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Samstag, 19. Oktober 1963 Der Zürcher Zeitung 184. Jahrgang Morgenausgabe Nr. 4231J~^

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Lord Home - der neue britische Premierminister/ 21/. London, .1.8. Oktober

Alexander Frederick Douglas-IIome, der14. Eavl of Home, den die Königin heute er-sucht hat, die neue konservative Regierung zubilden, entstammt altem schottischem Grenz-adel. Er ist der e r s te britische Premierministeraus der Erbaristokratie, seit um die Jahr-hundertwende der Großvater des gegenwär-tigen Lord Salisbury die Staatsgeschäfte

führte. Er wuchs in einer Atmosphäre auf, inder Wohlstand und Dienst für die Krone zurTradition gehörten. In Eton und Oxford tator sich als guter Crieketspieler, weniger durchintellektuelle Brillanz hervor, galt aber da-mals schon als schlagkräftiger Debatter. 1931zog er für den «Familiensitz» von Lanark insUnterhaus ein. Er hieß damals Lord Dunglass.

1936 machte ihn Chamberlain zu seinemPrivatsekretär. An der Seite von ChurchillsVorgänger trat er als Vertreter der München-Politik auf bis zu ihrem bitteren Ende. Alsder Krieg ausbrach, wollte Home mit seinemRegiment an die Front; eine Rückgrat-tuberkulöse, die ihn zwei Jahre ans Kranken-bett fesselte, machte dies unmöglich.

1943 kehrte Home ins Unterhaus zurück,wo er dann, von Eden ermuntert, das Abkom-men von Jalia kritisierte, als dies noch vielZivilcourage brauchte. Er verlor seinen Sitzim Erdrutsch von 1945, gewann ihn aber 1950zurück, wobei die Wähler aus den Kohlen-gruben von Lanark in Massen für ihn ein-traten. Doch dann starb sein Vater, und erhatte ins Oberhaus hinüberzuwechseln. ImFrühling 1955 machte ihn Eden zum Com-monwcalfk-Minister. Bis zu Macmillans Redeüber den «Wind des Wechsels» in Afrikazeigte Home mehr Verständnis für die Inter-essen der weißen Siedler als für die Anliegen

schwarzen Emanzipationspolitiker, machteaber dann die Schwenkung an der Spitze mit.1960 ernannte ihn Macmillan zum Außen-minister, wozu damals eine Zeitung bemerkte,es sei keine so merkwürdige Ernennung mehrerfolgt, seit Caligula sein Pferd zum Konsulgemacht habe.

In Tat und Wahrheit verschaffte sich deradlige Außenminister, dessen Start im ForeignOffice so umstritten war, rasch Respekt imIn- und Ausland. Er scheute sich nicht, dieDinge beim Namen zu nennen und Verant-wortung zu delegieren. Er baute ein gutespersönliches Verhältnis mit den Amerikanernauf und zeigte sich den Sowjets gegenüber

mehrmals widerborstiger als sein Chef. Waser in New York und Blackpool über die Ent-spannungspolitik sagte, hatte viel allzu viel

mit dem britischen Wahlkampf zu tun.

Wie souverän er als Premierminister seinwird, weiß noch niemand. Es gibt Leute, dieder Meinung sind, Homes Urteil oder Auf-treten sei im Laufe seiner bisherigen Karriereallzu oft dem Vorgesetzten des Tages oder demDossier gefolgt, das ihm gute oder schlechteBerater unterbreiteten.

Der Europapolitik Macmillans stand Ilomc,im Gegensatz zu den besten Köpfen im

Foreign Office, innerlich kühl gegenüber,wenn er sie auch gegen außen mit der ihmeigenen Deutlichkeit vertrat. Es gehört zurmelancholischen Folgerichtigkeit der Stunde,daß die Antwort auf de Gaulies Veto gegenden Beitritt Großbritanniens zur EWG einaltadeliger Vasall der britischen Reichskronegeworden ist, kein «Europäer», sondern ein

Mann, über den auf dem rechten Flügel derKonservativen Partei mehr Freude herrschenwird als auf dem linken.

Home, schlank und zart gebaut und mitverklemmtem Munde sprechend, ist als Er-scheinung eine Kombination aus drahtigerDürre und witzigem Charme. Sein angeneh-mes, manchmal mit Selbstironie spielendesWesen hat ihn davor verschont, sich Feindezu machen. Sein Familien- und Besitzhinter-grund geben ihm eine stille Sicherheit. SeinBruder ist William Douglas-Home, ein erfolg-reicher Verfasser leichter Theaterstücke,welche die Aristokratie parodieren.

Für den neuen Premierminister, der sichnoch an einer parlamentarischen Nachwahl inSir Alexander Douglas-Home mit Sitz imUnterhaus wird zurückverwandeln müssen,brechen schwierige Tage und Monate an. Erhat bei der Regierungsbildung geschlagene

Rivalen wie Butler, Lord Hailsham undMaudling vor sich, von denen der erste imKabinett, der zweite in den Regionalparteienund der dritte im Unterhaus mehr Anhangbesitzt als der Sieger. Er muß mit. einerUnterhausfraktion rechnen, in der starke Ele-mente es als eine Demütigung und einen wahl-taktischen Fehler betrachten, daß der neueFührer im Oberhaus geholt worden ist. Alleführenden Zeitungen hätten Butler oder einenJüngeren aus seiner Schule vorgezogen.Harold Wilson und die andern Oppositions-politiker betrachten Lord Home als eine dank-bare Zielscheibe für Attacken im Parlamentund im Wahlkampf, wobei sie seine Fähigkeit,zurückzuschlagen, allerdings unterschätzenkönnten.

Es sieht so aus, als habe der Zusammen-px%aU zwischen dem linken und dem rechtenPärieiflügel im Nachfolgekrieg Macmillan zurEmpfehlung eines neuen Premierministersveranlaßt, der zwar die Tories einigermaßen

zusammenhalten kann, für die Wahlen abereher ein Handicap als eine Hilfe sein wird,da der sehwankende Wähler nicht eine Ver-körperung des alten, sondern des neuen Tory-tums sehen will. Zudem werden die Chronistennoch lange darüber streiten, ob Macmillan inseinem R-at an die Königin rein dem gefolgtist, was die «Computer» über die Stimmungbei der Gefolgschaft meldeten, oder ob nichtauch noch persönliches Mißtrauen gegen But-ler mitwirkte, dem er oft hohe Aemter mitbrüderlicher Güte zugehalten hat, um sichletzten Endes von ihm abzuwenden. Es geht

da um die Frage, warum der scheidende Pre-mierminister sich, wenigstens dem Anscheinnach, zu etwas verwenden ließ, was wie einSchlag gegen das Bild einer jungen, nioder-

Umfang 48 Seiten

InhaltsübersichtBLATT

Lord Homeder neue britische Premierminister

BLATT

Die Session des EWG-ParlamentsDie Telephonaffäre in der Bundesrepublik

BLATT 3

Besuch in Huddersfield

B LATTPekings Aggressionskrieg im Himalaja

Offensive gegen Deutschlandin den Vereinigten Nationen

BLATT 5 und 6

Das Wochenende:Umbrische StädteZum 150. Jahrestagder Völkerschlacht bei Leipzig

B LATT

Herr Zellweger und die BodeninitiativeEin Tagesbefehl Bundesrat Chaudets

BLATT

Die Diskussion um den «Stellvertreter»in der Schweiz

BLATT 9 - ,£l".Zürcher Lokalchronik

BLATT 10 und 11

Handel:Die Kapitaltransaktionder Schweizerischen KreditanstaltSchweizerischer Geldmarkt

neu, den aufsteigenden Bevölkerungsschieh-ten zugewendeten Konservativen Partei wirkt.Vielleicht liegt die Erklärung darin, daß Mac-milliin und andere Verantwortliche eine kom-mende Wahlniederlage realistisch in ihre Be-rechnungen einbezogen und den Führer, derGegenoffensive auf die übernächsten Wahlenhin, der dann aus dem Kreis der Maudling,Macleod und Ileath zu kommen hätte, nichtvor der Zeit «verbrauchen» wollten. Vermut-lich nur in diesem Sinne könnte die Ernen-nung Lord Homes eine konstruktive Ausweich-lösung sein.

i Edith Piaf

Am 11. Oktober tat in Paris, wie wir schon ge-

meldet haben, die Chansonniere Edith Piaf im Altervon 47 Jahren gestorben.

Wb. Das Kind ist am 19. Dezember 1915 zurWelt gekommen, morgens um fünf, in Paris, Ruede Belleville, im Hause Nummer 72. Nein, nicht imHause, sondern vor dem Haus. Der Wagen für dieKlinik war zu spät eingetroffen. Vor der Haustür

hatte die Mutter nicht mehr weiter gekonnt. ZweiPolizisten, die grad in der Gegend auf Roiidewaren, sahen die Frnu und begriffen, worum esging, und halfen. «Ich kann also sagen, daß ichauf der Straße geboren worden bin», wird es spä-ter heißen. Der Vater des Kindes, Louis Gassion,war Akrobat; die Mutter, bekannt unter demNamen Line Marsa, sang in Cafes. Die beidengaben dem Mädchen die Namen Edith Giovannaund überließen es fürs erste den Großmüttern inder Provinz. Später, als Edith Giovanna siebenwar, nahm sie der Vater mit auf Tournee. Er legteirgendwo am Ort seinen Tcppich aus und machtedarauf seine Kunststücke; darunter war eineGlicdcrverrenkungs-Nummer bemerkenswert. Nachden Vorführungen sammelte das Kind das Zu-sehauergeld ein. Und damit keiner wegschlich,kündigte der Akrobat gleich die allerletzte Num-mer an: um den freundlichen Spendern zu danken,werde das Kind den Salto mortale ausführen. DasGeld wurde .icwcilen eingesammelt; aber der Snltomortale fand nie statt. Einmal gab es Protestunter den Zuschauern. Da trat der Akrobat vorund erklärte, man müsse verzichten, das Mädchensei eben erst von einer Grippe aufgestanden undnoch schwach. «Erwarten Sie denn, daß sich diesesarme Kind das Genick brechen soll, nur um IhnenSpaß zu machen?» Aber man hat schließlich seinEhrgefühl. Das Kind wird etwas singen. Aberwas? Edith kennt die «Marseillaise», doch davonnur den Refrain. Den singt sie, und die Leute sindgerührt. Der Akrobat zwinkert dem Kinde zu, undes geht zum zweiten Mal unter die Leute undsammelt den Lohn.

Später schlägt sich Edith allein durch. Siokommt nach Paris. Da singt sie auf der Straße

und auf Rummelplätzen ihre Lieder. Und damacht dns Leben eines seiner Märchen wahr: EinHerr tritt auf das lottrig gekleidete Mädchen zu.«So machst du deine Stimme kaputt», sagte er.Und: «Mit einer solchen Stimme warum singstdu nicht in einem Cabarct?» Der Herr heißt LouisLcplee; er leitet das Cabarct «Ix; Gcrny's». Beiihm wird Edith Giovanna Gassion auftreten. Aber«Gassion» ! Das ist kein Name für eine Cabarct-Sängerin. Leplee sucht und erfindet «Piaf». Unterdiesem Namen, Edith Piaf, tritt sie auf. Sie trägteine billige Jupe; der Pullover, den sie sich nochstricken wollte, ist nicht fertig geworden esfehlt ein Acrmel. Lcplec läßt nicht nach: «Wassoll's? Du verbirgst den Arm unter deinerSchärpe. Mach nur wenige Gesten, beweg dich sowenig wie möglich, gestikuliere nicht, und alleswird gut gehn.» Aber dann, auf der Bühne, nimmtdtis Lied sie mit; Edith Piaf hebt beide Arme, dieSchärpe rutscht weg. Niemand lacht. Im Saat istes still, lange; dann kommt riesiger Beifall. DerRuhm ist da.

Louis Lcplec hatte sie damals den vornehmenLeuten mit wahren und auch schlauen Worten vor-gestellt. «Vor ein paar Tagen», so sagte er, «gingich durch die Rue Troyon. Auf dem Trottoir snngein Mädchen, ein Mädchen mit bleichem, leidendemGesicht. Seine Stimme hat mich ins Herz getroffen.

Sie hat mich bewegt; sie hat mich überwältigt.Dieses Pariser Kind wollte ich Ihnen vorführen.E in Abendkleid hat sie nicht. Wenn sie weiß, wieman sich vor dem Publikum verneigt ja, ichhabe es ihr gestern erst beigebracht. Sie wird nunvor Ihnen auftreten, ganz so, wie sio war, als ichsio dort auf der Straße traf: ohne Schminke, ohnoStrümpfe, in einer billigen Jupe... Voici la

möme Piaf.» In all den Jahren, da Edith Piafan berühmten Orten in aller Welt auftrat, fastimmer in dem einfachen schwarzen Kleid («meineUniform» nannte sie es): da war insgeheim auchdas Mädchen dabei, welches kein Abendkleid hatund nicht weiß, wie man sich verneigt.

Ich sehe sie vor mir: schmal, mit einem Gesicht,welches vom Leben selten gestreichelt, oft ge-schlagen worden ist. Sie sang das zärtlichste Lie-ben, die Trauer, den Trotz mit einer Stimme soscharf und klirrend, als müßte dns Lied nebenschepperndem Blech vor Männern mit rußigenGesichtern, bestellen können. Die Welt und dasLeben in ihr: es war zu streng, als daß man dar-über schön hätte singen dürfen. In nichts ist EdithPiaf dem Publikum entgegengekommen. Sielächelte nicht nebenaus, fischte keine Blicke. Siewar mit ihren Liedern ganz allem ilir könnt'sannehmen oder abweisen, sagte das Gesicht, inwelchem die Augen nur wenig offen waren, so, alsseien sie verweint. Es war eine wunderbare GabeEdith Piafs, auch beim Wiederholen so zu singen,als sänge sie zum erstenmal. Wenn sie aber sichselber plötzlich zuschaute und sah, was sie tat undwie sie es tat, dann gab sie das Lied auf. Ihr wildeszartes Herz ließ die Routine nicht zu.

Als kleines Kind war sie erblindet. «Par pitie,rendez-moi la vue!» betete sie am Altar der heili-gen Therese in Lisieux. Zehn Tage darauf hattesio ihr Augenlicht wieder. Dankbar lebte sie ihrLeben. «Ich bin ein gläubiger Mensch», sagte sie,«der Tod schreckt mich nicht.»

(Die Lcbcnscrinncrungcn von Edith Piaf sindunter dem Titel «Au bal de tu chance» im VerlagJchcbcr, Ports, erschienen.)

Neue Zürcher Zeitung vom 19.10.1963

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