how long is now?
Post on 23-Mar-2016
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How long is now?Michael Aschauer
Boris Becker
Stéphane Couturier
Stefanie Hilgarth
Anna Jermolaewa
Martin Klimas
Brigitte Kowanz
Edgar Leciejewski
Michael Michlmayr
Jeff Nixon
Stephan Reusse
Liddy Scheffknecht
Werner Schrödl
Jutta Strohmaier
Hiroshi Sugimoto
Martin Walde
Flora Watzal
Michael Wesely
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VorwortVon Andra Spallart wurde ich eingeladen, eine Ausstellung im Foto-Raum in
Wien zu kuratieren. Ihr gilt mein besonderer Dank für dieses Vertrauen, zumal
es sich um die letzte Ausstellung in diesem für die Präsentation von Kunst
und speziell von Fotografie so hervorragend geeigneten Raum handelt. Am
Ende einer regen dreijährigen Ausstellungstätigkeit im Foto-Raum steht nun
mit How long is now? eines der wichtigsten Themen der Fotografie, die Zeit,
im Fokus. Hierzu habe ich Foto- und Videoarbeiten aus dem zeitgenössischen
Fundus der umfangreichen „Sammlung Spallart“ sowie von externen Künst-
lerinnen und Künstlern ausgewählt.
Der Titel How long is now? inkludiert die Schwierigkeit, das Phänomen Zeit
bzw. Dauer zu begreifen und darzustellen, obwohl es sich um eine grund-
legende Kategorie unserer Wahrnehmung und Realitätseinschätzung handelt:
Zeit ist sozusagen immer „vorhanden“ und von ganz spezieller Bedeutung
in einer von extrem beschleunigter Fortbewegung und Kommunikation bzw.
von einer Zeit-ist-Geld-Kultur geprägten Gesellschaft. „Was also ist die Zeit?“,
fragte schon Augustinus. „Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es,
wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es
nicht.“ Pragmatischer sah es Albert Einstein: „Zeit ist, was man an der Uhr
abliest.“
18 Künstlerinnen und Künstler beschäftigen sich mit der Frage nach der
Zeit, ihrer Bedeutung und Bestimmung, ihrem Wesen sowie ihren Darstel-
lungsmöglichkeiten und Wahrnehmungsfaktoren. Die Ausgangsbasis der
künstlerischen Auseinandersetzungen bilden zwei Gegenpole. Zum einen sind
das die von Menschen konstruierten – gleichzeitig Ordnung und Orientierung
schaffenden wie auch repressiven – Zeitsysteme und deren Apparaturen. Dem
gegenüber steht das offene Phänomen „Zeitgefühl“, die von jedem Individuum
auf unterschiedliche Weise mental erlebte Zeit.
Die Künstlerinnen und Künstler visualisieren Zeitabläufe, eine besondere
Herausforderung vor allem in der Fotografie, deren Wesen der eingefrorene
Moment ist. Sie gehen aber auch über diese Problemstellung hinaus: Durch
Inszenierung und/oder manuelle und digitale Bearbeitung werden Bilder, die
meist auf realen Situationen und Orten bzw. dokumentarischen Materialien
5
basieren, so manipuliert, dass neue Zeit-Raum-Konstellationen zwischen
Realität und Fiktion entstehen. Zeit wird als inhomogene Größe entlarvt bzw.
in ihrer Relativität bestätigt.
Einige der Künstlerinnen und Künstler eröffnen durch den Einsatz spezieller
Verfahren und Fotoapparate wie beispielsweise Line-Scan-, Hochgeschwin-
digkeits- oder Wärmebildkameras der Auseinandersetzung mit Zeit neue
Wege, in Bezug auf die Darstellung von durch das menschliche Auge nicht
wahrnehmbarer Zeit.
Meditative, „zeitlose“, in die Abstraktion führende Arbeiten machen Zeit
fühlbar und eröffnen Gedanken an Ursprung und Endlichkeit der Existenz. Sie
machen darauf aufmerksam, dass wir, in unserem heutigen Zeitbewusstsein
gefangen, oft vergessen, dass Zeit nicht nur eine vom Menschen definierte
Größe, sondern vor allem eine „Dimension des natürlichen Universums“
(Norbert Elias) ist.
Und es sind auch der Humor und die Poesie, mit denen das Thema Zeit auf
erfrischend unkonventionelle Weise verhandelt wird.
Ich bedanke mich ganz herzlich bei den Künstlerinnen und Künstlern sowie bei
Andra Spallart, Marie-Therese Hochwartner, Monika Ottwald und Christoph
Fuchs für die gute Zusammenarbeit und Unterstützung.
Petra Noll
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In den Meereslandschaften des Projekts 7 C-Days von Michael Aschauer geht
es nicht um Landschaft als Motiv, sondern um den Versuch einer Visualisie-
rung von Zeitabläufen im fotografischen Bild. Aschauers Arbeit basiert auf
systematischen, konzeptuellen Versuchsanordnungen mit dem Medium der
digitalen Fotografie. Verwendet hat er eine speziell konstruierte Line-Scan-
Kamera, die er auf dem Berg „Oros Harasson“ (Berg, der die Richtung des
Lichts einschreibt) auf der griechischen Insel Syros fix montiert und exakt
nach der Linie zu dem Punkt, an dem die Sonne zur Wintersonnwende im Meer
versinkt, ausgerichtet hat. 7 C-Days ist eine Langzeitaufnahme über sieben
Tage (15. bis 21. November 2007, jeweils von 6 bis 18 Uhr, also von Sonnenauf-
bis Sonnenuntergang) eines einzigen Punktes am Horizont, ein scheinbar
endloses Panorama einer Meereslandschaft. Das historische, unter anderem
für Panoramafotos eingesetzte analoge Slitscan-Verfahren (der Film wird an
einem Schlitz, engl. slit, vorbeigezogen und durch diesen hindurch belichtet)
wurde von Aschauer digital eingesetzt. Aus jedem Einzelbild – ursprünglich
Bilder einer Video kamera, also 25 Bilder pro Sekunde – wurde jeweils nur eine
Pixelspalte aufgezeichnet und automatisch zu einem Bild montiert.
Realisiert wurde diese Arbeit als Künstlerbuch sowie in Form von aus-
schnitthaften Einzelbildern. Im Künstlerbuch sind auf jeder der 72 Seiten
jeweils zehn Minuten der einzelnen Tage, zur gleichen Tageszeit, zu einem Bild
montiert. Das Buch repräsentiert die gesamten sieben Tage, die Entwicklung
von Dunkelheit über zahlreiche Tagesfarben wieder zurück zur Dunkelheit.
Bei den Bildern in Ausstellung und Katalog handelt es sich um zehnminütige
Ausschnitte, die jeweils einer Buchseite entsprechen. Was wir vor uns haben,
ist eine konstruierte, illusionistische Landschaft, die die Diskussion um die
Relativität von Zeit entfacht.
7 C-Days #37 – #39, 2008
3 C-Prints (Diasec), je 37 * 50 cm
Geboren 1977 in Steyr, lebt und arbeitet in Wien
http://m.ash.to
Michael Aschauer
8
Ohne Titel 1434, 1997
C-Print (Diasec), 200 * 160 cm
Boris BeckerGeboren 1961 in Köln (DE), lebt und arbeitet ebendort
www.boris-becker.com
Obwohl es sich um eine präzise fotografierte reale Landschaft handelt,
vermittelt uns das großformatige Bild Ohne Titel 1434 ein Gefühl von Ort- und
Zeitlosigkeit. Alle Orientierungsmerkmale sind getilgt: Weder eine Horizontlinie
noch Personen, Dinge oder der Titel, der nur eine Seriennummer ist, geben
einen Bezugsrahmen. Das Wo-Wann-Was ist hier nicht relevant. Ohne weißen
Rand – grenzenlos – wird das Bild freigestellt auf der Fläche präsentiert, ein
detailgetreuer, tiefenscharfer Ausschnitt aus der Realität, der dennoch weit
entfernt davon ist, diese abzubilden. Durch diese Abstraktion ist das Bild
autonom geworden und somit offen für Fragestellungen zur Repräsentati-
onsfähigkeit bzw. Bildinformation von fotografischen Bildern.
10
Brasilia, boucles, échangeur, 2007–2008
HD-Video, 4:40 min., Loop
Geboren 1957 in Neuilly-sur-Seine (FR), lebt und arbeitet in Paris (FR)
www.stephanecouturier.fr
Stéphane Couturier
Stéphane Couturiers großformatige fotografische Tableaus sowie seine
filmischen Arbeiten, angesiedelt zwischen Dokumentation und Fiktion, sind
Analysen des sich ständig im Wandel befindlichen urbanen Raumes. In den
Fotografien und Videos des Werkkomplexes Melting Point werden jeweils
zwei Ebenen miteinander vermischt. In dem dazugehörigen Video Brasilia,
boucles, échangeur befinden wir uns an einem Verkehrsknotenpunkt einer
Schnellstraße der Stadt Brasilia. Couturier hat für diese Arbeit zwei dokumen-
tarische Videos übereinandergelagert und damit neue Konstellationen von
Raum und Zeit geschaffen. Durch den Loop wird Zeit ins Unendliche gedehnt.
Wir bleiben im Ungewissen bezüglich der Länge der Fahrt bzw. des Videos: Es
könnte endlos so weitergehen … Damit werden im Video eher Stimmungen –
von meditativ bis beängstigend – als eine Geschichte mit Anfang und Ende
vermittelt. Durch die Verwendung von dokumentarischem Material wird trotz
der Montage ein realistischer Bezug zur Situation an diesem speziellen Ort
geschaffen: „Ähnlich wie in einem Videospiel wird der Betrachter auf den
Parcours einer Endlosschleife gebracht, von dem aus es unmöglich erscheint
zu entfliehen – trotz Spiegelungen von Öffnungen durch Bilder eines zweiten
überlagerten Video-Bands. […] Der Knotenpunkt, diese architektonische
Gegebenheit, die ein höchstmögliches Verkehrsaufkommen bewältigen soll,
wird auf diese Weise zu einem Raum labyrinthischer und absurder Einfriedun-
gen, dessen bedrückender Charakter durch sich ständig wiederholende und
obsessive Musik verstärkt wird […].“ (Jean-Christian Fleury)
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Serie 01 (Bild 1), 2009
C-Print mit Tipp-Ex bearbeitet, 14 * 9 cm
nächste Doppelseite:
Serie 01: 08 10 09 0749, 08 10 09 0756, 08 10 09 0802, 08 10 09 0807 …
Serie 02: 08 10 09 1202, 08 10 09 11215, 08 10 09 1225 …
Serie 03: 09 10 09 0650, 09 10 09 0715, 09 10 09 0732 …
Serie 04: 05 10 09 1645, 05 10 091 709, 05 10 09 1723, 05 10 09 1745 …
243 C-Prints mit Tipp-Ex bearbeitet, 2009, je 14 * 9 cm
Geboren 1982 in Graz, lebt und arbeitet in Wien
www.stefaniehilgarth.net
Stefanie Hilgarth
Bei dieser konzeptuellen Arbeit, die im Jahr 2009 während verschiedener
Zugfahrten auf drei Pendler strecken in der Steiermark entstanden ist und die
insgesamt 243 bearbeitete Fotografien umfasst, die in Serien – jeweils eine
Fahrt repräsentierend – angeordnet sind, handelt es sich um eine Raum-Zeit-
Studie. Bei jedem Halt des Zuges an einem Bahnhof hat Stefanie Hilgarth zu
verschiedenen Zeiten – die zunächst unverständliche Zahlenreihe der Titel
verweist jeweils auf Tag, Monat, Jahr und Uhrzeit eines Stopps – von einer
nahezu immer gleichen Ausgangsposition mit einer Handykamera ein Foto
des Außenraums aus dem Zugfenster hinaus aufgenommen. Bedingt durch
die unterschiedliche Helligkeit des Tageslichts – sie hat sich den durch die
Stopps der Züge vorbestimmten Zeiten bewusst untergeordnet – entstanden
mehr oder weniger starke Reflexionen, die den Innenraum des Zuges mit
dem Außenraum überlagerten. Diese Überlagerungen hat Hilgarth mit der
Korrekturflüssigkeit Tipp-Ex auf den Fotos weggestrichen. Durch ihre manuell
durchgeführten ‚Korrekturen‘ „scheint eine Multiplizierung der Zwischen-
räume, die erst durch die serielle Anordnung der Fotos als dynamische
Bewegung wahrgenommen werden kann, zu entstehen. Es wird sozusagen nur
der Raum gezeigt, der abseits des Geschehens im Zugabteil liegt. Alles andere
verschwindet hinter einer matten weißen Oberfläche, die sich zwangsweise
als grafisches Element in den Vordergrund drängt.“ (Stefanie Hilgarth)
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Good Times, Bad Times (Triptychon), 2007
digitale C-Prints auf Aluminium, je 20 * 27 cm
Geboren 1970 in St. Petersburg (RU), lebt und arbeitet in Wien
www.jermolaewa.com
Anna Jermolaewa
Mit subtilem Humor reflektiert Anna Jermolaewa in dem Triptychon Good
Times, Bad Times unsere Zeiteinteilung und -messung, einen Grundwert der
menschlichen Existenz. Die Fotoarbeit versteht sich – innerhalb von Jermo-
laewas Interesse an der Untersuchung gesellschaftlicher Strukturen – als
Metapher für die Relativität von Werten und Systemen respektive für die
Willkürlichkeit und Künstlichkeit unseres Zeitsystems, das neben praktischen
Vorteilen auch repressive Auswirkungen haben kann. Für ihre Arbeiten sucht
sie nie das Spektakuläre, vielmehr ist sie in der Welt des Alltäglichen, der klei-
nen Dinge und Situationen zu Hause. Der Mensch als Akteur und Individuum
tritt visuell in ihren Arbeiten zurück, Jermolaewas Protagonisten sind Puppen,
Spielzeugfiguren und Tiere, wie hier die Tauben, für die es auf den waagerecht
stehenden Zeigern einer Uhr deutlich gemütlicher ist als auf den senkrechten –
drei in der Realität entdeckte und voller Symbolik steckende Bilder!
18
Ohne Titel, 2006
Inkjet-Print, 64 * 46 cm
nächste Doppelseite:
Ohne Titel, 2006
Inkjet-Print, 147 * 203 cm
Geboren 1971 in Singen (DE), lebt in Düsseldorf (DE)
www.martin-klimas.de
Martin Klimas
Martin Klimas untersucht das Verhältnis von Zeit, Schönheit und Zerstörung.
Er fotografiert Dinge auf dem Weg ihrer Transformation von der Ganzheit
zum Zerfall und erreicht somit die Gleichzeitigkeit zweier konträrer Zustände
in einem fotografischen Bild. Um dieses kurze, temporäre Ereignis zwischen
Ruhe und Bewegung, Schönheit und Chaos für das Auge sichtbar zu machen,
verwendet der Grenzgänger zwischen Kunst und Wissenschaft eine Hoch-
geschwindigkeitskamera. „7000stel Sekunden sind das Kürzeste, was man
aufnehmen kann. In diesem Rahmen bewege ich mich, in dieser kurzen Scheibe
der Zeit finde ich meine Bilder.“ 1 So beschießt er beispielsweise – in präzise
konstruierten Sets – Porzellan-Blumenvasen an der Basis mit Stahlkugeln
und hält sie im Moment vor ihrem gänzlichen Zerfall fest. Im Moment der
Ablichtung ist das jeweilige Objekt teils unverletzt, teils bereits zersprungen,
also immer noch erkennbar. Eine weitere Variante ist, dass er – wie bei den
Kung-Fu-Kämpfern – Porzellanfiguren aus drei Metern Höhe in die Tiefe wirft.
Das Geräusch des Aufpralls setzt den Auslösemechanismus der Hochgeschwin-
digkeitskamera in Gang. „Schön war natürlich, dass diese Kung-Fu-Figuren
interagiert haben, dass sie in dem Moment zum Leben erwacht sind und dann
auch noch gegeneinander gekämpft haben. Das war natürlich ein wunderbarer
Moment der Vitalität, …“ 2
1 und 2 Martin Klimas in youtube 13.7.2012
22
Rund um die Uhr, 1996/2010
Neon, Spiegel, 60 * 60 * 60 cm
nächste Doppelseite:
Lichtgeschwindigkeit sek/4m, 1989/2007
Neon, Chromstahl, 25 * 400 * 16 cm
Geboren 1957 in Wien, lebt und arbeitet ebendort
www.kowanz.com
Brigitte Kowanz
Man muss sich beeilen, wenn man etwas sehen will, alles verschwindet.(Paul Cézanne, 1906)
Innerhalb ihrer Auseinandersetzung mit Qualität, Erscheinung und Darstellung
von Licht ist auch Zeit ein zentrales Thema im Werk von Brigitte Kowanz. Für
die Visualisierung von Zeit durch (künstliches) Licht hat sie unterschiedliche
formale Lösungen gefunden. Die hier präsentierten Arbeiten entlarven das
menschliche Zeitmesssystem als willkürliche Größe: die Fotoserie Kalender ,
basierend auf Objekten aus übereinandergelagerten Neonziffern, bei denen
abwechselnd alle Ziffern beleuchtet werden oder nur ein Tag, sowie das
Uhrenobjekt Rund um die Uhr – ein Kubus aus Zweiwegspiegeln, in dem die
12 Buchstaben des Titels (entsprechend der Anzahl der Stunden auf der Uhr)
wie beim Ziffernblatt im Kreis angeordnet sind und sich scheinbar unendlich
im Kubus spiegeln.
Mit der Serie Lichtgeschwindigkeit stellt sich Kowanz der Herausforderung,
vom Menschen nicht wahrnehmbare Zeit darzustellen. Dabei legt sie physi-
kalische Messgrößen zugrunde: „Weil Licht u. a. selbst ein Geschwindigkeits-
system ist und seine eigene Geschwindigkeit eine maßstäbliche Konstante
für naturwissenschaftliche Berechnungen darstellt, bilden Licht und Zeit
prinzipiell ein komplexes Beziehungsgeflecht wechselweiser Bestimmungen.“
(Brigitte Kowanz) Die Arbeit Lichtgeschwindigkeit sek/4m besteht aus einer
vier Meter langen, zunächst paradox wirkenden Abfolge von 16 Neonziffern.
Durch das Komma nach der ersten 0 offenbart sich aber, dass die Reihe
eine Zahl darstellt; durch den Titel wird zudem klar, dass es sich um die Zeit,
gemessen in Sekunden, handelt, die das (künstliche) Licht benötigt, um eine
Strecke von vier Metern (es gibt mehrere Versionen unterschiedlicher Länge)
zurückzulegen. Obwohl eine fest definierte Größe, lässt Lichtgeschwindigkeit
sich nicht, so vermittelt es uns diese Arbeit nicht ohne Augenzwinkern,
nachempfindbar darstellen.
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Plate 365. Motion study photograph Movements, Male, Head-spring,
a flying pigeon interfering. Eadweard Muybridge. 1887, (Blatt 1 und 12), 2007
12 Blätter, Inkjet-Prints, je 40 * 50 cm
Geboren 1977 in Berlin (DE), lebt in Leipzig (DE)
www.edgarl.de
Edgar Leciejewski
„[…] Leciejewskis künstlerische Arbeit untersucht die verschiedenen sozialen
und wissenschaftlichen Gebrauchsweisen der Fotografie. Sie ist ein experi-
mentell-analytischer Versuch, dem Medium der Fotografie die zeitgenössisch
relevanten Fragestellungen zu entlocken. Neben inhaltlichen Themen und der
Reflexion der eigenen Arbeitsweisen sowie Arbeitsmittel interessiert es ihn,
die Dimension von Zeit in die fotografische Arbeit einfließen zu lassen. Seine
Arbeiten sind Speicher oder Vorratskammern von Zeit, die es ermöglichen,
den Akt des Sehens und Erfahrens zu verlangsamen […]“. 1 Die hier gezeigte
Arbeit hat sich Leciejewski von Eadweard Muybridge’s Bewegungsstudie
Plate Number 365. Head-spring, a flying pigeon interfering (1887), einem
radschlagenden Mann, in dessen Aktionsfeld eine Taube fliegt, angeeignet.
Die Aneignung besteht in der Verwendung eines Scans der originalen Arbeit,
in die bewusst nur minimal eingegriffen wurde: Während sich auf der Platte
von Muybridge die Seitenansichten des Körpers zusammen oben und die Front-
ansichten unten befinden, hat Leciejewski die jeweils zueinander gehörenden
Paare – die beiden Bilder sind jeweils im gleichen Moment entstanden, worauf
eine kleine Nummer auf den Blättern verweist – leicht vergrößert auf ein Blatt
gebracht. Hiermit wird der filmische Ablauf stärker hervorgehoben. Seine
Arbeit hat er nach der originalen Plattennummerierung Plate 365 benannt. Die
Bedeutung von Zeit im Jahreskreislauf wird hier eindrücklich thematisiert. 365
ist nicht nur die Nummer der Platte, sondern auch die Anzahl der Tage eines
Jahres. Zwölf Monate hat das Jahr und es gibt zwölf Bilder unterschiedlicher
Etappen des Radschlagens. Zudem ist das Radschlagen als poetische Metapher
für den ewig wiederkehrenden Jahreskreislauf zu verstehen.
1 Robert Renger-Patzsch, „Im Reich der Kamera“, in: Voluptuous, 2011
28
Escalator I, 2011
C-Print, 80 * 80 cm
nächste Doppelseite:
Passage #1 und Passage #2, 2012
C-Prints, je 47 * 180 cm
Geboren 1965 in Wien, lebt und arbeitet ebendort
www.michaelmichlmayr.at
Michael Michlmayr
Die Auseinandersetzung mit Realitätsstrukturen sowie mit dem Wahrheits-
gehalt fotografischer Bilder führen Michael Michlmayr zu Arbeiten, die die
Basiskategorien von Wahrnehmung – Zeit und Raum – neu zur Disposition
stellen. Er fotografiert beispielsweise Menschen auf einem belebten Platz
oder auf einer Rolltreppe zeitversetzt mit einer fix montierten Kamera und
fügt die Einzelbilder dann am Computer nahtlos zu einem Tableau zusammen.
Durch die Parallelschaltung verschiedener Raum- und Zeitebenen in einem
Bild wird zunächst Gleichzeitigkeit von Ereignissen und Handlungen suggeriert.
Nimmt man sich etwas Zeit zum Betrachten und entdeckt beispielsweise,
dass manche Personen wiederholt in unterschiedlichen Posen und Gesten
auftauchen, stellen sich diese Fotografien scheinbar realer urbaner Szenarien
als Konstrukte heraus.
Alles ist Fiktion; es werden Geschichten erzählt, die so nie stattgefunden
haben (in Passage #2 wird sogar vermeintlich die Geschichte von Passage #1
weitererzählt). So frei, wie er den Raum behandelt, spielt er auch mit der
Zeit: Michael Michlmayr negiert die naturwissenschaftlich-rationale Defi-
nition von Zeit als linear ablaufender Faktor und versteht sie vielmehr als
inhomogene Größe.
32
Ansel Adams (1902–1984, USA)
Moon and Half Dome, Yosemite Valley, 1960
Silbergelatineabzug, 23,8 * 19 cm
gegenüberliegende Seite:
Jeff Nixon
Moon and Half Dome, Yosemite Valley, 1998
Silbergelatineabzug, 49,5 * 39 cm
Geboren 1952 in Oakland (USA), lebt und arbeitet in Yosemite und Pacific Grove (USA)
Jeff Nixon
Die Arbeit Moon and Half Dome, Yosemite Valley von Jeff Nixon basiert
auf einem der berühmtesten Bilder von Ansel Adams gleichen Titels. Die
Landschaftsaufnahme wurde im Yosemite Valley im Yosemite-Nationalpark
in Kalifornien 1960 mit einer Hasselblad aufgenommen und zeigt den Berg
Half Dome an einem wolkenlosen, sonnigen Winternachmittag mit dem
zunehmenden Mond an einer ganz spezifischen Stelle. Später fand man durch
wissenschaftliche Analysen heraus, dass das von Adams nur unpräzise datierte
Foto am 28.12.1960 um 4:14 Uhr entstanden ist. 38 Jahre später hat Jeff
Nixon das Bild nachfotografiert. Er war von der Ansel Adams Gallery darauf
aufmerksam gemacht worden, dass die von Adams fotografierte Situation mit
dieser Mondstellung nur alle 19 Jahre vorkommt. Während es Adams um die
ideale Komposition ging und er deshalb den Punkt suchte, wo die Szene am
klarsten, d. h. am wenigsten durch Bäume gestört war und der Mond an einer
für sein künstlerisches Verständnis ausgewogenen Stelle stand, war Nixon
primär am wissenschaftlichen Experiment interessiert. Er wollte den Erweis
erbringen, dass sich auf der Basis von gleichen Verläufen von Zeit Zustände
wiederholen. Eine Bestätigung – möglich geworden durch analoge Fotografie –
der einzig fixen Zeiteinteilung, dem Kreislauf der Natur.
34
Cold Boxes, 3 Minuten nach dem Verlassen, 1994
aus der Serie: Leaving Shadows
4 C-Prints (Diasec), je 100 * 100 cm
Geboren 1954 in Pinneburg (DE), lebt und arbeitet in Köln (DE)
www.stephanreusse.com
Stephan Reusse
Man sieht der Zeit bei der Arbeit zu. (Karl Honnef, 2003)
In seinen thermografischen Arbeiten, in denen er konzeptuell, aber auch
experimentell vorgeht, setzt sich Stephan Reusse gleichermaßen mit
Wahrnehmung, Realität, (Un-)Sichtbarkeit und Zeit wie auch mit fotografi-
schen – Medium und Apparat – und malerischen Problemen auseinander. Mit
thermografischen Aufnahmegeräten visualisiert er für das menschliche Auge
unsichtbare Wärmeabstrahlungen von Körpern von Menschen, Tieren und
Dingen in einem Farbspektrum von Weiß bis Blau (Blau = kalt, Weiß = warm). In
Cold Boxes erscheinen die Abstrahlungen der kalten Kisten demnach in Blau;
sie treten aufgrund des großen Temperaturunterschiedes zwischen Kisten und
Raum besonders deutlich zu Tage. Reusse hat auch die Wärmeabstrahlungen
von menschlichen Körpern, die vor ungefähr drei bis vier Minuten ihren
Platz – zum Beispiel auf einem Stuhl – verlassen hatten, aufgenommen. Je
schneller nach dem Verschwinden die Aufnahme geschieht – denn Wärme
vergeht – desto deutlicher erscheint die Wärmespur, die „Aura“. Dennoch
bleiben es immer schemenhafte, visionäre Bilder, Thermovisionen, wie
Stephan Reusse sagt. Indem diese „Schatten“ im Bild erscheinen, wird das
Flüchtige „festgehalten“. Dieser visualisierte Zwischenzustand macht Zeit
auf ungewöhnliche Weise sichtbar. „Die Radikalität des Kunstdiskurses bei
Reusse liegt […] in der nachdrücklichen Konsequenz, mit der er Temporalität
als Eigentlichkeit des fotothermografischen Bildes begreift. […] So wie die
Fotografie ist auch die Thermografie ruinös: Sie macht das Gezeigte als Ruine
der Zeit sichtbar.“ 1
1 Carl Aigner, „Im Bilde des Lichts – Kommunikative Eigenschaften und Sichtbarkeit im Werk von
Stephan Reusse“, in: Stephan Reusse. Works 2003–1982, Wien 2003, S. 24.
36
7 minutes 13 seconds, 2011
Videoprojektion (7 min. 13 sek.) auf Inkjet-Print, 133 * 100 cm
Ausstellungsansicht, Georg Kargl Box, Wien 2011 (courtesy Georg Kargl Fine Arts)
nächste Doppelseite:
Oculus, 2011
6 C-Prints, je 50 * 70 cm
Geboren 1980 in Dornbirn, lebt und arbeitet in Wien
www.liddyscheffknecht.net
Liddy Scheffknecht
Zeit ist immer im Wandel; dieser wird erfahrbar in Bewegungen und als
Aufeinanderfolge von Veränderungen. In der Fotografie lässt sich Zeit
ausschließlich im Stillstand, als Momentaufnahme abbilden. In 7 minutes 13
seconds stellt sich Liddy Scheffknecht der Herausforderung, Zeit als Prozess
im fotografischen Bild darzustellen, und rückt dazu auf spezielle Weise
die Fotografie ins Filmische. Als Basis dient ihr eine von einem anonymen
Fotografen angeeignete Fotografie, die das Motiv eines Fotografen mit seiner
Kamera zeigt. Diese hat sie vergrößert und in einen neuen medialen Zusam-
menhang gebracht, indem sie sie mit einer für diese Fotografie gemachten
Animation von Schatten, die auf das Bild vom Fotografen projiziert werden
und – sich im Umriss verändernd – langsam über dieses ziehen, überlagert.
Diese Schattenbewegung suggeriert die Wahrnehmung von verstreichender
Zeit. Tatsächlich handelt es sich aber um einen autonomen Schatten, der in
keiner logischen Beziehung zum abgebildeten Fotografen steht. Mit dieser
Simulation werden nicht nur neue Möglichkeiten der Darstellung von zeit-
lichen Abläufen im fotografischen Bild ausgelotet, sondern auch Probleme
der Wahrnehmung angesprochen. Diese Zugangsweise gilt auch für die auf
einer Installation basierenden Fotoserie Oculus. Hierfür wurde aus einem
mit weißem Papier bedeckten Fenster eine Ellipse herausgeschnitten und im
Innenraum davor eine Lampe platziert. Durch das eintretende Sonnenlicht
wurde die Ellipse zu verschiedenen Tageszeiten an unterschiedlichen Stellen
und in variierenden Formen auf den Boden gestrahlt. Nur zu einer bestimmten
Uhrzeit am Tag wurde der Status erreicht, dass ein runder Lichtkreis sich direkt
unter der Lampe formierte und damit die Illusion erzeugte, dass die Lampe
nun eingeschaltet worden wäre.
40
aus der 7-teiligen Serie Whyte Avenue, 1998
C-Prints, je 39 * 49 cm
Geboren 1971 in Vöcklabruck, lebt und arbeitet in Wien
www.wernerschroedl.at
Werner Schrödl
Die Auseinandersetzung mit Flüchtigkeit und Dauer findet sich in vielen Arbei-
ten von Werner Schrödl, so auch in seiner frühen Serie Whyte Avenue. Diese
besteht aus sieben Schnappschüssen aus dem Fenster seines temporären
Ateliers in Brooklyn auf die hell beleuchtete nächtliche Whyte Avenue, wo
sich zum Teil wilde Szenen zwischen Zuhältern und Prostituierten abgespielt
haben. Mit der Wirklichkeit ein experimentelles Spiel treibend, konnte es für
Schrödl nicht bei diesen Fotos bleiben. So hat er später auf den Originalauf-
nahmen, auf denen nur flüchtige Erscheinungen, verschwommene Menschen
in Bewegung zu sehen sind, Miniaturfiguren in erstarrter Aktion platziert und
fotografiert und damit mindestens eine zweite Zeitebene hinzugefügt. In die-
sen Mini-Modellwelten werden aus den ursprünglich einmalig festgehaltenen
Zeitmomenten „dauerhafte“ Situationen, wie sie sich über lange Zeit immer
wieder ähnlich abspielen (könnten). Durch fiktionale und inszenatorische
Elemente wird aber gleichzeitig auch konstatiert, dass in einer unstabilen
Welt nichts verbindlich, nichts gewiss, nichts von Dauer ist.
42
Geteilte Zeit [Wien, Bundesländerplatz], 2011
Video, 8 min., Loop, Ton
nächste Doppelseite:
45 steps, 5 trees, 1 pole and almost stepping into dogs droppings, 2008
C-Print (Diasec), 50 * 257 cm
Geboren 1966 in Tulln, lebt und arbeitet in Wien
www.jutta-strohmaier.net
Jutta Strohmaier
Jutta Strohmaiers fotografische und filmische Arbeiten entstehen auf der
Basis von oft langfristig erstellten dokumentarischen Materialien räumlicher
Situationen, die am Computer bearbeitet werden. Das Resultat sind nicht nur
poetisch-kontemplative, sondern auch wissenschaftlich-analytische Zeitbilder
oder auch subtile, humorvolle Arbeiten wie die Fotografie 45 steps, 5 trees,
1 pole and almost stepping into dogs droppings. Strohmaiers Anliegen ist es,
das Verstreichen von Zeit im fotografischen Bild sowie im Film darzustellen
bzw. fühlbar zu machen, wobei sie beide Medien, wie im Video Geteilte Zeit,
auch ineinandergreifen lässt. In dem Video At Times werden auf einem Dach
Schwalben beim Füttern ihrer Jungen beobachtet, wobei nur die Schatten der
Vögel sichtbar sind. Diese kontemplativen Bilder, der meditative Ton sowie
der verlangsamte Ablauf machen Zeit fühlbar: Sie scheint gleichzeitig zu
verstreichen und stillzustehen. Diesen Eindruck vermittelt auch – auf andere
Weise – das Video Geteilte Zeit. Hier hat Strohmaier eine extreme Langzeit-
belichtung simuliert. Mit einer im Hotel Kummer am Bundesländerplatz in
Wien fix montierten, computergesteuerten Kamera wurde die davorliegende
Kreuzung in Bildintervallen zwei Tage lang fotografiert. Die entstandenen
23.460 Fotografien hat Strohmaier mit einer eigens entwickelten Software
aneinandergefügt, bearbeitet und mit Straßengeräuschen unterlegt. Der
Film zeigt zwei Ebenen von Zeitlichkeit: die langsam wandernden Schatten
der statischen Architektur sowie die schnellen Bewegungen der Autos und
Fußgänger, die sich aufgrund von Berechnungen am Computer auch nur mehr
als Schatten zeigen. Durch die digitale Bearbeitung fließen die fotografischen
Bilder zu einem dauerhaften Prozess zusammen und machen Bilder aus
unterschiedlichen Zeitabschnitten zur gleichen Zeit sichtbar.
46
Sea of Japan, Oki IV, 1987
Silbergelatineabzug, 44,7 * 58 cm
Geboren 1948 in Tokio (JP), lebt und arbeitet in New York (USA)
www.sugimotohiroshi.com
Hiroshi Sugimoto
Bei Sea of Japan handelt es sich um eine frühe Arbeit aus Sugimotos größter,
konzeptuell angelegter Werkgruppe Seascapes. Seit über 30 Jahren fotogra-
fiert er Meereslandschaften an verschiedenen Orten in der Welt, ohne diese
näher zu beschreiben, in immer gleicher Weise und Stimmung. Er reflektiert
damit fundamentale Probleme von Raum und Zeit und damit Existenz. In
diesen Arbeiten geht es darum, „in die Vergangenheit zurückzugehen und
sich zu erinnern, woher wir kommen und wie wir entstanden sind“ (Sugimoto,
2002). In ihrer ruhigen Komposition mit dem gleichen Verhältnis von Wasser
und Himmel, ihrer Reduktion auf das abstrahierende Schwarz-Weiß und das
kleine Format, ihrer Ereignislosigkeit und fühlbaren Stille repräsentieren sie
einen überzeitlichen Bewusstseinszustand. Die Zeit scheint stillzustehen
in diesen „Denkbildern“, die einerseits – wie für Sugimoto selbst – ein
beruhigendes Gefühl der Sicherheit vermitteln, eine Verortung in Zeit und
Raum, ein Einssein mit der Natur. Andererseits ist hier die Relativität von
Zeit spürbar, das Unfassbare, Unbegreifbare, das ein Gefühl von Verlust und
Desorientierung und damit Verunsicherung hervorrufen kann.
48
Yellow, 2006
C-Print, Papiercollage auf Karton, mit Tusche überzeichnet, 60 * 81,5 cm
Geboren 1957 in Innsbruck, lebt und arbeitet in Wien und New York (USA)
www.martinwalde.at
Martin Walde
Ein wichtiges Thema in Waldes Werk ist die Auseinandersetzung mit Verän-
derung bzw. Transformation von Materie und Zuständen – wie von Bewegung
zu Stillstand, von Erscheinen zu Verschwinden. Die Arbeit Yellow stammt
aus der Serie Enactments, Fotomontagen mit eingezeichneten Figuren. In
fotografische Darstellungen alltäglicher Begebenheiten bzw. realer Situa-
tionen werden spielerisch mysteriöse Parallelwelten integriert. Die leicht
verschobene Ansicht eines realen urbanen Raums wird in der Arbeit Yellow
verrätselt durch die eingezeichnete übergroße Figur eines vermummten
Kapuzenmannes mit Reisigbündel an einem Zebrastreifen. Seltsam verloren,
anwesend und abwesend zugleich, steht er in einem Spannungsfeld zwischen
Tatenlosigkeit und eventuell möglichem Agieren. „Es ist einer dieser aus dem
Nichts banaler Alltäglichkeit auftauchender nobodies, deren Geschichten
üblicherweise verloren gehen oder aber […] künstlerische Prozesse unabhän-
giger Transformationen in Gang setzen können.“ 1 Ob und was geschieht, bleibt
offen für Spekulationen. Die Zeit steht still. Ein irritierender Stillstand, der
existenzielle Fragen aufwirft. Durch das Eintauchen des Umfelds des Mannes
in ein übernatürliches Gelb – ein Stilmittel von Walde, der die Figuren damit der
physischen Wirklichkeit entzieht – sowie die verschobenen Größenverhältnisse
von Raum und Figur, ergibt sich eine fantastisch-poetische Konstellation, die
unsere festgefügte Wahrnehmung von Ordnung, Realität, Zeit und Raum
erheblich irritiert.
1 Anneliese Pohlen, Martin Walde, Die lange Geschichte der Enactments – oder von der Spuren-
suche im verpixelten Wahrnehmungsraum, in: http://www.martinwalde.at/sites/authors/
pohlen01.html
50
Strobogramm, 2011
Video, 3 min., Ton
Geboren 1975 in Wien, lebt und arbeitet ebendort
www.florawatzal.at
Flora Watzal
Das Verhältnis von Zeit, Medien und Wahrnehmung bzw. der Einfluss digitaler
Medien auf unser Denken bestimmt die Videoarbeiten von Flora Watzal. Dazu
analysiert sie die Grundstrukturen des Mediums Video. Sie geht dabei häufig
an die Grenzen der Sicht- und Lesbarkeit, stört mit massiven Verschiebungen,
Zerlegungen, Fragmentierungen und losgelösten Zusammenhängen die Ord-
nung von Raum und Zeit und schafft Konstruktionen, die die Wahrnehmung
herausfordern. Das Video Strobogramm zeigt zunächst ein schwarzes Bild,
das sich plötzlich in rechteckigen Segmenten von links oben in Leserichtung
nach rechts unten zeilenförmig erhellt und fast die ganze Bildinformation
freigibt, um sich dann wieder in Abschnitten zu verdunkeln: Wir sehen die
Künstlerin, wie sie den Lichtschalter für eine Deckenlampe in ihrer Werkstatt
an- und ausknipst und damit die Erhellung/Verdunkelung bzw. Sichtbarkeit/
Unsichtbarkeit des Videobildes steuert.
Die rechteckigen, in ein regelmäßiges Rastersystem gefügten Segmente, die
über die Bildoberfläche ziehen, sind jeweils um acht Kader zeitversetzt. Der
durch die partielle Erhellung/Verdunkelung in seine Einzelteile zerlegte Raum
ist damit immer nur in Ausschnitten lesbar und wirkt dadurch, als läge eine
Bildstörung vor, bekommt aber gerade deshalb neue narrative Aspekte. In
jedem Videofilm werden die Bilder Pixel für Pixel aufgebaut; dieses schnell
ablaufende, kaum wahrnehmbare System übernimmt Flora Watzal vereinfacht
mit ihrer diagrammartigen Bildkonstruktion. Der stakkatoartige Ton, der
durch das Klicken des Lichtschalters entsteht, pointiert das erheiternde
Raum-Zeit-Experiment.
52
Reisezeit, Praha 19.09 - Warzawa 7.09, 1992
Reisezeit, Berlin 8.23 - München 18.21, 1992
Silbergelatineabzüge, je 92 * 122 cm
nächste Doppelseite:
Rio Amazonas, Brazil (16.57– 17.07 Uhr, 27.7.2003), 2003
C-Print (Diasec), 125 * 175 cm
Geboren 1963 in München (DE), lebt und arbeitet in Berlin (DE)
www.wesely.org
Michael Wesely
Mit extremen Langzeitbelichtungen, die von Minuten über Stunden bis hin zu
Jahren dauern können, stellt Michael Wesely Motive und Situationen im Verlauf
ihrer Veränderung, im Fluss ihrer Bewegung in der Fotografie dar. Ergebnis ist
jeweils ein fotografisches Bild, auf dem alles festgehalten ist, was sich vor der
selbst konstruierten, fix montierten Kamera in der Zeitspanne der Öffnung
des Verschlusses ereignet hat. Für das menschliche Auge ist die Entstehung
nicht wahrnehmbar. Mit dieser Technik verdichtet Wesely das Prozesshafte
von Zeit. Durch die Transferierung ins Filmische bzw. aufgrund der durch die
Langzeitbelichtung entstehenden, zahlreichen sich überlappenden und damit
scheinbar gleichzeitigen Bilder von Veränderungen werden die Fotografie
als Medium der Momentaufnahme und die Zeit als chronologische Größe
neu zur Disposition gestellt. Basis von Weselys hyperrealen Fotografien sind
alltägliche Orte, Dinge und Situationen: Es entstehen Bilder von biologischen
Prozessen wie dem Verwelken einer Blüte, von städtebaulichen Entwicklungen
wie Neubauten oder Baustellen, von Veränderungen in der Natur oder auch
von menschlichen Handlungen. In Darstellungen von Orten, in denen Zeit per
se schon eine große Rolle spielt – wie auf Bahnhöfen – bzw. wo der Wandel des
Jahreskreislaufs sichtbar wird (Sonnenauf- und Sonnenuntergänge) potenziert
sich die Auseinandersetzung mit Zeit. Durch das Charakteristikum der Lang-
zeitbelichtung, der Unschärfe, ausgelöst vor allem durch die Bewegung von
Menschen, die bei heftigen Aktionen bis hin zur „Auflösung“ derselben führen
kann, wird Zeit auch in ihrer Eigenschaft des Verschwindens sichtbar gemacht.
Diese Publikation erscheint im Rahmen der Ausstellung
How long is now?9. Oktober bis 11. Dezember 2013
Kuratorin: Petra Noll
Text: Petra Noll
Grafik und Technik: Christoph Fuchs
Lektorat: Melanie Gadringer
Fotos: Künstlerinnen und Künstler, außer Seite 32, 33 (Fritz Simak),
41, 47 (Christoph Fuchs)
Leitung: Andra Spallart
Organisation: Christoph Fuchs, Marie-Therese Hochwartner, Monika Ottwald
nächste Doppelseite:
Foto-Raum, Wien, Detailansicht (Foto: Fritz Simak)
© 2013 bei den Künstlerinnen, Künstlern und der Autorin
Theresiengasse 25, 1180 Wien
geöffnet Mo, Mi, Fr 10 – 13 Uhr,
Do 16– 19 Uhr und nach Vereinbarung
+43 (0) 676 517 5741
www.foto-raum.at
Michael Aschauer
Boris Becker
Stéphane Couturier
Stefanie Hilgarth
Anna Jermolaewa
Martin Klimas
Brigitte Kowanz
Edgar Leciejewski
Michael Michlmayr
Jeff Nixon
Stephan Reusse
Liddy Scheffknecht
Werner Schrödl
Jutta Strohmaier
Hiroshi Sugimoto
Martin Walde
Flora Watzal
Michael Wesely
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