2004-10-21 arno luik stern44 64-65 putsch von ganz oben

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Arno Luik: Ein Putsch von ganz oben. In: stern Nr. 44 vom 21. Oktober 2004, S. 64-65.

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Quelle Stern vom 21. 10. 2004Seite 64Rubrik EssayAutor Arno Luik

Der Putsch von ganz obenWirtschaft und Politik bauen diesen Staat rücksichtslos um. Was der SPD gestern noch heilig war, istheute Teufelszeug. Die Reformen zertrümmern das Land - es wird kalt in Deutschland. Eine Abrechnungvon Arno Luik

Es spricht der Kanzler: Die Reformensind alternativlos. Sie müssen noch vielweiter gehen, sagt der BDI-Chef Mi-chael Rogowski, und die grüne Frakti-onschefin Göring-Eckardt sekundiert:"Ja, diese Reformen müssen wir durch-ziehen!" Und in einer ganzseitigen An-zeige der "SZ" rufen einige DutzendeMillionäre unter der Überschrift "Auchwir sind das Volk": Die Reformen sind"überlebensnotwendig".

Ebenso wie die Politiker und Wirt-schaftsführer, so spielen Radio, Fernse-hen, Zeitungen dasselbe Lied: Manmuss an den Reformen festhalten -"unbeirrt". So eine allumfassende Über-einstimmung von Politik, Wirtschaftund Medien hat es im Nachkriegs-deutschland schon lange nicht mehr,nein, noch nie gegeben. Die Reformen -sie sind die neue Staatsreligion.

Wer daher am Nutzen und der Weisheitdieser Reformen zweifelt, wird zum Au-ßenseiter abgestempelt, der nicht ernstzu nehmen ist. Es steht eine Sozial-staatsklausel im Grundgesetz, aber werdarin erinnert, wird freigegeben zumGespött.

Denn der Sozialstaat ist - wie die Re-formfreunde gebetsmühlenartig wieder-holen - der Quell allen Übels: Er istwachstums- und leistungsfeindlich, erlähmt die Eigeninitiative; er ist viel zuteuer, es ist kein Geld mehr da!

Und warum? Weil der Staat gezielt ver-armt wurde durch die Gesetze dieserRegierung und der davor: Die Einkom-mensteuer wurde gekürzt, die Vermö-gensteuer abgeschafft, die Gewerbeka-pitalsteuer gestrichen, die Spitzensteuer-sätze gesenkt, die Körperschaftsteuervermindert, Steuerfreiheit bei Unterneh-mensverkäufen gewährt - so verzichtetder Staat Jahr für Jahr auf Hunderte vonMilliarden Euro. Nicht der Sozialstaatist zu teuer, nein. Zu teuer ist die herr-schende Finanzpolitik, die diesen Staatruiniert, ihn handlungsunfähig macht.Die Politik verzwergt.

Das ist keine Polemik, leider. Ein paarZahlen: Vor 40 Jahren kamen noch 20

Prozent des Steueraufkommens aus Ge-winn- und Vermögenseinkommen,heute sind's noch sechs Prozent. 1983trugen Körperschaft- und Einkommen-steuer noch 14 Prozent zum Steuerauf-kommen bei, heute 2,3 Prozent. Diesebeiläufige Steuersenkung hat von 2001bis 2003 zu Einnahmeausfällen vonmehr als 50 Milliarden geführt.

Es gab auch noch andere Geschenke andiejenigen, die so gern klagen über denStandort Deutschland und drohen, ihnzu verlassen: 349 Millionen Euro Steue-rerstattung bekam Siemens 2002 zu-rück. Knapp sieben Milliarden Euro er-hielt die Deutsche Bank im Jahr 2000zurück (und als das Bankhaus 2001/02einen Rekordgewinn von 9,8 MilliardenEuro auswies, entließ es 14 Prozent derBelegschaft - 11 000 Arbeitslose mehr).Und Daimler-Chrysler? Warum wohlblieb der Firmensitz der Autobauer inStuttgart? Aus Liebe zu Deutschland?Nein. Aus Liebe zum Geld. Über einJahrzehnt lang zahlte der Autokonzernkeinen Cent an Gewerbesteuern in Stutt-gart und Sindelfingen. Die Hundesteuerbrachte den Schwaben mehr Geld ein.

Aber angeblich müssen diese Steuerer-leichterungen ja sein - um den StandortDeutschland (Globalisierung!) zu stär-ken, angeblich um Arbeitsplätze(Wettbewerb!) zu schaffen.

Und was hat es gebracht? Nichts.

Aber es ist nun wie bei einem Junkie -die Dosis wird erhöht: Noch mehr Re-formen! Noch mehr Privatisierungen!Auf geradezu unredliche Weise wird al-lerdings verschwiegen, was der Privati-sierungswahn dort eingebracht hat, woer ungebremst realisiert worden ist. Bei-spiel Großbritannien: entgleisendeZüge, verteuertes und schlechtes Was-ser, geringere Produktivität. Und Ver-elendung für so viele Bürger, dass sogardie "FAZ" unlängst von Dritte-Welt-Verhältnissen sprach.

Aber egal, ganz egal.

DIE REFORMER STEHEN FÜR DASGUTE, für den einzig möglichen Wegaus dem Jammertal. Konsequenterweise

spricht deshalb Kanzler Schröder nurnoch von "alternativlosen Reformen",und er signalisiert mit diesem Begriffs-paar einen absoluten Anspruch, den esso in der demokratischen Politik nochnie gab. Ihn auch nicht geben darf.Denn: Wozu noch Demokratie, wozuDebatten, wenn es "keine Alternativen"mehr gibt?

"Notwendige Reformen", die "ohne Al-ternativen" sind - dieses Reden hateinen totalitären Charakter. Ein Ver-dacht: Die Reformer argumentieren soapodiktisch, weil sie genau wissen, mitdieser Politik zertrümmern sie so ziem-lich alles, wofür die "Soziale Marktwirt-schaft" der Bundesrepublik Deutschlandeinst stand: ein sozialer Staat, der dafürsorgte, dass die privaten Risiken Alter,Arbeitslosigkeit, Krankheit grundsätz-lich kollektiv abgesichert wurden."Modell Deutschland" nannte das vollerStolz der sozialdemokratische KanzlerHelmut Schmidt.

Verteidigen also die CDU/SPD/CSU/FDP/Grünen-Politiker ihreReformphilosophie deshalb so vehe-ment, weil sie wissen, dass sie einenPutsch von ganz oben machen? EinenPutsch? Ja, die Agenda 2010 und HartzIV sind Chiffren für den konzertiertenAngriff von ganz oben auf den Sozial-staat. Sie nennen es "Umbau" - doch dieWortwahl kaschiert nur den qualitativenSprung in ein anderes Gemeinwesen.Die Berliner Republik steht für den Ab-schied von der Solidargemeinschaft.Und nichts wird von den grundgesetz-lich festgeschriebenen Idealen bleiben -außer auf dem Papier und gelegentlichnoch in schönen Reden.

Und so herrscht nun eine fast hysteri-sche Zerstörungslust. Strukturen, dieüber Jahrzehnte mühsam aufgebautwurden, werden demontiert, sämtlichesozialen Sicherungen werden abgebaut;nahezu alles, was politische Bewegun-gen in mehr als 100 Jahren(Kündigungsschutz, Ausbildungs- undMitbestimmungsgesetze usw.) für dieStaatsbürger erkämpft haben, wird nunverteufelt. Dazu werden pathetisch posi-

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tiv besetzte Stereotype wie"Eigenverantwortung", "Eigeninitiative"und "Freiheit" beschworen, die letztlichnichts anderes verschleiern als den Mar-sch zurück in eine sozialdarwinistischeOrdnung: "Sorge für dich selbst!"

Anders als noch in Zeiten der System-konkurrenz, also bis 1990, muss der Ka-pitalismus jetzt nicht mehr beweisen,dass er sozial, human und gerecht seinkann. Jetzt darf ein Spitzenmanager -ohne einen Aufschrei auszulösen - sa-gen: "Menschen? Das sind Kosten aufzwei Beinen." Roh ist diese Republikgeworden.

Werden die Reformen umgesetzt - unddie politisch Handelnden sind dazu ver-bissen entschlossen -, wird diese Repu-blik eine radikal andere Gesellschaftsein: ein entkernter Staat ohne Gemein-sinn, eine entzivilisierte Gesellschaft.Anfällig für individuelle Aggressionenund für Rechtsextremismus.

Sechs Jahre regieren nun SPD undGrüne. Ist das Land in dieser Zeit - unddas war das Regierungsziel, das Wahlengewinnen half - sozialer, gerechter,friedfertiger geworden?

Außenpolitisch wird nun DeutschlandsSicherheit - fast wie zu Zeiten von Wil-helm II. - "am Hindukusch"(Verteidigungsminister Struck) vertei-digt, es werden mehr Waffen exportiertals unter Kanzler Helmut Kohl. Und in-nenpolitisch? Die neuesten Zahlen sa-gen es eindeutig: Der Abstand zwischendenen, die viel haben, und denen, diewenig haben, ist größer denn je.

Auch die Angst vor dem sozialen Ab-sturz ist größer denn je. Das sozialeNetz besteht nun größtenteils aus Lö-chern, die immer weiter aufgerissenwerden. Niemand darf sich mehr Illu-

sionen hingeben: Wer länger als einJahr arbeitslos ist, wird an die Sozial-hilfe durchgereicht. Wer nach dem 1.Januar 2005 der staatlichen"Grundsicherung" bedarf, muss sein ge-samtes Leben, seine finanziellen, famili-ären Lebensumstände wie beim Offen-barungseid entblößen. Kein anderer EU-Staat mutet seinen Bürgern eine ähnli-che Demütigung, einen ähnlichen So-zial-Striptease zu.

Wie so etwas in den Köpfen der Men-schen wirkt?

Den regierenden ebenso wie den mitre-gierenden oppositionellen Politikernscheint das egal zu sein. Sie glauben,die Folgen ihrer Politik, die immer tiefergehende Spaltung der Gesellschaft inArm und Reich, das rücksichtslose Zer-trümmern vertrauter Strukturen, ignorie-ren zu können. Ja, was das wählendeund immer häufiger nichtwählendeVolk denkt, wie es fühlt, scheint die Po-litikkaste nicht mehr zu berühren. DieParlamente werden ja voll, auch wennkaum noch jemand zur Wahl geht.

Eines hat sich also in den vergangenenJahren in diesem Land erschreckend ge-ändert: Es ist kälter geworden. McKin-sey-kalt. Das Mitgefühl mit Benachtei-ligten - es wird entsorgt von jenen, dienach Reformen rufen, die ihnen nichtschaden.

Die Staatsbürger lehnen in ihrer Mehr-heit die Reformen ab. Sie sehen, dassdie Einschnitte ungleich (im Klartext:ungerecht) zwischen oben und untenverteilt werden. Sie sehen die Millio-nengehälter und Millionenabfindungender Manager, sie fühlen, dass Neolibera-lismus und Neofeudalismus offenbarzusammengehören. Sie spüren, etwasläuft grundfalsch.

Aber keine Partei in den Parlamentennimmt diese Sehnsucht nach einemStaat, der sich um seine Bürger sorgtund kümmert, diesen Wunsch nach Ge-rechtigkeit, auf. Millionen haben dasGefühl, durch keine Partei mehr vertre-ten zu sein. Und so murrt das Volk, dasnicht weiß, wohin mit seinem Unmut; esdemonstriert ein bisschen, geht in dieinnere Emigration, verweigert sich beiWahlen. Die Demokratie erodiert. Dochdie Politiker machen ungerührt weiterwie bisher - und erfinden schöne Or-wellsche Neusprech-Wörter: Aus Ar-beitslosen werden Kunden der Arbeits-agenturen. Der Abbau des Sozialstaatsstärkt den Sozialstaat! Weniger Solida-rität ist mehr Solidarität!

Der Sozialstaat hat keinen Hüter mehr.

"Kein anderer europäischer Staat mutetseinen Bürgern ähnliche Demütigungenzu"

Bildunterschrift: stern-Autor Arno Luik

Gegen die Reformen der Regierung gin-gen Hunderttausende auf die Straße. DieMenschen fühlen: Es ist nicht gerecht,wie die Politik mit uns umspringt. Et-was läuft grundfalsch in diesem Staat

Fotonachweis: JÜRGEN GEBHARDT,JENS MEYER, AP

Abbildung: stern-Autor Arno Luik Ge-gen die Reformen der Regierung gingenHunderttausende auf die Straße. DieMenschen fühlen: Es ist nicht gerecht,wie die Politik mit uns umspringt. Et-was läuft grundfalsch in diesem Staat

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