sollten, wird dies im Teil IV– »Sicherheit« (vgl. S. 165 ff.) – noch weiterausgeführt. Es sollen Mechanismen geschaf-fen werden, die »die unmittelbaren Problemevon Schocks und die Unfähigkeit, diese zuüberwinden« (S. 166) angehen.

Im Teil V – »Maßnahmen auf internationalerEbene« (S. 219 ff.) – wird von der Weltbankdarauf gedrungen, »globale Kräfte für Armenutzbar (zu) machen« (S. 219). Für die Welt-bank bedeutet das, daß erstens der »Zugang zuMärkten in Ländern mit hohem Einkommen«(S. 219) erweitert werden soll. Zweitens solldas »Risiko von Wirtschaftskrisen« (S. 221)gemindert werden. Des weiteren sollen »inter-nationale öffentliche Güter zum Vorteil der Ar-men« (S. 222) geschaffen werden. Zu den öf-fentlichen Gütern gehören laut Weltbank die»Eindämmung von ansteckenden Krankheitenoder (die) Forschung zur Ertragssteigerung inder Landwirtschaft« (S. 222).

Damit wird so getan, als ob die Lebensmit-tel nicht reichen würden, die Menschen derWelt zu versorgen – dabei sind die Lebensmit-tel für die Menschen zu teuer. Gleiches gilt fürMedikamente, wie zum Beispiel dem Streitzwischen Pharmakonzernen einerseits und dersüdafrikanischen Regierung andererseits imMärz, April des Jahres 2001 zu entnehmenwar.

Als Fazit läßt sich festhalten, daß der Welt-entwicklungsbericht 2000/2001: Bekämpfungder Armut sicherlich lesenswert ist, wenn mansich erstens darüber informieren will, welcheDimension das Elend auf der Welt erreicht hat,das die Weltbank als solches ansieht. Zweitensist der Bericht lesenswert, wenn man wissenmöchte, wie die Weltbank gedenkt, gegendieses Elend vorzugehen. Vor allem Globali-sierungskritiker, die das Beschreiben der Ar-mut für ein Argument halten, werden im Be-richt sicherlich eine Menge Stoff für ihreFlugblätter finden.

ALJOSCHA JEGODTKA

Andreas Müller, Arno Tauschand Paul Michael Zulehner(under Collaboration ofHenry Wickens) (eds.):Global Capitalism, Liberation,Theology and the social Sciences.An analysis of the contradictionsof modernity at the turn of themillennium, Nova SciencePublishers Inc., Huntington,New York 2000, 332 p.

Eine Autorin und zwölf Autoren legen einopulentes Sammelwerk vor, das die Problemevon Globalisierung, Religionen und Sozial-wissenschaften auf imponierende Weise ver-bindet. Den weiten Spannungsbogen versinn-bildlichen der Ägypter Samir Amin, Direktorvon Forum du Tiers Monde (Dakar), mit einerweitgreifenden Darstellung der Spezifika derBuchreligionen und der langjährige RostockerLateinamerikanist Steffen Flechsig (Zwickau),der sich dem Beitrag des argentinischen Öko-nomen Raúl Prebisch (1901-1986) für die Per-spektive einer humanen Welt widmet. Hierkönnen allerdings nur einige Spitzenthesenhervorgehoben werden, um die Relevanz desBandes anzudeuten und vor allem zu eigenerLektüre und Auseinandersetzung anzustiften.

Noch einmal ein Buch, das die Befreiungs-theologie ernstnimmt? Leben Totgesagte wirklichlänger? Die Verhältnisse zwischen biblischenFreiheiten und ökonomischen Zwängen haben sichauch nach dem voreilig angenommenen ›Endeder Geschichte‹ nicht verändert, sondern sindunverstellt ans Licht getreten. Darum lauten dieersten beiden Sätze der Herausgeber: »Liberationtheology is dead. Long live liberation theology!«Das stellt keine frohgesinnte Akklamation darwie beim Ritual der Inthronisation eines neuenKönigs, sondern für sie ist es die Kontinuität ei-ner kritischen Distanz der biblischen Program-matik zum Kapitalismus – einer Distanz, die zuden Wurzeln der Kirche gehört; die zunehmendan theologischer Tiefe gewonnen hat, was sichauch an ihrer ökumenischen Ausbreitung zwi-schen römischem Katholizismus und Protestan-tismus (speziell im Ökumenischen Rat der Kirchein den siebziger und achtziger Jahren) zeigt.

Bücher . Zeitschriften 83

Faszinierend stellt Samir Amir gemeinsameWurzeln und brisante Differenzen zwischenden drei Buchreligionen Judentum, Christen-tum und Islam heraus. Seine Thesen sind imeinzelnen gewiß nicht unbestreitbar, aber derStreit lohnt sich. Das zeigt sich zum Beispiel anseiner Kritik des gängigen Terminus »jüdisch-christliche Kultur«: »Modern culture is notChristian, nor Judeo-Christian: it is bourgeois.«Seine Schlußsätze sind schockierend illusions-los angesichts einiger Klischees im Blick aufden Islam: »Modern thinkers henceforth arefundamentally not Christians, not Jewish, theymight be bourgeois, or beyond, socialist, al-though they are of Christian or Jewish origin.The bourgeois civilization is not the creation ofChristianity – or Judeo-Christianity. Inversely,it were the Christianity and the Judaism of theJews of Western Europe wich adapted theselves to the bourgeois civilization. One ex-pects that Islam would now be the next to makeit. This is the condition that the Muslim peopleparticipate in the making of the world and thatthey don’t exclude themselves.« Zuvor schonhatte er den Anspruch von jedermann auf dieallein gültige Koran-Auslegung hellsichtig säkular charakterisiert: »That is the permanentcivil war, like in Afghanistan.«

Der Religionswissenschaftler Jung Mo Sung(Sao Paulo) reflektiert die Verbindungen undGegensätze zwischen Markt, Globalisierungund Gottesherrschaft (basileia toù theoù). DieKritik an der Vergötzung des Marktes (Idiolatrie)schließt für ihn eine Dämonisierung desselbenaus; denn eine komplexe Gesellschaft könnenicht ohne Marktwirtschaft aufgebaut werden.

Eine ernüchternde Bilanz zieht der BonnerFranziskaner Andreas Müller aus theologischenAspekten der Verschuldung der Zwei-Drittel-Welt: Nur wenn die Länder dieser Region ihreFinanzen für ihre eigenen legitimen Interesseneinsetzen können, haben sie eine Chance auffriedliche Entwicklung.

Weitere Beiträge analysieren materialreichneue Formen der Abhängigkeit im Westsystem,die Notwendigkeit einer Theologie für die De-mokratisierung in Europa sowie die Rolle derKirchen in Mittel- und Osteuropa und Peru.Statistiken, Hinweise zu Materialarchiven, Bi-bliographie und Sachindex komplettieren denBand.

JENS LANGER

Bernd Harder,Hansjörg Hemminger:Seher – Schwärmer – Bibeldeuter;Prophezeiungen zum Weltendeund ihre Bedeutung,Gütersloher VerlagshausGütersloh 2001, 128 S. (16,80 DM)

Im vorliegenden Buch werden am Beginn desneuen Jahrtausends die bisherigen Versuchemit »Endzeit-Fahrplänen« untersucht. DieDarstellungen sehr unterschiedlicher Orientie-rungen und damit einhergehenden Verirrungenbeginnen mit Nostradamus, dessen Dunkel-worte am Beginn der Neuzeit als vermuteteHinweise auf Geschehnisse künftiger Zeitengelten. Durch weitere Analysen der nachfol-genden Prophezeiungen, die das vergehendeCorpus Christianum auf ein Imperium Huma-num hin prognostizierten, wird ein Mythosüberwunden.

Das Buch zieht eine ernüchternde Bilanzüber die Verwirrungen namentlich des letztenJahrhunderts, das aufgrund von Ahnungen derSeher und Apokalyptiker einen Abschied ausder Menschheitsgeschichte hätte bringen sol-len. Der Weltuntergang hat nicht stattgefun-den. Die Weltenträtselung der Nostradamus,Swedenborg, Cayce, Dixon aber auch von Fa-tima und Fittkam wird von den Autoren alsGeschäftemacherei und Scharlatanerie ent-larvt. Bernd Harder erreicht sein Ziel mit akri-bisch textkritischer Methode und kontextualenhistorischen Vergleichen.

Dem aufklärerischen Geist dieses Buchesweht nun aber ein Zeitgeist entgegen, der sichan Weltuntergangsszenarien nur allzu gern er-götzt. Das veranlaßte Hansjörg Hemminger zufragen, wo eigentlich die psychologischenHintergründe liegen, die Menschen immerwieder anfällig machen für die Faszination amWeltende und Untergang. Liegt es an den»Grundformen der Angst« (Fritz Riemann), indenen die Gedankenwelten zu Weltbildern er-starren? Hemmingers Zuversicht hingegenleitet sich ab aus der Wirkungsgeschichte derchristlichen Religion, die in ihrer eigentlichenBotschaft den Weg aus dem Dickicht der Äng-ste weist und den Weltlauf unter den Horizontder Erneuerung und Rettung stellt. So versteht

84 Bücher . Zeitschriften

er auch die biblischen Urkunden nicht als einCode für die Entschlüsselung der Welträtsel,sondern als Träger von Verheißungen und zu-versichtlicher Lebensgestaltung.

Diese befreiende Alternative zum ängsti-genden und geängsteten Zeitgeist drängt eszu weitergehenden Studien. Durch ein Anmer-kungs- und Literaturverzeichnis, das den Wertdes Buches zur wissenschaftlichen Weiter-arbeit erhöht, öffnet sich ein Weg zur Über-windung der Schwarm- und Zeitgeister.

KLAUS ROEBER

Uwe Soukup:Ich bin nun mal Deutscher –Sebastian Haffner. Eine Biographie,Aufbau Verlag Berlin 2001,344 S. (39,90 DM/20 )

»Nur in der täglichen Routine ist Sicherheitund Weiterbestehen – gleich daneben fängt derDschungel an. Jeder europäische Mensch des20. Jahrhunderts hat das mit dunkler Angst imGefühl. Daher sein Zögern, irgendetwas zuunternehmen, was ihn ›entgleisen‹ lassenkönnte – etwas Kühnes, Unalltägliches, nuraus ihm selbst Kommendes.«

Dieses Zögern, diese dunkle Angst, beschriebSebastian Haffner in seinem literarischenMeisterwerk Geschichte eines Deutschen, alsständige Möglichkeit immenser Zivilisations-katastrophen. Haffner, soviel wird in dieserBiographie – die im wesentlichen den politi-schen Journalisten präzise skizziert – deutlich,bezog diese ständige Möglichkeit der Zivilisa-tion, in den »Dschungel« des Unmenschlichenabzurutschen, nicht nur auf die Naziherrschaftin Deutschland. Überall wo der Mut zum Küh-nen, zum Unalltäglichen fehle, zerfalle einStück Demokratie. Deshalb blieb Haffner seinLeben lang ein Provokateur, der mit faszinie-rendem Weitblick in allen Medien seine Kühn-heit zu beweisen verstand. Seine Motivationschöpfte er aus der besten bürgerlichen Tradi-tion, die ihn stets an die Rufe nach Freiheit,Gleichheit, Brüderlichkeit erinnerte. Er war indiesem Sinne Konservativer, der den Sozialis-mus überhaupt nicht schätzte. Ob im engli-schen Observer, im Stern, in Konkret, in der

Welt, in der Süddeutschen Zeitung, in Christund Welt oder im Internationalen Frühschop-pen, Haffner prägte in diesem Sinne nicht nurdie jeweiligen Redaktionen, sondern liefertePolitikern, die seinen demokratischen Vorstel-lungen folgten, journalistische Unterstützung.Obwohl er den Sozialdemokraten vorwarf, siehätten dreimal durch ihr Zögern einer demo-kratischen Entwicklung Deutschlands imWege gestanden – 1914, als sie den Kriegs-krediten zustimmten, 1918, als die ›Volks-beauftragten‹ der SPD zum ersten Mal dieFreikorps gegen das eigene Volk einsetztenund am 20. Juli 1932, als die sozialdemokrati-sche preußische Regierung, der die 120 000Mann starke preußische Polizei unterstand,beim Staatsstreich des Reichskanzlers vonPapen kampflos kapituliert habe – unter-stützte er Willy Brandt und dessen Ostpolitik.Egon Bahr empfand seine Kolumnen im Sternals »wirksamen politischen Flankenschutz«für die sozialliberale Koalition.

Uwe Soukup verbindet seine DarstellungHaffners mit wichtigen Ereignissen in der jün-geren deutschen Politik, so zum Beispiel mitder ›Spiegel Affäre‹.

Haffner bezeichnet das polizeiliche Eindrin-gen in die Redaktionsräume des Spiegel am26. Oktober 1962, veranlaßt durch den dama-ligen Verteidigungsminister Strauß, als »neo-faschistisch«. In der Panorama-Sendung vom4. November 1962 stellt Haffner fest: »Wenndie deutsche Öffentlichkeit sich das gefallenläßt, wenn sie nicht nachhaltig auf Aufklärungdringt, dann adieu Pressefreiheit, adieu Rechts-staat, adieu Demokratie.« Er verläßt den Verlagdes Axel Cäsar Springer, für den er regel-mäßig geschrieben hatte, weil dieser Verlegerseine Medien selbstherrlich auf den Kurs desKalten Kriegers einschwor und die Polizei-aktion gegen den Spiegel als staatssicherndeMaßnahme rechtfertigte.

Adenauer, den Haffner noch bis 1961 gerühmthatte, eine innere deutsche Stabilität geschaffenzu haben, kritisierte er nun, Strauß nicht sofortaus seinem Ministeramt entlassen zu haben.»Der Alte« sei zu schwach. Seine Politik wolledie deutsche Einheit vorsätzlich zerstören, dasich Adenauer in den Grenzen des westdeut-schen Staates ganz wohl fühle und die Auf-nahme der alten Verbindungen zu den »sozialde-mokratischen Preußen« im Osten nur fürchte.

Bücher . Zeitschriften 85

e

Bereits in den vierziger Jahren hatte Haffnerfür eine NATO und für ein vereinigtes Europaplädiert. Aber in den sechziger Jahren forderteer die Neutralität Westdeutschlands und Ost-deutschlands. Nur so sei die Einheit beiderStaaten durch freie Wahlen möglich. Der vonFreundschaft verklärte Blick auf die andereSeite des Ozeans oder nach Moskau verhin-dere die Einheit Deutschlands. Der Mauerbausei eine verständliche Tat verzweifelter Ak-teure gewesen, die ein Ausbluten ihres Landeshätten verhindern wollen. Die Mauer habetrotz aller Not einen Weltkrieg verhindert. Mitdieser kühnen Denkweise handelte sich Haff-ner Anfang der sechziger Jahre und auch nach1989 herbe Kritik ein. Es gab eben nicht vielkühne Demokraten.

Das wurde auch 1968 in Berlin deutlich, woauf einer Demonstration gegen den Schah vonPersien der Student Benno Ohnesorg von ei-nem Polizisten erschossen wurde. Die Bild-Zeitung machte aus dem Toten ein »Opfer vonKrawallen«. Wer Terror produziere, müsseHärte in Kauf nehmen. Darauf konterte Haffnerim Stern: »Da es in Berlin, dank dem Sprin-ger-Monopol, keine Möglichkeit mehr gibt,oppositionelle Meinungen auf journalistischeWeise an eine breite Öffentlichkeit heranzutra-gen, bleibt dazu noch das – völlig legale –Mittel der Demonstration.« Die Morgenpostbeschimpfte Haffner und forderte ihn auf –ihn, der 1938 vor den Nazis nach Englandemigriert war – er möge Berlin verlassen, viel-leicht in den Osten! Dabei hatte Haffner invielen Artikeln die DDR als Scheinstaat ohneliberale Verfassung gegeißelt, deren Regie-rung nicht regiere, sondern Weisungen erfülle.Die DDR halte sich ein Rumpf-Parlament, wieder Reichstag der Nazis eines war.

Er schätzte historische Vergleiche. Der Ter-rorismus der Baader-Meinhof Gruppe habenicht den Staat gefährdet, aber er schränkteden Rechtsstaat ein und diskreditierte alle Lin-ken. Ebenso sei die Brandstiftung des Reichs-tages für Hitler nur Vorwand gewesen, um –noch im Einvernehmen mit Papen – denReichspräsidenten eine weitere Notverord-nung unterzeichnen zu lassen, durch die der»legale staatliche Terror« der Nazis begann.

Soukups Biographie ist ein wichtiges Buch,das in keinem Geschichtsunterricht fehlendürfte. Die trefflichen Hinweise auf Haffners

Bücher ermuntern dazu, mehr von Haffnererfahren zu wollen. Haffner verschüttet in sei-nen Büchern die Leser nicht mit Fakten, wiedas Historiker gerne zu tun pflegen. Seine li-terarische Erzählweise weckt demokratischesWollen beim Leser. Das brauchen wir jetzt!

JÜRGEN MEIER

Antistalinistische Oppositionan der Universität Jenaund deren Unterdrückungdurch SED-Apparat undStaatssicherheit (1956–1958).Eine Dokumentation von WernerFritsch u. Werner Nöckel,hrsg. vom Landesbeauftragtendes Freistaates Thüringen für dieUnterlagen des Staatssicherheits-dienstes der ehem. DDR,Erfurt 2000, 164 S.

Hier ist nicht nur ›Neues über Stolpe‹ zu er-fahren, wie es ein ND-Bericht ankündigte.Neuwert hat die gesamte Dokumentation, dasie Auseinandersetzungen, die in einer einzi-gen Parteiorganisation stattfanden, authen-tisch, im wesentlichen aber auch exemplarischwiderspiegelt. Nach dem XX. Parteitag derKPdSU, der die Aufdeckung Stalinscher Ver-brechen mit der Anerkennung der Möglichkeitverbunden hatte, auf neuen Wegen zum Sozia-lismus zu gelangen, gab es für Reformbestre-bungen an vielen Hochschulen (und nicht nurdort) starke Unterstützung. Befürchteter Öf-fentlichkeit wegen galt konservativen Kräftendie Kritik von Intellektuellen als besondersgefährlich. Daher wurden viele von ihnen, diesich »durchaus nicht als ›Oppositionelle‹ ge-fühlt hatten«, durch den Parteiapparat »zusolchen gemacht«, wie Fritsch einleitendschreibt (vgl. S. 7). Manche – längere Zeit als»feindlich-negative Elemente« überwacht –wurden 1957 oder 1958 zu mehrjähriger Haftverurteilt. So auch ein Autor dieses Buches.

Gäbe es wieder ein Parteilehrjahr, müßtesein Bericht zur Pflichtliteratur werden: Wer-ner Nöckel (Jahrgang 1927), als Reichsbahn-

86 Bücher . Zeitschriften

angehöriger und SED-Mitglied zur Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF) delegiert, ab 1954Geschichtsstudent, Parteileitungsmitglied, 1958wegen ›staatsgefährdender Hetze‹ zu dreiein-halb Jahren Zuchthaus verurteilt (unter ande-rem, weil er im Frühjahr 1956 eine Kopie derangeblich ›gefälschten Rede‹ von Chrusch-tschow und ein Jahr darauf die FAZ-Ausgabemit der ›gefälschten Konzeption‹ von Harichverbreitet hatte, vgl. S. 160 f.), zwei Jahre spä-ter amnestiert und aus Waldheim entlassen,bei der Reichsbahn wieder eingestellt undnach einem Fernstudium als Ingenieur für Ei-senbahn- und Brückenbau auch leitend tätig,1990 Mitbegründer und später Landesvorsit-zender der Vereinigung der Opfer des Stalinis-mus in Thüringen.

Aufmerksamkeit verlangen nicht nur die fürunsereinen oft beschämenden Einzelheitendieses Berichts. Achtung erheischt schon dieHaltung, in der Nöckel berichtet, und dannsein Fazit: Er betrachte sich »nicht als helden-haften Widerstandskämpfer«, es verschaffeihm aber Genugtuung, den Nachkommenbeweisen zu können, »daß wir ... gezweifelthaben. Und ... auch versuchten, Änderungenherbeizuführen. Es ist für uns übel ausgegan-gen, aber wir sind auch ein wenig stolz« aufunseren »kleinen Anteil« an der Wende (S. 69).

Das Vorgehen gegen Nöckel ist im Buchebenso dokumentiert, wie das gegen andereProtagonisten jener Reformbestrebungen. Fürdie Einführung hat Fritsch auch Gesprächeausgewertet (leider wenig zitiert), die er ab1996 mit sieben von ihnen führte, so mit Mar-tin Stutz, der dem »Ölmühlenkreis« kritischerABF-Dozenten angehörte (S. 12), sowie dennachmaligen Professoren Hochbaum undSchmutzer. Zu den insgesamt 97 klug ausge-wählten, hier meist auszugsweise abgedrucktenTexten gehören rund 50 Sitzungs- und Ver-sammlungsprotokolle, Referate und schriftlicheBerichte aus Parteigruppen, Grundorganisatio-nen und zentraler Parteileitung der Friedrich-Schiller-Universität (FSU) sowie etwa 30›Operativpläne‹, Informationen, ›Sachstands-berichte‹ und andere Papiere aus der JenaerKreisdienststelle des Ministeriums für Staats-sicherheit (MfS).

So erschreckend es ist, daß Parteisekretäreschon der untersten Ebene den Staatssicher-heitsdienst dazu veranlaßten, innerparteiliche

Auseinandersetzungen auf seine Weise zubeenden, so sehr beeindruckt es einen auch,in welcher Vielfalt und Beharrlichkeit dieAngehörigen dieser überschaubar kleinenUniversität Forderungen erhoben, welche,selbst wenn sie vom studentischen Alltag her-kamen, unverkennbar auf Entstalinisierungund Demokratisierung hinausliefen.

Wie den von der FDJ-Leitung der Historiker(namentlich von Fritsch, Wolfgang Hoffmannund Harald Lange) zusammengefaßten undEnde Oktober 1956 zur Diskussion gestellten›Vorschlägen‹ zu entnehmen ist, geht es denStudenten zwar auch um Änderungen derStipendienordnung, doch gleichermaßen umerweiterte Mitbestimmung und ebenso umFreiraum für kritische Äußerungen »auch zugrundsätzlichen Fragen der Regierungspoli-tik«. Die jungen Genossen prangern »einsei-tige Berichterstattung« an, insbesondere das»Vertuschen von Meinungsverschiedenheiten«in der Parteiführung, und fordern, daß diewichtigsten westdeutschen Tageszeitungen»durch Auslegen im Lesesaal zugänglich ge-macht werden« (S. 13). In der JuristischenFakultät werden sogar konzeptionelle Ansätzefür die Herbeiführung sozialistischer Rechts-staatlichkeit erarbeitet. Hans-Ulrich Hoch-baum setzt sich insbesondere für die Wieder-herstellung der Verwaltungsgerichtsbarkeitein, Gerhard Riege für eine Wahlrechtsreform.Daraufhin bezichtigt die Universitätspartei-leitung (UPL) den Dekan Arno Hübner, denInstitutsleiter Hochbaum sowie den Partei-sekretär Riege, eine »gemeinsame revisionisti-sche Plattform gebildet« zu haben (S. 77).

Wie gesagt, in anderen Hochschulen geschahdamals Ähnliches. Doch fehlt bislang eineumfassende Erschließung und vergleichendeAuswertung entsprechender Unterlagen. In Jenajedenfalls hatten Kritiker des poststalinistischenRegimes 1956 einen derart starken Rückhalt infast allen Fakultäten und vielen Instituten, ins-besondere bei Chemikern und Medizinern, daßRepressalien erst im Spätherbst möglich wur-den. Sie richteten sich zuerst gegen GünterZehm und die »Philosophische Studentengesell-schaft« (vgl. S. 103 f.), erlangten 1957 schoneine größere Reichweite, zwangen reformorien-tierte Parteimitglieder zum Rückzug, veranlaß-ten manche zum Austritt, so sie nicht ausge-schlossen wurden, und viele zur Selbstkritik.

Bücher . Zeitschriften 87

Zu einem letzten Aufbegehren kam es imFebruar 1958, nachdem Ulbricht das Zentral-komitee dazu genötigt hatte, Karl Schirdewanund weitere eigenwillige Spitzenfunktionäreauszustoßen. In der FSU äußerten viele Par-teimitglieder ihre Vorbehalte, manche sogardirekt ihr Mißtrauen gegenüber der Partei-führung. Es wurde verlangt, die strittigenFragen vom bevorstehenden Parteitag ent-scheiden zu lassen. Nach Einschätzung derUPL gab es in der Universität »eine großeSchar von Menschen, die sofort bereit gewe-sen wäre, in den Kurs der Gruppe Schirdewan-Wollweber ... einzuschwenken, wenn es dieserparteifeindlichen Gruppe gelungen wäre, dieOberhand zu gewinnen« (S. 150).

Nunmehr führte die UPL eine umfassendeAbrechnung mit allen Mitgliedern herbei, diein den letzten zwei Jahren ›geschwankt‹ hattenoder ›versöhnlerisch‹ aufgetreten waren.Gleichzeitig wurden Studenten verhaftet, dieim Herbst 1956 an Protestaktionen beteiligtgewesen waren oder dem »Eisenberger Kreis«angehörten. Wie Fritsch schreibt, führte daszu einer »bedrückend-angstgeladenen Atmo-sphäre« und zog die »Republikflucht« vielerUniversitätsangehörigen nach sich (S. 32).

Die Niederlage der reformorientierten So-zialisten erklärt Fritsch aus den ungünstigenRahmenbedingungen des Kalten Krieges, demFortbestehen des stalinistischen Machtappa-rats, aber auch aus ihren eigenen »Schwächenund Erkenntnisschranken«, die er vor allemdarin sieht, daß die meisten Ulbricht-Kritikeran den »traditionellen leninistischen Lehrsät-zen« über die Partei immer noch festhieltenund auch recht verschiedene Vorstellungen da-von hatten, was nun eigentlich wie erreichtwerden konnte und sollte (vgl. S. 35). Zehmerkannte schon damals: »Wir vermögen denunterdrückten Menschen kein Programm, keinManifest zu geben...« (S. 99).

All das leuchtet ein, und in einer Dokumen-tation zweier Jahre kann es keine weiter-reichenden Betrachtungen geben. Doch demLeser drängt sich die Frage auf, wo denn dasgroße intellektuelle Potential für eine Sozialis-musreform letztlich geblieben ist, das 1956 soplötzlich in Erscheinung getreten war.Schließlich gingen nicht alle Ulbricht-Kritikerin den Knast oder in den Westen. Wie schafftees dieses Regime, neben einer Minderheit

unversöhnlicher Feinde wie etwa Zehm eineMehrheit zuverlässiger Sachwalter wie etwaHerger heranzubilden? (Ja, der nachmaligeZK-Abteilungsleiter gehörte damals auch zuZehms Studentengesellschaft.) Und wie ge-lang es, eine ganze Generation junger Sozia-listen, der um 1930 geborenen, schließlichdahin zu bringen, daß sie – versagte, als sie ander Reihe gewesen wäre, die politischeFührung zu übernehmen?

JOCHEN CERNY

Zu beziehen ist die Dokumentation vom Hrsg. in 99019 Erfurt, PF 941 (4 DM zzgl. Porto).

88 Bücher . Zeitschriften

Beiträge

ADOLPHI,WOLFRAM:Zäsur11.September (Heft133)AMIN, SAMIR: »Pure Economics« – der reine

Wahn (Heft 126)AMZOLL, STEFAN: »Sie schrien abermals ›Kreuziget

ihn‹!« (Interview mit Gerd Rienäcker) (Heft129/130)

BECKER, JOHANNES M.: »Dieses Land haben sienoch nicht erobert...« Kuba – Modell für Ent-wicklungsländer oder Fossil? (Heft 125)

BISKY, LOTHAR: Eine späte Begegnung. Zur Er-innerung an Hans Mayer (Heft 132)

BOCK, HELMUT: Unvergessen: Lyon 1831. Vonden Anfängen des Klassenkampfes (Heft 133)

BRAUN, ANNELIESE: Arbeitsverhältnisse – ihreTrends und Alternativen aus feministischerSicht (Heft 128)

BRIE, MICHAEL: Über welche Brücken sollen wirgehen, welche Mauern sollen wir überwinden(Heft 134)

BRIE, MICHAEL: Sozialismus: Ein Blick zurück indie Zukunft (Heft 129/130)

BRONNER, STEPHEN ERIC: Rote Träume an derJahrtausendwende – Anmerkungen zum Erbevon Rosa Luxemburg (Heft 123)

BUSCH, ULRICH; SCHNEIDER, ANJA: Viel Konsum,aber wenig Wachstum. Zu den Wirkungen derTransferzahlungen (Heft 127)

CAYSA, VOLKER: Die »Lebenskünstlerin« RosaLuxemburg (Heft 129/130)

CERNYJOCHEN: »...eine außergewöhnliche Hand-lungsweise«. Zur Staatsbeteiligung an Privat-betrieben in der DDR (Heft 123)

CHRAPA, MICHAEL: »Handlungsstau«? Politi-sches Handeln in Ost und West (Heft 128)

CREYDT, MEINHARD: Sonderweg und Abweg.Zur Kritik einer deutschen Vergangenheitsbe-wältigung (Heft 127)

CROME, ERHARD: Zukunft und Vergangenheit –eine Entschlingung (Heft 124)

DEHM, DIETHER: Drei Brücken über programma-tische Mauern (Heft 132)

DWARS, JENS-FIETJE: Die Tagebücher Georgi Di-mitroffs? (Heft 131)

FEIEREIS, KONRAD: Möglichkeiten und Grenzendes Dialogs aus der Sicht eines katholischenTheologen (Heft 129/130)

FUCHS, CHRISTIAN: Technisch vermittelte Ent-körperlichung – Emanzipation oder Risiko?(Heft 129/130)

GRÄBE, HANS-GERT: Kompetenz im Informations-zeitalter. Die Stellung des symbolischen Rech-nens im Wissenschaftsgebäude (Heft 125)

GRÄFE, KARL-HEINZ: Die Geister der Vergangen-heit sind auch in Polen zurückgekehrt (Heft131)

GREBING, HELGA: Was geht uns Berlin an? (Heft132)

HAUG, FRIGGA: Gleicher als Andere. Laudatiofür Christoph Spehr (Heft 125)

HAUG, WOLFGANG FRITZ: Perspektiven gegen-wärtigen marxistischen Denkens (Interview)(Heft 126)

HECKER, ROLF: Zwei neue MEGA-Bände (Heft126)

HEERKLOSS, KILIAN: Gentechnik aus ökologisch-ethischer Sicht (Heft 124)

HOPFMANN, ARNDT: Die Linke zwischen Regie-rung und Revolution (Heft 131)

IVEN, MATHIAS: Leben als gelebte Ethik. LudwigWittgenstein zum 50. Todestag (Heft 134)

IVEN, MATHIAS: »Häuser als Refugien«. GünterWirth und der »andere« Geist von Potsdam(Heft 124)

KESSLER, MARIO: Theodor Bergmann 85 Jahre(Heft 125)

KINNER, KLAUS: Die Luxemburg-Rezeption inKPD und Komintern (Heft 129/130)

KLEIN, MAX: Jan Koplowitz 1. Dezember 1909 –19.September 2001 (Heft 134)

KOCK, KLAUS: Zwischen Markt und Organisa-tion. Arbeitsverhältnisse im flexibilisiertenKapitalismus (Heft 124)

KÖPP, ULRIKE: Heinz Bormann – der Dior derDDR (Heft 123)

KRYSMANSKI, HANS JÜRGEN: High-Tech-Anti-Kapi-talismus: Ein Widerspruch in sich? (Heft 133)

LAABS, ANJA: Neuigkeiten vom Huhn-Ei-Problem(Heft 131)

LAITKO, HUBERT: Bildung als Funktion einermultioptionalen Gesellschaft (Heft 127)

LANGE, ERICH: Ist Fortschritt im Organismen-reich eine Illusion? (Heft 124)

LAWIN, ROGER: Gemütlich qualmt die Pfeife.Wolfgang Leonhard zum 80. Geburtstag (Heft126)

LEIBIGER, JÜRGEN: Die Eigentumsfrage im Kapi-talismus des 21. Jahrhunderts (Heft 127)

LOHMANN, INGRID: ›http://www.bildung.com‹ –Strukturwandel der Bildung in der Informa-tionsgesellschaft (Heft 125)

LUDLOFF, RUDOLF: Die produktiven Kräfte desKapitalismus und das Programm der PDS(Heft 132)

MACHOVEC, MILAN: Den Andersdenkenden ent-dämonisieren (Gespräch mit Simone Thiede)(Heft 129/130)

MEIER, JÜRGEN: Die Abkehr von der Manipula-tion ist ein Gerichtetsein auf die Wirklichkeit– Georg Lukács (Heft 131)

MEIER, KLAUS: Gegengift – Nachdenken überWege in eine nachhaltige Zukunft (Interviewmit Joachim H. Spangenberg) (Heft 131)

MERTEN, STEFAN: Freie Software für eine FreieGesellschaft (Heft 133)

MEYER, HANSGÜNTER: Hochschulen im Wandel– Richtungen, Holzwege, Zukunftschancen(Heft 126)

Jahresinhaltsverzeichnis 2001 89

MOCEK, REINHARD: Auf dem Wege zu einer Neu-vermessung des Gesellschaftlichen. Anmer-kungen zu Uli Schölers Rückgriff auf Marx(Heft 123)

MÖLLER, CAROLA: Immaterielle Arbeit – dieneue Dominante in der Wertschöpfungskette(Heft 128)

MORGENSTERN, KARL: Über möglichen Sozialis-mus und aktuelle Herausforderungen (Heft129/130)

MÜLLER, HORST: Die Staatsquote und Transfor-mationstendenzen in Wirtschaft und Gesell-schaft (Heft 132)

NEUNHÖFFER, GISELA: Die liberale Konterrevolu-tion – neoliberale Think Tanks in Polen (Heft126)

NORDMANN, JÜRGEN: Nonkonformisten der Ge-genrevolution? Über den Ort rechtsliberalerIntellektueller (Heft 129/130)

OBERKOFLER, ANJA: Kritische Ansätze im ameri-kanischen Rechtsdenken (Heft 132)

OITTINEN, VESA: Perspektiven gegenwärtigenmarxistischen Denkens (Interview mit Wolf-gang F. Haug) (Heft 126)

OTTO, WILFRIEDE: Gespräch zwischen Nikita S.Chruschtschow und John F. Kennedy am 3.und 4. Juni 1961 in Wien. Die Weichenstel-lung zum Mauerbau (Dokument) (Heft 128)

PLEHWE, DIETER: Neoliberale Ideen aus der na-tionalen Peripherie ins Zentrum gerückt (Heft129/130)

PLENER ULLA: Soziale Gerechtigkeit erfordertWirtschaftsdemokratie. Teil III: Die ver-drängte Ur-Idee der Arbeiterbewegung nachdem Scheitern des Realsozialismus (1990 –2000) (Heft 127)

PLENER, ULLA: Soziale Gerechtigkeit erfordertWirtschaftsdemokratie. Teil II: Die verdrängteUr-Idee der Arbeiterbewegung zwischen 1949und 1989 in Westdeutschland (Heft 123)

POLITT, HOLGER: Die polnische Frage bei RosaLuxemburg (Heft 129/130)

RATAI, LOTHAR: Gedanken eines gelernten Ossis(Heft 129/130)

RICHTER, FRANK: Pluralität oder Pluralismus?(Heft 132)

RIENÄCKER, GERD: »Sie schrien abermal ›Kreu-ziget ihn‹!« (Interview von Stefan Amzoll)(Heft 129/130)

RUF, WERNER: Feindbild Islamismus (Heft 134)Sabath, Wolfgang: Festplatte. Die Wochen im

Rückstau (Heft 123-134)SCHMIDT, WALTER: Preußen und die deutsche Ge-

schichtskultur (Heft 127)SCHNEIDER, ANJA; BUSCH, ULRICH: Viel Konsum,

aber wenig Wachstum. Zu den Wirkungen derTransferzahlungen (Heft 127)

SCHÖNEBURG, VOLKMAR: Kritisieren, überwin-den und verteidigen – Eckpfeiler einer linkenKriminalpolitik (Heft 134)

SCHÖNEBURG, VOLKMAR: Die Natur des Rechts.Hermann Klenner zum 75. Geburtstag (Heft123)

SCHRÖTER, LOTHAR: Ein neuer Bellizismus fürdas 21. Jahrhundert? (Heft 124)

SCHUMANN, MICHAEL: Erkenntnistheoretischeszum Stichwort Geist (Heft 134)

SCHUMANN, MICHAEL: Der Rechtsextremismusund die Gegenwartsgesellschaft (Heft 123)

SEPPMANN, WERNER: Die »neue Weltordnung«des Kapitals (Heft 129/130)

SIXEL, FRIEDRICH W.: Was ist denn nicht »reinerWahn«? (Heft 133)

SIXEL, FRIEDRICH W.: Rechtsextremismus inDeutschland – eine Reaktion, die mehr ver-langt als Reaktion (Heft 128)

SPANGENBERG, JOACHIM H.: Gegengift – Nach-denken über Wege in eine nachhaltige Zu-kunft (Interview) (Heft 131)

STAHL, JÜRGEN: Das vereinnahmte Ich (Heft 131)THIEDE, SIMONE: Den Andersdenkenden entdä-

monisieren (Gespräch mit Milan Machovec)(Heft 129/130)

THIELEN, HELMUT: Leonardo Boff und TarsoGenro – kreative Denker auf der Seite derLinken in Brasilien (Heft 125)

Unterredung zwischen Nikita S. Chrustschowund John F. Kennedy am 3. und 4. Juni 1961in Wien. Die Weichenstellung zum Mauerbau(Heft 128)

WAGNER, GERHARD: Ursprung und Utopie. Visio-näre Motive im Werk von Antoine de Saint-Exupéry (Heft 126)

WEICHOLD, JOCHEN: Der Abgeordnete und dieDiäten. Zum verfassungsrechtlichen Problemder »angemessenen«, die »Unabhängigkeit«des Abgeordneten sichernden Entschädigung(Heft 125)

WENZEL, SIEGFRIED: Erfahrungen aus dem erstenSozialismusversuch in Europa (Heft 133)

WIRTH, GÜNTER: Martin Luther King. Erinnerun-gen und Reflexionen (Heft 132)

WITTICH, DIETMAR: Sein als Werden. Zum Pro-grammentwurf der PDS (Heft 128)

WITTICH, DIETMAR: Klassenentwicklung undKlassenanalyse in kapitalistischen Metropo-len (Heft 124)

WOGAWA, STEFAN: Nachhaltigkeit statt Wachs-tumseuphorie – Eine Kritik aus gegebenemAnlaß (Heft 131)

WURL, ERNST: Geschichtspolitik und Geschichts-kultur in einem gespalten vereinten Land(Heft 134)

ZACHOVAL, MARCEL: Milan Machovec (Heft129/130)

90 Jahresinhaltsverzeichnis 2001

Konferenzen & Veranstaltungen

ASZAKIES, CHRISTIANE, CHRISTEL GIBAS: Schöneneue Welt. Perfektion oder Perversion? (Heft128)

GIBAS, CHRISTEL, CHRISTIANE ASZAKIES: Schöneneue Welt. Perfektion oder Perversion? (Heft128)

GRIGAT, STEPHAN: Vom Postfaschismus zum de-mokratischen Faschismus (Heft 134)

HEDELER, WLADISLAW: Auf der Suche nach Ant-worten (Heft 131)

HOPFMANN, ARNDT: Nachhaltigkeit, Wissen-schaftsethik, Globalisierung (Heft 133)

HOPFMANN, ARNDT: Unerhörte Kontroversen umdie Humangenomforschung (Heft 129/130)

HOPFMANN, ARNDT: Bildungsanforderungen im21. Jahrhundert (Heft 124)

JANKE, DIETER: Markt und Plan – neue Kontro-versen zu einem ›ewigen‹ Streitfall (Heft129/130)

KAISER GERD: Wegweiser (Heft 126)PFEIFFER, SIGRID: Dolly oder das ›andere Ich‹.

Zur ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit(Heft 133)

WITTICH, DIETMAR: Marx kam bis Quiroga (Heft125)

Bücher & Zeitschriften

Altvater, Elmar; Galtung, Johan; Madörin, Ma-scha; Mahnkopf, Birgit; Sachs, Wolfgang;Werlhof, Claudia von: Neoliberalismus – Mi-litarismus – Rechtsextremismus. Die Gewaltdes Zusammenhangs, ProMedia Verlag Wien2001 (ARNDT HOPFMANN – Heft 132)

Aluffi-Pentini, Anna; Gstettner, Peter Lorenz;Wakounig, Vladimir (Hrsg.): AntirassistischePädagogik in Europa. Theorie und Praxis,Slowenische Jahrbücher 5, Drava-Verlag Kla-genfurt/Celovec 1999 (JENS LANGER – Heft126)

Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik:Memorandum 2001, PapyRossa Verlag Köln2001 (ULRICH BUSCH – Heft 131)

Badstübner, Evemarie (Hrsg.): Befremdlich an-ders: Leben in der DDR, Karl Dietz VerlagBerlin 2000 (KLAUS MEIER – Heft 125)

Bartosz, Julian; Hofbauer, Hannes: Schlesien.Europäisches Kernland im Schatten vonWien, Berlin und Warschau, Promedia VerlagWien 2000 (STEFAN BOLLINGER – Heft 125)

Becker, Jens: Heinrich Brandler. Eine politischeBiographie, VSA-Verlag Hamburg 2001(WLADISLAW HEDELER – Heft 134)

Betz, Karl; Roy, Tobias (Hrsg.): Privateigentumund Geld. Kontroversen um den Ansatz vonHeinsohn und Steiger, Metropolis-VerlagMarburg 1999 (ULRICH BUSCH – Heft 123)

Jahresinhaltsverzeichnis 2001 91

Bittlingmayer, Uwe H.: Askese in der Erlebnis-gesellschaft? Eine kultursoziologische Unter-suchung zum Konzept der »nachhaltigen Ent-wicklung« am Beispiel des Car-Sharing,Westdeutscher Verlag Wiesbaden 2000(KLAUS MEIER – Heft 131)

Brand, Ulrich; Brunnengräber, Achim; Schrader,Lutz; Stock, Christian; Wahl Peter: GlobalGovernance. Alternative zur neoliberalenGlobalisierung? (Eine Studie von Heinrich-Böll-Stiftung und WEED), WestfälischesDampfboot Münster 2000 (ARNDT HOPFMANN– Heft 126)

Bronner, Stephen Eric: Ein Gerücht über die Ju-den. Die »Protokolle der Weisen von Zion«und der alltägliche Antisemitismus, Propy-läen Verlag Berlin 1999 (IRENE RUNGE – Heft128)

Buckmiller, Michael; Heimann, Dietrich; Perels,Joachim (Hrsg.): Judentum und politischeExistenz. Siebzehn Porträts deutsch-jüdischerIntellektueller, Offizin Verlag Hannover 2000(HERMANN KLENNER – Heft 123)

Bürgerliche Revolution und revolutionäre Linke:Beiträge eines wissenschaftlichen Kolloqui-ums anläßlich des 70. Geburtstages von Hel-mut Bock, hrsg. von Walter Schmidt (Gesell-schaft – Geschichte – Gegenwart, Schriften-reihe des Vereins »Gesellschaftswissenschaft-liches Forum e.V.«, Berlin, Bd. 21), trafo-ver-lag Berlin 2000 (ERHARD KIEHNBAUM – Heft129/130)

Butterwegge, Christoph; Lohmann Georg(Hrsg.): Jugend, Rechtsextremismus und Ge-walt. Analysen und Argumente, Leske + Bu-drich, Opladen 2000 (ALJOSCHA JEGODKA –Heft 125)

Caysa, Volker: Kritik als existenzielle Praktik,›Diskurs – Streitschriften zu Geschichte undPolitik des Sozialismus‹ der Rosa-Luxem-burg-Stiftung Sachsen, Heft 6, GNN VerlagSachsen, Schkeuditz 2001 (KONSTANZESCHWARZWALD – Heft 134)

Chomsky, Noam: Profit Over People. Neolibera-lismus und globale Weltordnung, Europa Ver-lag Hamburg – Wien 2000 (ARNDT HOPF-MANN – Heft 125)

Claußen, Bernhard; Donner, Wolfgang; Voigt,Gerhard (Hrsg.): Krise der Politik – PolitischeBildung in der Krise? Diskurse im Kontextvon Globalisierung und Ost-West-Perspekti-ven, Galda+Wilch Verlag Glienicke/Berlin/Cambridge (Mass.) 2001 (ROLAND BACH –Heft 133)

Demokratie, Agrarfrage und Nation in der bür-gerlichen Umwälzung in Deutschland.Beiträge des Ehrenkolloquiums zum 70. Ge-burtstag von Helmut Bleiber am 28. Novem-ber 1998, hrsg. von Walter Schmidt (Gesell-schaft – Geschichte – Gegenwart, Schriften-

reihe des Vereins »Gesellschaftswissenschaft-liches Forum e.V.«, Berlin, Bd. 29), Berlin2000 (ERHARD KIEHNBAUM – Heft 129/130)

Demokratie und Arbeiterbewegung in der deut-schen Revolution von 1848/49. Beiträge desKolloquiums zum 150. Jahrestag der Revolu-tion von 1848/49 am 6. und 7. Juni 1998 inBerlin, hrsg. von Helmut Bleiber, Rolf Dlu-bek und Walter Schmidt (Gesellschaft – Ge-schichte – Gegenwart, Schriftenreihe des Ver-eins »Gesellschaftswissenschaftliches Forume.V.«, Berlin, Bd. 22), Berlin 2000 (ERHARDKIEHNBAUM – Heft 129/130)

Dickmann, Elisabeth; Schöck-Quinteros, Eva(Hg.): Barrieren und Karrieren. Die Anfängedes Frauenstudiums in Deutschland. Doku-mentationsband der Konferenz »100 JahreFrauen in der Wissenschaft« im Februar 1997an der Universität Bremen, trafo verlag dr.wolfgang weist Berlin 2000 (REGINA STÖTZEL– Heft 124)

Drechsler, Karl: GegenSpieler: John F. Kennedy– Nikita Chruschtschow, Fischer Taschen-buch Verlag, Frankfurt/M. 1999 (STEFAN BOL-LINGER – Heft 123)

Eppelmann, Rainer; Keller, Dietmar: Zwei deut-sche Sichten. Ein Dialog auf gleicher Augen-höhe, hrsg. von Christian v. Ditfurth, VerlagKarl Heinrich Bock Bad Honnef 2000(WOLFRAM ADOLPHI – Heft 124)

Frambach, Hans: Arbeit im ökonomischen Den-ken. Zum Wandel des Arbeitsverständnissesvon der Antike bis zur Gegenwart, Metropo-lis-Verlag Marburg 1999 (ULRICH BUSCH –Heft 128)

Friedrich, Walter; Förster, Peter; Starke, Kurt(Hrsg.): Das Zentralinstitut für Jugendfor-schung Leipzig 1966-1999. Geschichte, Me-thoden, Erkenntnisse, edition ost Berlin 1999(STEFAN BOLLINGER – Heft 133)

Gerschlager, Caroline; Paul-Horn, Ina (Hrsg.):Gestaltung des Geldes, Metropolis-VerlagMarburg 2000 (ULRICH BUSCH – Heft 133)

Gibas, Monika; Gries, Rainer; Jakoby, Barbara;Müller, Doris (Hrsg.): Wiedergeburten. ZurGeschichte der runden Jahrestage der DDR,Leipziger Universitätsverlag Leipzig 1999(STEFAN BOLLINGER – Heft 129/130)

Giddens, Anthony: Die Frage der sozialen Un-gleichheit, Suhrkamp Frankfurt/M. 2001(HORST DIETZEL – Heft 134)

Glißmann, Wilfried, Klaus Peters: Mehr Druckdurch mehr Freiheit. Die neue Autonomie inder Arbeit und ihre paradoxen Folgen, VSAVerlag Hamburg 2001 (ALJOSCHA JEGODTKA –Heft 133)

Grab, Walter: Zwei Seiten einer Medaille. De-mokratische Revolution und Judenemanzipa-tion, PapyRossa-Verlag Köln 2000 (MARIOKESSLER – Heft 128)

Grau, Inge; Mährdel, Christian; Schicho, Walter(Hg.): Afrika. Geschichte und Gesellschaft im19. und 20. Jahrhundert, Promedia Wien 2000(HEINZ LAMBARTH – Heft 126)

Haustein, Heinz-Dieter: Messen ist Macht undMenetekel. Weisheit der Jahrtausende zu Maßund Messkunst mit einem Essay zur Ge-schichte und Philosophie des Messens, LibriBooks on Demand 2000 (THOMAS KUCZYNSKI– Heft 124)

Huber, Joseph: Allgemeine UmweltSoziologie,Westdeutscher Verlag Wiesbaden 2001(KLAUS MEIER – Heft 131)

Hürtgen, Renate; Reichel, Thomas (Hrsg.): DerSchein der Stabilität. DDR-Betriebsalltag inder Ära Honecker, Metropol-Verlag Berlin2001 (OLAF KLENKE – Heft 134)

Hütt, Wolfgang: Schattenlicht. Ein Leben im ge-teilten Deutschland, fliegenkopf verlag Halle1999 (PETER H. FEIST – Heft 123)

IG Metall (Hrsg.): Denk-Schrift fairteilen, Wo-chenschau-Verlag Schwalbach/Ts. 2000(HEINZ SCHÄFER – Heft 126)

Kaldor, Mary: Neue und alte Kriege, EditionZweite Moderne, hrsg. von Ulrich Beck,Suhr-kamp Frankfurt/M. 2000 (WOLFGANG TRIE-BEL – Heft 132)

Kersting, Wolfgang (Hg.): Politische Philoso-phie des Sozialstaates, Velbrück WissenschaftWeilerwist 2000 (DIRK JÖRKE – Heft 124)

Kersting, Wolfgang: Theorien der sozialen Ge-rechtigkeit, J.B. Metzler Stuttgart 2000 (DIRKJÖRKE – Heft 124)

Klammer, Ute; Plonz, Sabine (Hrsg.): Men-schenrechte auch für Frauen?!, Band 11 derSchriftenreihe »Auf der Suche nach der ver-lorenen Zukunft«, hrsg. von Hanna Behrend,trafo verlag dr. wolfgang weist, Berlin 1999(RENATE ULLRICH – Heft 123)

Krell, David Farrell: Nietzsche – Der gute Eu-ropäer. Die Landschaften seines Lebens. MitFotografien von Donald L. Bates, Knesebeck-Verlag München 2000 (ULRICH BUSCH – Heft129/130)

Langer, Felicia: Miecius später Bericht. Eine Ju-gend zwischen Getto und Theresienstadt, La-muv Verlag Göttingen 1999 (WERNER RUF –Heft 123)

Lenz, Ilse; Maria Nickel, Hildegard; Riegraf,Birgit: Geschlecht – Arbeit – Zukunft (Schrif-tenreihe der Sektion Frauenforschung in derDeutschen Gesellschaft für Soziologie, Bd.12), Westfälisches Dampfboot Münster 2000(REGINA STÖTZEL – Heft 131)

Lipietz, Alain: Die große Transformation des 21.Jahrhunderts. Ein Entwurf der politischenÖkologie, einsprüche 11, aus dem Französi-schen und mit einem Nachwort von FriederOtto Wolf, Westfälisches Dampfboot, Mün-ster 2000 (ARNDT HOPFMANN – Heft 124)

92 Jahresinhaltsverzeichnis 2001

Löwy, Michael: Internationalismus und Nationa-lismus: kritische Essays zu Marxismus und»nationaler Frage«. Mit einem Beitrag vonEnzo Traverso, ISP Köln 1999 (RONALDLÖTZSCH – Heft 127)

Mandel, Ernest: Macht und Geld. Eine marxisti-sche Theorie der Bürokratie, Neuer ISP Ver-lag Köln 2000 (MANFRED BEHREND – Heft128)

May, Ruth: Planstadt Stalinstadt. Ein Grundrißder frühen DDR – aufgesucht in Eisenhütten-stadt, Verlag Institut für Raumplanung derUniversität Dortmund, Fakultät Raumpla-nung, Dortmund 1999 (Dortmunder Beiträgezur Raumplanung. 92) (KARL HERMANN TJA-DEN – Heft 123)

Merkel, Ina: Utopie und Bedürfnis. Die Ge-schichte der Konsumkultur in der DDR,Böhlau Verlag Köln u.a. 1999 (ULRICH BUSCH– Heft 126)

Müntefering, Franz; Machnig, Matthias (Hrsg.):Sicherheit im Wandel. Neue Solidarität im 21.Jahrhundert, Berliner vorwärts Verlagsgesell-schaft 2001 (HORST DIETZEL – Heft 132)

Nordamerikastudien. Historische und literatur-wissenschaftliche Forschungen aus öster-reichischen Universitäten zu den VereinigtenStaaten und Kanada, hrsg. von ThomasFröschl, Margarete Grandner, Birgitta Bader-Zaar (Wiener Beiträge zur Geschichte derNeuzeit, Bd. 24/2000, hrsg. von Thomas An-gerer u. a.), Verlag für Geschichte und PolitikWien/R. Oldenbourg Verlag München 2000(KARL DRECHSLER – Heft 132)

North, Michael: Kommunikation, Handel, Geldund Banken in der frühen Neuzeit, R. Olden-bourg Verlag München 2000 (ULRICH BUSCH– Heft 133)

Panitch, Leo, Colin Leys (eds.): Necessary andUnnecessary Utopias, Socialist Register2000, Merlin Press Rendlesham, Suffolk1999 (RICHARD SAAGE – Heft 127)

Peters, Arno: Computer-Sozialismus, VerlagNeues Leben Berlin 2000 (KAY MÜLLER –Heft 134)

Pollach, Günter; Wischermann, Jörg; Zeuner,Bodo: Ein nachhaltig anderes Parteiensystem.Profile und Beziehungen von Parteien in ost-deutschen Kommunen. Ergebnisse einer Be-fragung von Kommunalpolitikern, Leske +Budrich, Opladen 2000 (HORST DIETZEL –Heft 125)

Priddat, Birger P. (Hrsg.): Kapitalismus, Krisen,Kultur, Metropolis-Verlag Marburg 2000(ULRICH BUSCH – Heft 132)

Reinhard, Wolfgang: Geschichte und Staatsge-walt. Eine vergleichende Verfassungsge-schichte Europas von den Anfängen bis zurGegenwart, Verlag C. H. Beck München 2001(HERMANN KLENNER – Heft 134)

Jahresinhaltsverzeichnis 2001 93

Rorty, Richard: Wahrheit und Fortschritt, Suhr-kamp Verlag, Frankfurt/M. 2000 (DIRK JÖRKE– Heft 131)

Ryll, Stefan; Yenal, Alparslan (Hg.): Politik undÖkonomie. Festschrift für Gerhard Huber,Metropolis-Verlag Marburg 2000 (ULRICHBUSCH – Heft 127)

Salomon, Andreas (Hg.): Auf den Spuren vonGeorg Schuhmann und Alois Lahn. Ein Bei-trag zur Kolbermoorer Räterepublik. Schrif-tenreihe des DGB-Bildungswerks zur Regio-nalgeschichte, Bd. 1, Eigenverlag Kolber-moor 2000 (KLAUS WEBER – Heft 126)

Sandbothe, Mike (Hg.): Die Renaissance desPragmatismus. Aktuelle Verflechtungen zwi-schen analytischer und kontinentaler Philoso-phie, Velbrück Wissenschaft Weilerswist2000 (DIRK JÖRKE – Heft 131)

Schell, Thomas von; Seltz, Rüdiger: Inszenie-rungen zur Gentechnik, Westdeutscher VerlagWiesbaden 2000 (KILIAN HEERKLOSS – Heft131)

Stoecker, Helmut: Socialism with deficits. Anacademic life in the German Democratic Re-public, Lit Verlag Münster – Hamburg – Lon-don 2000 (ALFRED FLEISCHHACKER – Heft126)

Thiedemann, Elviera: Die Eleganz der Eselstrei-ber. Tagebuch Januar 1991 bis Dezember1993, trafo verlag dr. wolfgang weist Berlin2000 (SIGRID BUSCH – Heft 123)

Thiel, Rainer: Die Allmählichkeit der Revolu-tion. Blick in sieben Wissenschaften, Bd. 6der Reihe »Selbstorganisation sozialer Pro-zesse«, hrsg. von Herbert Hörz, Lit VerlagMünster – Hamburg – London 2000 (WALTERRÖSLER – Heft 126)

Tschentscher, Axel: Prozedurale Theorien derGerechtigkeit, Nomos VerlagsgesellschaftBaden-Baden 2000 (HERMANN KLENNER –Heft 127)

Wenzel, Siegfried: Was war die DDR wert? Undwo ist dieser Wert geblieben? Versuch einerAbschlußbilanz, Verlag Das Neue Berlin Ber-lin 2000 (STEFAN BOLLINGER – Heft 127)

Widerspruch 40 (ARNDT HOPFMANN – Heft 133)Wulf, Christioph; Althans, Birgit; Audehm, Ka-

thrin; Constanze, Bausch; Göhlich, Michael;Sting, Stephan; Tervooren, Anja; Wagner-Willi, Monika; Zirfas, Jörg: Das Soziale alsRitual. Zur performativen Bildung von Ge-meinschften, Leske + Budrich Opladen 2001(STEPHAN MOEBIUS – Heft 132)

Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. EineBiographie 1900-1947, Aufbau-Verlag Berlin2000 (FRANK WAGNER – Heft 128)

Zimmering, Raina: Mythen in der Politik derDDR. Ein Beitrag zur Erforschung politischerMythen, Leske + Budrich Opladen 2000(WOLFGANG TRIEBEL – Heft 126)

STEPHEN ERIC BRONNER:Understanding SocialismThis article sets out to develop a socialist political standpoint appropriate fora new era. This standpoint calls for giving priority to ethics over teleology,to politics over economics, and to a normative rather than a scientific ap-proach. It raises the need for the democratic moment of accountability in anew socialist theory to the same level as that of the class ideal, capable ofunifying the diverse interests of working people, identifying with numeroussocial movements and organisations, without giving precedence to any oneof these movements or organisations. Above all, this article resists the temp-tation of identifying socialism with any particular organisation or institutionalarrangement. Socialism becomes associated with the ongoing attempt toexpand the possibilities of individual choice and experience in accordancewith the rule of law and the public accountability of all institutions includingcapital.

HENNER FÜRTIG:Islam, Islamism, and TerrorismIn the aftermath of the tragic events of September 11, international mediaand experts alike often confused the notions of Islam, Islamism and Terro-rism. Thus, they not only contributed to Samuel Huntington’s »Clash of Ci-vilizations« becoming a self-fulfilling prophecy but to the alienation andfrustration of millions of Muslims. Therefore, it has to be made clear thatIslam is – besides being a mode of life, a culture and a system of values –primarily a religion. Islamic fundamentalism or better to say Islamism is –on the contrary – an ideology as well as a political movement, arbitrarilyreferring to parts of Islam and articulating its demands with an Islamic vo-cabulary. There are Islamists who prefer political means and methods to rea-lize their aims as well as groups and individuals who prefer armed struggle.Islamist terrorism, at last, manifests only the most extreme escalation of thelatter. Verbal »Declarations of War« against the West were proclaimed byvarious Islamist factions but only their terrorist appendix crossed the »Rubi-con«. Thus, it not only declared war on the West but also on its fellow Mus-lims and the rest of civilized humanity. Therefore, there is no war betweenIslam and the West but between civilization and terror.

FRANZ NAHRADA:Global Villages and Free SoftwareHi-Tech-Anti-Capitalism? Association of free producers through computersand networks? Perhaps. But we need to establish a new paradigm of coope-ration aimed at creating a new foundation of livelihood. The so called »GlobalVillages« are much more than a spatial and architectonic consequence ofnew information technologies. They are the result of an intentionally designedcooperative world, granting space for the unfolding of many different identi-ties. Global Villages do not attempt to pump additional wares into the fullchannels of the world economy – especially no »informational commodities«.Instead, they turn away from marketing toward cooperative production ofknowledge and tools for local application. They work along with the patternof free software, sharing and communicating knowledge because this aug-ments and widens local capabilities. Subsistence, living by local resources,is not a reactionary and desperate action, but a global aim worth fighting for,requiring no democratic centralism in order to be organized in the mostcomprehensive and solidarity oriented manner imaginable.

94 UTOPIE kreativ, H. 135 (Januar 2002) – Summaries

CHRISTOPH ENGEMANN:Electronic Government – the Internet as a NewMeans of Bourgeois RuleThere is a strange agreement that has emerged between business managers,politicians, civil rights activists and the ›left‹, all pinning their hopes on theInternet for achieving a better world. Especially among the left. enthusiasmcontinues to prevail about the potentials of the Internet infrastructure. Littlenotice is taken of other major developments and morphological changestaking place in the Internet. In his article, Christoph Engemann argues thatelectronic government is one – if not the fundamental – development thatwill dramatically change both the Internet and the bureaucratic patterns ofruling and administrating. Electronic government not only offers a greatpotential for measures of economic rationalization and cost saving, butmodernization of administration will affect the lives, in one way or another,of everyone. In this process, the Internet will loose its innocence andbecome an infrastructure supporting the technology of rule.

CHRISTOPH BUTTERWEGGE:Globalism, Neoliberalism and Right-wingExtremismToday’s right-wing extremism is no longer the same as in the era of Natio-nal Socialism or Hitler's Fascism. It has been modernized and become muchmore complex. The author attributes these changes to the process of globa-lization. His explanation is that through competition, as the driving force ofthe capitalist economy, certain historical defects in the political culture, ac-companied by the current neoliberal modernization of almost all spheres oflife, are conducive to nationalism (i.e. nations competing for location of un-dertakings), racism, and acts of right-wing violence. In his explanation, neo-liberal modernization causes a division of right-wing extremism into atraditional and a modernist camp. In terms of the social structures of itsfollowers, the first camp would mainly attract losers of globalization ormodernization, the latter the winners of these processes.

MICHAEL CHRAPA:Xenophobia in Public Opinion – New EmpiricalFindings and Political ConsiderationsXenophobia has again emerged as an important issue of current debates onterror and war. Based on empirical data collected between the early 1990sand today, the article discusses a number of recent analyses trying to explainthe differences between East and West Germans in xenophobic attitudes andbehavior. The empirical findings show that attitudes – being friendly orhostile to foreigners – remained relatively stable and unchanged over thewhole period of the 1990s – with significant differences between attitudes inthe East and the West. The analysis shows that attitudes were much moreinfluenced by factors such as ›education‹ and ›contact frequency‹ (withforeigners) than by political views or life situation. Especially in the East,where contact frequencies have been rather low, sporadic and often tense,new concepts and approaches should be developed to render the fightagainst xenophobia more effective.

Redaktion:Arndt Hopfmann,Jörg Schultz

95UTOPIE kreativ, H. 135 (Januar 2002) – Summaries

UTOPIEkreativ

Diskussion sozialistischer Alternativen

ImpressumHerausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung e.V. Redaktion: WOLFRAM ADOLPHI, ARNDT HOPFMANN,ULLA PLENER, MARTIN SCHIRDEWAN, JÖRN SCHÜTRUMPF (V.i.S.d.P.),MARION SCHÜTRUMPF-KUNZE, DIETMAR WITTICH

Redaktionsadresse: Franz-Mehring-Platz 1,10243 Berlin (Tel.: 030 – 29 78 11 - 57, Fax - 81)Internet: www.utopiekreativ.deE-Mail: [email protected]: NDZ Neue Zeitungsverwaltung GmbH,Weydingerstraße 14-16, 10178 BerlinVerlagsarbeiten: RUTH ANDEXEL

Satz: ELKE SADZINSKI

Druck: BärenDruck GmbH,Plauener Straße 163-165, 13053 BerlinVertrieb: ND-Vertrieb, Alt Stralau 1-2,10245 Berlin (Tel.: 030 – 29390800)Einzelverkaufspreis: 6Jahresabonnement (incl. Versand): 57 (Inland), 75 (Ausland)Förderabonnement (incl. Versand): 75

Am Ende des Beitrages bitten wir folgendeAngaben unmittelbar anzufügen:Informationen zur Autorin, zum Autor(Geburtsjahr, akademische Titel und Grade,Ausbildung/Tätigkeit, Publikationen etc.),Marginalien (zirka im Verhältnis 5 : 1 zumUmfang des Beitrages; das heißt auf 25 000Zeichen kommen zirka 5 000 Zeichen Marginalien) sowie eine deutsche und eineenglische Zusammenfassung/Summary(zirka 300 bis 500 Zeichen). Autor/innen, die erstmals bei uns veröffentlichen, werdengebeten, ein Porträtfoto einzusenden.Der Kopf von Rezensionen/Annotationenmuß folgende Angaben – in der angegebenenReihenfolge und Interpunktion – enthalten:Vorname, Name der Autor/innen oder Herausgeber/innen: Titel, Verlag Ort Jahr,Seitenzahl und (Preis). Der Umfang desTextes sollte zirka 7 000 Zeichen nicht überschreiten.Für unverlangt eingehende Manuskriptewird keine Haftung übernommen. EineRücksendung von Manuskripten erfolgtnicht. Nach Ablehnung eines Beitrageswerden die betreffenden Daten auf denRechnern der Redaktion gelöscht.

Die Redaktion

Preisliste für frühere Hefte

Heft 1 bis 85/86: je 1 Heft 87 bis 121/122 je 2,50

Liebe Autorinnen und Autoren,wir bitten Sie/Euch, beim Einreichen vonManuskripten zu beachten, daß Beiträge in»UTOPIE kreativ« nur veröffentlicht werdenkönnen, wenn sie in der eingereichten odereiner ähnlichen Form nicht anderwärtserschienen sind oder erscheinen werden.Manuskripte können sowohl auf Diskette(dann stets zusammen mit einem Ausdruck)als auch per eMail (als Attachment) vorzugs-weise im ›rtf‹-Format eingesandtwerden. Sofern in den Text Graphiken ein-gebunden sind, bitten wir darum, dieseals gesonderte Datei beizufügen.Da wir bemüht sind, in den jeweiligenAusgaben eine Vielzahl von Themen zuberücksichtigen, sollten Manuskripte fürSachbeiträge einen Umfang von 25 000Zeichen (entspricht zirka 15 Norm-manuskriptseiten) nicht überschreiten.

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