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7/30/2019 Arnold Schoenbergs Klangfarbenmelodie http://slidepdf.com/reader/full/arnold-schoenbergs-klangfarbenmelodie 1/10 1 Symposiumsreferat 15. September 2006, Auditorium KKL Luzern Schönbergs Begriff der „Klangfarbenmelodie“ Schönbergs am Schluss seiner Harmonielehre skizzierte Idee einer „Klangfarbenmelodie“ wird in der Sekundärliteratur häufig zitiert und ist heute allgemein gebräuchlich für bestimmte kompositionstechnische Phänomene der neueren Musik. Eine kritische Auseinandersetzung mit den ästhetischen und terminologischen Wurzeln des Begriffspaars „Klangfarben-Melodie“ steht jedoch noch weitgehend aus, insbesondere auch eine Untersuchung der von Schönberg intendierten semantischen Tragweite seiner Sprachschöpfung. Dabei rücken Schönbergs eigene Reflexionen über musikalische Wahrnehmungsvorgänge in den Vordergrund, verbunden mit der Frage, inwieweit diese Reflexionen, obwohl häufig spekulativ und nur inadäquat sprachlich fassbar, inspirierende Ausgangspunkte einer kompositorischen Ästhetik sein können. Arnold Schönbergs Harmonielehre von 1911 endet mit dem oft zitierten Satz „Wer wagt hier Theorie zu fordern!“ Vorausgegangen sind 500 Seiten eigenwilliger, jedoch durchaus noch konventioneller Abhandlung der tonalen Harmonielehre, ihrer Erweiterung etwa bis zum Stand der Kammersymponie op. 9 und eine abschliessende Reflexion über die „Ästhetische Bewertung sechs- und mehrtöniger Klänge“. Der letzte Abschnitt des Buches beginnt mit einer Parametrisierung des Klangs, an dem Schönberg drei Eigenschaften wahrnimmt: „seine Höhe, Farbe und Stärke“. Er  erwähnt, dass bis jetzt in der Musiktheorie vor allem die Dimension der Tonhöhe systematisiert worden sei, beispielsweise in Form von Harmonielehren. Dagegen befinde sich „die Bewertung der Klangfarbe, der zweiten Dimension des Tons, […] in einem noch viel unbebauteren, ungeordneteren Zustand“. Gibt es vielleicht eine Möglichkeit, die Klangfarbe zu systematisieren? Schönbergs Antwort in der  Harmonielehre ist allgemein bekannt. Er schreibt: F „Ich kann den Unterschied zwischen Klangfarbe und Klanghöhe, wie er gewöhnlich ausgedrückt wird, nicht so unbedingt zugeben. Ich finde, der Ton macht sich bemerkbar durch die Klangfarbe, deren eine Dimension die Klanghöhe ist. Die Klangfarbe ist also das grosse Gebiet, ein Bezirk davon die Klanghöhe. Die Klanghöhe ist nichts anderes als Klangfarbe, gemessen in einer Richtung. Ist es nun möglich, aus Klangfarben, die sich der Höhe nach unterscheiden, Gebilde entstehen zu lassen, die wir Melodien nennen, [...] dann muss es auch möglich sein, aus den Klangfarben der anderen Dimension, aus dem, was wir schlechtweg Klangfarbe nennen, solche Folgen herzustellen, deren Beziehung untereinander mit einer Art Logik wirkt, ganz äquivalent jener Logik, die uns bei der Melodie der Klanghöhen genügt.“ 1  Der Begriff „Klangfarbenmelodie“ hat bis heute unzählige Deutungen erfahren – mehrheitlich im Sinne eines instrumentatorischen Phänomens, also der Emanzipation der instrumentalen Klangfarbe gegenüber der Tonhöhe – aus dem bisherigen Akzidens wird so ein substanzielles Gestaltungselement. Schnell wurde rückgeschlossen, dass Schönbergs 1909 entstandenes Orchesterstück op. 16,  No. 3, mit dem Titel „Farben“ die künstlerische Umsetzung dieser Vision sei. Tatsächlich scheinen in diesem Stück vertraute Gestalten wie Melodien oder rhythmisch einprägsame Motive weitgehend getilgt, was laut Theodor W. Adornos Darmstädter Vorlesung von 1966 eine wesentliche Voraussetzung für die Emanzipation der Klangfarbe sei, denn erst die Ausschaltung gewohnter Gestaltungselemente, also Thematik, Melodik, Harmonik und gar 1  Arnold Schönberg: Harmonielehre, Wien 1997, S. 503f.  

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Symposiumsreferat 15. September 2006, Auditorium KKL Luzern

Schönbergs Begriff der „Klangfarbenmelodie“

Schönbergs am Schluss seiner Harmonielehre skizzierte Idee einer „Klangfarbenmelodie“ wird in der 

Sekundärliteratur häufig zitiert und ist heute allgemein gebräuchlich für bestimmte kompositionstechnischePhänomene der neueren Musik. Eine kritische Auseinandersetzung mit den ästhetischen und terminologischenWurzeln des Begriffspaars „Klangfarben-Melodie“ steht jedoch noch weitgehend aus, insbesondere auch eineUntersuchung der von Schönberg intendierten semantischen Tragweite seiner Sprachschöpfung. Dabei rückenSchönbergs eigene Reflexionen über musikalische Wahrnehmungsvorgänge in den Vordergrund, verbunden mitder Frage, inwieweit diese Reflexionen, obwohl häufig spekulativ und nur inadäquat sprachlich fassbar,inspirierende Ausgangspunkte einer kompositorischen Ästhetik sein können.

Arnold Schönbergs Harmonielehre von 1911 endet mit dem oft zitierten Satz „Wer wagthier Theorie zu fordern!“ Vorausgegangen sind 500 Seiten eigenwilliger, jedoch durchausnoch konventioneller Abhandlung der tonalen Harmonielehre, ihrer Erweiterung etwa bis zumStand der Kammersymponie op. 9 und eine abschliessende Reflexion über die „ÄsthetischeBewertung sechs- und mehrtöniger Klänge“.

Der letzte Abschnitt des Buches beginnt mit einer Parametrisierung des Klangs, an demSchönberg drei Eigenschaften wahrnimmt: „seine Höhe, Farbe und Stärke“. Er  erwähnt,dass bis jetzt in der Musiktheorie vor allem die Dimension der Tonhöhe systematisiert wordensei, beispielsweise in Form von Harmonielehren. Dagegen befinde sich „die Bewertung derKlangfarbe, der zweiten Dimension des Tons, […] in einem noch viel unbebauteren,ungeordneteren Zustand“. Gibt es vielleicht eine Möglichkeit, die Klangfarbe zusystematisieren?

Schönbergs Antwort in der  Harmonielehre ist allgemein bekannt. Er schreibt: F „Ich kannden Unterschied zwischen Klangfarbe und Klanghöhe, wie er gewöhnlich ausgedrücktwird, nicht so unbedingt zugeben. Ich finde, der Ton macht sich bemerkbar durch dieKlangfarbe, deren eine Dimension die Klanghöhe ist. Die Klangfarbe ist also das grosseGebiet, ein Bezirk davon die Klanghöhe. Die Klanghöhe ist nichts anderes alsKlangfarbe, gemessen in einer Richtung. Ist es nun möglich, aus Klangfarben, die sichder Höhe nach unterscheiden, Gebilde entstehen zu lassen, die wir Melodien nennen, [...]dann muss es auch möglich sein, aus den Klangfarben der anderen Dimension, aus dem,was wir schlechtweg Klangfarbe nennen, solche Folgen herzustellen, deren Beziehunguntereinander mit einer Art Logik wirkt, ganz äquivalent jener Logik, die uns bei derMelodie der Klanghöhen genügt.“ 1 

Der Begriff „Klangfarbenmelodie“ hat bis heute unzählige Deutungen erfahren – mehrheitlichim Sinne eines instrumentatorischen Phänomens, also der Emanzipation der instrumentalenKlangfarbe gegenüber der Tonhöhe – aus dem bisherigen Akzidens wird so ein substanziellesGestaltungselement.

Schnell wurde rückgeschlossen, dass Schönbergs 1909 entstandenes Orchesterstück op. 16, No. 3, mit dem Titel „Farben“ die künstlerische Umsetzung dieser Vision sei. Tatsächlichscheinen in diesem Stück vertraute Gestalten wie Melodien oder rhythmisch einprägsameMotive weitgehend getilgt, was laut Theodor W. Adornos Darmstädter Vorlesung von 1966eine wesentliche Voraussetzung für die Emanzipation der Klangfarbe sei, denn erst die

Ausschaltung gewohnter Gestaltungselemente, also Thematik, Melodik, Harmonik und gar 

1 Arnold Schönberg: Harmonielehre, Wien 1997, S. 503f. 

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der Rhythmik, vermag die Wahrnehmung des Hörers auf die bis anhin als akzidentiellempfundene Klangfarbe zu lenken.

Das Stück wirkt insbesondere harmonisch statisch, es erinnert ein wenig an das prismenhaftfarbliche Fluktuieren einer spiegelnden Oberfläche, was dem Stück in den Zwanzigerjahrenauch den impressionistischen Titel Sommermorgen am See eintrug.

Verschärft führte Adornos Reduktions-These zur bis heute allgemein verbreiteten Definition,eine „Klangfarbenmelodie“ sei die instrumentatorische Umfärbung eines ausgehaltenen Tonsoder Akkords. Es wurde in diesem Zusammenhang sogar diskutiert, dass es sich bei op. 16,

 No. 3 gerade nicht um eine „Klangfarbenmelodie“ handeln könne, denn bei genauerer Betrachtung finden im Stück durchaus melodische und harmonische Bewegungen statt. Esoblag schliesslich Carl Dahlhaus, diese einseitige Sichtweise mit dem Hinweis zu korrigieren:

F „Instrumentation wird nicht dadurch zur Klangfarbenmelodie, dass dieTonhöhenmelodie zur Monotonie einschrumpft, sondern durch ein Gleichgewichtzwischen Instrumentation und Tonhöhenmelodie statt der gewohnten Vorherrschaft der

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Tonhöhenmelodie. Und das Gleichgewicht erreicht Schönberg in op. 16, No. 3 durchReduktion der Melodik, nicht durch deren Aufhebung.“2 

Dieses subtil ausgestaltete Gleichgewicht betont auch Schönberg selbst in einer Musizieranweisung. Er schreibt: F „Es ist nicht Aufgabe des Dirigenten, einzelne ihm

(thematisch) wichtig scheinende Stimmen in diesem Stück zum Hervortretenaufzufordern, oder scheinbar unausgeglichen klingende Mischungen abzutönen. Woeine Stimme mehr hervortreten soll, als die anderen, ist sie entsprechend instrumentiertund die Klänge wollen nicht abgetönt werden.“ Und schliesslich: Der Wechsel derAkkorde hat so sacht zu geschehen, dass gar keine Betonung der einsetzendenInstrumente sich bemerkbar macht, so dass er lediglich durch die andere Farbeauffällt.“3 

Diese Anweisung führt auf interessante Weise wieder zurück zur Parametrisierung der Toneigenschaften, denn in unserer Wahrnehmung können sich die einzelnen Ebenen durchausvermischen oder beeinflussen. In diesem Fall werden die Dynamik und die rhythmische

Bewegung wesentlich mitgestaltet durch die Klangfarbe, oder allgemein gesagt: DieKlangfarbe kann eine Funktion der Dynamik und des Rhythmus sein.

1912 wird Schönberg durch den Peters Verlag gebeten, seinen 5 Orchesterstücken Titeln zugeben. Widerwillig gibt er dem dritten Stück den, wie er sagt, „technischen“ Titel: Akkordfärbungen.4 Technisch gesehen ist dieser Titel präziser als die später verwendeteneutralere Bezeichnung „Farben“, denn es handelt sich tatsächlich um eine ständigfluktuierende instrumentatorische Umfärbung eines Akkords.

•  Schematisch dargestellt.• 

Lesen wie eine Partitur •  Farben nach Klangfarbenfamilien•  Immer neue klangfarbliche Kombinationen

2 Carl Dahlhaus: „Schönbergs Orchesterstück op. 16, Nr. 3 und der Begriff der „Klangfarbenmelodie“, in:Gesammelte Schriften, Bd. 8, Laaber 2005, S. 674.3 Arnold Schönberg: „Farben“, aus: Fünf Orchesterstücke op. 16 , Anmerkung in der Partitur, London etc. 1950,S. 31.4 Vgl. Josef Rufer: Das Werk Arnold Schönbergs, Kassel etc. 1959, S. 13f.

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 Eine genauere Analyse des Stücks zeigt aber, dass hier nicht nur ein Akkord raffiniertuminstrumentiert wird, sondern Schönberg diesen Akkord auch durch kleinste melodischeBewegungen subtil harmonisch umfärbt, stellenweise den ganzen Akkord im Tonraummixturhaft verschiebt und dabei einem Prinzip von intervallischer Reduktion folgt, welches in

seiner Durchdringung des harmonischen und melodischen Satzes grundlegend werden solltefür die spätere Entwicklung der Zwölftontechnik.

•  Particell des Stücks•  Zwar einige Instrumentationsangaben•  Jedoch weitgehend die Niederschrift des harmonischen Satzes•  Weitgehend kleinste melodische Schritte: Durch diese Miniaturisierung der Harmonik 

entsteht ein durchaus ähnliches Fluktuieren wie in der Instrumentation, indem dieselinearen Veränderungen nicht als Motive oder Gestalten wahrnehmbar werden,sondern vielmehr als harmonische Umfärbungen des Anfangsakkords.

Durch diese Analogie verfliessen Harmonik und Klangfarbe zu einem unauflöslichenKomplex: Die Harmonik scheint hier zu einer Funktion der Klangfarbe geworden zu sein undumgekehrt. Dabei werden verschiedene Formen des Zusammenwirkens zwischen diesen zwei

Parametern systematisch ausgelotet.

T. 246 mit T. 248

•  Zuerst harmonisch statisch, Klangfarben-Accelerando

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•  Dann ein Klangfarben-Accelerando gekoppelt mit einer Verdichtung desharmonischen Rhythmus

• 

Dabei Permutation der verwendeten Klangfarben•  Am Punkt der höchsten Verdichtung der harmonischen und instrumentatorischen

Farben eine „harmonische Trübung“: Chromatische Linie im Cello (Chroma→griech.Farbe)

Diese innere Beziehung von Instrumentation und Harmonik scheint mir kein Einzelfall zusein, sondern geradezu ein Charakteristikum der freien Atonalität, insbesondere inSchönbergs Erwartung oder  Der glücklichen Hand und ebenso in zahlreichen Werken AntonWeberns und Alban Bergs. Adorno bringt es in seiner Vorlesung von 1966 auf den Punkt: F„Wie in den vieltönigen Akkorden der neuen Musik diese nicht zu einer homogenen, insich ununterschiedenen Einheit verschmolzen werden, sondern jeweils selbständig,

gewissermassen als Stimmen erhalten bleiben und doch ein Ganzes bilden, so ist auchinstrumentiert.“5 

Die Definition der „Klangfarbenmelodie“ als ein rein instrumentatorisches Phänomen greiftalso zu kurz. Vielmehr handelt es sich um ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Gestaltungsebenen, die gesamthaft als Farbwirkungen wahrgenommen werden können.

Man darf nicht vergessen, dass Schönberg den Begriff an den Schluss einer  Harmonielehre

setzt, es ist also unwahrscheinlich, dass nun plötzlich die Harmonik keine Rolle mehr spielensollte. Wenn man Schönbergs Ausführungen genau liest, wird die Harmonielehre nichteinfach „aufgehoben“, oder höchstens im Hegelschen Sinn, nämlich „hinaufgehoben“, in

5 Theodor W. Adorno: „Die Funktion der Farbe in der Musik“, in: Heinz-Klaus Metzger e.a. (Hrsg.): Darmstadt-

 Dokumente 1, Musik-Konzepte Sonderband 1/99, München 1999, S. 295.

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einen grösseren Verbund eines Klangfarbendenkens. Wenn das Primäre des Tons seine Farbeist und die Tonhöhe eine seiner Farbeigenschaften, dann ist die Klangfarbe als Erweiterungdes Harmoniebegriffs zu verstehen.

Betrachtet man Schönbergs Äusserungen im Umfeld seiner  Harmonielehre, so wird die

semantische Weitung des Klangfarbebegriffs augenfällig. Er diskutiert mit Busoni über denKlang seiner Klavierstücke op. 11, spricht über „deren düstere, gepresste Klangfarbe“6, er vergleicht ihr Klangbild mit dem seiner Orchesterstücke, die sich auch deutlich abwendenvom „’Götter- und Übermenschen-Klang’“ des Wagnerschen Orchesters“, sondern „alles zarter dünner wird“, und er „gebrochene Farbtöne“7  bevorzugt und meintschliesslich über Pierrot lunaire, dass hier „die Farbe alles, Noten fast nichts bedeuten.“8 

Als Busoni in die Satzstruktur von Schönbergs Klavierstücks op. 11, No. 2 korrigierendeingreift und eine Bearbeitung des Stücks anfertigt, empfindet dies Schönberg als einewesentliche Veränderung der Farbwirkung und benutzt sogar eine eindeutiginstrumentatorische Terminologie, um dies Busoni zu verdeutlichen.

Es ist in diesem Zusammenhang interessant, einen Blick auf Schönbergs Entwurf einesgrösseren theoretischen Werks zu werfen, welches ca. 6 Jahre nach der  Harmonielehre

 begonnen wurde und den Arbeitstitel trägt Zusammenhang – Kontrapunkt – Instrumentation – 

Formenlehre. Darin widmet er sich ausgiebig verschiedenen Instrumentationsfragen undkommt zu Schluss, dass die wahre Grundlage für alle Instrumentation der Satz sei. Vorerstmüsse also der Schüler wissen, wie ein Satz beschaffen sein muss, der sich für diese oder jeneInstrumentenzusammenstellung eignet. So rücken „Satzkunst“ (Tonsatz, Kontrapunkt) und„Setzkunst“ (Instrumentation) folgerichtig zusammen und werden auch imKompositionsprozess enger verbunden, was in Schönbergs Forderung kulminiert, man solledirekt „für’s Orchester erfinden.“

Eine Erweiterung des Klangfarbenbegriffs als Zusammenwirken von harmonischen undinstrumentatorischen Phänomenen ergibt sich auch stringent aus der Argumentationslinie vonSchönbergs Harmonielehre. In den Kapiteln vor der „Klangfarbenmelodie“ widmet er sichder Frage der „Emanzipation der Dissonanz“. Da sich aufgrund der naturgegebenenTeiltonreihe, die grob gesehen alle Intervalle enthält, ein wesentlicher Unterschied zwischenKonsonanz und Dissonanz nicht mehr aufrechterhalten lässt, sondern höchstens eine graduelleAbstufung, wird aus der Dissonanz eine „fernere Konsonanz“. Natürlich war Schönberg keinSpektralist und seine Argumentationsweise hat eher apologetischen Charakter, doch bedeutetdies in logischer Konsequenz, dass jeder Akkord gewissermassen als künstlich nachgebildeter 

Ausschnitt eines Teiltonspektrums betrachtet werden kann. Schönbergs Äusserung der Klangfarbe als das grosse Gebiet und der Tonhöhe als eine Dimension davon steht in völliger Übereinstimmung mit der von Helmholtz ausgehenden und bis heute gültigen These, dass dieTeiltöne unsere Klangfarbenwahrnehmung und einer davon, der Grundton, dieTonhöhenwahrnehmung bestimmen. Diese neuen entfernteren Tonbeziehungen als „Farben“zu bezeichnen, liegt terminologisch also sehr nahe.

Ernst Kurth, der bedeutende Berner Musikwissenschafter und Schönberg-Zeitgenosseunterscheidet in seiner  Musikpsychologie denn auch zwei Arten der Farbigkeit, „dieinstrumentalen wie die  harmonischen Farben“, wobei in der Harmonik insbesondere dieKlangbewegung als Farbveränderungen wahrgenommen werden könne. Analog betont

6 Schönberg in einem Brief an Busoni vom 26.7.1909.7 Schönberg in einem Brief an Busoni vom 25.8.19098 Vgl. Stuckenschmitt

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Adorno in seiner Darmstädter Vorlesung die Wichtigkeit der Klangfarbenrelationen auf demGebiet der Instrumentation.

Dadurch wird sowohl die instrumentale als auch harmonische Klangfarbe zu einem Faktor der Formbildung. Auch Schönberg scheint dies bewusst zu sein, wenn er Richard Strauss über 

seine Orchesterstücke op. 16 schreibt: F „Ich verspreche mir allerdings kolossal vieldavon, insbesondere Klang und Stimmung. Nur um das handelt es sich--absolut nichtsymphonisch, direkt das Gegenteil davon, keine Architektur, kein Aufbau. Bloß einbunter, ununterbrochener Wechsel von Farben, Rhythmen und Stimmungen.“9 

Impliziert also die „Klangfarbenmelodie“ auch einen Formbegriff?

Bis anhin kaum Beachtung fand eine der ersten musikwissenschaftlichen Rezeptionen desBegriffs „Klangfarbenmelodie“ durch Ernst Kurth. In seinem Buch Romantische Harmonik 

und ihre Krise in Wagners Tristan bringt er den Begriff in Zusammenhang mit Wagnersunendlicher Melodie und schreibt: F „Der Ausdruck „Klangfarbenmelodien“ von

Schönberg trifft den Kern der Erscheinung, braucht aber nicht auf die modernsteimpressionistische Richtung beschränkt zu bleiben. Fluss der Linien und Fluss derFarben sind von den Tiefen her gleichen Ursprungs. Auch bleibt vor allem zu beachten,dass hier nicht die einzelnen harmonischen Klangfarben, sondern vornehmlich dieFortschreitungswirkungen zwischen ihnen das Wesentliche sind […].“10 

Schönberg selbst hat sich zum Begriff erst wieder im Todesjahr 1951 geäussert und zwar unter Umständen, die eine vorsichtige Bewertung seiner Aussagen erfordern. Nichtsdestotrotzdeckt sich seine Auslegung des Begriffs verblüffend mit derjenigen Kurths:

F „Aber insbesondere müsste es jedem klar sein, dass ich an Folgen von Klangfarbengedacht habe, die der innern Logik von Harmoniefolgen gleichkommen. Melodien habeich sie genannt, weil sie im selben Maße geformt sein müssten, wie Melodien, jedochnach eigenen, ihrer Natur entsprechenden Gesetzen. […] Denn sicherlich würden Folgenvon Klangfarben andere Konstruktionen erfordern, als Tonfolgen, oder alsHarmoniefolgen. Denn sie wären all das und noch dazu spezifische Klänge.Klangfarbenmelodien würden eine besondere Organisation erfordern, die vielleicht einegewisse Ähnlichkeit mit anderen musikalischen Formen aufwiese, aber doch aus demUmstand, dass die Erfordernisse eines neuen Faktors: den Klängen Konsequenzenziehen müssten. […]“11 

 Noch deutlicher wird er in einem Brief an Dallapiccola aus dem selben Jahr:F „Denn ich meinte etwas anderes unter Klänge, un[d] vor allem aber, unter Melodie.An Klängen, wie ich sie hier meinte, würden solche Einzel-Erschienungen in meinenfrüheren Kompositionen in Betracht kommen, wie etwa die Gruftszene aus Pelleas undMelisande, oder vieles aus der Einleitung zum vierten Satz meines zweitenStreichquartetts, oder die Figur aus dem zweiten Klavierstück, die Busoni in seinerBearbeitung so oft wiederholt hat und vieles andere. Das sind niemals bloss einzelneTöne verschiedener Instrumente zu verschiedenen Zeiten, sondern Kombinationenbewegter Stimmen. Aber das sind noch keine Melodien, sondern Einzelerscheinungeninnerhalb einer Form der sie untergeordnet sind. Melodien werden es wenn man

9 Schönberg an Strauss, 14.7.1909.10 Ernst Kurth: Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners „Tristan“, Hildesheim 1998, S. 565f.11 Arnold Schönberg, Anton Webern: Klangfarbenmelodie, 1951

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Gesichtspunkte fände, sie so anzuordnen, dass sie eine konstruktive Einheit bilden, vonunbedingter Selbstständigkeit, eine Organisation, die sie nach ihren Eigenwertenverbindet.“12 

Genau diese „Kombinationen bewegter Stimmen“ sind offenbar auch Wassily Kandinsky

aufgefallen, der 1911 in einem Konzert in München die von Schönberg oben zitierten Werke,nämlich das Zweite Streichquartett op. 10 und die Drei Klavierstücke op. 11 gehört hatte. Inseinem ersten Brief an Schönberg schreibt er: F „Sie haben in ihren Werken dasverwirklicht, wonach ich in freilich unbestimmter Form in der Musik so eine grosseSehnsucht hatte. […] das eigene Leben der einzelnen Stimmen in Ihren Kompositionen,ist gerade das, was auch ich in malerischer Form zu finden versuche.“13 

Der amerikanische Musikwissenschafter Alfred Cramer 14 hat versucht, die in SchönbergsBrief an Dallapiccola erwähnten Werkpassagen genauer zu identifizieren. Auffällig isterstens, dass Schönberg auch Beispiele von monochromen Klangkörpern wie Streichquartettoder gar Klavier als „Klangfarbenmelodien“ bezeichnet. Zweitens weist Cramer darauf hin,

dass die vermutlich gemeinten Passagen alle polyphon seien. Polyphon ist vielleicht etwas zuviel gesagt, sicher ist, dass es sich bei all diesen neuen Klängen um instrumentatorischunauffällige, ja klanglich relativ durchsichtige, um nicht zu sagen dünne Komplexe bewegter Stimmen handelt.

12 Schönberg in einem Brief an Dallapiccola vom 19.1.1951.13 Brief Kandinskys an Schönberg vom 18. 1. 1911, in: Jelena Hahl-Koch, Arnold Schönberg, WassilyKandinsky. Briefe, Bilder und Dokumente einer aussergewöhnlichen Begegnung. Mit einem Essay von Hartmut 

 Zelinsky, Salzburg und Wien 1983, S. 19.14 Alfred Cramer: ……. Music Theory Spectrum 24/1 (Spring 2002): 1-34

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 Entscheidend ist also nicht nur die Verbindung von Harmonik und Instrumentation imübergeordneten Begriff der Klangfarbe, sondern durch die Verknüpfung mit dem Begriff der Melodie auch die wie es Adorno genannt hat „Identität des Klangs und der Struktur.“Klang ist nicht mehr isolierbares punktuelles Phänomen, sondern ein Komplex

unterschiedlicher Teile, ein Zusammenwirken verschiedener Parameter mit einer Eigenzeit,einer Struktur und vielleicht am wichtigsten: Klang ist nicht etwas Gegebenes, sondern mussvom Komponisten erst erschaffen werden. Klang ist Form – wer hier an HelmutLachenmanns „Strukturklang“ denkt, liegt vielleicht gar nicht so fern.

Leonid Sabanejew beschreibt in seinem Beitrag zu Kandinskys Almanach  Der   Blaue Reiter  eine analoge Wahrnehmung beim Hören von Skrjabins Prometheus: F „Der Zuhörer, dersich in die Welt dieser Harmonien vertieft hat und ihre ‚konsonierende’ Natur fühlt,fängt an, das ganze Gewebe des Prometheus als etwas in hohem Grade Durchsichtigeszu sehen: es wird klar, dass Prometheus unendlich einfach ist und vollkommen‚konsonierend’, so dass hier keine einzige Dissonanz zu finden ist. […] alle melodischen

Stimmen sind auf den Klängen der begleitenden Harmonie gebaut, alle Kontrapunktesind demselben Prinzip untergeordnet. Nur diese Tatsache gibt die Möglichkeit […], zurselben Zeit fünf bis sechs verschiedene Themata und den thematischen Ursprung derFiguren zu vereinigen. In der ganzen Weltliteratur ist Prometheus das kompliziertestepolyphone und zur selben Zeit in seinem Gewebe durchsichtigste Werk“.15 

Hier verschmilzt tatsächlich eine komplexe Polyphonie zum Klang, verschmelzen Dissonanzund Konsonanz zu höherer Einheit und lösen sich auf in ein faszinierendes Farbenspiel der Klänge. Sabanejew beschreibt im Grunde genommen Schönbergs Ideal einer „Einheit desmusikalischen Raumes“, wo Melodie und Harmonie eine untrennbare Einheit bilden. In einemText über Polyphonie von 192816 schreibt Schönberg, dass zwar in der freien Atonalität dieLinearität der Stimmen primär sei, doch die dadurch entstehenden Zusammenklänge alsFärbungen wirksam würden. In der Zwölftontechnik würden sich schliesslich Klang undLinearität einer einheitlichen Auffassung unterordnen.

Die Idee der „Klangfarbenmelodie“, die sowohl die Einzelfarbe wie auch deren formbildendeFunktion, der Klang und die Linie umfasst, kann also als eine frühe Ausformulierung der einheitlichen Wahrnehmung des musikalischen Raumes angesehen werden. Das mag eineBegründung sein, warum Schönberg nicht schon in der  Harmonielehre konkrete Beispielevon „Klangfarbenmelodien“ gegeben hat, sondern vielmehr wörtlich von einer „Zukunftsphantasie“ sprach.

Es gibt dafür aber noch eine andere Erklärung, denn Schönbergs Begriff trägt auch eindeutigkunstutopische und weltanschauliche Aspekte und verlässt den gewohnten Blickwinkel einer Harmonielehre. Schon mit den Zitaten von Ernst Kurth und Leonid Sabanejew haben wir dieEbene der Harmonielehre und des kompositorischen Handwerks verlassen – in Richtung einer Reflexion über Wahrnehmungsphänomene. Vielmehr nähern wir uns wieder KandinskysKlangbegriff an, der ihn in dieser Zeit ungefähr gleichbedeutend mit „Wirkung“ verwendethat, also „Klang“ eine spezifische Wahrnehmungsqualität. Interessanterweise lässtSchönbergs Zeitgenosse Josef Matthias Hauer den Begriff „Klangfarbenmelodie“ausschliesslich so gelten und verneint eine konkrete kompositionstechnische Bedeutung.

15 Leonid Sabanejew, »Prometheus von Skrjabin«, in: Wassily Kandinsky und Franz Marc (Hrsg), Der Blaue

 Reiter , München 1965, S. 117.16 Linearer Kontrapunkt – lineare Polyphonie, ASC T.35.36.

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