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FRANZ KAFKA Briefe 1902 – 1924

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Kafkas Briefen

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Page 1: Breife1902-1924

FRANZ KAFKA

Briefe 1902 – 1924

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1900

An Selma K.(Eintragung in ein Album)

Wie viel Worte in dem Buche stehn!Erinnern sollen sie! Als ob Worte erinnern könnten!Denn Worte sind schlechte Bergsteiger und schlechte Bergmänner. Sie holen nicht die Schätze vonden Bergeshöhn und nicht die von den Bergestiefen!Aber es gibt ein lebendiges Gedenken, das über alles Erinnerungswerte sanft hinfuhr wie mitkosender Hand. Und wenn aus dieser Asche die Lohe aufsteigt, glühend und heiß, gewaltig undstark und Du hineinstarrst, wie vom magischen Zauber gebannt, dann - - -Aber in dieses keusche Gedenken, da kann man sich nicht hineinschreiben mit ungeschickter Handund grobem Handwerkszeug, das kann man nur in diese weißen, anspruchslosen Blätter. Das thatich am 4. September 1900.

Franz Kafka

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1902

An Oskar Pollak(Prag, 4. Februar I902)

Als ich Samstag mit Dir ging, da ist es mir klar geworden, was wir brauchen. Doch schreibe ich Direrst heute, denn solche Dinge müssen liegen und sich ausstrecken. Wenn wir miteinander reden: dieWorte sind hart, man geht über sie wie über schlechtes Pflaster. Die feinsten Dinge bekommenplumpe Füße und wir können nicht dafür. Wir sind einander fast im Wege, ich stoße mich an Dirund Du - ich wage nicht, und Du -. Wenn wir zu Dingen kommen, die nicht gerade Straßensteineoder »Kunstwart« sind, sehn wir plötzlich, daß wir Maskenkleider mit Gesichtslarven haben, miteckigen Gesten agieren (ich vor allem, ja) und dann werden wir plötzlich traurig und müde. WarstDu schon mit jemandem so müde wie mit mir? Du wirst oft erst recht krank. Dann kommt meinMitleid und ich kann nichts tun und nichts sagen und es kommen krampfhafte, läppische Worteheraus, die Du beim nächsten besten bekommst und besser bekommst, dann schweige ich und Duschweigst und Du wirst müde und ich werde müde und alles ist ein dummer Katzenjammer und eslohnt nicht, die Hand zu rühren. Aber keiner will es dem andern sagen aus Scham oder Furcht oder- Du siehst, wir fürchten einander, oder ich -.Ich verstehe es ja, wenn man jahrelang vor einer häßlichen Mauer steht und sie so gar nichtabbröckeln will, dann wird man müde. Ja aber sie fürchtet für sich, für den Garten (wenn einer), Duaber wirst ärgerlich, gähnst, bekommst Kopfschmerzen, kennst Dich nicht aus.Du mußt doch gemerkt haben, immer wenn wir nach längerer Zeit einander sehn, sind wirenttäuscht, verdrießlich, bis wir uns an die Verdrießlichkeit gewöhnt haben. Wir müssen dannWorte vorhalten, damit man das Gähnen nicht sieht.- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -Ich habe Angst bekommen, daß Du den ganzen Brief nicht verstehst, was will er? Ohne Schnörkelund Schleier und Warzen: Wenn wir miteinander reden, sind wir behindert durch Dinge, die wirsagen wollen und nicht so sagen können, sondern so herausbringen, daß wir einander mißverstehn,gar überhören, gar auslachen (ich sage: der Honig ist süß, aber ich sage es leise oder dumm oderschlecht stilisiert und Du sagst: Heute ist schönes Wetter. Das ist schon eine schlechteGesprächswendung), da wir das fortwährend versuchen und es niemals gelingt, so werden wirmüde, unzufrieden, hartmäulig. Wenn wir es zu schreiben versuchten, würden wir leichter sein, alswenn wir miteinander reden, - wir könnten ganz ohne Scham von Straßensteinen und »Kunstwart«reden, denn das Bessere wäre in Sicherheit. Das will der Brief. Ist das ein Einfall der Eifersucht?

Ich konnte nicht wissen, daß Du auch die letzte Seite lesen wirst und so habe ich diesesEigentümliche hergekritzelt, obwohl es nicht zum Brief gehört.Wir reden drei Jahre miteinander, da unterscheidet man bei manchen Dingen nicht mehr das Meinund Dein. Ich könnte oft nicht sagen, was aus mir oder aus Dir ist, und Dir wird es vielleicht auchso gehn.Nun bin ich wunderbar froh, daß Du mit dem Mädchen umgehst. Deinetwegen, mir ist siegleichgültig. Aber Du sprichst oft mit ihr, nicht nur des Sprechens wegen. Da kann es geschehn, Dugehst mit ihr irgendwo da oder dort oder in Rostok und ich sitze am Schreibtisch zu Hause. Dusprichst mit ihr und mitten im Satz springt einer auf und macht eine Verbeugung. Das bin ich mitmeinen unbehauenen Worten und viereckigen Mienen. Das dauert einen Augenblick und schonsprichst Du weiter. Ich sitze am Schreibtisch zu Hause und gähne. Mir ist es schon so gegangen.Kämen wir da nicht von einander los? Ist das nicht seltsam? Sind wir Feinde? Ich habe Dich sehrlieb.

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An Oskar Pollak(Liboch, Ankunftstempel: 12. VIII. 1902)

Wenn einer durch die Welt fliegt mit Siebenmeilenstiefeln, von böhmischen zu thüringischenWäldern, da kostets rechte Mühe, ihn zu fassen oder auch nur sein Mantelzipfelchen zu betupfen.Darob mag er nicht böse sein. So ist es jetzt auch für Ilmenau zu spät. Aber in Weimar - ist amEnde auch dabei eine Absicht? - wird Dich ein Brief erwarten, vollgestopft mit seltsamen Dingen,die gar durch das lange Liegen am besagten Ort kräftiger und feiner werden. Wir wollens hoffen,

Dein FranzAn Oskar Pollak

(Prag, Ankunftstempel: 24. VIII. 1902)Ich saß an meinem schönen Schreibtisch. Du kennst ihn nicht. Wie solltest Du auch. Das istnämlich ein gut bürgerlich gesinnter Schreibtisch, der erziehen soll. Der hat dort, wo gewöhnlichdie Knie des Schreibers sind, zwei erschreckliche Holzspitzen. Und nun gib acht. Wenn man sichruhig setzt, vorsichtig, und etwas gut Bürgerliches schreibt, dann ist einem wohl. Aber wehe, wennman sich aufregt und der Körper nur ein wenig bebt, dann hat man unausweichlich die Spitzen inden Knien und wie das schmerzt. Ich könnte Dir die dunkelblauen Flecken zeigen. Und was will.das nun bedeuten: »Schreibe nichts Aufgeregtes und laß Deinen Körper nicht zittern dabei.«Ich saß also an meinem schönen Schreibtisch und schrieb den zweiten Brief an Dich. Du weißt, einBrief ist wie ein Leithammel, gleich zieht er zwanzig Schafbriefe nach.Hu, flog da die Tür auf Wer kam da herein; ohne anzuklopfen. Ein unhöflicher Patron. Ah, einviellieber Gast. Deine Karte. Es ist eigentümlich mit dieser ersten Karte, die ich hier bekam.Unzähligemal habe ich sie gelesen, bis ich Dein ganzes a-b-c kannte, und erst, als ich mehrherauslas, als darin stand, dann war es Zeit aufzuhören und meinen Brief zu zerreißen. Ritz-ratzmachte er und war tot.Eines las ich freilich, was breit darinnen stand und gar nicht schön zu lesen war: mit dem bösenverfluchten Kritikus im Leib fährst Du durchs Land und das soll man niemals tun.Aber ganz und gar verkehrt und falsch scheint mir das, was Du vom Goethe-Nationalmuseumschreibst. Mit Einbildungen und Schulgedanken bist Du hineingegangen, hast gleich am Namen zumäkeln angefangen. Freilich der Name »Museum« ist gut, aber »National« scheint mir noch besser,aber beileibe nicht als Geschmacklosigkeit oder Entheiligung oder dergleichen, wie Du schreibst,sondern als feinste wunderfeinste Ironie. Denn was Du vom Arbeitszimmer, DeinemAllerheiligsten, schreibst, ist wieder nichts anderes als eine Einbildung und ein Schulgedanke undein klein wenig Germanistik, in der Hölle soll sie braten.Das war, beim Teufel, eine Leichtigkeit, das Arbeitszimmer in Ordnung zu halten und es dann zueinem »Museum« für die »Nation« zu arrangieren. Jeder Zimmermann und Tapezierer - wenn esein rechter war, der Goethes Stiefelknecht zu schätzen wußte � konnte das und alles Lobes war eswert.Weißt Du aber, was das Allerheiligste ist, das wir überhaupt von Goethe haben können, alsAndenken ... die Fußspuren seiner einsamen Gänge durch das Land .. . die wären es. Und nunkommt ein Witz, ein ganz vortrefflicher, bei dem der liebe Herrgott bitterlich weint und die Hölleganz höllische Lachkrämpfe bekommt � das Allerheiligste eines Fremden können wir niemalshaben, nur das eigene - das ist ein Witz, ein ganz vortrefflicher. In ganz winzigen Stücklein habeich Dir ihn schon einmal angebissen - in den Chotekschen Anlagen, Du hast weder geweint nochgelacht, Du bist eben weder der liebe Herrgott noch der böse Teufel.Nur der böse Kritikus (Verhunzung Thüringens) lebt in Dir und das ist ein untergeordneter Teufel,den man aber doch loswerden sollte. Und so will ich Dir zu Nutz und Frommen die absonderlicheGeschichte erzählen, wie weyland..., den Gott selig habe, von Franz Kafka überwunden wurde.Lief mir der immer nach, wo ich lag und stand. Wenn ich auf der Weinbergsmauer lag und übersLand sah und vielleicht etwas Liebes schaute oder hörte dort weit hinter den Bergen, so kannst Du

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sicher sein, daß sich plötzlich jemand mit ziemlichem Geräusch hinter der Mauer erhob, feierlichmäh mäh sagte und gravitätisch seine treffende Ansicht zum Ausdruck brachte, daß die schöneLandschaft entschieden einer Behandlung bedürftig sei. Er explizierte den Plan einer gründlichenMonographie oder einer lieblichen Idylle ausführlich und bewies ihn wirklich schlagend. Ichkonnte ihm nichts entgegensetzen als mich und das war wenig genug.- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -...Du kannst Dir nicht denken, wie mich das alles jetzt quält. Galgenlustigkeit und Landluft ist alles,was ich Dir geschrieben habe, und greller Tag, der in die Augen sticht, ist das, was ich Dir schreibe.Der Onkel aus Madrid (Eisenbahndirektor) war hier, seinetwegen war ich auch in Prag. Kurz vorseiner Ankunft hatte ich den wunderlichen, leider sehr wunderlichen Einfall, ihn zu bitten, neinnicht zu bitten, zu fragen, ob er mir nicht zu helfen wüßte aus diesen Dingen, ob er mich nichtirgendwohin führen könnte, wo ich schon endlich frisch Hand anlegen könnte. Nun gut, ich fingvorsichtig an. Es ist unnötig, Dir das ausführlich zu erzählen. Er fing salbungsvoll zu sprechen an,obwohl er sonst ein ganz lieber Mensch ist, tröstete mich, gut, gut. Streusand drauf. Ich schwiegsofort, ohne es eigentlich zu wollen, und ich habe in den zwei Tagen, die ich seinethalben in Pragbin, obwohl ich die ganzen Tage bei ihm bin, nicht mehr davon gesprochen. Heute Abend fährt erweg. Ich fahre noch auf eine Woche nach Liboch, dann auf eine Woche nach Triesch, dann nachPrag wieder und dann nach München, studieren, ja studieren. Warum schneidest Du Grimassen? Ja,ja, ich werde studieren. Warum schreibe ich Dir eigentlich das alles. Ich wußte ja vielleicht, daß dashoffnungslos war, wozu hätte man seine eigenen Füße. Warum schrieb ich Dirs? Damit Du weißt,wie ich zu dem Leben stehe, das da draußen über die Steine stolpert, wie die arme Postkutsche, dievon Liboch nach Dauba humpelt. Du mußt eben Mitleid und Geduld haben mit

Deinem Franz

Da ich sonst niemandem geschrieben habe, so wäre es mir unangenehm, wenn Du zu jemandemvon meinen endlosen Briefen reden würdest. Du tust es nicht. - Wenn Du mir antworten willst, wasgar lieb wäre, so kannst Du das noch eine Woche unter der alten Adresse, Liboch-Windischbauer,später Prag, Zeltnergasse Nr.3.

An Oskar Pollak(Herbst 1902)

Es ist eine wunderliche Zeit, die ich hier verbringe, das wirst du schon bemerkt haben und ich habeso eine wunderliche Zeit gebraucht, eine Zeit, in der ich stundenlang auf einer Weinbergmauerliege und in die Regenwolken starre, die nicht weg wollen von hier oder in die weiten Felder, dienoch weiter werden, wenn man einen Regenbogen in den Augen hat oder wo ich im Garten sitzeund den Kindern (besonders eine kleine blonde sechsjährige, die Frauen sagen. sie sei herzig)Märlein erzähle oder Sandburgen baue oder Verstecken spiele oder Tische schnitze, die - Gott seimein Zeuge - niemals gut geraten. Wunderliche Zeit, nicht?Oder wo ich durch die Felder gehe, die jetzt ganz braun und wehmütig dastehen mit denverlassenen Pflügen und die doch ganz silbrig aufleuchten, wenn dann trotz allem die späte Sonnekommt und meinen langen Schatten (ja meinen langen Schatten, vielleicht komm ich noch durchihn ins Himmelreich) auf die Furchen wirft. Hast Du schon gemerkt, wie Spätsommerschatten aufdurchwühlter dunkler Erde tanzen, wie körperhaft sie tanzen. Hast Du schon gemerkt, wie sich dieErde entgegen hebt der fressenden Kuh, wie zutraulich sie sich entgegenhebt? Hast Du schongemerkt, wie schwere fette Ackererde unter den allzu feinen Fingern zerbröckelt, wie feierlich siezerbröckelt?

An Oskar Pollak

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(Prag, Stempel: 20. XII. 1902)Prag läßt nicht los. Uns beide nicht. Dieses Mütterchen hat Krallen. Da muß man sich fügen oder -.An zwei Seiten müßten wir es anzünden, am Vy�ehrad und am Hradschin, dann wäre es möglich,daß wir loskommen. Vielleicht überlegst Du es Dir bis zum Karneval. Du hast schon viel gelesen,aber die vertrackte Geschichte vom schamhaften Langen und vom Unredlichen in seinem Herzenkennst Du nicht. Denn sie ist neu und sie ist schwer zu erzählen.Der schamhafte Lange war in einem alten Dorf verkrochen zwischen niedrigen Häuschen undengen Gäßchen. So schmal waren die Gäßchen, daß, wenn zwei zusammen gingen, sie sichfreundnachbarlich aneinander reiben mußten, und so niedrig waren die Stuben, daß, wenn derschamhafte Lange von seinem Hockstuhl sich aufreckte, er mit seinem großen eckigen Schädelgeradewegs durch die Decke fuhr und ohne sonderliche Absicht auf die Strohdächer niederschauenmußte.Der Unredliche in seinem Herzen, der wohnte in einer großen Stadt, die betrank sich Abend fürAbend und war rasend Abend für Abend. Dieses ist nämlich der Städte Glück. Und wie die Stadtwar, so war auch der Unredliche in seinem Herzen. Dieses ist nämlich der Unredlichen Glück.Vor Weihnachten einmal saß der Lange geduckt beim Fenster. In der Stube hatten seine Beinekeinen Platz; so hatte er sie bequem aus dem Fenster gestreckt, dort baumelten sie vergnüglich. Mitseinen ungeschickten magern Spinnenfingern strickte er wollene Strümpfe für die Bauern. Diegrauen Augen hatte er fast auf die Stricknadeln gespießt, denn es war schon dunkel.Jemand klopfte fein an die Plankentür. Das war der Unredliche in seinem Herzen. Der Lange rißdas Maul auf. Der Gast lächelte. Und schon begann sich der Lange zu schämen. Seiner Längeschämte er sich und seiner wollenen Strümpfe und seiner Stube. - Aber bei alledem wurde er nichtrot, sondern blieb zitronengelb wie zuvor. Und mit Schwierigkeit und Scham setzte er seineKnochenbeine in Gang und streckte schämig dem Gast die Hand entgegen. Die langte durch dieganze Stube. Dann stotterte er etwas Freundliches in die wollenen Strümpfe hinein.Der Unredliche in seinem Herzen setzte sich auf einen Mehlsack und lächelte. Auch der Langelächelte und seine Augen krabbelten verlegen an den glänzenden Westenknöpfen des Gastes. Derdrehte die Augenlider in die Höhe und die Worte gingen aus seinem Mund.Das waren feine Herren mit Lackschuhen und englischen Halsbinden und glänzenden Knöpfen, undwenn man sie heimlich fragte: »Weißt du, was Blut aus Blut ist?«, so antwortete einer anzüglich:»Ja, ich habe englische Halsbinden.« Und kaum waren die Herrchen aus dem Munde draußen,stellten sie sich auf die Stiefelspitzen und waren groß, dann tänzelten sie zum Langen hin, klettertenzwickend und beißend an ihm hinauf und stopften sich ihm mühselig in die Ohren.Da begann der Lange unruhig zu werden, die Nase schnupperte in der Stubenluft. Gott, was war dieLuft so stickig, mufig, ungelüftet!Der Fremde hörte nicht auf. Er erzählte von sich, von Westenknöpfen, von der Stadt, von seinenGefühlen -, bunt. Und während er erzählte, stach er nebenbei seinen spitzen Spazierstock demLangen in den Bauch. Der zitterte und grinste, - da hörte der Unredliche in seinem Herzen auf, erwar zufrieden und lächelte, der Lange grinste und führte den Gast manierlich bis zur Plankentür,dort reichten sie sich die Hände.Der Lange war wieder allein. Er weinte. Mit den Strümpfen wischte er sich die großen Tränen ab.Sein Herz schmerzte ihn und er konnte es niemandem sagen. Aber kranke Fragen krochen ihm vonden Beinen zur Seele hinauf.Warum ist er zu mir gekommen? Weil ich lang bin? Nein, weil ich...?Weine ich aus Mitleid mit mir oder mit ihm?Hab ich ihn am Ende lieb oder haß ich ihn?Schickt ihn mein Gott oder mein Teufel?So drosselten den schamhaften Langen die Fragezeichen.Wieder nahm er die Strümpfe vor. Fast bohrte er sich die Stricknadeln in die Augen. Denn es warnoch dunkler.

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Also überleg es Dir bis zum Karneval.Dein Franz

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1903

An Oskar Pollak6. 9. (1903?)

Es wäre vielleicht klug gewesen, wenn ich mit diesem Brief gewartet hätte, bis ich Dich sähe undwüßte, was die zwei Monate aus Dir gemacht haben, denn mich - glaube ich - bringen diese Monateim Sommer am meisten merklich von der Stelle. Und dann habe ich in diesem Sommer auch nichtein Kärtchen von Dir bekommen, und dann habe ich auch das letzte halbe Jahr kein Wort mit dirgesprochen, das der Mühe wert gewesen wäre. Es ist also wohl möglich, daß ich den Brief da aneinen Fremden schicke, der sich über Zudringlichkeit ärgert, oder an einen Toten, der ihn nichtlesen kann, oder an einen Klugen, der über ihn lacht. Aber ich muß den Brief schreiben, darumwarte ich nicht erst, bis ich etwa sähe, daß ich den Brief nicht schreiben darf.Denn ich will von Dir etwas, und will es nicht aus Freundschaft oder aus Vertrauen, wie manvielleicht denken könnte, nein, nur aus Eigennutz, nur aus Eigennutz.Es ist möglich, daß Du merktest, daß ich in diesen Sommer mit blauen Hoffnungen ging, es istmöglich, daß Du auch von ferne merktest, was ich wollte von diesem Sommer, ich sage es: das,was ich in mir zu haben glaube (ich glaube es nicht immer), in einem Zug zu heben. Du konntest esnur von ferne merken und ich hätte Dir die Hände küssen müssen dafür, daß Du mit mir gingst,denn mir wäre es unheimlich gewesen, neben einem zu gehn, dessen Mund böse verkniffen ist.Aber er war nicht böse.Die Lippen nun hat mir der Sommer ein wenig auseinandergezwängt - ich bin gesünder geworden -(heute ist mir nicht ganz wohl), ich bin stärker geworden, ich war viel unter Menschen, ich kannmit Frauen reden - es ist nötig, daß ich das alles hier sage -, aber von den Wunderdingen hat mir derSommer nichts gebracht.Jetzt aber reißt mir etwas die Lippen ganz auseinander, oder ist es sanft, nein, es reißt, und jemand,der hinter dem Baum steht, sagt mir leise: »Du wirst nichts tun ohne andere«, ich aber schreibe jetztmit Bedeutung und zierlichem Satzbau: »Einsiedelei ist widerlich, man lege seine Eier ehrlich voraller Welt, die Sonne wird sie ausbrüten; man beiße lieber ins Leben statt in seine Zunge; man ehreden Maulwurf und seine Art, aber man mache ihn Dicht zu seinem Heiligen.« Da sagt mir jemand,der nicht mehr hinter dem Baume ist: »Ist das am Ende wahr und ein Wunderding des Sommers?«(Hört nur, hört eine kluge Einleitung eines listigen Briefes. Warum ist sie klug? Ein Armer, derbisher nicht gebettelt hatte, schreibt einen Bettelbrief, in dessen breiter Einleitung er mit seufzendenWorten den so mühseligen Weg beschreibt, der zu der Erkenntnis führte, daß Nichtbetteln einLaster sei.)Du, verstehst Du das Gefühl, das man haben muß, wenn man allein eine gelbe Postkutsche vollschlafender Menschen durch eine weite Nacht ziehn muß? Man ist traurig, man hat ein paar Tränenim Augenwinkel, schleppt sich langsam von einem weißen Meilenstein zum andern, hat einenkrummen Rücken und muß immer die Landstraße entlang schauen, auf der doch nichts ist alsNacht. Zum Kuckuck, wie wollte man die Kerle aufwecken in der Kutsche, wenn man ein Posthornhätte.Du, jetzt kannst Du mir zuhören, wenn Du nicht müde bist.Ich werde Dir ein Bündel vorbereiten, in dem wird alles sein, was ich bis jetzt geschrieben habe,aus mir oder aus andern. Es wird nichts fehlen, als die Kindersachen (Du siehst, das Unglück sitztmir von früh an auf dem Buckel), dann das, was ich nicht mehr habe, dann das, was ich auch fürden Zusammenhang für wertlos halte, denn die Pläne, denn die sind Länder für den, der sie hat, undSand für die andern, und endlich das, was ich auch Dir nicht zeigen kann, denn man schauertzusammen, wenn man ganz nackt dasteht und ein anderer einen betastet, auch wenn man darum aufden Knien gebeten hat. Übrigens, ich habe das letzte halbe Jahr fast gar nichts geschrieben. Das

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also, was übrig bleibt, ich weiß nicht, wieviel es ist, werde ich Dir geben, wenn Du mir ein Jaschreibst oder sagst auf dieses hin, was ich von Dir will.Das ist nämlich etwas Besonderes, und wenn ich auch sehr ungeschickt im Schreiben solcher Dingebin (sehr unwissend), vielleicht weißt Du es schon. Ich will von Dir keine Antwort darauf haben,ob es eine Freude wäre hier zu warten oder ob man leichten Herzens Scheiterhaufen anzündenkönnte, ja ich will nicht einmal wissen, wie Du zu mir stehst, denn auch das müßte ich Dirabzwingen, also ich will etwas Leichteres und Schwereres, ich will, daß Du die Blätter liest, sei esauch gleichgültig und widerwillig. Denn es ist auch Gleichgültiges und Widerwilliges darunter.Denn � darum will ich es - mein Liebstes und Härtestes ist nur kühl, trotz der Sonne, und ich weiß,daß zwei fremde Augen alles wärmer und regsamer machen werden, wenn sie darauf schauen. Ichschreibe nur wärmer und regsamer, denn das ist gottsicher, da geschrieben steht: »Herrlich istselbständig Gefühl, aber antwortend Gefühl macht wirkender.«Nun warum soviel Aufhebens, nicht - ich nehme ein Stück (denn ich kann mehr, als ich dir gebe,und ich werde - ja) ein Stück von meinem Herzen, packe es sauber ein in ein paar Bogenbeschriebenen Papiers und gebe es Dir.

An Oskar Pollak(9. November 1903)

Lieber Oskar!Ich bin vielleicht froh, daß Du weggefahren bist, so froh wie die Menschen sein müßten, wennjemand auf den Mond kletterte, um sie von dort aus anzusehen, denn dieses Bewußtsein, von einersolchen Höhe und Ferne aus betrachtet zu werden, gäbe den Menschen eine wenn auch winzigeSicherheit dafür, daß ihre Bewegungen und Worte und Wünsche nicht allzu komisch und sinnloswären, solange man auf den Sternwarten kein Lachen vom Monde her hört.

- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -...Verlassen sind wir doch wie verirrte Kinder im Walde. Wenn Du vor mir stehst und michansiehst, was weißt Du von den Schmerzen, die in mir sind und was weiß ich von den Deinen. Undwenn ich mich vor Dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüßtest Du von mirmehr als von der Hölle, wenn Dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich. Schon darum solltenwir Menschen vor einander so ehrfürchtig, so nachdenklich, so liebend stehn wie vor dem Eingangzur Hölle.

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Dein Brief ist halb traurig und halb froh. Du bist eben nicht zum Jungen gefahren, sondern zu denFeldern und zum Wald. Aber Du siehst sie, während wir zur Not ihr Frühjahr und ihren Sommersehn, aber von ihrem Herbst und ihrem Winter wissen wir nur gerade so viel wie von Gott in uns.Heute ist Sonntag, da kommen immer die Handelsangestellten den Wenzelsplatz hinunter über denGraben und schreien nach Sonntagsruhe. Ich glaube, ihre roten Nelken und ihre dummen undjüdischen Gesichter und ihr Schrein ist etwas sehr Sinnvolles, es ist fast so, wie wenn ein Kind zumHimmel wollte und heult und bellt, weil man ihm den Schemel nicht reichen will. Aber es will garnicht zum Himmel. Die andern aber, die auf dem Graben gehn und dazu lächeln, weil sie selbstihren Sonntag nicht zu nutzen verstehn, die möchte ich ohrfeigen, wenn ich dazu den Mut hätte undnicht selbst lächelte. Du aber auf Deinem Schloß darfst lachen, denn dort ist der Himmel der Erdenahe, wie Du schreibst.

Ich lese Fechner, Eckehart. Manches Buch wirkt wie ein Schlüssel zu fremden Sälen des eigenenSchlosses.Die Dinge, die ich Dir vorlesen wollte und die ich Dir schicken werde, sind Stücke aus einemBuch, »Das Kind und die Stadt«, das ich selbst nur in Stücken habe. Will ich sie Dir schicken, somuß ich sie überschreiben, und das braucht Zeit. So werde ich Dir immer ein paar Blättchen mitjedem Briefe schicken (wenn ich nicht sähe, daß die Sache sichtbar vorwärts geht, verginge mirbald die Lust daran), Du magst sie dann im Zusammenhang lesen, das erste Stück kommt mit demnächsten Brief.Übrigens ist schon eine Zeit lang nichts geschrieben worden. Es geht mir damit so: Gott will nicht,daß ich schreibe, ich aber, ich muß. So ist es ein ewiges Auf und Ab, schließlich ist doch Gott derStärkere Lmd es ist mehr Unglück dabei, als Du Dir denken kannst. So viele Kräfte sind in mir aneinen Pflock gebunden, aus dem vielleicht ein grüner Baum wird, während sie freigemacht mir unddem Staat nützlich sein könnten. Aber durch Klagen schüttelt man keine Mühlsteine vom Halse,besonders wenn man sie lieb hat.

Hier sind noch einige Verse. Lies sie in guten Stunden

Kühl und hart ist der heutige Tag.Die Wolken erstarren.Die Winde sind zerrende Taue.Die Menschen erstarren.Die Schritte klingen metallenAuf erzenen Steinen,Und die Augen schauenWeite weiße Seen.

In dem alten Städtchen stehnKleine hell Weihnachtshäuschen,Ihre bunten Scheiben sehnAuf das schneeverwehte Plätzchen.Auf dem Mondlichtplatze gehtStill ein Mann im Schnee fürbaß,Seinen großen Schatten wehtDer Wind die Häuschen hinauf.

Menschen, die über dunkle Brücken gehn,vorüber an Heiligenmit matten Lichtlein.

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Wolken, die über grauen Himmel ziehnvorüber an Kirchenmit verdämmernden Türmen.

Einer, der an der Quaderbrüstung lehntund in das Abendwasser schaut,die Hände auf alten Steinen.

Dein Franz

An Oskar Pollak(1903)

Lieber Oskar... Kühle Morgennachschrift zu einer schmerzlichen Abendverrücktheit. Ich sehe nichtsUnnatürliches darin, daß Du dem Weib nicht geholfen hast, das hätten vielleicht unverfälschteMenschen auch nicht getan. Aber unnatürlich ist, daß Du das durchgrübelst und Dich noch andiesem Durchgrübeln und an diesem Gegensatz freust, Dich noch an Deinem Zerhacken freust. Sospießt Du Dich an jedem kurzen Gefühlchen für lange Zeit auf; so daß man endlich nur eine Stundelebt, da man noch hundert Jahre über die Stunde nachdenken muß. Freilich, vielleicht leb ich dannüberhaupt nicht. Irgendwo hab ich einmal die Frechheit aufgeschrieben, daß ich rasch lebe, mitdiesem Beweis: »Ich sehe einem Mädchen in die Augen und es war eine sehr langeLiebesgeschichte mit Donner und Küssen und Blitz«, dann war ich eitel genug, aufzuschreiben :»Ich lebe rasch«. So wie ein Kind mit Bilderbüchern hinter einem verhängten Fenster. Manchmalerhascht es etwas von der Gasse durch eine Ritze und schon ist es wieder in seinen kostbarenBilderbüchern.- Bei Vergleichen bin ich gnädig gegen mich.

An Oskar Pollak(Prag, Stempel: 21. XII. 1903)

Nein, geschrieben will ich Dir noch haben, ehe Du selbst kommst. Wenn man einander schreibt, istman wie durch ein Seil verbunden, hört man dann auf; ist das Seil zerrissen, auch wenn es nur einBindfaden war, da will ich es also rasch und vorläufig zusammenknüpfen.Gestern abend hat mich nämlich dieses Bild gepackt. Nur dadurch, daß die Menschen alle Kräftespannen und einander liebend helfen, erhalten sie sich in einer leidlichen Höhe über einerhöllischen Tiefe, nach der sie wollen. Untereinander sind sie durch Seile verbunden, und bös ist esschon, wenn sich um einen die Seile lockern und er ein Stück tiefer sinkt als die andern in denleeren Raum, und gräßlich ist es, wenn die Seile um einen reißen und er jetzt fallt. Darum soll mansich an die andern halten. Ich habe die Vermutung, daß die Mädchen uns oben h alten, weil sie soleicht sind, darum müssen wir die Mädchen lieb haben und darum sollen sie uns lieb haben.Genug, genug, mit einem guten Grund fürchte ich mich, einen Brief an Dich anzufangen, denn erdehnt sich dann immer so und findet kein gutes Ende. Darum habe ich Dir auch von München nichtmehr geschrieben, obwohl ich so viel zu schreiben hatte. Aber außerdem kann ich in der Fremdegar nicht schreiben. Alle Worte sind mir dann wild zerstreut und ich kann sie nicht in Sätzeeinfangen und dann drückt alles Neue so, daß man ihm gar nicht wehren und daß man es nichtübersehn kann.Jetzt kommst Du ja selbst. Ich will doch nicht den ganzen Sonntagnachmittag an dem Schreibtischversitzen - ich sitze hier schon seit zwei Uhr, und jetzt ist es fünf- wenn ich so bald mit Dir redenkann. Ich freue mich so. Du wirst eine kalte Luft mitbringen, die wird allen dumpfen Köpfen guttun. Ich freue mich so. Auf Wiedersehn.

Dein Franz

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1904

An Max Brod(1903 oder 1904)

Lieber Max,besonders da ich gestern nicht im Kolleg war, scheint es mir notwendig, Dir zu schreiben, um Dirzu erklären, warum ich an dem Redoutenabend nicht mit euch gegangen bin, trotzdem ich esvielleicht versprochen hatte.Verzeih es mir, ich wollte mir ein Vergnügen machen und Dich und Pøíbram für einen Abendzusammenbringen, denn ich dachte, es müßten hübsche Gruppierungen entstehn, wenn Du, vomAugenblick gezwängt, überspitzte Bemerkungen machst - so tust Du es unter mehrern - er dagegenaus seinem vernünftigen Überblick, den er fast über alles außer Kunst hat, das Entsprechendeentgegenzeigte.Aber als ich daran dachte, hatte ich Deine Gesellschaft, die kleine Gesellschaft, in der Du warst,vergessen. Dem ersten Anblick eines Fremden zeigt sie Dich nicht vorteilhaft. Dann teilweise istsie von Dir abhängig, teilweise selbständig. Soweit sie abhängig ist, steht sie um Dich alsempfindliches Bergland mit bereitem Echo. Das macht den Zuhörer bestürzt. wahrend seine Augensich mit einem Gegenstand vor ihm ruhig beschäftigen möchten, wird sein Rücken geprügelt. Damuß die Genußfähigkeit für beides verloren gehn, besonders wenn er nicht ungewöhnlich gewandtist.Soweit sie aber selbständig sind, schaden sie Dir noch mehr, denn sie verzerren Dich, Du erscheinstdurch sie an unrechter Stelle, Du wirst dem Zuhörer gegenüber durch Dich widerlegt, was hilft derschöne Augenblick, wenn die Freunde konsequent sind. Freundliche Masse hilft nur beiRevolutionen, wenn alle zugleich und einfach wirken, gibt es aber einen kleinen Aufstand unterverstreutem Licht an einem Tisch, dann vereiteln sie ihn. Es ist so, Du willst Deine Dekoration»Morgenlandschaft« zeigen und stellst sie als Hintergrund auf, aber Deine Freunde glauben, fürdiese Stunde wäre »Wolfsschlucht« passender und sie stellen als Seitenkulissen Dir zur Seite Deine»Wolfschlucht«. Freilich es sind beide von Dir gemalt und jeder Zuschauer kann das erkennen,aber was für bestürzende Schatten sind auf der Wiese der Morgenlandschaft und über dem Feldfliegen ekelhafte Vögel. So glaube ich, ist es. Es geschieht Dir selten, aber doch bisweilen (nun ichverstehe das noch nicht ganz), daß Du sagst : »Hier im Flaubert sind lauter Einfälle über Tatsachen,weißt Du, kein Gemütsschwefel«. Wie könnte ich Dich damit häßlich machen, w~ ich es bei einerGelegenheit so anwende: Du sagst »Wie schön ist Werther«. Ich sage: »Wenn wir aber dieWahrheit sagen wollen, so ist viel Gemütsschwefel drin«, das ist eine lächerliche unangenehmeBemerkung, aber ich bin Dein Freund, während ich es sage, ich will Dir. nichts Böses tun, ich willdem Zuhörer nur Deine runde Ansicht über dergleichen Dinge sagen. Denn oft kann es Zeichen derFreundschaft sein, den Ausspruch des Freundes nicht mehr zu durchdenken. Aber inzwischen istder Zuhörer traurig, müde geworden.Ich habe das geschrieben, weil es mir trauriger wäre, Du verzeihtest mir nicht, daß ich den Abendnicht mit Dir verbracht habe, als wenn Du mir diesen Brief nicht verzeihst. - Ich grüße Dich schön -

Dein Franz K.

Leg es noch nicht weg, ich habe es noch einmal durchgelesen und sehe, es ist nicht klar. Ich wollteschreiben: Was für Dich unerhörtes Glück ist, nämlich in ermatteter Zeit nachlässig werden zudürfen und doch durch Hilfe des ganz Gleichgesinnten ohne eigenen Schritt dahin geführt zuwerden, wohin man strebte, dieses gerade zeigt Dich bei Gelegenheit einer Repräsentation - dasdachte ich mir bei P. - nicht so, wie ich will. - Jetzt ist es genug.

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An Oskar Pollak(10. Januar 1904)

Abends, halb elf.Ich schiebe den Marc Aurel zur Seite, ich schiebe ihn schwer zur Seite. Ich glaube, ich könnte jetztohne ihn nicht leben, denn schon zwei, drei Sprüche, im Marc Aurel gelesen, machen gefaßter undstraffer, wenn auch das ganze Buch nur von einem erzählt, der mit klugem Wort und hartemHammer und weitem Ausblick sich zu einem beherrschten, ehernen, aufrechten Menschen machenmöchte. Aber man muß gegen einen Menschen ungläubig werden, wenn man immerfort hört, wieer zu sich redet: »Sei doch ruhig, sei doch gleichgültig, gib die Leidenschaften dem Wind, sei dochstandfest, Sei doch ein guter Kaiser!« Gut ist es, wenn man sich vor sich selbst mit Wortenzuschütten kann, aber noch besser ist es, wenn man sich mit Worten ausschmücken und behängenkann, bis man ein Mensch wird, wie man es im Herzen wünscht.Du machst Dir in Deinem letzten Brief ungerechte Vorwürfe. Mir tut es gut, wenn mir einer einekühle Hand reicht, aber wenn er sich einhängt, ist es mir schon peinlich und unverständlich. Dumeinst, weil es zu selten geschehen ist? Nein, nein, das ist nicht wahr. Weißt Du, was an manchenLeuten Besonderes ist? Sie sind nichts, aber sie können es nicht zeigen, nicht einmal ihren Augenkönnen sie es zeigen, das ist das Besondere an ihnen. Alle diese Menschen sind Brüder jenesMannes, der in der Stadt herumging, sich auf nichts verstand, kein vernünftiges Wortherausbrachte, nicht tanzen konnte, nicht lachen konnte, aber immer krampfhaft mit beiden Händeneine verschlossene Schachtel trug. Fragte ihn nun ein Teilnehmender: »Was tragen Sie so vorsichtigin der Schachtel?«, da senkte dann der Mann den Kopf und sagte unsicher. »Ich verstehe mich zwarauf nichts, das ist wahr, ich kann zwar auch kein vernünftiges Wort herausbringen, ich kann auchnicht tanzen, auch lachen kann ich nicht, aber was in dieser, wohlgemerkt verschlossenen Schachtelist, das kann ich nicht sagen, nein, nein, das sage ich nicht.« Wie natürlich, verliefen sich nachdiesen Antworten alle Teilnehmenden, aber doch blieb in manchen von ihnen eine gewisseNeugier, eine gewisse Spannung, die immer fragte : »Was ist denn in der verschlossenenSchachtel?«, und um der Schachtel willen kamen sie hin und wieder zu dem Mann zurück, der abernichts verriet. Nun, Neugierde, derartige Neugierde wird nicht alt und Spannung lockert sich,niemand hält es aus, nicht endlich zu lächeln, wenn eine unscheinbare, verschlossene Schachtel mitewiger unverständlicher Ängstlichkeit gehütet wird. Und dann, einen halbwegs gutartigenGeschmack haben wir ja dem armen Mann gelassen, vielleicht lächelt er selbst endlich, wenn auchein wenig verzerrt. - Was an Stelle der Neugier jetzt kommt, ist gleichgültiges fernstehendesMitleid, ärger als Gleichgültigkeit und Fernstehn. Die Teilnehmenden, die kleiner an Zahl sind alsfrüher, fragen jetzt: »Was tragen Sie denn so vorsichtig in der Schachtel? Einen Schatz vielleicht,he, oder eine Verkündigung, nicht? Na, machen Sie nur auf, wir brauchen beides, übrigens lassenSie es nur zu, wir glauben es Ihnen auch ohnedem.« Da schreit es plötzlich einer besonders Grell,der Mann schaut erschrocken, er war es selbst. Nach seinem Tode fand man in der Schachtel zweiMilchzähne.

Franz

An Oskar Pollak(27. Januar 1904)

Lieber Oskar!Du hast mir einen lieben Brief geschrieben, der entweder bald oder überhaupt nicht beantwortetwerden wollte, und jetzt sind vierzehn Tage seitdem vorüber, ohne daß ich Dir geschrieben habe,das wäre an sich unverzeihlich, aber ich hatte Gründe. Fürs erste wollte ich nur gut Überlegtes Dirschreiben, weil mir die Antwort auf diesen Brief wichtiger schien als jeder andere frühere Brief anDich - (geschah leider nicht); und fürs zweite habe ich Hebbels Tagebücher (an 1800 Seiten) ineinem Zuge gelesen, während ich früher immer nur kleine Stückchen herausgebissen hatte, die mir

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ganz geschmacklos vorkamen. Dennoch fing ich es im Zusammenhange an, ganz spielerischanfangs, bis mir aber endlich so zu Mute wurde wie einem Höhlenmenschen, der zuerst im Scherzund in langer Weile einen Block vor den Eingang seiner Höhle wälzt, dann aber, als der Block dieHöhle dunkel macht und von der Luft absperrt, dumpf erschrickt und mit merkwürdigem Eifer denStein wegzuschieben sucht. Der aber ist jetzt zehnmal schwerer geworden und der Mensch muß inAngst alle Kräfte spannen, ehe wieder Licht und Luft kommt. Ich konnte eben keine Feder in dieHand nehmen während dieser Tage, denn wenn man so ein Leben überblickt, das sich ohne Lückewieder und wieder höher türmt, so hoch, daß man es kaum mit seinen Fernrohren erreicht, da kanndas Gewissen nicht zur Ruhe kommen. Aber es tut gut, wenn das Gewissen breite Wundenbekommt, denn dadurch wird es empfindlicher für jeden Biß. Ich glaube, man sollte überhaupt nursolche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht miteinem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklichmacht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten,und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchenaber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, denwir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wieein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich.Aber Du bist ja glücklich, Dein Brief glänzt förmlich, ich glaube, Du warst früher nur infolge desschlechten Umganges unglücklich, es war ganz natürlich, im Schatten kann man sich nicht sonnen.Aber daß ich an Deinem Glück schuld bin, das glaubst Du nicht. Höchstens so: Ein Weiser, dessenWeisheit sich vor ihm selbst versteckte, kam mit einem Narren zusammen und redete ein Weilchenmit ihm, über scheinbar fernliegende Sachen. Als nun das Gespräch zu Ende war und der Narr nachHause gehen wollte - er wohnte in einem Taubenschlag -, fällt ihm da der andere um den Hals, küßtihn und schreit: danke, danke, danke. Warum? Die Narrheit des Narren war so groß gewesen, daßsich dem Weisen seine Weisheit zeigte. -Es ist mir, als hätte ich Dir ein Unrecht getan und müßte Dich um Verzeihung bitten. Aber ich weißvon keinem Unrecht.

Dein Franz

An Max Brod(Prag,) 28. August (1904)

Es ist sehr leicht, am Anfang des Sommers lustig zu sein. Man hat ein lebhaftes Herz, einenleidlichen Gang und ist dem künftigen Leben ziemlich geneigt. Man erwartet Orientalisch-Merkwürdiges und leugnet es wieder mit komischer Verbeugung und mit baumelnder Rede,welches bewegte Spiel behaglich und zitternd macht. Man sitzt im durcheinandergeworfenenBettzeug und schaut auf die Uhr. Sie zeigt den späten Vormittag. Wir aber malen den Abend mitgut gedämpften Farben und Fernsichten, die sich ausdehnen. Und wir reiben unsere Hände vorFreude rot, weil unser Schatten lang und so schön abendlich wird. Wir schmücken uns in der innernHoffnung, daß der Schmuck unsere Natur werden wird. Und wenn man uns nach unsermbeabsichtigten Leben fragt, so gewöhnen wir uns im Frühjahr eine ausgebreitete Handbewegung alsAntwort an, die nach einer Weile sinkend wird, als sei es so lächerlich unnötig, sichere Dinge zubeschwören.Wenn wir nun ganz enttäuscht würden, so wäre es zwar für uns betrübend, aber doch wieder wieeine Erhöhung unseres täglichen Gebetes, die Folgerichtigkeit unseres Lebens möge der äußernErscheinung nach uns gnädigst erhalten bleiben.Wir werden aber nicht enttäuscht, diese Jahreszeit, die nur ein Ende, aber keinen Anfang hat, bringtuns in einen Zustand, der uns so fremd und natürlich ist, daß er uns ermorden könnte.Wir werden förmlich von einer wehenden Luft nach ihrem Belieben getragen und es muß nichtohne Scherzhaftigkeit sein, wenn wir uns im Luftzug an die Stirne greifen oder uns durch

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gesprochene Worte zu beruhigen suchen, die dünnen Fingerspitzen an die Kniee gepreßt. währendwir sonst bis zu einem gewissen Maße höflich genug sind, von einer Klarheit über uns nichtswissen zu wollen, geschieht es jetzt, daß wir sie mit einer gewissen Schwäche suchen, freilich inder Weise, mit der wir zum Spaße so tun, als wollten wir mit Anstrengung kleine Kinder fangen,die langsam vor uns trippeln. Wir durchwühlen uns wie ein Maulwurf und kommen ganzgeschwärzt und sammethaarig aus unsern verschütteten Sandgewölben, unsere armen rotenFlüßchen für zartes Mitleid emporgestrebt.Bei einem Spaziergang ertappte mein Hund einen Maulwurf der über die Straße laufen wollte. Ersprang immer wieder auf ihn und ließ ihn dann wieder los, denn er ist noch jung und furchtsam.Zuerst belustigte es mich und die Aufregung des Maulwurfs besonders war mir angenehm, dergeradezu verzweifelt und umsonst im harten Boden der Straße ein Loch suchte. Plötzlich aber alsder Hund ihn wieder mit seiner gestreckten Pfote schlug, schrie er auf: Ks, kss so schrie er. Und dakam es mir vor - Nein es kam mir nichts vor. Es täuschte mich bloß so, weil mir an jenem Tag derKopf so schwer herunterhing, daß ich am Abend mit Verwunderung bemerkte, daß mir das Kinn inmeine Brust hineingewachsen war. Aber am nächsten Tag hielt ich meinen Kopf wieder hübsch aufrecht. Am nächsten Tag zog sich ein Mädchen ein weißes Kleid an und verliebte sich dann in mich.Sie war sehr unglücklich darüber und es ist mir nicht gelungen, sie zu trösten, wie das eben eineschwere Sache ist. Als ich an einem andern Tage nach einem kurzen Nachmittagsschlaf die Augenöffnete, meines Lebens noch nicht ganz sicher, hörte ich meine Mutter in natürlichem Ton vomBalkon hinunterfragen: »Was machen Sie?« Eine Frau antwortete aus dem Garten: »Ich jause imGrünen.« Da staunte ich über die Festigkeit, mit der die Menschen das Leben zu tragen wissen. Aneinem andern Tage freute ich mich mit einem gespannten Schmerz über die Erregung eines Tages,der bewölkt war. Dann war eine verblasene Woche oder zwei oder noch mehr. Dann verliebte ichmich in eine Frau. Dann tanzte man einmal im Wirtshaus und ich ging nicht hin. Dann war ichwehmütig und sehr dumm, so daß ich stolperte auf den Feldwegen, die hier sehr steigend sind.Dann einmal las ich in Byrons Tagebüchern die Stelle (Ich schreibe sie in dieser beiläufigen Art,weil das Buch schon eingepackt ist): »Seit einer Woche habe ich mein Haus nicht verlassen. Seitdrei Tagen boxe ich täglich vier Stunden mit einem Fechtmeister in der Bibliothek bei offenenFenstern, um meinen Geist zur Ruhe zu bringen.« Und dann und dann war der Sommer zu Endeund ich finde, daß es kühl wird, daß es Zeit wird die Sommerbriefe zu beantworten, daß meineFeder ein wenig ausgeglitten ist und daß ich sie deshalb niederlegen könnte.

Dein Franz K.

An Max Brod(Visitenkarte, wahrscheinlich 1904)

Bitte warte ein bischen. Um halb elf bin ich sicher hier. Weißt Du, ich habe vergessen, daß heuteein Feiertag ist und da läßt mich der Pøíbram nicht los. Aber ich komme sicher.

Dein Franz K.

An Max Brod(1904?)

Mein lieber Max,es tut mir leid, es muß gestern wirklich sehr á 1a Cabaret gewesen sein, denn als ich um halb zehnnach der Italienischstunde dort war, war schon alles zu.

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Meine Mutter hat in ihrem von Walzern geschüttelten Gedächtnis eine unsichere Erinnerung daran,daß Du gesagt hast, Du werdest heute zu mir kommen. Willst Du das, so laß mich heute lieber zuDir kommen, denn wir haben eine operierte Tante in der Wohnung und wir würden am Abend zuoft über Schlafende stolpern. Also antworte mir und das umso freundlicher, weil ich Dir denLukian schicke.

Dein Franz

An Max Brod(1904)

Ich wunderte mich, daß Du mir . nichts über Tonio Kröger geschrieben hast. Aber ich sagte zu mir:»Er weiß, wie froh ich bin, wenn ich einen Brief von ihm bekomme, und über Tonio Kröger mußman etwas sagen. Offenbar hat er mir also geschrieben, aber es gibt Zufälle, Wolkenbrüche,Erdbeben, der Brief ist verloren gegangen.« Gleich darauf aber ärgerte ich mich über diesen Einfall,da ich nicht in Schreiberlaune war, und schimpfend darüber, einen vielleicht ungeschriebenen Briefbeantworten zu müssen, begann ich zu schreiben: Als ich Deinen Brief bekam, überlegte ich inmeiner Verwirrung, ob ich zu Dir gehen oder Dir Blumen schicken sollte. Aber ich tat keines vonbeiden, teils aus Nachlässigkeit, teils weil ich fürchtete, Dummheiten zu begehn, da ich ein wenigaus meinem Schritt gekommen bin und traurig bin wie ein Regenwetter.Da hat mir aber Dein Brief gut getan. Denn wenn mir jemand eine Art von Wahrheit sagt, so findeich das anmaßend. Er belehrt mich dadurch, erniedrigt mich, erwartet von mir die Mühsal einesGegenbeweises, ohne aber selbst in Gefahr zu sein, da er doch seine Wahrheit für unangreifbarhalten muß. Aber so zeremoniell, unbesonnen und rührend es ist, wenn man jemandem einVorurteil sagt, noch rührender ist es, wenn man es begründet und gar wenn man es wieder mitVorurteilen begründet.Du schreibst vielleicht auch von der Ähnlichkeit mit Deiner Geschichte »Ausflug ins Dunkelrote«.Ich habe auch früher an eine solche ausgebreitete Ähnlichkeit gedacht, ehe ich »Tonio Kröger«jetzt wieder gelesen habe. Denn das Neue des »Tonio Kröger« liegt nicht in dem Auffinden diesesGegensatzes (Gott sei Dank, daß ich nicht mehr an diesen Gegensatz glauben muß, es ist eineinschüchternder Gegensatz), sondern in dem eigentümlichen nutzbringenden (der Dichter im»Ausflug«) Verliebtsein in das Gegensätzliche.Wenn ich nun annehme, daß Du über diese Gegenstände geschrieben hast, so verstehe ich nicht,warum Dein Brief im ganzen so aufgeregt und ohne Atem ist. (Es ist möglich, daß das bei mir bloßeine Erinnerung daran ist, daß Du Sonntag Vormittag so gewesen bist.) Ich bitte Dich, laß Dich einwenig in Ruhe.Ja, ja es ist gut, daß auch dieser Brief verloren gehen wird.

Dein Franz K.Nach zwei verlernten Tagen.

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1905

An Max Brod(Prag, Stempel: 4.V. 1905)

Da Du Hübsches erlebt hast, woran ich gar keinen Anteil habe, so darfst Du über mich nichtärgerlich sein. Besonders da ich bei dem unruhigen Wetter denken mußte, die Zusammenkunft seiim Kaffeehaus, und da Du die Zeit bei Stefan George schon ein wenig besänftigt verbracht hast.Und dann ist jetzt um elf Uhr das Wetter so schön, ohne daß mich jemand darüber tröstet.

Dein F. K.

An Max Brod(Ansichtskarte. Zuckmantel, Ankunftstempel: 24.VIII. 1905)

Lieber B.Sicher, ich hätte Dir geschrieben, wenn ich in Prag geblieben wäre. So aber bin ich leichtsinnig,schon die vierte Woche in einem Sanatorium in Schlesien, sehr viel unter Menschen undFrauenzimmern und ziemlich lebendig geworden.

Franz K.

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1906

An Max Brod(Prag, Stempel: 16. III. 1906)

Lieber Max,ich hätte Dir eigentlich noch wahrend meiner Prüfung schreiben sollen, denn es ist sicher, daß Dumir drei Monate meines Lebens zu einer andern Verwendung gerettet hast als zum Lernen derFinanzwissenschaft. Nur die Zettelchen haben mich gerettet, denn dadurch erstrahlte ich dem M.als seine eigene Spiegelung mit sogar interessanter österreichischer Färbung, und trotzdem er indieser großen Menge befangen war, die er dieses halbe Jahr gesprochen hat, ich dagegen nur Deineganz kleinen Zettelchen in der Erinnerung hatte, kamen wir doch zu der schönstenÜbereinstimmung. Aber auch bei den andern war es sehr lustig, wenn auch nicht kenntnisreich.Viele Grüße

Dein F. K.Pøíbram ist es sehr gut gegangen.

An Max Brod(wahrscheinlich Mai 1906)

Lieber Max -Da ich schon so lange nicht bei Dir gewesen bin (Kisten tragen und abstauben, denn wirübersiedeln das Geschäft, kleines Mädchen, sehr wenig Lernen, Dein Buch, Dirnen, Macaulay»Lord Clive«; auch so ergibt sich ein Ganzes) nun da ich so lange nicht bei Dir gewesen bin,komme ich heute, um Dich nicht zu enttäuschen und weil, ich glaube, Dein Geburtstag ist, in derlächerlich schönen Verwandlung der »Glücklichen«. Du nimmst mich gut auf.

Dein Franz K.

An Max Brod(Prag, Stempel: 29.V. 1906)

Lieber Max,Da ich jetzt doch zu lernen habe (kein Mitleid, es ist so schön Überflüssiges für schönÜberflüssiges) und da es für mich eine Anstrengung ist, während. des Tages meine Lumpenauszuziehn und einen Straßenanzug zu nehmen, so muß ich als Nachtier leben. Nun möchte ichDich aber gerne wieder einmal, also an einem Abend sehn, morgen Mittwoch vielleicht oder wannDu sonst willst. - Übrigen schreibe ich vor allem deshalb, weil ich wissen will, wie d Dir geht, dennMontag warst Du immerhin noch bei Deinem Doktor.

FranzAn Max Brod

(Zuckmantel, Stempel: I3.VIII. 1906)Lieber Max - Ich bin lange verschwunden gewesen, jetzt erscheine ich wieder, wenn auch mitschwerem Atem noch. - Zuerst kurze Nachricht, also bezüglich euerer Wohnung. Gasthaus»Edelstein« zwei Minuten vom Sanatorium entfernt, knapp beim Wald gibt es ein Zimmer für 5 flwöchentlich, Zimmer mit guter Pension für 45 fl monatlich für eine Person. Vom achtzehnten an istes vielleicht noch billiger. In der Dependance, einem Haus des Sanatoriums sind Zimmer für 7 bis 8fl wöchentlich zu haben.

Dein FranzAn Max Brod

(Rohrpostkarte. Prag, Stempel: 11.XII.1906)

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Lieber Max,mein sehr interessanter Cousin aus Paraguay, von dem ich Dir schon erzählt habe undder während dieses europäischen Aufenthaltes einige Tage in Prag war zu einer Zeit, da Du geradevor Deiner Staatsprüfung warst, ist heute wieder auf der Rückfahrt in Prag angekommen. Er wolltegleich heute abend wegfahren; da ich Dir ihn aber zeigen wollte, habe ich ihn mit großer Mühedazu gebracht, erst morgen früh wegzufahren. Ich bin sehr froh und hole Dich heute abend zurZusammenkunft ab.

Dein Franz

An Max Brod16/12 (1906?)

Mein lieber Maxwann gehn wir zu der indischen Tänzerin, wenn uns schon das kleine Fräuleinentlaufen ist, dessen Tante vorläufig noch stärker ist als sein Talent.

Franz

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1907

An Max Brod(Prag,) 12. 2. 1907

Lieber Max,ich schreibe Dir gern, noch ehe ich mich schlafen lege; es ist erst vier Uhr.Ich habe gestern die »Gegenwart« gelesen, allerdings mit Unruhe, da ich in Gesellschaft war unddas in der »Gegenwart« Gedruckte ins Ohr gesagt sein will.Nun, das ist Fasching, durchaus Fasching , aber der liebenswürdigste. - Gut, so habe ich in diesemWinter doch einen Tanzschritt gemacht.Besonders freue ich mich, daß nicht jeder die Notwendigkeit meines Namens an dieser Stelleerkennen wird. Denn er müßte den ersten Absatz schon daraufhin lesen und sich die Stelle, die vomGlück der Sätze handelt, merken. Dann würde er finden: eine Namengruppe, die mit Meyring(offenbar ist das ein zusammengezogener Igel) endet, ist am Anfang eines Satzes unmöglich, wenndie folgenden Sätze noch atmen sollen. Also bedeutet ein Name mit offenem Vokal am Ende - hiereingefügt - die Lebensrettung jener Worte. Mein Verdienst dabei ist ein geringes.Traurig ist nur - ich weiß, Du hast diese Absicht nicht -, daß es mir jetzt zu einer unanständigenHandlung gemacht worden ist, später etwas herauszugeben, denn die Zartheit dieses erstenAuftretens würde vollständigen Schaden bekommen. Und niemals würde ich eine Wirkung finden,die jener ebenbürtig wäre, die meinem Namen in Deinem Satze gegeben ist.Allerdings ist das nur eine nebensächliche Erwägung heute, mehr suche ich Sicherheit über denKreis meiner jetzigen Berühmtheit zu bekommen, da ich ein braves Kind bin und Liebhaber derGeographie. Mit Deutschland, glaube ich, kann ich hier nur wenig rechnen. Denn wieviele Leutelesen hier eine Kritik mit gleicher Spannung bis in den letzten Absatz hinein? Das ist nichtBerühmtheit.Anders aber ist es bei den Deutschen im Auslande, zum Beispiel in den Ostseeprovinzen, bessernoch in Amerika oder gar in den deutschen Kolonien, denn der verlassene Deutsche liest seineZeitschrift ganz und gar. Mittelpunkte meines Ruhmes sind also Dar-es-Salam, Udschidschi,Windhoek. Aber gerade zur Beruhigung dieser rasch interessierten Leute (schön ist es: Farmer,Soldaten) hättest Du noch in Klammern schreiben sollen: »Diesen Namen wird man vergessenmüssen.«Ich küsse Dich, mach die Prüfung bald,

Dein FranzAn Max Brod

(wahrscheinlich Mai 1907)Lieber Max - ruhigere Goetheforschung! Sicher ist, daß Goethe nie geschrieben hätte: »Das hätteGoethe nie gemacht«, aber vor dem Tor hätte er nicht im letzten Augenblick einmal seinenGeburtstag eingestehen können Ich bitte Dich! Im Gegenteil, Goethe hättest Du dann schreibendürfen, daß ich es nie getan hätte. Ich hätte es auch nicht getan (Geburtstag ist doch noch etwasmehr ärgerlich als gleichgültig), wenn es sich nicht gerade getroffen hätte, daß es sich ahnungsvollanschloß an die Erwähnung der Dreiundzwanzigjährigen (was für ein kolossa1es Alter schien unsdas!), die mir tags darauf ein Wunder von einem Sonntag verschafft hat. Das war ein Sonntag.Sag, warum ärgerst Du mich immerfort mit den zwei Kapiteln? Sei mit mir glücklich, daß Duunbegreifliche Sachen schreibst, und laß das andere Zeug in Ruh.

Dein Franz

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An Max Brod(Triesch, Mitte August 1907)

Mein lieber Max,als ich gestern abend von dem Ausflug (lustig, lustig) nachhause kam, war DeinBrief da und hat mich verwirrt, trotzdem ich müde war. Denn Unentschlossenheit kenne ich, ichkenne nichts anderes, aber dort wo etwas nach mir verlangt, da falle ich hin, ganz müde der halbenNeigung und des halben Zweifels in tausend frühern Kleinigkeiten; der Entschlossenheit der Weltkönnte ich nicht widerstehn. Deshalb würde nicht einmal der Versuch Dich umzustimmen für michpassen.Deine Verhältnisse und meine sind ganz andere und deshalb ist es von keiner Bedeutung,wenn ich bei der Stell »entschloß ich mich nicht anzunehmen« vor Schrecken wie bei einemSchlachtbericht nicht gleich weiterlesen konnte. Doch hat mich bald wie in allem auch hier dieverdammte Unendlichkeit der Nachteile und Vorteile jeder Sache beruhigt.Ich sagte mir: Du brauchst viel Tätigkeit, Deine Bedürfnisse in dieser Hinsicht sind mir sicher,wenn auch unbegreiflich; ein Jahr lang würde Dir ein Wald als Ziel eines Spazierganges nichtgenügen und ist es am Ende nicht fast gewiß, daß Du Dir während des städtischen Gerichtsjahreseine literarische Stellung verschaffst, die alles andere unnötig macht.Ich allerdings wäre wie ein Verrückter nach Komotau gelaufen, allerdings brauche ich keineTätigkeit, besonders da ich ihrer nicht fähig bin, und wenn mir auch ein Wald vielleicht nichtgenügen würde, so habe ich doch - das ist klar - während des Gerichtsjahres nichts fertig gebracht.Und dann, ein Beruf ist machtlos, sobald man ihm gewachsen ist, ich würde mich unaufhörlichwährend der Arbeitsstunden - es sind doch nur sechs - blamieren und ich sehe, daß Du jetzt allesfür möglich hältst, wie Du schreibst, wenn Du glaubst, daß ich zu einem ähnlichen Unternehmenfähig wäre!Dagegen das Geschäft und der Trost am Abend. Ja, wenn man durch Trost schon glücklich würdeund nicht auch ein wenig Glück zum Glücklichsein nötig wäre.Nein, wenn sich bis Oktober in meinen Aussichten nicht bessert, mache ich den Abiturientenkursan der Handelsakademie und lerne zu Französisch und Englisch noch Spanisch. Wenn Du das mitmir machen wolltest, das wäre schön; was Du beim Lernen mir gegenüber vor hast, würde ichdurch Ungeduld ersetzen; mein Onkel müßte uns einen Posten in Spanien verschaffen oder wirwürden nach Südamerika fahren oder auf die Azoren, nach Madeira.Vorläufig darf ich noch bis zum 25. August hier leben. Ich fahre viel auf dem Motorrad, ich badeviel, ich liege lange nackt im Gras am Teiche, bis Mitternacht bin ich mit einem lästig verliebtenMädchen im Park, ich habe schon Heu auf der Wiese umgelegt, ein Ringelspiel aufgebaut, nachdem Gewitter Bäumen geholfen, Kühe und Ziegen geweidet und am Abend nachhause getrieben,viel Billard gespielt, große Spaziergänge gemacht, viel Bier getrunken und ich bin auch schon imTempel gewesen. Am meisten Zeit aber - ich bin sechs Tage hier - habe ich mit zwei kleinenMädchen verbracht, sehr gescheiten Mädchen, Studentinnen, sehr sozialdemokratisch, die ihreZähne aneinanderhalten müssen, um nicht gezwungen zu sein, bei jedem Anlaß eine Überzeugung,ein Prinzip auszusprechen. Die eine heißt A., die andere H.W. ist klein, ihre Wangen sind rotununterbrochen und grenzenlos; sie ist sehr kurzsichtig und das nicht nur der hübschen Bewegunghalber, mit der sie den Zwicker auf die Nase - deren Spitze ist wirklich schön aus kleinen Flächenzusammengesetzt - niedersetzt; heute Nacht habe ich von ihren verkürzten dicken Beinen geträumtund auf diesen Umwegen erkenne ich die Schönheit eines Mädchens und verliebe mich. Morgenwerde ich ihnen aus den »Experimenten« vorlesen, es ist das einzige Buch, das ich außer Stendhalund den »Opalen« bei mir habe.Ja, wenn ich auch die »Amethyste« hätte, würde ich Dir die Gedichte abschreiben, aber ich habe sieim Bücherkasten zuhause und den Schlüssel habe ich bei mir, um ein Sparkassebuch nichtentdecken zu lassen, von dem niemand zu Hause weiß und das für mich meinen Rang in derFamilie bestimmt. Hast Du also bis zum 25. August nicht Zeit, dann schicke ich Dir den Schlüssel.Und jetzt bleibt mir nur übrig, Dir mein armer Junge, für die Mühe zu danken, die Du hattest, umDeinen Verleger von der Güte meiner Zeichnung zu überzeugen.

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Heiß ist und nachmittag soll ich im Wald tanzen.Grüße, ich bitte, Deine Familie von mir

Dein Franz(Es folgen in Abschrift einige Gedichte von Max Brod.)An Max Brod

(Postkarte. Prag, Stempel: 28.VIII. 1907)Mein lieber Max - Das war nicht gut, denn schon unrecht ist es, daß Du mir nicht schreibst, wie esDir in Komotau geht, aber daß Du mich fragst, wie es mir geht, wie ich den Sommer verbracht habe� Der Anblick des Erzgebirges mag schön sein, selbst über das grüne Tuch des Tisches weg, undich hätte Dich gerne besucht, wenn die Fahrt nicht so teuer wäre. - Daß Du einen Menschen mitmeiner frühern Schrift gefunden hast, ist möglich, jetzt aber schreibe ich anders und nur beimSchreiben an Dich erinnere ich mich an die jetzt vergangenen Bewegungen meiner Buchstaben.Kommst Du nicht Sonntag? Ich wäre froh.

Dein Franz K.

An Hedwig W.(Prag,) 29. August (1907)

Du, Liebe, ich bin müde und vielleicht bin ich ein wenig krank.Jetzt habe ich das Geschäft aufgemacht und versuche dadurch, daß ich im Bureau Dir schreibe,dieses Bureau ein bischen freundlicher zu machen. Und alles, was um mich ist, unterliegt Dir. DerTisch preßt sich fast verliebt an das Papier, die Feder liegt in der Senkung zwischen Daumen undZeigefinger, wie ein bereitwilliges Kind, und die Uhr schlägt wie ein Vogel.Ich aber glaube, ich schreibe Dir aus einem Krieg oder sonst woher aus Ereignissen, die man sichnicht gut vorstellen kann, weil ihre Zusammensetzung zu ungewöhnlich und ihr Tempo dasunbeständigste ist. Verwickelt in die peinlichsten Arbeiten trage ich so -

Abend 11 Uhrjetzt ist der lange Tag vergangen und er hat, trotzdem er dessen nicht würdig ist, diesen Anfang unddieses Ende. Aber im Grunde hat sich, seitdem man mich unterbrochen hat, nichts geändert, undtrotzdem jetzt links von mir die Sterne des offenen Fensters sind, läßt sich der beabsichtigte Satzvollenden. - - trage ich so von dem einen festen Entschluß meine Kopfschmerzen zum andern, ebenso festen,aber entgegengesetzten. Und alle diese Entschlüsse beleben sich, bekommen Ausbrüche derHoffnung und eines zufriedenen Lebens, diese Verwirrung der Folgen ist noch ärger, als dieVerwirrung der Entschlüsse. Wie Flintenkugeln fliege ich aus einem ins andere und dieversammelte Aufregung, die in meinem Kampf Soldaten, Zuschauer, Flintenkugeln und Generäleunter einander verteilen, bringt mich allein ins Zittern.Du aber willst, ich soll Dich gar nicht entbehren, ich soll durch einen großen Spaziergang meinerGefühle sie ermüden und zufrieden machen, während Du Dich fortwährend aufstörst und imSommer Dir den Pelz anziehst nur deshalb, weil im Winter Kälte möglich ist.Übrigens habe ich keine Geselligkeit, keine. Zerstreuung; die Abende über bin ich im kleinenBalkon über dem Fluß, ich lese nicht einmal die Arbeiterzeitung und ich bin kein guter Mensch.Vor Jahren habe ich einmal dieses Gedicht geschrieben.

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In der abend1ichen Sonnesitzen wir gebeugten Rückensauf den Bänken in dem Grünen.Unsere Arme hängen nieder,unsere Augen blinzeln traurig.

Und die Menschen gehn in Kleidernschwankend auf dem Kies spazierenunter diesem großen Himmel,der von Hügeln in der Fernesich zu fernen Hügeln breitet.

Und so habe ich nicht einmal jenes Interesse an den Menschen, welches Du verlangst.Du siehst, ich bin ein lächerlicher Mensch; wenn Du mich ein wenig lieb hast, so ist es Erbarmen,mein Anteil ist die Furcht, Wie wenig nützt die Begegnung im Brief, es ist wie ein Plätschern amUfer, zweier durch eine See Getrennter. Über die vielen Abhänge aller Buchstaben ist die Federgeglitten und es ist zu Ende, es ist kühl und ich muß in mein leeres Bett.

Dein Franz

An Hedwig W.(Prag, Anfang September 1907)

Trotz allem, Liebe, dieser Brief ist spät gekommen, Du hast Dir gründlich überlegt, was Dugeschrieben hast. Ich habe ihn auf keine Weise früher erzwingen können, nicht dadurch, daß ich inder Nacht aufrecht im Bett saß, nicht dadurch, daß ich auf dem Kanapee in Kleidern schlief undwährend des Tages öfter nachhause kam, als es recht war. Bis ich heute abend davon abließ und Dirschreiben wollte, vorher aber mit einigen Papieren in einem offenen Fache spielte und Deinen Briefdarin fand. Er war schon früh gekommen, aber man hatte ihn, als man abstaubte, aus Vorsicht insFach gesteckt.Ich meinte, einen Brief schreiben sei wie ein Plätschern im Uferwasser, aber ich meinte nicht, daßman das Plätschern hört.Und nun setze Dich und lies ruhig und lasse mich statt meiner Buchstaben in Deine Augen schauen.Stelle Dir vor, A bekommt von X Brief und Brief und in jedem sucht X die Existenz des A zuwiderlegen. Er führt seine Beweise mit guter Steigerung, schwer zugänglichen Beweisen, dunklerFarbe, bis zu einer Höhe, daß sich A fast eingemauert fühlt und selbst und ganz besonders dieLücken in den Beweisen ihn zum Weinen bringen, Alle Absichten des X sind zuerst verdeckt, ersagt nur, er glaube, A sei recht unglücklich, er habe diesen Eindruck, im Einzelnen wisse er nichts;übrigens tröstet er den A. Allerdings wenn es so wäre, so müsse man sich nicht wundern, denn Asei ein unzufriedener Mensch, das wisse auch Y und Z. Man könne ja am Ende einräumen, er habeGrund zur Unzufriedenheit; man sehe ihn an, man sehe seine Verhältnisse an und man wird nichtwidersprechen. Wenn man sie aber recht beobachtet, wird man sogar sagen müssen, A ist nichtunzufrieden genug, denn wenn er seine Lage so gründlich untersuchen würde, wie X es tut, könnteer nicht weiterleben. Jetzt tröstet ihn X nicht mehr. Und A sieht, sieht es mit offenen Augen, X istder beste Mensch und er schreibt mir solche Briefe, was kann er um Gotteswillen anderes wollen,als mich ermorden. Wie gut er in dem letzten Augenblick noch ist, da er, um mich vor einemSchmerz zu verschonen, sich nicht verraten will, aber vergißt, daß das einmal entzündete Lichtwahllos beleuchtet.Was hat dann der Satz aus Niels Lyhne zu bedeuten und der Sand ohne das Glücksschloß,Natürlich hat der Satz recht, aber hätte nicht recht, der von rinnendem Sand spricht? Aber wer denSand sieht, ist nicht im Schloß; und wohin rinnt der Sand?

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Was soll ich jetzt? Wie werde ich mich zusammenhalten? Ich bin auch in Triesch, gehe doch mitDir über den Platz, jemand verliebt sich in mich, ich bekomme noch diesen Brief, ich lese ihn,verstehe ihn kaum, jetzt muß ich Abschied nehmen, halte Deine Hand, laufe weg, und verschwindegegen die Brücke zu. Ob bitte, es ist genug.Ich habe deshalb nichts für Dich in Prag gekauft, weil ich vom 1. Oktober an wahrscheinlich inWien sein werde. Verzeih es mir.

Dein Franz K.

An Hedwig W.(Prag, Anfang September 1907)

Mein liebes Mädchen, es ist wieder spät abend, ehe ich schreiben kann, und es ist kühl, weil wirdoch Herbst haben, aber ich bin ganz durchwärmt von Deinem guten Brief. Ja, weiße Kleider undMitleid kleiden Dich am schönsten, jedoch Pelzwerk verdeckt das ängstliche Mädchen zu sehr undwill für sich zu sehr bewundert werden und leiden machen. Und ich will doch Dich und selbst DeinBrief ist nur eine verzierte Tapete, weiß und freundlich, hinter der Du irgendwo im Gras sitzt oderspazieren gehst und die man erst durchstoßen müßte, um Dich zu fangen und zu halten.Aber gerade jetzt, da alles besser werden soll und der Kuß, den ich auf die Lippen bekommen habe,alles künftigen Guten bester Anfang ist, kommst Du nach Prag, gerade da ich Dich besuchen undbei Dir bleiben möchte, sagst Du unhöflich adieu und gehst weg.Ich hätte doch schon meine Eltern hier gelassen, einige Freunde und anderes, was ich entbehrenmüßte, jetzt wirst Du noch in dieser verdammten Stadt sein und es scheint mir, es wird mirunmöglich sein, mich durch die vielen Gassen zum Bahnhof hinaus zu drücken. Und doch ist Wienfür mich notwendiger, als Prag für Dich. Ich werde an der Exportakademie ein Jahr lang studieren,ich werde in einer ungemein anstrengenden Arbeit bis an den Hals stecken, aber ich bin sehrzufrieden damit. Da mußt Du mein Zeitunglesen noch ein wenig verschieben, denn ich werde dochauch spazieren gehn und Dir Briefe schreiben müssen, sonst werde ich keine Freude mir erlaubendürfen.Nur an den Deinigen werde ich immer so gerne teilnehmen, nur mußt Du mir mehr Gelegenheitdazu geben als beim letzten Kränzchen. Denn da gibt es noch viele für mich sehr wichtige Dinge,von denen Du gar nichts schreibst. Um wieviel Uhr Du hinkamst, wann Du weggingst, wie Duangezogen warst, an welcher Wand bist Du gesessen, ob Du viel gelacht hast und getanzt, wem hastDu eine Viertelminute lang in die Augen geschaut, warst Du am Ende müde und hast gutgeschlafen? Und wie konntest Du schreiben und einen Brief - das ist das ärgste - unterschlagen, dermir gehört. Nur das hat Dich an diesem schönen Neujahrswetter bedrückt, als Du mit Mutter undGroßmutter zum Tempel über das Pflaster, die zwei Stufen und die Steinplatten gingst. Wobei Dunicht bedachtest, daß mehr Mut zum Nichthoffen als zum Hoffen gehört und daß, wenn aus einemTemperament ein solcher Mut möglich ist, schon der sich wendende Wind dem Mut die günstigsteRichtung geben kann. Ich küsse Dich mit allem Guten, was ich an mir kenne.

Dein Franz

An Hedwig W(Prag, Anfang September 1907)

Liebste,sie haben mir die Tinte genommen und schlafen schon. Erlaube es dem Bleistift, daß er Dirschreibt, damit alles, was ich habe, irgendwie Teil an Dir hat. Wärst Du nur hier in diesem leerenZimmer, in dem nur zwei Fliegen oben Lärm machen und ein wenig das Glas, könnte ich Dir ganznahe sein und meinen Hals an Deinen legen.

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So aber bin ich unglücklich bis in Verwirrung hinein. Ein paar kleine Krankheiten, ein wenigFieber, ein wenig gestörte Erwartung hatten mich für zwei Tage ins Bett gelegt, da habe ich einenniedlichen Fieberbrief an Dich geschrieben, den ich freilich an diesem schönen Sonntag über derFensterbrüstung zerrissen habe, denn Du Arme, Liebe hast Aufregungen genug. Nicht wahr, Duhast viel geweint in vielen Stunden in der Nacht, während ich bei Sternenlicht in den Gassenherumgelaufen bin, um alles für Dich vorzubereiten (bei Tag mußte ich lernen), da ist es am Endegleichgültig, ob man eine Gasse weit von einander wohnt oder eine Provinz. Wie verschieden waralles um uns. Da bin ich sicher Donnerstag früh am Bahnhof gestanden, dann Donnerstagnachmittag (der Zug kommt nicht um 1/2 3, erst um 3 und hatte 1/4 h Verspätung) und Du hast inTriesch gezittert und dann jenen Brief geschrieben, den ich Freitag bekommen habe, worauf ichnichts Besseres zu tun wußte, als mich ins Bett zu legen. Das ist nicht schlimm, denn ohne michaufrechtzusetzen sehe ich vom Bett aus das Belvedere, grüne Abhänge.Nun am Ende ist nichts anderes geschehn, als daß wir ein bischen zwischen Prag und Wien eineQuadrillefigur getanzt haben, bei der man vor lauter Verbeugungen nicht zu einander kommt, wennman es auch noch so wollte. Aber endlich müssen auch die Rundtänze kommen.Mir geht es gar nicht gut. Ich weiß nicht, wie es werden wird. Wenn man jetzt früh aufsteht undeinen schönen Tag beginnen sieht, dann ist es zu ertragen, aber später -Ich schließe die Augen und küsse Dich

Dein Franz

An Hedwig W.(Prag,) 15. Sept. (1907)

Du, Liebe, man lebt merkwürdig in Triesch und darum muß man sich darüber nicht wundern, daßich heute auf meinem Globus auf dem beiläufigen Platz von Triesch einen roten Punkt gemachthabe. Es war ja heute regnerisch, ich nahm den Globus herunter und schmückte ihn so.In Triesch ist man verweint, ohne früher geweint zu haben, man geht in ein Kränzchen und willdort nicht gesehen werden, man hat einen mir ganz unbekannten Seidengürtel angezogen, manschreibt einen Brief dort und schickt ihn nicht weg. Wo schreibt man diesen Brief? Mit Bleistiftwohl, aber im Schoß oder an der Mauer, an der Kulisse? Und war die Beleuchtung im Vorzimmergenügend, um darin einen Brief zu schreiben? Neugierig aber bin ich nicht, neugierig wäre es, umein Beispiel zu geben, wenn ich dringlich wissen wollte, mit wem Fräulein Agathe getanzt hat. Daswäre unpassend und Du würdest recht tun, mir nicht zu antworten.Aber so geschieht es, daß Du - sei es auf dem Umweg über andere Personen - mit allen Leuten inTriesch in irgend einer unmittelbaren Beziehung stehst, selbst mit dem Diener im Hotel der irgendeinem Feldhüter, auf dessen Feld Du Rüben stiehlst. Du gibst ihnen Befehle oder läßt Dich vonihnen zum Weinen bringen, ich aber habe das zu lesen, so wie man in der Verbannung - eine anderekenne ich noch nicht - Nachrichten über wichtige Veränderungen in der Heimat lesen will und dochkaum lesen kann, weil man unglücklich ist, dort nichts tun zu können, und so glücklich, jetzt etwaszu erfahren. Hier darf ich es sagen, daß ich mit Kranken, die Du pflegst, kein Mitleid habe.Die Entscheidung über mich, die letzte, kommt morgen, aber dieser Brief ist ungeduldig, sobald ich»Liebe« darauf schreibe, wird er lebendig und will nicht mehr warten. Du verkennst mich hübsch,wenn Du glaubst, daß Streben nach idealem Nutzen meiner Natur angemessen ist, denn es genügtzu sagen: Nachlässigkeit gegen praktischen Nutzen.

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Ich weiß es, Du mußt von Wien weg, aber ganz so ich von Prag, wobei wir allerdings gut diesesJahr in Paris zum Beispiel verbringen könnten, Aber folgendes ist richtig : Wir fangen damit an, daszu tun, was wir brauchen, und werden wir, wenn wir das fortsetzen, nicht notwendig zu einanderkommen müssen?Ich bitte, schreibe mir genau über Deine Prager Zukunft, ich werde vielleicht etwas nochvorbereiten können, ich tue es gern.

Dein Franz

An Hedwig W.(Prag,) 19. September (1907)

Liebe,wie Du mich verkennst und ich weiß nicht, ob nicht eine leichte Abneigung gegen jemanden dazunötig ist, um ihn so verkennen zu wollen. Ich werde Dich nicht überzeugen können, aber ich bin garnicht ironisch gewesen; alle Dinge, die ich wissen wollte und die Du mir geschrieben hast, sind fürmich wichtig gewesen und sie sind es. Und gerade die Sätze, die Du ironisch nennst, wollten nichtsals das Tempo nachahmen, mit dem ich an ein paar schönen Tagen Deine Hände streicheln durfte,ob darin von Feldhütern oder von Paris die Rede war, das ist fast nebensächlich gewesen.Wieder früh unterbrochen worden und jetzt nach Mitternacht recht müde fortgesetzt:Ja, es hat sich entschieden, aber erst heute. Andere Menschen entschließen sich nur selten undgenießen dann den Entschluß in den langen Zwischenräumen, ich aber entschließe michunaufhörlich, so oft wie ein Boxer, nur boxe ich dann nicht, das ist wahr. Übrigens sieht das nur soaus und meine Angelegenheiten werden hoffentlich bald auch das ihnen entsprechende Aussehnbekommen.Ich bleibe in Prag und werde sehr wahrscheinlich in einigen Wochen einen Posten bei einerVersicherungsgesellschaft bekommen. Diese Wochen werde ich unaufhörlich Versicherungswesenstudieren müssen, doch ist es sehr interessant. Alles andere werde ich Dir sagen können, bis Dukommst, nur muß ich natürlich vorsichtig sein und die jetzt mit mir beschäftigte Vorsehung nichtnervös machen, darum darfst D u niemandem, auch nicht dem Onkel, davon sagen.Wann kommst Du also? Über Wohnung und Kost schreibst Du undeutlich. Meine BereitwilligkeitDir zu helfen wird - Du weißt es und doch sagst Dus nicht - dadurch daß das Papier einen Rand hat,nicht kleiner, aber, ich habe es Dir gesagt, meine Bekanntschaft ist leider sehr klein, und wo ichangefragt habe, war es umsonst, denn man hat Lehrerinnen aus früheren Jahren. Jedenfalls werdeich Sonntag im »Tagblatt« und in der »Bohemia« diese Annonce einstellen lassen:»Ein junges Mädchen, welches die Matura abgelegt hat und früher an der Wiener, jetzt an derPrager Universität Französisch, Englisch, Philosophie und Pädagogik studiert, sucht Stunden alsLehrerin zu Kindern, die sie nach ihren bisherigen Unterrichtserfolgen sehr gut behandeln zukönnen glaubt, oder als Vorleserin oder als Gesellschafterin.«Zuschriften hole ich dann aus der Administration. Ich würde als Adresse Triesch postlagerndangeben, aber vielleicht bist Du nächste Woche schon in Prag.Ich werde natürlich noch weitersuchen, denn viel darf man sich darauf nicht verlassen, es müßtedenn der Prager Zufall Dir so Glück wünschen, wie ich.

Dein Franz

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An Max Brod(Prag,) 22.9. 1907

Mein lieber Max! Das ist nun so. Andere Leute entschließen sich einmal von Zeit zu Zeit undinzwischen genießen sie ihre Entschlüsse. Ich aber entschließe mich so oft wie ein Boxer, ohnedann allerdings zu boxen.Ja, ich bleibe in Prag.Ich werde in der nächsten Zeit wahrscheinlich hiereinen Posten bekommen (durchaus nichts Ungemeines) und nur um die arbeitende Vorsehung nichtnervös zu machen, habe ich nichts Genaueres darüber geschrieben und tue es auch nicht.Ich freue mich auf Dich.

Dein Franz

An Hedwig W.(Prag,) 24. Sept. (1907)

Dein Brief kam merkwürdigerweise am Abend, Liebe, deshalb nur das in Eile, damit Du esrechtzeitig bekommst.Der Einfall, der Onkel soll an Mama schreiben, ist sehr gut und man darf nurmir Vorwürfe machen, daß ich nicht selbst darauf gekommen bin.Wie ist denn das, Du willst mir wieder entlaufen oder drohst es doch? Genügt es, daß ich in Pragbleibe, um Deine Pläne zu entmutigen? Ich bitte komm, gerade ehe Dein Brief kam, dachte ichdaran, daß es schön wäre, wenn wir immer am Sonntag Vormittag jenes französische Buchzusammen lesen würden, das ich jetzt manchmal lese (ich habe jetzt sehr wenig Zeit) und das ineinem frierenden und doch zerfaserten Französisch geschrieben ist, wie ich es liebe, also komm, ichbitte.Deine Meinung, daß Du alles bezahlen sollst, was ich für Dich zu meinem Vergnügen unternehme,hat mich gefreut. Doch ist die Ausgabe für die Annoncen, die ich beilege, (damit Du siehst, wieungeschickt und schlecht sie sich ausnehmen) zu unbedeutend, aber die Rechnung für denChampagner, den ich gestern nacht auf Dein wohl getrunken habe - hast Du nichts gemerkt? -werde ich Dir schicken lassen.Die Kleinigkeiten, die Dich jetzt ärgern und müde machen, sind nur beim erstenmal so schlimm,beim zweitenmal erwartet man sie schon und deshalb sind sie dann schon interessant. Zum Mutgehört nur eine halbe Wendung. Komm.

Dein Franz

An Hedwig W.(Prag,) 24. Sept. (1907)

Immerhin ein matter Erfolg, wie Du siehst, Liebe.Ich habe die Briefe aufgemacht, weil ich dachte, ich könnte Dir mit Erkundigungen helfen. Nun daseine sieht ja vertrauenerweckend jüdisch aus und ich werde nachfragen, was für Leute es sind,jedenfalls schreibe ich ihnen.Das andere ist ein bischen romanhaft. Du sollst - ich übersetze es - unter der bezeichneten Chiffreschreiben, unter welchen Bedingungen Du deutsche Conversation mit einem 21jährigen Fräuleintreiben würdest, dreimal in der Woche ev. Auf Spaziergängen. Antworten könntest Du doch, umdes Spaßes willen.Beides müßte aber schnell sein; ich glaube nicht, daß noch irgendeine Zuschrift kommt, jedenfallswerden wir es in den nächsten Tagen wiederholen.Ich grüße Dich bestens; laß Mama schreiben, vergiß nicht und komm

Dein Franz

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An Max Brod(Postkarte. Prag, Stempel: 8. X. 1907)

Lieber Max - Auf der Gasse geschrieben, um Dir rasch zu antworten. - Warum hast Du für Deinefreie Zeit ein so schlechtes, für ausgeliehene Bücher ein so gutes Gedächtnis. Ich komme immerhinFreitag. - von der Operation wußte ich nichts. Ich frage nur (deshalb schreibe ich nur auf einerKarte), warum straft so der liebe Gott Deutschland, Blei und uns. Besonders mich, der ich doch bis1/4 7 abends �

Dein Franz

An Hedwig W.(Prag, Anfang Oktober 1907)

Nun soll ich Dir wieder mit braunen Strichen schreiben, weil die schon zum schlafen Eingesperrtendie Tinte haben und der in Dich verliebte Bleistift sich gleich finden läßt. Liebe, Liebe, wie schönist es, daß das Sommerwetter mitten im Herbste kommt, und wie gut ist es, denn wie schwer wärees, den Wechsel der Jahreszeiten zu ertragen, wenn man ihnen nicht innerlich das Gleichgewichthalten würde. Liebe, Liebe, mein Nachhauseweg aus dem Bureau ist erzählenswert, besonders, daer das einzige von mir Erzählenswerte ist. Ich komme im Sprunge um 6 1/4 Uhr aus dem großenPortal, bereue die verschwendete Viertelstunde, wende mich nach rechts und gehe denWenzelsplatz hinunter, treffe dann einen Bekannten, der mich begleitet und mir einiges Interessanteerzählt, komme nachhause, mache meine Zimmertüre auf, Dein Brief ist da, ich gehe in DeinenBrief hinein, wie einer von den Feldwegen müde ist und jetzt in Wälder kommt. Ich verirre michzwar, aber ich bin deshalb nicht ängstlich. Möchte jeder Tag so enden.

8. 10.Liebes Kind, wieder ein Abend nach ein paar so schnell vergangenen Abenden. Mag die Aufregungdes Briefeschreibens deutlich mit einem Klecks anfangen.Mein Leben ist jetzt ganz ungeordnet Ich habe allerdings einen Posten mit winzigen 80 K Gehaltund unermeßlichen 8-9 Arbeitsstunden, aber die Stunden außerhalb des Bureaus fresse ich wie einwildes Tier. Da ich bisher gar nicht gewohnt war, mein Tagesleben auf 6 Stunden einzuschränken,und ich außerdem noch Italienisch lerne und die Abende dieser so schönen Tage im Freiemverbringen will, komme ich aus dem Gedränge der freien Stunden wenig er holt heraus.Nun im Bureau. Ich bin bei der Assicurazioni-Generali, und habe immerhin Hoffnung, selbst aufden Sesseln sehr entfernter Länder einmal zu sitzen, aus den Bureaufenstern Zuckerrohrfelder odermohammedanische Friedhöfe zu sehn, und das Versicherungswesen selbst interessiert mich sehr,aber meine vorläufige Arbeit ist traurig, Und doch ist es manchmal hübsch, die Feder dorthinzulegen und sich vielleicht vorzustellen, daß man Deine Hände aufeinanderlegt, sie mit einerHand umfaßt, und jetzt zu wissen, man würde sie nicht loslassen, selbst wenn einem die Hand imGelenk ausgeschraubt würde.Adieu

Dein Franz

An Max Brod(Postkarte. Prag, Stempel: 26. X. 1907)

Lieber Max - Ich kann erst frühestens um 1/2 11 oder 11 Uhr kommen, denn man will sich dortmeinen Körper ansehn. Da es jetzt fast sicher ist, daß ich unglücklich bleiben soll, unglücklich mitLachen meinethalben, so schaut man sich meinen Körper nur aus uneigennützigstem Vergnügen an.

Dein Franz

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An Hedwig W.(Prag, wahrscheinlich November 1907)

Liebes Mädchen, verzeihe mir, wenn ich nicht gleich geantwortet habe, aber ich verstehe es nochnicht, die paar Stunden gut auszunützen, denn gleich ist Mitternacht wie jetzt. Glaube nicht, daß dasschöne Wetter Dich bei mir verdrängt, nur die Feder verdrängt es, Liebe. Aber Deine Fragen werdeich alle beantworten.Ob ich bald und weit versetzt werde, weiß ich nicht, vor einem Jahr wohl kaum, am hübschestenwäre es, wenn ich von der Gesellschaft wegversetzt würde, das ist nicht ganz unmöglich.Über die Arbeit klage ich nicht so, wie über die Faulheit der sumpfigen Zeit. Die Bureauzeitnämlich läßt sich nicht zerteilen, noch in der letzten halben Stunde spürt man den Druck der 8Stunden wie in der ersten. Es ist oft wie bei einer Eisenbahnfahrt durch Nacht und Tag, wenn manschließlich, ganz furchtsam geworden, weder an die Arbeit der Maschine des Zugführers, noch andas hügelige oder flache Land mehr denkt, sondern alle Wirkung nur der Uhr zuschreibt, die manimmer vor sich in der Handfläche hält.Ich lerne Italienisch, denn zuerst komme ich wohl nach Triest.In den ersten Tagen muß ich für den, der dafür empfindlich ist, sehr rührend ausgesehn haben. Wiees auch wirklich gewesen ist, ich kam mir deklassiert vor; Leute, die nicht bis zum 25ten Jahrwenigstens zeitweise gefaulenzt haben, sind sehr zu bedauern, denn davon bin ich überzeugt, dasverdiente Geld nimmt man nicht ins Grab mit, aber die verfaulenzte Zeit ja.Ich bin um 8 Uhr im Bureau, um 1/2 7 geh ich weg.Voraussetzungslos lustige Menschen? Alle Menschen, die einen ähnlichen Beruf haben, sind so.Das Sprungbrett ihrer Lustigkeit ist die letzte Arbeitsminute; leider verkehre ich gerade nicht mitsolchen Menschen.»Erotes« werden bald unter dem Titel »Weg eines Verliebten« erscheinen, aber ohne meinTitelblatt, das sich als nicht reproduzierbar erwiesen hat.Was Du von dem jungen Schriftsteller schreibst, ist interessant, nur übertreibst Du dieÄhnlichkeiten. Ich versuche bloß mich beiläufig und vorläufig gut anzuziehn, aber vielenMenschen in vielen Ländern aller Erdteile ist es schon gelungen; eben diese pflegen ihre Nägel,manche schminken sie. Spricht er wunderschön französisch, so ist das schon ein bedeutenderUnterschied zwischen uns, und daß er mit Dir verkehren kann, ist ein verdammter Unterschied.Das Gedicht habe ich gelesen, und da Du mir das Recht gibst es zu beurteilen, so kann ich sagen,daß viel Stolz darin ist, der aber, wie ich glaube, leider sehr allein spazieren geht. Im ganzen scheintes mir eine kindliche und deshalb sympathische Bewunderung bewunderungswürdigerZeitgenossen zu sein. Voilá. Aber am übertriebener Empfindlichkeit für das äußere Gleichgewichteiner Wage, die Du in Deinen lieben Händen hältst, schicke ich eine schlechte, vielleicht ein Jahralte Kleinigkeit mit, die er unter denselben Umständen (Du nennst keinen Namen und auch sonstnichts, nicht wahr?) beurteilen soll. Ich werde große Freude haben, wenn er mich ordentlichauslacht. Du schickst mir dann das Blatt wieder zurück, wie ich es auch tue.Jetzt habe ich alles beantwortet und mehr, jetzt kämen meine Rechte. Was Du mir über Dichschreibst, ist so unklar, wie es Dir auch sein muß, Bin ich schuld daran, daß man Dich quält, oderquälst Du Dich und man hilft Dir bloß nicht? »Ein mir sehr sympathischer Mann« »beide hättenConzessionen machen müssen.« In dieser großen mir ganz undeutlichen Stadt Wien bist nur Du mirsichtbar und ich kann Dir jetzt gar nicht helfen, wie es scheint.Darf ich da den Brief nicht schließen, während es traurig eins schlägt?

Dein Franz

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An Hedwig W.12 Uhr (Prag, November 1907)

Also müde, aber gehorsam und dankbar: ich danke Dir. Nicht wahr, es ist alles gut. So sind dieÜbergänge vom Herbst zum Winter oft. Und da jetzt Winter ist, so sitzen wir - es ist doch so - ineinem Zimmer, nur daß die Wände, an denen jeder von uns sitzt, ein bischen weit von einandersind, aber das ist bloß merkwürdig und es müßte nicht sein.Was für Geschichten, wie viele Menschen Du kennst und die Spaziergänge und die Pläne. Ich weißkeine Geschichten, sehe keine Menschen, mache täglich Spaziergänge in Eile durch vier Gassen,deren Ecken ich schon abgerundet habe, und über einen Platz, zu Plänen bin ich zu müde.Vielleicht werde ich von den erfrorenen Fingerspitzen aufwärts - ich trage keine Handschuhe �allmählich zu Holz, dann wirst Du einen netten Briefschreiber in Prag haben und an meiner Handein schönes Besitztum. Und deshalb, da ich so viehisch lebe, muß ich Dich zweifach deshalb umVerzeihung bitten, daß ich Dich nicht in Ruhe lasse.22 Um Gotteswillen, warum habe ich den Brief nicht geschickt?! Du wirst böse sein, oder bloßunruhig. Verzeih mir. Sei auch gegen meine Faulheit oder wie Du es nennen willst, ein bischenfreundlich. Aber es ist nicht nur Faulheit, auch Furcht, allgemeine Furcht vor dem Schreiben, dieserentsetzlichen Beschäftigung, die jetzt entbehren zu müssen mein ganzes Unglück ist. Vor allemaber: nur zitternde Dinge soll man hin Und wieder durch irgendeine Veranstaltung zur Ruhebringen, dahin gehören doch unsere Beziehungen nicht, möchte ich glauben.Und trotz allem, ich hätte Dir längst geschrieben, statt den angefangenen Brief kleinzusammengelegt bei mir zu tragen, aber ich bin jetzt ganz plötzlich unter eine Menge Leutegekommen. Offiziere, Berliner, Franzosen, Maler, Coupletsänger, und die haben mir die paarAbendstunden nun ganz lustig weggenommen, freilich nicht nur die Abendstunden, gestern in derNacht z. B. habe ich dem Kapellmeister eines Orchesters, für das ich keinen Kreuzer Trinkgeldhatte, statt dessen ein Buch geborgt. Und so ähnlich. Man vergißt dabei, daß die Zeit vergeht unddaß man die Tage verliert, darum ist es zu billigen. Meine Grüße, Liebe, und mein Dank

Dein Franz

An Max Brod(Prag, Ende 1907)

Mein lieber Max,in der Freude euch getroffen zu haben, habe ich einige Unvorsichtigkeiten gesagt und erst, als ichvon euch wegging, habe ich mich plötzlich vor folgendem zu fürchten angefangen, nicht wahr, Duschaust zu, daß es nicht geschieht.Daß Dein Vater bei H. Weißgerber sich für Herrn Bäuml verwenden soll, das bleibt bestehn, erkann auch mich nennen, wenn es mir auch nicht sehr angenehm ist, aber auf keinen Fall, ich bitteDich,soll er sagen, daß ich unzufrieden bin, den Posten lassen werde, einen Posten bei der Post bekommeund ähnliches. Das wäre mir ungemein leid, denn Herr Weißgerber hat mich mit nicht kleiner Mühein die Assicurazioni gebracht und ich war, wie es sich nach meiner frühem Verzweiflung schickte,über die Maßen begeistert und habe ihm irrsinnig gedankt. Er hat sich auch gewissermaßen bei derGesellschaft für mich verbürgt und gleich die ersten Worte der Oberbeamten in Gegenwart desHerrn Weißgerber haben davon gehandelt, daß es selbstverständlich sei, daß ich für immer bei derGesellschaft bleibe, wenn ich, was damals noch gar nicht sicher war, einmal aufgenommen würde.Ich habe natürlich mehr als genickt.Natürlich, wenn ich eine Stelle bei der Post bekomme, was noch genügend zweifelhaft ist, wird esdoch zu solchen Erklärungen kommen müssen, aber vorläufig möchte ich, bitte, meine vergangeneVorsehung nicht mit der Fingerspitze verletzen.

Dein Franz

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An Felix Weltsch(Visitenkarte, wahrscheinlich 1907)

Schließlich hat man doch die ganze Stadt in seinem Gefühl. Und da hat es mich an der Stelle IhresZimmers immer schmerzlich gezogen, weil Sie dort so verzweifelt gelernt haben. Jetzt ist esvorüber. Gott sei Dank!

Ihr Franz K.

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1908

An Max Brod(Prag, Stempel: 11. I. 1908)

Ich bitte Dich, mein lieber, lieber Max, selbst wenn Du früher den Abend anders verwendenwolltest, warte auf mich, damit ich niemanden vom Theater abholen, nicht im Gummiradler fahren,auf keinem Kaffeehausbalkon sitzen, in keine Bar gehn, jenes gestreifte Kleid nicht ansehn muß.Hättest Du jeden Abend für mich Zeit!

An Hedwig W.(Prag, vermutlich Anfang 1908)

Liebe, einmal im Bureau bei Schreibmaschinenmusik, in Eile und mit graziösen Fehlern. Ich hätteDir ja längst schon für Deinen Brief danken sollen und jetzt ist es wieder schon so spät. Aber ichglaube, Du hast mir schon für immer in solchen Dingen verziehen, denn wenn es mir gut geht, dannschreibe ich schon - es ist schon lange her und ich hatte es damals nicht nötig - sonst langsam. Undwie gut Du mich auch in Deinem Brief behandelt hast, so hast Du doch versäumt, mir einKompliment zu machen, wegen der Energie, mit der ich meinen Kopf so gerne in irgend einenStraßenboden graben und nicht wieder herausziehen wollte. Ich habe bisher, wenn auch in Pausen,doch rechtmäßig gelebt, denn es ist in gewöhnlicher Zeit nicht zu schwer, sich eine Sänfte zukonstruieren, die man von guten Geistern über die Straße getragen werden fühlt. Bricht dann, (sowollte ich weiterschreiben, aber es war schon 8 1/4 und ich ging nachhause) bricht dann aber einHölzchen, gar bei schlechterem Wetter, so steht man auf der Landstraße, kann nichts mehrzusammenbringen und ist noch weit von der gespenstischen Stadt, in die man wollte. Erlaube mir,solche Geschichten über mir zusammenzuziehen, wie ein Kranker Tücher und Decken über sichwirft.Das war schon längst geschrieben, da kam heute Dein Brief, Liebe.Mag jetzt die dritte Schrift anfangen, eine von dreien wird doch vielleicht das aufgeregte überreizteKind beruhigen können. Nicht wahr, jetzt setzen wir uns unter diese Dreischriftfahne blau braunschwarz und sagen zusammen dieses auf und geben acht, daß jedes Wort sich deckt : »Das Lebenist ekelhaft«. Gut, es ist ekelhaft, aber es ist nicht mehr so arg, wenn man es zu zweien sagt, denndas Gefühl, das einen zersprengt, stößt an den andern, wird durch ihn gehindert, sich auszubreiten,und sicher sagt man : »Wie hübsch sie �ekelhaftes Leben< sagt und mit dem Fuß aufstampft dabei«.Die Welt ist traurig, aber doch gerötet traurig, und ist lebhafte Trauer von Glück so weit?Weißt Du, ich hatte eine abscheuliche Woche, im Bureau überaus viel zu tun, vielleicht wird dasjetzt immer so sein, ja man muß sich sein Grab verdienen, und auch anderes kam noch dazu, wasich Dir später einmal sagen werde, kurz man hat mich herumgejagt wie ein wildes Tier, und da ichdas gar nicht bin, wie müde mußte ich sein.Ich paßte vorige Woche wirklich in diese Gasse, in der ich wohne und die ich nenne »Anlaufstraßefür Selbstmörder«, denn diese Straße führt breit zum Fluß, da wird eine Brücke gebaut, und dasBelvedere auf dem andern Ufer, das sind Hügel und Gärten, wird untertunelliert werden, damit mandurch die Straße über die Brücke, unter dem Belvedere spazieren kann. Vorläufig aber steht nur dasGerüst der Brücke, die Straße fuhrt nur zum Fluß. Aber das ist alles nur Spaß, denn es wird immerschöner bleiben, über die Brücke auf das Belvedere zu gehn, als durch den Fluß in den Himmel.Deine Lage verstehe ich; es ist ja närrisch, was Du zu lernen hast und Du darfst nervös werden,ohne daß man Dir jemals nur mit einem Wort einen Vorwurf machen dürfte. Aber schau, immerhinDu kommst doch sichtbar vorwärts, Du hast ein Ziel, das Dir nicht entlaufen kann wie ein Mädchenund das Dich doch jedenfalls, auch wenn Du Dich wehren wirst, glücklich machen wird; ich aber

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werde ein ewiger Brummkreisel bleiben und ein paar Leuten, die mir vielleicht nahe kommenwerden, das Trommelfell ein Weilchen quälen, sonst nichts.Es hat mich sehr gefreut, daß in Deinem Brief ein offenbarer Fehler vorkommt, den Du selbstgleich zugeben mußt, denn diese Woche ist nur e in Feiertag bei uns, der andere muß einniederösterreichisches Glück sein; in diesen Sachen darfst Du mit mir nicht streiten, denn ich kennealle Feiertage schon auswendig bis Anfang Mai. In allem andern darfst Du mit mir streiten odernoch ärger, Du kannst mir sogar den Streit verweigern, aber ich bitte Dich noch hier am Rande, tuees nicht.

Dein Franz

An Max Brod

(Briefkopf der Assicurazioni Generali Prag, Stempel: 29. III. 1908)

Mein lieber Max,einen wie unvorteilhaften Anfangsbuchstaben hast Du! Bei meiner Federhaltung kann ich ihm,wenn ich es auch gerne möchte, nichts Gutes tun.Aber da ich zu viel zu tun habe und hier Sonnenschein ist, habe ich im leeren Bureau eine fastvorzügliche Idee bekommen, deren Ausführung äußerst billig ist. Wir könnten statt unseresgeplanten Nachtlebens von Montag zu Dienstag ein hübsches Morgenleben veranstalten, uns umfünf Uhr oder um halb sechs bei der Marienstatue treffen - bei den Weibern kann es uns dann nichtfehlen - und insTrocadero oder nach Kuchelbad gehn oder ins Eldorado. Wir können dann, wie esuns passen wird, im Garten an der Moldau Kaffee trinken oder auch an die Schulter der Joszigelehnt. Beides wäre zu loben. Denn im Trocadero würden wir uns nicht übel machen; es gibtMillionäre und noch Reichere, die um sechs Uhr früh kein Geld mehr haben, und wir kämen so,durch alle übrigen Weinstuben ausgeplündert, jetzt leider in die letzte, um, weil wir es brauchen,einen winzigen Kaffee zu trinken, und nur weil wir Millionäre waren � oder sind wir es noch, werweiß das am Morgen -, sind wir imstande, ein zweites Täßchen zu zahlen.Wie man sieht, braucht man zu dieser Sache nichts als ein leeres Portemonnaie und das kann ichDir borgen, wenn Du willst. Solltest Du aber zu diesem Unternehmen zu wenig mutig, zu wenigknickerig, zu wenig energisch sein, dann mußt Du mir nicht schreiben und triffst mich Montag umneun; wenn Du es aber bist, dann schreibe mir gleich eine Rohrpostkarte mit Deinen Bedingungen.

An Max Brod(Prag, wahrscheinlich Mai 1908)

Da hast Du, lieber Max, zwei Bücher und ein Steinchen, Ich habe mich immer angestrengt, fürDeinen Geburtstag etwas zu finden, das infolge seiner Gleichgültigkeit sich nicht ändern, nichtverloren gehn, nicht verderben und nicht vergessen werden kann, Und nach dem ich dannmonatelang nachgedacht habe, wußte ich mir wieder nicht anders zu helfen, als ein Buch zuschicken. Aber mit den Büchern ist es eine Plage, sind sie von der einen Seite gleichgültig, dannsind sie von der andern um dieses wieder interessanter und dann zog mich zu den gleichgültigennur meine Überzeugung hin, die bei mir bei weitem nicht den Ausschlag gibt, und ich hielt amEnde, noch immer anders überzeugt, ein Buch in der Hand, das vor Interessantheit nur so brannte.Einmal habe ich auch absichtlich Deinen Geburtstag vergessen, das war ja besser als ein Buchschicken, aber gut war es nicht. Darum schicke ich jetzt das Steinchen und werde es Dir schicken,solange wir leben. Behältst Du es in der Tasche, wird es Dich beschützen, läßt Du es in einemSchubfach, wird es auch nicht untätig sein, wirfst Du es aber weg, dann ist es am besten. Dennweißt Du, Max, meine Liebe zu Dir ist größer als ich, und mehr von mir bewohnt als daß sie in mir

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wohnte, und hat auch einen schlechten Halt an meinem unsichern Wesen, so aber bekommt sie indem Steinchen eine Felsenwohnung und sei es nur in einer Ritze der Pflastersteine in derSchalengasse. Sie hat mich schon seit langem öfter gerettet, als Du weißt, und gerade jetzt, wo ichmich weniger auskenne als jemals und mich bei ganzem Bewußtsein nur im Halbschlaf fühle, nurso äußerst leicht, nur gerade noch - ich gehe ja herum wie mit schwarzen Eingeweiden , da tut esgut, einen solchen Stein in die Welt zu werfen und so das Sichere vom Unsichern zu trennen. Wassind Bücher dagegen! Ein Buch fängt an, Dich zu langweilen, und hört damit nicht mehr auf: oderDein Kind zerreißt das Buch oder, wie das Buch von Walser, es ist schon zerfallen, wenn Du esbekommst. An dem Stein dagegen kann Dich nichts langweilen, so ein Stein kann auch nichtzugrundegehn und wenn, so erst in späten Zeiten, auch vergessen kannst Du ihn nicht, weil Dunicht verpflichtet bist, Dich an ihn zu erinnern, endlich kannst Du ihn auch niemals endgültigverlieren, denn auf dem ersten besten Kiesweg findest Du ihn wieder, weil es eben der erste besteStein ist. Und noch durch ein größeres Lob könnte ich ihm nicht schaden, denn schaden aus Lobentsteht nur daraus, daß das Gelobte beim Lob zerdrückt, beschädigt oder verlegen wird. Aber dasSteinchen? Kurz, ich habe Dir das schönste Geburtstagsgeschenk ausgesucht und überreiche es Dirmit einem Kuß, der den unfähigen Dank dafür ausdrücken soll, daß Du da bist.

Dein Franz

An Max Brod(Briefkopf der Assicurazioni Generali)

Prag, 9. 6. 1908Lieber Max,ich danke Dir. Sicher verzeihst Du mir Unglücklichem, daß ich Dir nicht früher gedankt habe, wennich Sonntag Vormittag und Nachmittaganfangs mich ganz nutzlos, schrecklich nutzlos, allerdingsbloß durch meine Körperhaltung nur, um einen Posten bewarb, den weitem Nachmittag bei meinemGroßvater gesessen bin, doch oft ergriffen von den freien Stunden, und dann in der Dämmerungfreilich im Sopha neben dem Bett der lieben H. gewesen bin, während sie unter der roten Deckeihren Bubenkörper schlug. Abends in der Ausstellung mit der andern, in der Nacht in Weinstuben,um 1/2 6 zuhause. Da erst habe ich zum erstenmal Dein Buch gesehn, für das ich Dir wieder danke.Gelesen habe ich nur wenig, das was ich schon kannte. Was für ein Lärm, ein wie beherrschterLärm.

Dein Franz

An Max Brod(Postkarte. Prag, Stempel: 22. VIII. 1908)

Ich danke Dir aufrichtig, mein lieber Max, nur daß mir noch immer die Unklarheit der Tatsachenklarer ist als Deine Belehrung. Das einzige was ich aber überzeugend daraus erkenne, ist, daß wirnoch lange und oft den Kinema, die Maschinenhalle und die Geishas zusammen uns ansehenmüssen, ehe wir die Sache nicht nur für uns, sondern auch für die Welt verstehen werden. Montagaber kann ich nicht, dagegen von Dienstag ab jeden Tag. Ich erwarte Dich Dienstag um 4 Uhr.

Dein Franz

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An Max Brod(Ansichtskarte. Tetschen a.E., Stempel: 2. IX. 1908)

Mein lieber Max,.Jetzt um 5 Uhr die Langweile von 6 Stunden Arbeit mit Milch in sich hinuntertrinken, das hat nochbeiläufigen Sinn. Aber sonst. Sonst gibt es noch einiges: sehr gutes Essen früh, mittag, abend undim Hotelzimmer wohnen. Hotelzimmer habe ich gerne, im Hotelzimmer bin ich gleich zu Hause,mehr als zu Hause, wirklich.

Dein FranzIch komme schon Donnerstag Nachmittag.

An Max Brod(Ansichtskarte. Èerno�ic, Stempel: 9. IX. 1908)

Damals lag ich bis zwölf im Bett und nachmittag ist es nicht besser gewesen. Der vorige Tag mitder Nacht war daran schuld. Daß ich in Èerno�ic bin, ist nicht merkwürdig, Möchte es euch nochbesser gehn als mir.

F. K.An Max Brod

(Ansichtskarte. Spitzberg/Böhmerwald, September 1908)Mein lieber Max,ich sitze unter dem Verandendach, vom will es zu regnen anfangen, die Füßeschütze ich, indem ich sie von dem kalten Ziegelboden auf eine Tischleiste setze und nur die Händegebe ich preis, indem ich schreibe. Und ich schreibe, daß ich sehr glücklich bin und daß ich frohwäre, wärest Du hier, denn in den Wäldern sind Dinge, über die nachzudenken man Jahre lang imMoos liegen könnte. Adieu, ich komme ja bald.

Dein FranzAn Max Brod

(Prag, September 1908)Mein lieber Max, - es ist halb eins Nacht, also eine ungewöhnliche Zeit zum Briefschreiben, selbstwenn die Nacht so heiß wie heute ist. Nicht einmal Nachtfalter kommen zum Licht.- Nach den glücklichen acht Tagen im Böhmerwald - die Schmetterlinge fliegen dort so hoch wiedie Schwalben bei uns - bin ich jetzt vier Tage in Prag und so hilflos. Niemand kann mich leidenund ich niemand, aber das Zweite ist erst die Folge, nur Dein Buch, das ich jetzt endlichgeradenwegs lese, tut mir gut. So tief im Unglück ohne Erklärung war ich schon lange nicht. Solange ich es lese, halte ich mich daran fest, wenn es auch gar nicht Unglücklichen helfen will, abersonst muß ich so dringend jemanden suchen, der mich nur freundlich berührt, daß ich gestern miteiner Dirne im Hotel war. Sie ist zu alt, um noch melancholisch zu sein, nur tut ihr leid, wenn es sieauch nicht wundert, daß man zu Dirnen nicht so lieb wie zu einem Verhältnis ist. Ich habe sie nichtgetröstet, da sie auch mich nicht getröstet hat.

An Max Brod(Postkarte. Prag, Stempel: 25. X. 1908)

Ja mein lieber Max, wie gern komme ich Dienstag und sehr bald. Ich habe jetzt nur eine Frage,wenn Du sie mir gleich beantworten könntest. Wenn z.B. acht Personen im Horizont einesGespräches sitzen, wann und wie hat man da das Wort zu nehmen, um nicht für schweigendangesehen zu werden. Das kann doch um Himmelswillen nicht willkürlich geschehn, gar wenn manan der Sache geradezu wie ein Indianer unbeteiligt ist, Hätte ich Dich doch früher gefragt!

Dein FranzNB. Mein Papa hat mir keinen Balkonsitz zur »sorciere« gekauft!

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An Oskar Baum(Prag,) 6. 11. 1908

Sehr geehrter Herr Baum!Sie machen mir gleichzeitig Freude durch das Erscheinen Ihres Buches (ich habe es noch nichtgelesen, ich bin begierig es zu tun) und durch Ihre Einladung von gestern, ich danke schön,natürlich werde ich kommen. Nehmen Sie es mir nicht als Undank, wenn ich ein Buch mitbringeund nicht sehr wenig vorlesen will.Hoffentlich ist es Ihnen nicht ungelegen, wenn wir statt Montag Mittwoch kommen, wie Ihnen Maxschon geschrieben hat.Ihrer liebenswürdigen Frau küsse ich die Hand.

Ihr F. Kafka

An Max Brod(Postkarte. Prag, Stempel: 21. XI. 1908)

Mein lieber Max, nach den Zeitungen scheint sich ja alles herrlich für Dich zu machen und ichbeglückwünsche deshalb natürlich Dich und mich und alle; wenn ich auch, wie ich schon gesagthabe, nicht weiß, wo hier das Glück steckt, so muß ich mich doch freuen, daß man Dir zu einerähnlichen Einsicht die Möglichkeit geben wird.

Dein Franz

An Max Brod(Kartenbrief. Prag, Stempel: 10. XII. 1908)

Mein lieber Max - Wenn ich heute zu Dir gekommen wäre - es tut ja nichts, ich komme ebenmorgen - so hätte ich Dich gebeten - wie ich es jetzt tue, denn eine solche Überraschung hättekeinen Sinn es irgendwie und nicht boshaft einzurichten, daß ich morgen abend nicht hingehenmuß. Denn ich bin, wie ich heute früh vor dem Waschen eingesehen habe, seit zwei Jahrenverzweifelt und nur die größere oder kleinere Begrenzung dieser Verzweiflung bestimmt die Artder gegenwärtigen Laune. Und ich bin im Kaffeehaus, habe ein paar hübsche Sachen gelesen, binwohlauf und schreibe daher nicht so überzeugt, wie ich es zuhause wollte. Aber das beweist nichtsdagegen, daß ich seit zwei Jahren beim Aufstehn früh keine Erinnerung habe, die für mich, denzum Trost Kräftigen, zur Tröstung kräftig genug wäre.Ich gehe nirgends hin, auf keinen Fall. Franz

An Max Brod(Prag,) 15. XII. 1908

Mein lieber Max,ich muß Dir vor morgen noch für »Diderot« danken. Ein solches Vergnügen habeich wirklich gebraucht, das immer vor einem bleibt, wenn man darauf losgeht, das aber auch zugleich immer mehr um einen sich schließt, je weiter man kommt.Ich habe mir schon letzthin über Kassner und einiges andere den folgenden Satz aufgeschrieben:Es gibt nie von uns gesehene, gehörte oder auch nur gefühlte Dinge, die sich außerdem nichtbeweisen lassen, wenn es auch noch niemand versucht hat, und hinter denen man doch gleichherläuft, trotzdem man die Richtung ihres Laufes nicht gesehen hat, die man einfängt, ehe man sieerreicht hat Lmd in die man einmal fällt mit Kleidern, Familienandenken und gesellschaftlichenBeziehungen, wie in eine Grube, die nur ein Schatten auf dem Wege war.Doch soll das nur Gelegenheit sein, Dich zu grüßen und Deiner Arbeit viel Glück zu wünschen.

Dein Franz

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An Elsa Taussig(Prag, 28. Dezember 1908)

Gnädiges Fräulein,erschrecken Sie nicht, ich will Sie nur, wie ich es übernommen habe, rechtzeitig daran erinnern(und möglichst spät, damit Sie nicht mehr daran vergessen), daß Sie heute abend mit IhrerSchwester ins »Orient« gehen wollten.Schreibe ich mehr, ist es überflüssig und verringert gar noch die Bedeutung des Vorigen, aber ichhabe immer noch leichter das Überflüssige getan als das fast Notwendige. Dieses fast Notwendigehabe ich nämlich immer leiden lassen, gestehe ich. Ich kann es gestehn, weil es natürlich ist.Denn man ist so froh, daß man das ganz Notwendige fertig gebracht hat (dieses mußselbstverständlich immer gleich geschehn, wie könnten wir uns sonst am Leben erhalten für denKinematographen - vergessen Sie nicht an heute abend - für Turnen und Duschen, für alleinWohnen, für gute Äpfel, für Schlafen, wenn man schon ausgeschlafen ist, für Betrunkensein, füreiniges Vergangene, für ein heißes Bad im Winter, wenn es schon dunkel ist und für wer weiß wasnoch), man ist dann so froh, meine ich, daß man, weil man eben so froh ist, das Überflüssige ebenmacht, aber gerade das fast Notwendige ausläßt.Ich führe das nur deshalb an, weil ich nach dem Abend in Ihrer Wohnung wußte, daß es für michfast notwendig sei, Ihnen zu schreiben. Ich versäumte dies endgiltig, denn nach der letztenKinematographenvorstellung - Sie müssen das auseinanderhalten � war jener Brief noch immer fastnotwendig, doch war diese beiläufige Notwendigkeit schon etwas vergangen, aber natürlich nacheiner andern, förmlich wertloseren Richtung, als es jene ist, in der das Überflüssige liegt.Als Sie mir aber letzthin sagten, ich solle Ihnen schreiben, um meine Schrift zu zeigen, gaben Siemir gleich alle Voraussetzungen des Notwendigen und damit des Überflüssigen in die Hand.Und doch wäre jener fast notwendige Brief nicht schlecht gewesen.Sie müssen bedenken, daß das Notwendige immer, das Überflüssige meistens geschieht, das fastNotwendige wenigstens bei mir nur selten, wodurch es, allen Zusammenhanges beraubt, leichtkläglich, will sagen unterhaltend werden kann.Es ist also schade um jenen Brief, denn es ist schade um Ihr Lachen über jenen Brief, womit ichaber - Sie glauben mir bestimmt - gar nichts gegen Ihr übriges Lachen sagen will, auch nicht z.B.gegen jenes, das Ihnen beute der »galante Gardist« bereiten wird oder gar der »durstige Gendarm«.

Ihr Franz K.

An Max Brod(Prag,) 31. XII. 1908

Mein lieber Max, nein, ich danke Dir, das nicht, das lieber nicht.(Übrigens bekam ich Deine Karte erst um vier Uhr, als ich schon zu Dir gehen wollte, ich legtemich schlafen, bin jetzt um viertel sieben aufgestanden und wenn man will, noch ein wenigverschlafen.)Es sind ja Gäste bei euch, wer hat Dir gesagt, daß sie mich haben oder auch nur ertragen wollen;dann tröste ich mich schon seit vier Tagen beim Aufwachen mit der Aussicht auf den heutigenSchlaf; und vor allem zum Thee kämen wir zwar, aber zum heiligen Antonius sicher nicht und an»die Glücklichen« wäre gar nicht zu denken.Nun gibt es aber gegenwärtig nichts, was mir wichtiger wäre als »die Glücklichen«, und deshalbwünsche ich Dir besonders ernsthaft ein glückliches Neujahr und bitte Dich, nicht langeaufzubleiben und zu arbeiten.Adieu mein lieber Max, sage Deiner Familie einen Neujahrsglückwunsch von mir und schreibe mir,wann ich wieder zuhören kann.

Dein Franz

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An Max Brod(Prag, 1908)

Mein lieber Max,möchtest Du Dich nicht morgen, Mittwoch abends, von mir abholen lassen; Du wirst Dich dochauch von Pøíbram verabschieden und so könntest Du es gut machen. Aus meiner Bewußtlosigkeit inder Nacht am Samstag bin ich schon herausgekommen, Du kennst das nicht, es ist natürlich auchdas daran schuld, daß ich schon so lange nicht in Gesellschaft gewesen bin, aber nicht nur das, demwäre zu helfen ; genau so ist mir auch damals im »London« gewesen, bei der Joszi und Maltschi.Sonntag aber war ich wieder hoch. Ich war beim »Vizeadmiral« und ich behaupte, daß man, wennein Stück Geschrieben werden muß, nur bei Operetten lernen kann und selbst wenn es einmal obengleichgültig und ohne Ausweg wird, fängt unten der Kapellmeister etwas an, hinter der Meerbuchtschießen Kanonen aller Systeme ineinander, die Arme und Beine des Tenors sind Waffen undFahnen und in den vier Winkeln lachen die Choristinnen, auch hübsche, die man als Seeleuteangezogen hat.Übrigens werde ich auch, wenn Du morgen kommen willst und mir so schreibst, Dir meinen neuenÜberzieher zeigen, wenn er fertig sein wird und wir Mondschein haben.

Dein Franz

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1909

An Hedwig W.(Prag,) 7. I. 1909

Geehrtes Fräulein,Hier sind die Briefe, ich lege auch die heutige Karte bei und habe keine Zeile mehr von Ihnen.Deshalb darf ich Ihnen sagen, daß Sie mir eine Freude machen würden, durch die Erlaubnis, mitIhnen zu reden. Es ist Ihr Recht. Das für eine Lüge zu halten, doch wäre diese Lüge gewissermaßenzu groß, als daß Sie sie mir zutrauen dürften, ohne hiebei eine Art Freundlichkeit zu zeigen, Dazukommt noch, daß gerade die Meinung, es handle sich um eine Lüge, Sie notwendig nochaufmuntern müßte, mit mir zu reden, ohne daß ich damit sagen will, meine mögliche Freude überdie Erlaubnis könne Sie zu deren Verweigerung bewegen.Im Übrigen kann Sie (ich hätte Freude, vergessen Sie das nicht) keine Überlegung zwingen. Siekönnen ja Ekel oder Langweile befürchten, vielleicht fahren Sie schon morgen weg, es ist auchmöglich, daß Sie diesen Brief gar nicht gelesen haben.Sie sind für morgen mittag bei uns eingeladen, ich bin kein Hindernis für die Annahme derEinladung, ich komme immer erst um 1/4 3 Uhr nach Hause; wenn ich höre, daß Sie kommensollen, bleibe ich bis 1/2 4 weg; es ist übrigem auch schon vorgekommen und man wird sich nichtwundern.

F. Kafka

An Max Brod(Postkarte. Prag, Stempel: 13. I. 1909)

Mein lieber Max, ich war gestern bei B., war also durch Deine und der schönen Nacht Schuld langeauf und bin so müde, daß ich blödsinnig vor Schläfrigkeit bin; Gott weiß warum, aber ich haltenichts mehr aus. Ich werde also schlafen und komme gegen sechs; abend will ich zu Pøíbramstudieren gehn, nicht nur, daß ich die Sache brauche, daß sie mich ein wenig interessiert, daß ich P.in seiner Eile jetzt wirklich helfen muß, will ich ihn auch wegen des Postens immer im Auge haben.Es wäre ja nicht viel, aber doch etwas und Du bist in der letzten Zeit - scheint mir - nervösgeworden, trotzdem ich es für Dich nicht begreifen kann.

Dein Franz

An Max Brod(Postkarte. Prag, Stempel: 21. I. 1909)

Mein lieber Max, ich habe Dir, Du erinnerst Dich, von der »Bohemia« erzählt, etwas zuzuversichtlich, finde ich jetzt. Nun würde mir eine Zurückweisung sehr leid tun, nicht so sehrwegen der Zurückweisung, als wegen der Sache selbst. Deshalb will ich alles tun, um mich zusichern und ich kann nicht dafür, daß dieses »ich will alles tun« nur bedeutet »bitte, hilf mir«. Ichkomme also zwischen vier und fünf, glaube ich, morgen, Freitag nachmittag zu Dir.Das Ganze wird höchstens eine viertel Stunde dauern, das ist ja jetzt viel Zeit für Dich, ich weiß,verzeihe es mir aber doch, denn ich verzeihe es mir nicht.

Dein Franz

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An Max Brod(Postkarte. Prag, Stempel: 13. III. 1909)

Mein lieber Max, heute abend kann ich nicht kommen. Weißt Du denn das nicht? Heute abendgehn wir, eine kleine Gesellschaft von drei Betrogenen ins Variete uns unterhalten. Was ist das mitdem Zweifeln? Als ich Donnerstag zu Dir ging, wollte ich zuerst von meinem Leiden absehn undDir zur Post glückwünschen. Denn Zweifel lassen sich in dieser Sache nicht vermeiden, aber denEntschluß muß man doch schon längst vorher haben. Die Post, ein Amt ohne Ehrgeiz, ist daseinzige, was Dir paßt In einer Woche hast Du Dir das viele Geld und die hohe Stellung abgewöhntund dann ist alles gut. Bitte keine Zweifel mehr. Übrigens werde ich meine Schulden zahlen undDu hast wieder Geld.Montag um sechs komme ich.

Dein Franz

An Hedwig W.(Prag, Mitte April 1909)

Liebes Fräulein,Sie sind, als Sie jenen Brief geschrieben haben, in einem schlechten, aber keinem dauerhaftenZustand gewesen. Sie sind allein, schreiben Sie, vielleicht sind Sie es nicht ganz ohne Absicht -solche Absichten haben natürlich keinen Anfang und kein Ende - und Alleinsein ist arg von außengesehn, wenn man so manchmal vor sich sitzt, aber es hat gewissermaßen auf der Innenwandseinen Trost. Lernen müssen allerdings sollte es nicht ausfüllen, das ist schrecklich, wenn man garsonst noch zittert, das weiß ich. Man glaubt dann, ich kann mich gut erinnern, man stolpereunaufhörlich durch unvollendete Selbstmorde, jeden Augenblick ist man fertig und muß gleichwieder anfangen und hat in diesem Lernen den Mittelpunkt der traurigen Welt. Für mich ist es aberim Winter immer schlimmer gewesen. Wenn man so im Winter schon nach dem Essen die Lampeanzünden mußte, die Vorhänge heruntergab, bedingungslos sich zum Tisch setzte, von Unglückschwarz durch und durch, doch aufstand, schreien mußte und als Signal zum Wegfliegen stehendnoch die Arme hob. Mein Gott. Damit einem ja nichts entging, kam dann noch ein gutgelaunterBekannter, vom Eisplatz meinetwegen, erzählte ein bischen, und als er einen ließ, machte sich dieTüre zehnmal zu, Im Frühjahr und Sommer ist es doch anders, Fenster und Türen sind offen unddie gleiche Sonne und Luft ist in dem Zimmer, in dem man lernt und in dem Garten, wo andereTennis spielen, man fliegt nicht mehr in seinem Zimmer mit den vier Wänden in der Hölle herum,sondern beschäftigt sich als lebendiger Mensch zwischen zwei Wänden. Das ist ein großerUnterschied, was aber noch an Verfluchtem bleibt, das muß man doch durchreißen können. UndSie werden es sicher können, wenn ich es konnte, ich, der förmlich alles nur im Fallen machenkann. - Wenn Sie etwas von mir wissen wollen : das vom Fräulein Kral ist ein Märchen, ob schön,weiß ich nicht, meine Mutter wird nächste Woche operiert, mit meinem Vater geht es immer mehrherunter, mein Großvater ist heute schwer ohnmächtig geworden, auch ich bin nicht gesund.

Ihr Franz K.

An Max Brod(Prag, Mitte April 1909)

Mein lieber Max,ja ich konnte gestern abend nicht kommen, In unserer Familie ist eine förmliche Schlacht, meinemVater geht es schlechter, mein Großvater ist im Geschäft schwer ohnmächtig geworden.Heute am Anfang der Dämmerung um sechs so habe ich »Steine, nicht Menschen« beim Fenstergelesen. Es führt aus dem Menschlichen auf eine schmeichlerische Weise hinaus, es ist nicht Sündeund nicht Sprung, sondern ein öffentlicher, wenn auch nicht breiter Auszug, dessen einzelne

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Schritte immer Berechtigung begleitet. Man glaubt, wenn man das Gedicht fest umarmt, kann manohne eigene Mühle, mit der Freude der Umarmung und wirklicher als wirklich aus dem Unglückherauskommen.Wir haben gestern von einer Geschichte von Hamsun gesprochen, ich erzählte, wie der Mann sichvor dem Hotel in eine Droschke setzt, das war nicht das Eigentliche. Der Mann sitzt vor allem miteinem Mädchen, das er liebt an einem Tisch irgendwo in einem Restaurant. In diesem Restaurantsitzt aber an einem andern Tisch ein junger Mensch, den wieder das Mädchen liebt. Durchirgendein Kunststück bringt der Mann den jungen Menschen zu seinem Tisch. Der junge Mannsetzt sich zum Mädchen, der Mann steht auf, nach einem Weilchen jedenfalls, wahrscheinlich hälter die Sessellehne dabei und sagt mit möglichster Annäherung an die Wahrheit: »MeineHerrschaften - es tut mir sehr leid -, Sie, Fräulein Elisabeth haben mich heute wieder ganz und garbezaubert, aber ich sehe schon ein, daß ich Sie doch nicht haben kann - es ist mir ein Rätsel -«Dieser letzte Satz, das ist doch eine Stelle, wo die Geschichte in der Gegenwart des Lesers sichselbst zerstört oder wenigstens verdunkelt, nein verkleinert, entfernt, so daß der Leser, um sie nichtzu verlieren, in die offenbare Umzingelung hineingehn muß. -Sollte Dir nicht gut sein, schreib mir gleich.

Dein Franz

An Max Brod(Postkarte. Prag, Stempel: 21. IV. 1909)

Mein lieber Max, im Bergabwärtsgehn. Die Operation ist gut vorüber, soviel man jetzt wissen kann- Ich danke Dir schön, aber Du weißt doch, daß ich so vorläufig bin. Den W. hab ich von derAltneusynagoge bis zur Brücke begleitet, hätte mich der Mautheinnehmer angesprochen, hätte ichgleich wieder angefangen. Meine Sucht dazu ist nicht besonders groß, ein kleiner Widerstandwürde genügen, aber den kann ich nicht aufbringen. Rechne dazu das Vergnügen, in grenzenlosenAllgemeinheiten gerade über sich reden zu können.Adieu

Dein FranzJa Donnerstag, aber ich werde dann zur Mutter gehn müssen.

An Max Brod(Postkarte. Prag, Stempel: 8. V. 1909)

Mein lieber Max, da es Dir in den letzten Tagen in jeder Richtung gut gegangen ist, wirst Du mir esleicht verzeihn, daß ich schon zwei an sich allerdings ganz wertlose Versprechen nicht gehaltenhabe. Ich bin zu müde. Ich bin so müde, daß ich mich zu allem lieber gleich entschließe, um nichtnachdenken zu müssen, ob es gehn wird. So ist es ja auch mit dem Sonntag, so rasch wird es sichoben nicht bessern, wenn es sich überhaupt bessern will. Gestern nach dem Nachtmahl wollte ichmich für eine viertel Stunde auf das Kanapee schlafen legen, schlief aber, um zehn vom Vatereinigemal nutzlos halb geweckt, bei ausgelöschtem Licht bis halbzwei Uhr und übersiedelte dannins Bett. Wenn Dich das Warten auf mich gestern abend gestört hat, tut es mir sehr leid.

Dein Franz

An Max Brod(Kartenbrief. Prag, Stempel: 2. VI. 1909)

Mein lieber Max - Deine Karte bekomme ich jetzt abend. Das ist ja unverständlich. Wie sollen wirdas auffassen? Sorgt sich der Kalandra um Beschäftigung für die kleinen Praktikanten oderbetreiben hohe Kreise, einmal in Bewegung gebracht, jetzt freiwillig Deine Karriere? Die Sache

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überrascht natürlich, aber erschrecken muß sie doch nicht. Dein ein bischen luderhaftes Leben wirdaufhören, am Vormittag wirst Du geregelter faulenzen als bisher und an den meisten Nachmittagenschreiben, was endlich doch die Hauptsache ist für Dich und uns. Im ganzen hat es sich ja nur umdie Sommermonate gehandelt, die knapp bevorstehen und an denen man, glaube ich, niemalsarbeiten kann. Dafür hast Du die Nachmittage und die Abende mit der Dämmerung ungestört, mehrkann man zwar haben, aber verlangen darf man nicht mehr und einen gesetzlichen Anspruch aufFerien bekommst Du jetzt offenbar auch. So bleibt als Wirkung des Dekrets, daß das eine Fräuleinzeitweilig ein bischen verdrießlich sein wird. Mein Gott!

Dein Franz

An Max Brod(Prag, Anfang Juli 1909)

Mein lieber Max - rasch, weil ich so schläfrig bin. Ich bin schläfrig!Ich weiß nicht, was ich im Augenblick vorher gemacht habe Und was ich einen Augenblick spätermachen werde und was ich gegenwärtig mache, weiß ich schon gar nicht. Ich löse den Knoten einerBezirkshauptmannschaft eine Viertelstunde lang auf und räume dann sofort mit plötzlicherGeistesgegenwart einen Akt weg, den ich lange gesucht habe, den ich brauche und den ich nochnicht benützt habe. Und auf dem Sessel liegt ein solcher Haufen Reste, daß ich meine Augen nichteinmal so groß aufmachen kann, um den Haufen mit einem Blick zu sehn.Aber Dein Dobøichowitz. Das ist ja förmlich ganz neu. Was Dir aus diesem Gefühl heraus nochgelingen kann. Nur der erste Absatz ist vielleicht für die Gegenwart wenigstens etwas unwirklich.»Alles ist wohlriechend u.s.w.«, da wendest Du Dich in eine Tiefe der Geschichte, die noch nichtbesteht. »Die Stille aus einer großen Gegend - - u.s.w.« das haben die Freunde in der Geschichtenicht gesagt, glaube ich; wenn man sie zerreißt, haben sie das nicht gesagt. »Die Villen dieserNacht«Aber dann ist alles gut und wirklich, man schaut hinein wie auf die Entstehung der Nacht. Ambesten hat mir gefallen: »Er suchte noch ein Steinchen, fand es aber nicht. Wir eilten u.s.w.«Der Roman, den ich Dir gegeben habe, ist mein Fluch, wie ich sehe; was soll ich machen. Wenneinige Blätter fehlen, was ich ja wußte, so ist doch alles in Ordnung und es ist wirkungsvoller, alswenn ich ihn zerrissen hätte. Sei doch vernünftig. Dieses Fräulein ist doch kein Beweis. Solange sieDeinen Arm um Hüften, Rücken oder Genick hat, wird ihr in der Hitze je nachdem alles mit demeinheitlichsten Ruck sehr gefallen oder gar nicht. Was hat das zu bedeuten gegenüber dem mir sehrgut bekannten Zentrum des Romans, das ich in sehr unglücklichen Stunden noch irgendwo in mirspüre. Und jetzt nichts mehr darüber, darin sind wir einig.Ich sehe, daß ich ewig weiterschreiben möchte, nur um nicht arbeiten zu müssen. Das sollte ichdoch nicht.

Franz

An Oskar Baum(Prag,) 8.7. 1909

Lieber Herr Baum, nein, nein, ich habe gar nicht wenig zu tun und wenn Sie dies annehmen, so tunSie es wahrscheinlich nur deshalb, weil man, wenn man faulenzt, sich Arbeit nicht gut vorstellenkann und weil in der Hitze auf dem Lande Arbeiten und Faulenzen faul in eins zusammen gehenwill. Aber es macht nichts, daß ich viel zu tun habe, denn auch sonst wüßte ich nichts zu sagen, alsdaß ich gerne auf dem Lande wäre, weil es dort ähnlich wie im Himmel ist, wie ich das manchmalam Sonntag überprüfe und wie Sie mit Ihrer lieben Frau es jetzt am besten wissen.Daß der Epilog nicht fertig werden will, ist schon ganz gut. Lassen Sie nur diesen Epilog in jedemSinn sich in der Sonne strecken und verabschieden Sie sich vom Leser mit einem großartig

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abgebrannten Gesicht. Das sage ich ein bischen aus Eigennutz, denn jener Schluß »Daß Sie aberkeinen Roman darüber schreiben usw.« hat mir nicht eingeleuchtet. Es ist ja schön, sehr schön,wenn am Schluß einer solchen Geschichte ein paar Leute zusammenkommen und herzlich zulachen anfangen, aber nicht so, das ist nicht das richtige Lachen für eine Geschichte, die sich soruhig heraufgearbeitet hat und hier mit einem Ruck ein Stückchen zurück in ein ungesundes Dunkelgeschoben wird. Was hat Ihnen denn der Leser getan, dieser gute Mensch, dieser zumindest jetztnoch gute Mensch.Am meisten in Ihrer Karte hat mich die Erwähnung der »Reue« gefreut, denn diese Reue istnatürlich nichts anderes als Lust zu anderer Arbeit, wie Sie es ja im Grunde auch verstehn. RuhenSie sich aber nur ein Weilchen gut aus, Sie verdienen es. Auch einen langen Brief verlange ichnicht, denn alles ist besser als Briefe schreiben, auf einer Wiese liegen und Gras essen ist besser;allerdings ist es wieder sehr hübsch, Briefe zu bekommen, gar in der Stadt.Seien Sie weiter glücklich, Sie und Ihre liebe Frau.

Ihr Franz Kafka

An Max Brod(Prag, Stempel: 15. VII. 1909)

Liebster Max, nicht weil es an und für sich unaufschieblich gesagt werden muß, aber weil es dochimmerhin auf Deine Frage eine Antwort ist, für deren Gegenantwort der gestrige Weg schon zukurz geworden war. (Nicht »gestrig «, es ist nämlich viertel drei in der Nacht.) Du sagtest sie liebtmich. warum das? War das Spaß oder Ernst des Verschlafenseins? Sie liebt mich und es fällt ihrnicht ein zu fragen, mit wem ich in Stechowitz gewesen bin, was ich so mache, warum ich aneinem Wochentag einen Ausflug nicht machen kann u.s.w. In der Bar war vielleicht nicht genugZeit, aber auf dem Ausflug war Zeit und was Du willst und doch war ihr jede Antwort gut genug.Aber alles kann man scheinbar widerlegen, bei dem Folgenden aber kann man eine Widerlegunggar nicht versuchen: Ich hatte in D. Angst davor die Weltsch zu treffen und sagte es ihr, worauf siesofort auch Angst hatte, für mich Angst hatte, die Weltsch zu treffen. Daraus ergibt sich eineeinfache geometrische Zeichnung. Wie sie zu mir steht, das ist die größte Freundlichkeit, soentwicklungsunfähig als nur möglich und von der höchsten wie von der geringsten Liebe gleichweit entfernt, da sie etwas ganz anderes ist. Mich brauche ich natürlich gar nicht in die Zeichnungzu mischen, soll sie klar bleiben.Jetzt habe ich mir den Schlaf ganz verdient.

Dein Franz

An Max Brod(Postkarte. Prag, Stempel: 19. VII. 1909)

Lieber Max, zur sofortigen Richtigstellung, ich habe jenen Druck im Magen; wie wenn der Magenein Mensch wäre und weinen wollte; ist es so gut? Dabei ist die Ursache nicht tadellos, wie erst,wenn sie tadellos wäre. Überhaupt ist dieser ideale Druck im Magen etwas, über dessen Fehlen ichmich nicht zu beklagen habe, wären nur alle andern Schmerzen auf gleicher Höhe.

Franz

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An Max Brod(Briefkopf der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt.

Prag, Sommer 1909)Auch im Bureau, aber um 1/2 5 h

Mein liebster Max, gerade wie ich über Deinen Brief nachdachte, den ich mittag bekommen hatteund mich so wunderte, daß ich Dir diesmal gegen alle Regel nicht zu ihr verholfen hatte und wieich so studierte, auf welche Weise ich Dich trösten würde, wenn ich Deine Mutter wäre und davonwüßte (mittag Erdbeeren mit verzuckertem sauerem Schmetten, nachmittag in den Wald zwischenMnichovic und Stranschitz zum Schlafen geschickt, abend ein Liter Pschorr) da ist gerade DeineKarte gekommen mit guten Nachrichten und der allerbesten, daß das Fräulein Sängerin vierzehnTage lang den Roman in Ruhe läßt, denn selbst der beste Roman könnte das nicht lange vertragen,daß das gleiche Mädchen ununterbrochen und zugleich von innen und außen auf ihn drückt. Auchdaß das andere Fräulein aufatmen wird, ist gut, denn sie leidet durch die andere, ohne es zu wissen,ohne es verdient, ohne es verschuldet zu haben.Daß ich Donnerstag zu Baum soll, habe ich aus Deinem Briefe hingenommen, aus Deiner Kartesehe ich gern die Möglichkeit, nicht kommen zu müssen, denn ich werde Donnerstag ebensounfähig sein, wie ich es Montag gewesen wäre. Sein Roman freut mich ja so, und wenn ich michaus meinem Zeug herausgearbeitet habe, tue ich Donnerstag nichts lieber als hingehn, aber er undseine Frau sollen nicht böse sein, wenn ich vielleicht wieder nicht komme.Denn was ich zu tun habe! In meinen vier Bezirkshauptmannschaften Fallen von meinen übrigenArbeiten abgesehn wie betrunken die Leute von den Gerüsten herunter, in die Maschinen hinein,alle Balken kippen um, alle Böschungen lockern sich, alle Leitern rutschen aus, was man hinaufgibt, das stürzt hinunter, was man herunter gibt, darüber stürzt man selbst. Und man bekommtKopfschmerzen von diesen jungen Mädchen in den Porzellanfabriken, die unaufhörlich mit Türmenvon Geschirr sich auf die Treppe werfen.Montag habe ich vielleicht das Ärgste hinter mir. Schon vergesse ich fast: Komm wenn Du kannstmorgen Mittwoch gegen acht zu mir ins Geschäft, um mir wegen des Novak zu raten.Aus dem Gelage machen wir, wenn Du einverstanden bist, einen Wanderpreis und halten esnächstens nach dem Abschluß Deines Romans ab. Und jetzt in die Akten.

Dein Franz

An Max Brod(Prag, August 1909)

Lieber Max - das gestern abend war nichts. Wenn mir jemand einen Abend lang solcheGeschichten machen würde, wie gestern ich, würde ich es mir überlegen, ob ich ihn nach Rivamitnehmen soll. Überlege es Dir nicht. Sie war es natürlich nicht und eine andere auch nicht, aberdas Glück, es benennen zu dürfen!

Dein Franz

An Max Brod(Prag, Ende August 1909)

Mein lieber Max, ich kann heute abend nicht kommen, bis heute mittag konnte ich glauben, meineFamilie käme nachmittag um drei, ich wäre dann mit Mühe, aber doch gekommen. Nun kommensie aber erst um sieben, ginge ich gleich wieder weg, der Lärm wäre nicht auszudenken. Ich kommealso morgen abend, bist Du zuhause und hast Du Zeit, ist es sehr gut, wenn nicht, habe ich keinRecht mich zu ärgern. - Ja die Reise. Wir fahren also erst Dienstag, da Du damit sicher zufriedenbist und ich mich von dem einen Menschen, der erst Montag kommt, verabschieden kann.

Dein Franz

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An Max Brod(Postkarte. Prag, Stempel: 11. X. 1909)

Mein lieber Max, den »Besuch« habe ich zuerst auf dem Weg ins Bureau Samstag gelesen, und wieich es so in Neugier und Eile gelesen habe, schien mir vieles etwas zu heiß gekocht, stellenweisegeradezu verbrannt. Als ich es aber gestern abend noch einmal und noch einmal gelesen habe, dawar es eine Freude, wie sich die eigentliche Sache in dem Lärm dieser vielen Punkte ruhig undrichtig verhielt. Besonders die Geschichte vom Bankett, die Frage nach Bouilhet und dort weiter,der Abschied. Einem allerdings auch nur ein wenig unvollständig informierten Leser dürfte dieseLeidenschaft ein wenig zu plötzlich und zu nah ans Gesicht gebracht sein, so daß er vielleicht garnichts sieht. Was liegt daran.Adieu

FranzMittwoch komme ich, es wäre zu überlegen, ob wir nicht zum Kestranekprozeß gehn sollten.

An Max Brod(Postkarte. Prag, Stempel: 13. X. 1909)

Mein lieber Max, ärgere Dich nur nicht auf mich. ich kann es nicht anders machen. Dr. F. fängtschon fast an, mir Vorwürfe zu machen, daß ich seine, unsere Sache liegen lasse, trotzdem mirnoch nicht viel Vorwürfe zu machen sind, höchstens wegen des Sonntags, denn Montag war ichallerdings aus anderem Grunde im Bureau. Ich habe heute angefangen, aber solange mir davonnicht heiß wird, bringe ich es nicht zustande, und soll mir davon heiß werden, darf ich den heiligenAntonius nicht einschalten und darf morgen nicht zu Dir kommen. Ja, Samstag nach so vielenNachmittagen wie heute könnte ich mir einen guten Nachmittag erlauben, aber da wirst Du wiederkeine Zeit haben. Im übrigen drohn neue Unterhaltungen, Rauchberg hält ein Seminar überVersicherung ab. - Baum hat mir ein kleines sehr schönes Romanstück vorgelesen.

An Oskar Baum(Prag, Ende 1909)

Lieber Herr Baum, das schreibe ich um 12 Uhr im Kontinental, dem ersten ruhigen Platz desheutigen Samstags. Was ist das für ein schönes Buch, wie sehr man es erwartet hat, so sehrüberrascht es doch. Und in seinem festen ernsten Aussehen scheint es auch der Absicht zuentsprechen, mit der es gemacht worden ist. Dafür dürfen Sie dem Verleger alles verzeihen, es istgegen seine Natur und vielleicht gegen seinen Willen gelungen. Jetzt soll nur die Welt die Armeausbreiten, die lieben Kinder aufzufangen. Sie wird nicht anders können, sollte man glauben.Auf Wiedersehn

An Max Brod(Ansichtskarte. Pilsen, Stempel: 21. XII. 1909)

Mein lieber Max, es ist gut, daß es schon fast zu Ende ist und wir morgen abend nach Pragkommen. Ich habe es mir anders gedacht. Die ganze Zeit über ist mir schlecht gewesen undEinreihung von der Morgenmilch bis zum Abendmundausspülen ist keine Kur. Gut nur, daß DuDeinen Roman im Pult hast und arbeitest.

Dein Franz

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An Direktor Eisner(Prag, wahrscheinlich 1909)

Lieber Herr Eisner, ich danke Ihnen für die Sendung, mit meiner Fachbildung steht es sowiesoschlecht. Walser kennt mich? Ich kenne ihn nicht, »Jakob von Gunten« kenne ich, ein gutes Buch.Die anderen Bücher habe ich nicht gelesen, teils durch Ihre Schuld, da Sie trotz meines Rates"Geschwister Tanner« nicht kaufen wollten. Simon ist, glaube ich, ein Mensch in jenen»Geschwistern«. Läuft er nicht überall herum, glücklich bis an die Ohren, und es wird am Endenichts aus ihm als ein Vergnügen des Lesers? Das ist eine sehr schlechte Karriere, aber nur eineschlechte Karriere gibt der Welt das Licht, das ein nicht vollkommener, aber schon guterSchriftsteller erzeugen will, aber leider um jeden Preis. Natürlich laufen auch solche Leute, vonaußen angesehen, überall herum, ich könnte Ihnen, mich ganz richtig eingeschlossen, einigeaufzählen, aber sie sind nicht durch das Geringste ausgezeichnet als durch jene Lichtwirkung inziemlich guten Romanen. Man kann sagen, es sind Leute, die ein bischen langsamer aus dervorigen Generation herausgekommen sind, man kann nicht verlangen, daß alle mit gleichregelmäßigen Sprüngen den regelmäßigen Sprüngen der Zeit folgen. Bleibt man aber einmal ineinem Marsch zurück, so holt man den allgemeinen Marsch niemals mehr ein, selbstverständlich,doch auch der verlassene Schritt bekommt ein Aussehen, daß man wetten möchte, es sei keinmenschlicher Schritt, aber man würde verlieren.Denken Sie doch, der Blick vom rennenden Pferde in der Bahn, wenn man seine Augen behaltenkann, der Blick von einem über die Hürde springenden Pferde zeigt einem sicher allein dasäußerste, gegenwärtige, ganz wahrhaftige Wesen des Rennbetriebs. Die Einheit der Tribünen, dieEinheit des lebenden Publikums, die Einheit der umliegenden Gegend in der bestimmten Jahreszeitusw., auch den letzten Walzer des Orchesters und wie man ihn heute zu spielen liebt. Wendet sichaber mein Pferd zurück und will es nicht springen und umgeht die Hürde oder bricht aus undbegeistert sich im Innenraum oder wirft mich gar ab, natürlich hat der Gesamtblick scheinbar sehrgewonnen. Im Publikum sind Lücken, die einen fliegen, andere fallen, die Hände wehen hin undher wie bei jedem möglichen Wind, ein Regen flüchtiger Relationen fällt auf mich und sehr leichtmöglich, daß einige Zuschauer ihn fühlen und mir zustimmen, während ich auf dem Grase liegewie ein Wurm. Sollte das etwas beweisen? (fragmentarisch)

An Max Brod(Ansichtskarte mit Jeschken-Rodelbahn,

Maffersdorf, 1909)Lieber Max, ich habe wieder ein paar Tage hinter mir! Aber schreiben will ich darüber nicht, ichhätte selbst in ihnen nur mit Anstrengung darüber richtig schreiben können. - Heute halb sieben binich nach Gablonz gefahren, von Gablonz nach Johannesberg, dann nach Grenzendorf, jetzt fahreich nach Maffersdorf, dann nach Reichenberg, dann nach Röchlitz und gegen Abend nachRuppersdorf und zurück.

An Max Brod(Prag, wahrscheinlich 1909)

Mein lieber Max - Wie wäre es, wenn Du gleich ein bischen ins »Arco« kämest, nicht auf lange,Gott behüte, nur mir zu Gefallen weißt Du, der Pø. ist dort. Bitte gnädige Frau, bitte Herr Brod,seien Sie so gut und lassen Sie den Max hingehn.

Franz K,

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1910

An Max Brod(Prag, Stempel: 5. I. 1910)

Mein lieber Max, (im Bureau, wo man mich bei den zehn Zeilen zehnmal erschrecken wird, machtnichts.) ich habe es damals so gemeint: Wer Deinen Roman billigt - wie er in seiner Größe so neuheraufkommt, wird er viele Menschen blenden, also betrüben müssen - wer Deinen Roman billigt -billigen heißt hier mit aller Liebe, deren man fähig ist, ihn erfassen - wer Deinen Roman billigt,muß während der ganzen Zeit das wachsende Verlangen nach einer Lösung haben, wie Du sie indem vorgelesenen halben Kapitel vorgenommen hast. Nur mußte ihm diese Lösung in dergefährlichsten Richtung des Romans gelegen scheinen - nicht gefährlich für den Roman, nurgefährlich für seinen seligen Zusammenhang mit ihm - und daß nun diese Lösung, wie er überzeugtfühlt, gerade in jener äußersten Grenze erfolgt ist, wo der Roman noch erhält, was er verlangenmuß, aber auch der Leser das erhält, was zu vermissen er sich noch nicht bezwingen kann. Und nurdie Vorstellungen der möglichen Lösungen, zu denen Du allerdings, der Du das Innerste desRomans so durchdringst, berechtigt gewesen wärest, scheinen ihn noch immer von der Ferne zuerschrecken.Es wird kein schlechter Vergleich sein, wenn man später den Roman mit einem gotischen Domvergleichen wird, kein schlechter Vergleich unter der Voraussetzung natürlich, daß für jede Stelleder dialektischen Kapitel die Stelle in den übrigen nachgewiesen wird, die jene erste trägt, und wiesie für sich gerade jene Belastung fordert, welche die erstere ausübt. Mein liebster Max, wieglücklich bist Du und wie wirst Du es am Schlusse erst sein und wir durch Dich.

Dein FranzIch wollte noch von Milada schreiben, aber ich fürchte mich.

An Max Brod(Postkarte. Prag, Stempel: 29. I. 1910)

Lieber Max, damit ich nur nicht daran vergesse, - sollte Deine Schwester Montag schon in Pragsein, mußt Du es mir noch heute schreiben, kommt sie später, hat es natürlich Zeit, wenn Du es mirMontag sagst. Morgen spendiere ich mir ein Magenauspumpen, meinem Gefühl nach werdenekelhafte Sachen herauskommen.

Dein Franz

An Max Brod(Postkarte. Prag, Stempel: 18. II. 1910)

Lieber Max, Du hast ganz an mich vergessen. Du schreibst mir nicht -Franz

An Max Brod(Postkarte. Prag, Stempel: 10. III. 1910)

In die Lucerna komm ich nicht, Max. Jetzt um vier Uhr bin ich im Bureau und schreibe und morgennachmittag werde ich schreiben und heute abend und morgen abend und so fort. Auch reiten kannich nicht. Gerade noch das Müllern bleibt mir. Adieu

Dein Franz

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An Max Brod(Prag, Stempel: 12. III. 1910)

Mein lieber Max, stürze Dich nicht in Kosten wegen einer Rohrpostkarte, in der Du mir schreibenwirst, daß Du um 605 nicht auf der Franz-Josefs-Bahn sein kannst, denn das mußt Du, da der Zug,mit dem wir nach Wran fahren, um 605 fährt. Um 1/4 8 machen wir den ersten Schritt gegen Davle,wo wir um 10 Uhr bei Lederer ein Paprika essen werden, um 12 Uhr in Stechowitz mittagmahlen,von 2 � 1/2 4 gehn wir durch den Wald zu den Stromschnellen, auf denen wir herumfahren werden.Um 7 Uhr fahren wir mit dem Dampfer nach Prag. Überlege es Dir nicht weiter und sei um 3/4 6auf der Bahn. -Übrigens kannst Du doch eine Rohrpostkarte schreiben, daß Du nach Dobøichowitz oderanderswohin fahren willst.(Zeichnung, die eine Schreibfeder darstellt:) Das ist eine Feder von Soennecken; die gehört nichtzur Geschichte.

An Max Brod(Postkarte. Prag, Stempel: 18. III. 1910)

Lieber Max - ich sehe aus Deiner Karte nicht recht, ob Du die meine bekommen hast, Baum auchzu schreiben konnte ich mich die ganzen Tage nicht zusammennehmen. Schrieb ich nicht letzthin,daß mir gerade noch das Müllern bleibt. Also auch das kann ich nicht mehr. Ich bekam nämlichrheumatische Schmerzen in den Rücken, dann rutschten sie ins Kreuz, dann in die Beine, dannnicht vielleicht in die Erde hinein, sondern in die Arme hinauf. Dazu paßt es weiter ganz gut, daßdie für heute erwartete Gehaltserhöhung nicht gekommen ist, auch nächsten Monat nicht kommenwird, sondern erst dann, bis man vor Langweile auf sie spuckt. An der Novelle, lieber Max, freutmich am meisten, daß ich sie aus dem Haus habe.Morgen gegen sieben Uhr (jetzt ist sechs Uhr und ich bin noch im Bureau) komm ich zu Dir (auchwegen der Bohemia). Du wirst mir Gedichte zeigen, es wird ein schöner Abend sein.Adieu

Dein Franz

An Max Brod(Postkarte. Prag, wahrscheinlich März 1910)

Lieber Max - ich hätte es wissen sollen, die Realisten hören erst auf, wenn sie fertig sind und Dr.Herben war erst nach viertel elf fertig. Ich bin dann in die Stockhausgasse gegangen, habe dieBeleuchtung der Baumschen Fenster revidiert und bin nach Hause gegangen. Hätte ich nochhinaufkommen sollen? Ich brauche den Schlaf so sehr. Du weißt vielleicht nicht, daß ich vorher eineinhalb Tage, von ein bischen Thé abgesehen, gefastet habe. Über die Smolová im Èas: Její útlý,èistý procitlivìlý hlásek arci pøíjemnì se poslouchal. Und das nachdem der schon geahnte Dreckdes Abends ausdrücklich und mit Vergnügen konstatiert worden ist.

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An Max Brod(Prag, April 1910)

Lieber Max - wenn das nicht rasch schreiben heißt, es geht schon allerdings gegen eins, Schick dasalso bitte an den Matras, die »Deutsche Arbeit« würde den Marschner natürlich besonders freuen,aber es wird auch besonders schwer sein, es hinein zu bringen, fürcht ich. Jedenfalls möchtest Dudem Matras schreiben, er soll möglichst rasch antworten, ob ja oder nein. Ändern kann er natürlich,was er will, kann es auch selbst von neuem schreiben, wenn es ihm Spaß macht, aber über dasBuch etwas zu bringen ist seine Pflicht (sollst Du ihm sagen). Also ich danke schön.

Dein Franz

An Max Brod(Kartenbrief. Prag, Stempel: 3. IV. 1910)

Viel Glück zum Schreiben, mein liebster Max, um unser aller willen! Hast Du noch nicht darangedacht, daß die Kraft, mit der Du Dich auf- Deine Geschichte geworfen hast, ebenso wie sie daserste Mädchen krank gemacht hat, das zweite unverständlich machen konnte.Nur diese Hitze, die noch am Mittwoch um Dich herum war! In der Luft des Mediziners ist sie Dirja während dieser Zeit so gut aufgehoben. Kühl nur aus und sie wird wieder gelaufen kommen unddas Bewußtsein dessen gebe Dir den Mut, erst auszukühlen, bis Du es anders nicht ertragen kannst.Aber was weiß ich denn, vielleicht ist Dir schon inzwischen das dumme Mädchen mitten in dieGeschichte hineingelaufen, könnte ich sie doch hinten an ihren Röcken zurückhalten!

Dein Franz

An Max Brod(Postkarte. Prag, Stempel: 11. V. 1910)

Mein lieber Max - Ich habe erst mittag Deine Karte zu lesen bekommen, nun dann mache ich erstSamstag meinen Besuch. Mein Gott, die Zeichnungen!

Dein Franz

An Max Brod(Ansichtskarte, Saaz, Stempel: 22. VIII. 1910)

Es ist doch trotz allem nicht schlecht, schon einem Garbenhaufen ein Weilchen an der Brust zuliegen und das Gesicht dort zu verstecken!

Franz

An Max Brod(Prag, September 1910)

Lieber Max, ich wollte erstens sehn, wie es Dir geht - Dein Bett hat tatsächlich einen nervösenAusdruck - und zweitens Dich bitten, morgen wieder allein zur Französin zu gehn, denn meineGablonzer Sache wird immer ernster (die Ankündigung steht in der Zeitung zwischen den»Schurken und Lumpenhunden« des Wahlaufrufes und einer Ankündigung der Heilsarmee) kurz -wie wird das werden, schon auf diesem Zettel verschwindet mir der Zusammenhang - ich habemehr Angst, als zu einem Erfolg nötig ist.

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An Max und Otto Brod(Drei Ansichtskarten, adressiert nach Paris an Otto Brod.

Prag, Stempel: 20. X. 1910)Lieber Max, ich bin gut angekommen, und nur weil ich von allen als eine unwahrscheinlicheErscheinung angesehen werde, bin ich sehr blaß. - Um die Freude, den Doktor anzuschrein, bin ichdurch eine kleine Ohnmacht gebracht worden, die mich bei ihm auf das Kanapee nötigte undwährend welcher ich mich - merkwürdig war das - so sehr als Mädchen fühlte, daß ich michmeinen Mädchenrock mit den Fingern in Ordnung zu bringen bemühte. Im übrigen erklärte derDoktor über meinen rückwärtigen Anblick entsetzt zu sein, die fünf neuen Abszesse sind nichtmehr so wichtig, da sich ein Hautausschlag zeigt, der ärger als alle Abszesse ist, lange Zeit für seineHeilung braucht und der die eigentlichen Schmerzen macht und machen wird. Meine Idee, die ichdem Doktor natürlich nicht verraten habe, ist, daß mir diesen Ausschlag die internationalen Prager,Nürnberger und besonders Pariser Pflaster gemacht haben.-So sitze ich jetzt zuhause am Nachmittag wie in einem Grab (herumgehn kann ich nicht, wegenmeines festen Verbandes, ruhig sitzen kann ich der Schmerzen wegen nicht, welche die Heilungnoch stärker macht) und nur am Vormittag überwinde ich dieses Jenseits des Bureaus halber, in dasich fahren muß. Zu Euren Eltern gehe ich morgen. - In der ersten Prager Nacht träumte mir, ichglaube die ganze Nacht durch (um diesen Traum hing der Schlaf herum, wie ein Gerüst um einenPariser Neubau), ich sei zum Schlaf in einem großen Hause einquartiert, das aus nichts anderembestand als aus Pariser Droschken, Automobilen, Omnibussen u.s.w., die nichts anderes zu tunhatten, als hart aneinander vorüber, übereinander, untereinander zu fahren und von nichts anderemwar Rede und Gedanke, als von Tarifen, correspondancen, Anschlüssen, Trinkgeldern, directionPereire, falschem Geld u.s.w. Wegen dieses Traumes konnte ich schon nicht schlafen, da ich michaber in den notwendigen Fragen nicht ordentlich auskannte, hielt ich selbst das Träumen nur mitder größten Anstrengung aus. Ich klagte im Innern, daß man mich, der ich nach der Reise Ausruhnso nötig hatte, in einem solchen Hause einquartieren mußte, gleichzeitig aber gab es in mir einenParteigänger, der mit der drohenden Verbeugung französischer Ärzte (sie haben zugeknöpfteArbeitsröcke) die Notwendigkeit dieser Nacht anerkannte.- Bitte zählt euer Geld nach, ob ich euchnicht bestohlen habe, nach meiner allerdings nicht ganz zweifellosen Rechnung habe ich so wenigverbraucht, daß es ausschaut, als hätte ich die ganze Zeit in Paris mit dem Auswaschen meinerWunden verbracht.Pfui, das schmerzt wieder. Es war höchste Zeit, daß ich zurückgekommen bin, für Euch wie fürmich.

Euer Franz K.

An Max Brod(Ansichtskarte. Berlin, Stempel: 4. XII. 1910)

Liebster Max,der Unterschied ist der: in Paris wird man betrogen, hier betrügt man, ich komme aus einer ArtLachen nicht heraus. Fast aus dem Coupé bin ich Samstag in die Kammerspiele gefahren, manbekommt Lust Karten im Vorrat zu kaufen. Heute geh ich zu Anatoll.Aber nichts ist so gut wie das Essen hier im vegetarischen Restaurant. Die Lokalität ist ein wenigtrübe, man ißt Grünkohl mit Spiegeleiern (die teuerste Speise), nicht in großer Architektur, aber dieZufriedenheit, die man hier hat. Ich horche nur in mich hinein, vorläufig ist mir freilich noch sehrschlecht, aber wie wird es morgen sein? Es ist hier so vegetarisch, daß sogar das Trinkgeld verbotenist. Statt Semmeln gibt es nur Simonsbrot. Eben bringt man mir Grießspeise mit Himbeersaft, ichbeabsichtige aber noch Kopfsalat mit Sahne, dazu wird ein Stachelbeerwein schmecken und einErdbeerblätterthé wird alles beenden.Adieu.

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An Max Brod(Ansichtskarte (Selbstbildnis Goethes im Frankfurter

Arbeitszimmer). Berlin, Stempel: 9. XII. 1910)Ein gut eingerichtetes Schreibzimmer, lieber Max, nicht wahr? Im Grunde nur ausgestattet mit fünfMöbelstücken und ihren Schatten. Auf dem Schreibtisch ist jedenfalls ungesund viel Licht. Bequemist die Flasche auf dem Seitentisch aufgestellt, vom Schreibtisch durch Hinüberbeugen zuerreichen. Die Füße ruhn auf den Tischleisten, nicht auf dem Boden. Wird gemalt, so kommt dieStaffelei auf die Stelle des Tisches.

Dein Franz

An Oskar Baum(Ansichtskarte (»Kind des Meisters« (mit dem Vogel)

von Rubens). Berlin, Stempel: 9. XII. 1910)Herzliche Grüße und dem kleinen Leo diesen Konkurrenten ins Haus. Daß er ihn nicht fürchtenmuß, das weiß ich, vielmehr soll er durch ihn noch selbstbewußter werden.

Ihr Franz K.

An Max Brod(Ansichtskarte. Berlin, Stempel: 9. XII. 1910)

Max, ich habe eine Hamletaufführung gesehn oder besser den Bassermann gehört. GanzeViertelstunden hatte ich bei Gott das Gesicht eines andern Menschen, von Zeit zu Zeit mußte ichvon der Bühne weg in eine leere Loge schauen, um in Ordnung zu kommen.

Dein Franz

An Max Brod(Prag, 15. resp. 17. Dezember 1910)

Mein lieber Max, um über diese Woche nicht mehr reden zu müssen:Ich wiederhole zuerst noch, was Du schon weißt, damit Dir alles gleichzeitig bewußt ist. - Alles indieser Woche war so gut für mich eingerichtet, wie es meine Verhältnisse nur jemals ermöglichthaben und wie sie es allem Anschein nach kaum mehr ermöglichen werden. -Ich war in Berlin gewesen und stand jetzt nach meiner Rückkehr in meiner gewöhnlichenUmgebung so locker drin, daß ich mich, wenn es in meiner Anlage wäre, ohne Hindernis selbst wieein Tier hätte aufführen können. - Ich hatte acht vollkommen freie Tage. Vor dem Bureau habe ichmich erst gestern abend zu fürchten angefangen, so zu furchten angefangen allerdings, daß ich gernmich unter dem Tisch versteckt hätte. Aber das nehme ich selbst nicht ernst, denn es ist keineselbständige Furcht. - Mit meinen Eltern, die jetzt gesund und zufrieden sind, habe ich fast niemalsStreit. Nur wenn der Vater mich spät abend noch beim Schreibtisch sieht, ärgert er sich, weil ermich für zu fleißig hält. - Ich war gesünder als Monate vorher, wenigstens am Anfang der Woche.Das Grünzeug ist so gut und still in mich hineingegangen, daß es aussah, als füttere mich einglücklicher Zufall eigens für diese Woche. - Bei uns zuhause war es fast ganz ruhig, Die Hochzeitist vorüber, man verdaut die neue Verwandtschaft. Ein Fräulein unter uns, das mit ihremKlavierspiel hie und da zu hören war, soll auf einige Wochen verreist sein. - Und alle diese Vorteilewaren mir jetzt gegen Ende des Herbstes gegeben, also zu einer Zeit, in der ich mich seit jeher amkräftigsten gefühlt habe.17.XII.Diese Leichenrede von vorgestern kommt nicht zu Ende, Von ihr aus gesehen kommt jetztallerdings zu allem Unglück noch die Jämmerlichkeit hinzu, daß ich offenbar nicht imstande bin,

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ein trauriges vollkommen beweisbares Gefühl ein paar Tage lang festzuhalten. Nein, das bin ichnicht imstande. Jetzt, wo ich schon acht Tage über mir sitze, bin ich in einer Eile des Gefühls, daßich fliege. Ich bin einfach von mir betrunken, was in dieser Zeit auch beim dünnsten Wein keinWunder ist. Dabei hat sich wenig seit zwei Tagen geändert und was sich geändert hat, ist schlechtergeworden. Meinem Vater ist nicht ganz gut, er ist zu Hause. Wenn links der Frühstückslärmaufhört, fängt rechts der Mittagslärm an, Türen werden jetzt überall aufgemacht, wie wenn dieWände aufgebrochen würden. Vor allem aber die Mitte alles Unglücks bleibt. Ich kann nichtschreiben; ich habe keine Zeile gemacht, die ich anerkenne, dagegen habe ich alles weggestrichen,was ich nach Paris - es war nicht viel - geschrieben habe. Mein ganzer Körper warnt mich vorjedem Wort, jedes Wort, ehe es sich von mir niederschreiben läßt, schaut sich zuerst nach allenSeiten um; die Sätze zerbrechen mir förmlich, ich sehe ihr Inneres und muß dann aber raschaufhören.Das Stückchen der Novelle, das beiliegt, habe ich vorgestern abgeschrieben und lasse es jetzt schondabei. Es ist schon alt und sicher nicht fehlerlos, aber es erfüllt sehr gut die nächste Absicht derGeschichte.Heute abend komme ich noch nicht, ich will bis Montag früh bis zum letzten Augenblick nochallein bleiben. Dieses mir auf den Fersen sein, das ist noch eine Freude, die mich heiß macht, undeine gesunde Freude trotz allem, denn sie macht in mir jene allgemeine Unruhe, aus der das einzigmögliche Gleichgewicht entsteht. Wenn es weiter so ginge, ich könnte dann jedem ins Augeschauen, was ich z. B. Dir gegenüber vor der Berliner Reise, ja selbst in Paris nicht konnte. Du hastes bemerkt. Ich habe Dich so lieb und habe Dir nicht ins Auge schauen können. - Ich komme mitmeinen Geschichten und Du hast vielleicht Deine Sorgen, könnte ich Montag im Bureau eine Kartevon Dir über Deine Sache haben? Auch Deiner Schwester habe ich noch nicht gratuliert. Das machich Montag.

Dein Franz

An Max Brod(Prag, wahrscheinlich 1910)

Lieber Max, ich will Dich weder stören noch warten lassen und komme, da ich um fünf nichtkommen kann, morgen um fünf, versuchsweise, ohne jede Verpflichtung für Dich. Ich bin heute fürviertel sechs zum Doktor bestellt, ja, Du kennst ja nicht alle meine Leiden (verrenkte Daumenzehe).

F

An Max Brod(Briefkopf der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt.

Prag, vermutlich 1910)Lieber Max!Ich lag schon ausgestreckt auf dem Kanapee mit meinem kranken Bein, als ich Deinen Briefbekam. Es sieht nicht sehr hübsch aus, ist besonders am Fuß hochaufgeschwollen, schmerzt abernicht sehr. Es ist gut verbunden und wird schon besser werden; ob aber schon Samstag mein Beinreisefertig ist, das weiß ich nicht; wenn das Verlangen nach einer Reise so stark sein kann, dann binich Samstag gesund, das kannst Du mir glauben, denn ich (bricht hier ab.)

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1911

An Max Brod(Postkarte. Prag, Stempel: 27. I. 1911)

Lieber Max - ich fahre Montag nach Friedland. Heute hat sich gezeigt, daß ich morgen zumZahnarzt muß, ich komme also kaum vor sechs zu Dir. Kleist bläst in mich wie in eine alteSchweinsblase. Damit es nicht zu arg wird und weil ich es mir vorgenommen habe, gehe ich jetzt indie Lucerna.

Franz

An Max Brod(Ansichtskarte (Schloß Friedland).

Stempel: 1.II.1911)Das Schloß ist mit Epheu vollgestopft, in den Loggien reicht er bis zu halber Höhe. Nur dieZugbrücke gleicht jenen Nippsachen, um deren Ketten und Drähte man sich nicht kümmern will,weil es eben Nippsachen sind und trotzdem man sich in allem sonst Mühe gegeben hat Dem rotenDach unten mußt Du nicht glauben.

Franz

An Max Brod(Ansichtskarte. Friedland, Stempel: 2. II. 1911)

Kannst Du Dir auch, wie ich, eine fremde Gegend dann am besten vorstellen, wenn Du von einerruhigen, sonst in der ganzen Welt möglichen Beschäftigung hörst, mit der jemand in jener Gegendseine Zeit zugebracht hat? Ich erkläre es mir damit, daß hiebei einerseits die Gegend nichtverlassen, andererseits aber auch kein einzelnes Charakteristisches herausgerissen wird und daherdas Ganze bestehen bleibt. - Ich war im Kaiserpanorama und habe Brescia, Mantua und Cremonagesehn. Wie der glatte Fußboden der Kathedralen einem vor der Zunge liegt!

Franz K.

An Oskar BaumFriedland, 25. 2. 1911

Heute war ich in Neustadt an der Tafelfichte, einem Ort, wo man in den Hauptgassen mitunaufgeklappten Hosen ganz im Schnee stecken bleibt, während, wenn die Hosen aufgeklappt sind,der Schnee unten durch bis an die Knie steigt. Hier könnte man glücklich sein.Beste Grüße

An Max Brod(Ansichtskarte. Grottau, Stempel: 25. II. 1911)

Einige Neuigkeiten lieber Max: Leute haben schon Amseln im Volksgatten singen hören - dieKarosserie der Hofequipagen muß man wenn die Herrschaften aussteigen, hinten festhalten wegender starken Federung - heute sah ich auf der Herfahrt eine Ente im Wasser am Flußrand stehn - ichbin mit einer Frau gefahren, die der Sklavenhändlerin aus »die weiße Sklavin« sehr ähnlich gesehenhat u.s.w.

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An Sophie Brod(Ansichtskarte »Aus dem vegetarischen Speisehaus Thalysia,

Reichenberg«. Stempel: 26. II. 1911)Für die neue Hausbibliothek, liebes Fräulein Sophie, rate ich Ihnen den Roman »Der Tag derVergeltung« von A. K. Green an, den heute im Waggon ein Mann mir gegenüber gelesen hat. Hates nicht einen bedeutungsvollen Titel? Der »Tag« ist eine Fahnenstange, das erste »der« sind diePflöcke unten, das zweite »der« ist die Seilbefestigung oben, die »Vergeltung« ist ein, wenn schonnicht schwarzes, so dunkles Fahnentuch, dessen Sichdurchbiegen vom »e« zum »u« durch einenmittelstarken Wind (besonders das »ng« schwächt ihn) hervorgerufen wird. - So sehe ich mich,müde wie ich bin, selbst während der Fahrt nach Dingen um, die Ihnen nützlich sein könnten, undwäre natürlich sehr stolz, wenn Sie bei meinem nächsten Besuch den Tag der Vergeltung schonhätten.

Franz K.

An Max Brod(Ansichtskarte. Prag, Stempel: 2. III. 1911)

Lieber Max. sei so gut und bring mir, wenn Du morgen kommst, den Hyperion mit. Ich möchte ihndem Eisner borgen. Seine Rundschauhefte haben sich wieder einmal bei mir aufgehäuft und es tutmeinem Gewissen wohl, wenn ich bei der endlichen Rückgabe etwas beilegen kann, was ihnvielleicht interessiert.

FranzAn Max Brod

(Ansichtskarte. Prag, Stempel: 5. III. 1911)Danke, mein lieber Max. Was das Zeug wert ist, weiß ich. Es ist ja wie immer. Seine Fehler steckentiefer in meinem Fleisch als sein Gutes. Aber etwas Wichtigeres, .was die Welt angeht: dieZeitrechnung stimmt nicht mehr. Die Rohrpost, welche meine Karte vor zehn Uhr bekommen hat,konnte das Wegborgen am Nachmittag nicht mehr verhindern. Als Postbeamter bist Du nebenbeimitverantwortlich.

Dein Franz K.An Max Brod

(Ansichtskarte. Zittau, Stempel: 23. IV. 1911)Hier auf dem Berg Oybin sitzen über 200 verdrießliche Gäste, verhältnismäßig schreibe ich meineAnsichtskarten noch wie ein Südländer. Aber nur Karten, den Aufsatz habe ich noch nicht.

Franz

An Max Brod(Prag,) 27. V. 1911

Mein lieber Max, Du hast heute Geburtstag, aber ich schicke Dir nicht einmal das gewöhnlicheBuch, denn es wäre nur Schein; im Grunde bin ich doch nicht einmal mehr imstande, Dir ein Buchzu schenken. Nur weil ich es so nötig habe, heute einen Augenblick und sei es nur mit dieser Kartein Deiner Nähe zu sein, schreibe ich und mit der Klage habe ich nur deshalb angefangen, damit Dumich gleich erkennst.

Dein Franz

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An Max Brod(Sanatorium Erlenbach, Schweiz, 17. September 1911)

Mein lieber Max, wenn Du von mir verlangt hast, ich soll hier die Geschichte schreiben, so hast Dunur Deine Unkenntnis der Einrichtungen eines Sanatoriums gezeigt, während ich, der ich zuschreiben versprochen habe, die mir doch gut bekannte Lebensweise in den Sanatorien irgendwievergessen haben muß. Denn der Tag ist hier ausgefüllt von den Anwendungen, wie das Baden,Massiertwerden, Turnen usw, heißt und von der Vorbereitungsruhe vor diesen Anwendungen undvon der Erholungsruhe nach ihnen. Die Mahlzeiten allerdings nehmen nicht viel Zeit weg, da sie alsApfelmus, Kartoffelpurée, flüssiges Gemüse, Obstsäfte usw. sehr rasch, wenn man will ganzunbemerkt, wenn man aber will auch sehr genußreich hinunterrinnen, nur ein wenig aufgehaltenvon Schrotbrot, Omeletten, Puddings und vor allen Nüssen. Dafür aber werden die Abende,besonders da es jetzt sehr regnerisch war, gesellig verbracht, sei es, daß man sich einmal mitGrammophonvorträgen unterhält, wobei wie im Züricher Münster Damen und Herren getrenntsitzen und bei lärmenderen Liedern z. B. beim Sozialistenmarsch das Hörrohr mehr den Herrenzugewendet wird, während bei zarten oder besonders genau zu hörenden Stücken die Herren auf dieDamenseite gehn, um nach Beendigung wieder zurückzukehren oder in einzelnen Fällendortzubleiben für immer, sei es (willst Du den Satz grammatisch überprüfen, mußt Du das Blattumdrehn), daß ein Berliner Trompetenbläser zu meinem großen Vergnügen bläst oder irgendeinunsicher stehender Herr aus den Bergen ein Dialektstück nicht von Rosegger, sondern vonAchleitner vorliest und schließlich ein freundlicher Mensch, der alles hergibt, einen selbstverfaßtenhumoristischen Roman in Versen vorträgt, wobei mir nach alter Gewohnheit Tränen in die Augenkommen. Nun meinst Du, bei diesen Unterhaltungen müßte ich nicht dabei sein. Das ist aber nichtwahr. Denn erstens muß man sich doch irgendwie für den teilweise wirklich guten Erfolg der Kurbedanken (denk Dir, ich habe noch abend in Paris das Mittel genommen und die Folgen sind heuteam dritten Tag schon beseitigt) und zweitens sind hier schon so wenig Gäste, daß man wenigstensabsichtlich sich nicht verlieren kann. Endlich sind aber auch die Beleuchtungsverhältnisse ziemlichschlechte, ich wüßte gar nicht, wo ich allein schreiben sollte, selbst bei diesem Brief geht etwasAugenlicht drauf.Natürlich, wenn ich den Zwang zum Schreiben in mir fühlen würde, wie für längere Dauer einmalin langer Zeit, wie für einen Augenblick in Stresa, wo ich mich ganz als eine Faust fühlte, in derenInnern die Nägel in das Fleisch gehn - anders kann ich es nicht sagen -, dann allerdings bestündekeines jener Hindernisse. Ich müßte mir einfach die Anwendungen nicht machen lassen, könntemich gleich nach Tisch empfehlen, als ein ganz besonderer Sonderling, dem man nachschaut, inmein Zimmer hinaufgehn, den Sessel auf den Tisch stellen und im Licht der hoch an der Deckeangebrachten schwachen Glühlampe schreiben.Wenn ich jetzt daran denke, daß man nach Deiner Meinung � nach Deinem Beispiel will ich nichtsagen - auch nach bloß äußerem Belieben schreiben solle, dann hast Du freilich mit DeinerAufforderung an mich schließlich doch Recht gehabt, ob Du nun Sanatorien kennst oder nicht, undes fällt wirklich trotz meiner angestrengten Entschuldigung alles auf mich zurück oder bessergesagt, es reduziert sich auf eine kleine Meinungs- oder eine große Fähigkeitsdifferenz. Übrigensist es erst Sonntag abend, mir bleiben also noch rund eineinhalb Tage, obwohl die Uhr hier imLesezimmer, in dem ich jetzt endlich allein geworden bin, einen merkwürdig schnellen Schlag hat.In einem nützt mir, abgesehen von der Gesundheit, mein Aufenthalt hier auf jeden Fall. DasPublikum besteht hauptsächlich aus ältern Schweizer Frauen des Mittelstandes, also aus Menschen,bei denen sich ethnographische Eigentümlichkeiten am zartesten und verschwindendsten zeigen.Wenn man sie daher an diesen konstatiert, dann sollte man sie doch schon sehr fest halten. Auchmeine Unkenntnis ihres Deutsch hilft mir, glaube ich, bei ihrer Betrachtung, denn sie sind dadurchfür mich viel enger gruppiert. Man sieht dann doch mehr, als wir vom Waggonfenster aus sahen,wenn auch nicht eigentlich anders. Um es vorläufig kurz zu sagen, würde ich mich bei derBeurteilung der Schweiz lieber als an Keller oder Walser, an Meyer halten.

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Für Dein Kriegsfeuilleton habe ich in Paris den Titel eines Buches samt Waschzettelabgeschrieben: »Colonel Arthur Boucher: >La France victorieuse dans la guerre du demain.<L'auteur ancien chef des operations démontre que si la France était attaquée elle saurait se défendreavec la certitude absolue de la victoire, « Ich schrieb das vor einer Buchhandlung auf demBoulevard St. Denis als deutscher Literaturspion ab. Möchte es Dir nützen. Wenn Dir DeinMarkensammler nicht lieber ist als mir der meine, dann hebe mir das Couvert auf.

Dein Franz

An Oskar BaumErlenbach, 19. 9. 1911

Lieber Herr Baum, unsere Reise war, wie Max Ihnen sicher schon erzählt hat, so mannigfaltig, daßkeine Zeit blieb, sich an zuhause zu erinnern, jetzt aber, da meine Erholung zu Ende geht, einemeiner Krankheiten unter dem erstaunten Zuschauen meiner andern sich aufzulösen beginnt unddie ganze Welt der Ansicht ist, daß ich wieder ins Bureau gehen soll, da ist mir gestern an diesemregnerischen kalten Abend bei offenem Fenster unter der dünnen Decke warm geworden.

An Max Brod(Postkarte. Prag, Stempel: 12. X. 1911)

Lieber Max; das haben wir aber getroffen ! Sulamit von Goldfaden wird gespielt! Mit Freudeverschwende ich eine Karte, um Dir zu sagen, was Du schon gelesen hast. Ich hoffe nur, daß Dumir auch geschrieben hast.

Franz

An Max Brod(Prag, wahrscheinlich 1911)

Mein lieber Max, ich kann ja morgen wieder nicht kommen; wer weiß, ob ich abend kommen kann.Komme ich nicht um sechs zu Dir, gehe ich direkt zum Vortrag, bin ich nicht beim Vortrag, holeich Dich vom Rudolphinum ab. Schade daß Du nicht zuhause bist, ich hätte, trotzdem meinBöhmisch-Lehrer auf mich wartet, so gerne ein paar Gedichte gelesen. »Die Kinder, ein ewigerBall« gehn mir nicht aus den Ohren. Arbeite, lieber Max, arbeite!

Dein F

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1912

An Max Brod(Postkarte. Prag, Stempel: 19. II. 1912)

Mein lieber Max, das Geld Deines Onkels, das ich schon heimlich betrauert habe, habe ich zuhausein meiner Brusttasche gefunden. Deine erste Bemerkung, er hätte es mit der Postsparkassageschickt, hatte eben auf mich einen solchen Eindruck gemacht, daß daneben das Couvert in derHand nicht mehr gelten konnte. - Bitte danke noch einmal Deinen Eltern, ich habe nur soherumgefuchtelt, sie aber haben den Abend zustandegebracht. - Welchen Abend kann ich zu Dirkommen? Ich habe Dich schon so lange nicht gründlich gesehn.

Franz

An Max Brod(Postkarte. Prag, wahrscheinlich Anfang 1912)

Lieber Max, kaum bin ich gestern nachhause gekommen, habe ich mich erinnert, daß im»Unglücklichsein« einige kleine aber häßliche Schreib- und Diktierfehler sind, die ich aus meinemExemplar entfernt habe, während sie in Deinem geblieben sind. Da sie mir Sorgen machen, schickes mir gleich zurück. Du bekommst es verbessert wieder.

Dein Franz

An Max Brod(Prag, Ende März 1912)

Lieber Max, ich habe die Sache hin und her überlegt. Eine Klage von Deiner Seite scheint mir sehrunvorteilhaft, klage nicht! Dann bliebe die Möglichkeit, die Sache zu dulden, ich würde es machen,Du nicht. Schon besser als zu klagen wäre geklagt werden, Du könntest ihn, da Du die nötigeAbscheu vor ihm hast, öffentlich Lügner nennen; nach der Erklärung bei der Bohemia wärest Du,wenn er nicht nachgibt, dazu berechtigt. Das beste meiner Meinung nach ist aber, Du schickst andie Zeitungen als Inserat eine Erklärung, z. B. so: »Wie ich erfahre, zeigt jemand einen anonymenBrief herum, in welchem ihm skandalöses Benehmen während eines von mir veranstaltetenKonzertes vorgeworfen wird, und erzählt hiebei, ich hätte diesen Brief geschrieben oder veranlaßt.Ich habe weder Zeit noch Lust, diese Angelegenheit vor Gericht zu bringen. Auch für eine andereAustragung scheint mir die Sache zu geringfügig. Ich beschränke mich daher darauf, öffentlich zuerklären, daß jener Brief weder von mir, noch auf meine Veranlassung, noch mit meinem Wissengeschrieben worden ist.« - Jedenfalls kann ich das Ganze nicht für arg halten. Nur Dein Gesichtgestern hat mich erschreckt.

Franz

An Max Brod(Kartenbrief. Prag, Stempel: 7. V. 1912)

Lieber Max, Ich habe eine solche Freude von Deinem Buch gehabt, noch gestern abend, als ich eszuhause durchblätterte. Die gesegnete Eisenbahnfahrt, von der Du erzählt hast, wirkt darin sichtbar.Du hast gefürchtet, es sei zu ruhig, aber es ist drin Leben, man möchte sagen, bei Tag und Nacht.Wie alles hintereinander zu Arnold hinaufrückt und mit ihm wieder herkommt, alles lebt ohne diegeringste eingeblasene Musik. Es ist sicher eine Zusammenfassung und gleichzeitig ein Anschlußan »Tod den Toten«, von oben her. Ich küsse Dich.

Dein Franz

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An die Eltern(Ansichtskarte: Goethes Sterbezimmer.

Weimar, Stempel: 30. VI. 1912)Liebste Eltern und Schwestern, wir sind glücklich in Weimar angekommen, wohnen in einemstillen schönen Hotel mit der Aussicht in einen Garten (alles für 2 M) und leben und schauenzufrieden. Wenn ich nur schon eine Nachricht von euch hätte.

Euer Franz

An Max Brod(Ansichtskarte (Gleims Haus in Halberstadt).

Halberstadt, Stempel: 7. VII. 1912)Wie gut es diese deutschen Dichter hatten ! Sechzehn Fenster auf die Gasse! Und soll das ganzeHaus auch voll Kinder gewesen sein, was meinem literarhistorischen Gefühle nach bei Gleimwahrscheinlich ist.

An Max Brod(Ansichtskarte. Halberstadt, Stempel: 7. VII. 1912)

Lieber Max, den ersten Morgengruß im Bureau. Nimms nicht zu schwer. Geradezu selig bin ichauch nicht, trotz dieser unbegreiflich alten Stadt. Ich sitze auf einem Balkon über dem Fischmarktund verschlinge die Beine ineinander, um die Müdigkeit aus ihnen herauszuwinden.Grüße alle.

Dein Franz

An Max Brod(Briefkopf: Rudolf Just's Kuranstalt, Jungborn i/Harz,

Post Stapelburg,) 9. VII. (1912)Mein lieber Max, hier ist mein Tagebuch. Wie Du sehen wirst, habe ich, weil es eben nicht nur fürmich bestimmt war, ein wenig geschwindelt, ich kann mir nicht helfen, jedenfalls ist bei einemsolchen Schwindel nicht die geringste Absicht, vielmehr kommt es aus meiner innersten Natur undich sollte eigentlich mit Respekt da hinunterschaun. Es gefällt mir hier ganz gut, die Selbständigkeitist so hübsch und eine Ahnung von Amerika wird diesen armen Leibern eingeblasen. Wenn manauf den Feldwegen geht und seine Sandalen neben die schweren Stulpenstiefel einesvorübergehenden alten Bauern setzt, dann hat man keine besonders stolzen Gefühle, aber wennman allein im Wald oder auf den Wiegen liegt, dann ist es gut. Nur Lust zum Schreiben bekommtman vorläufig davon nicht; wenn sie herankommt, dann ist sie jedenfalls noch nicht im Harz;vielleicht ist sie in Weimar. Eben habe ich 3 Ansichtskarten an sie geschrieben.Lebe wohl und grüße alle

Dein Franz

An Max BrodJungborn, den 10. Juli 1912

Mein liebster Max, weil mir Dein Brief vor Freude in den Händen brennt, antworte ich gleich. DeinGedicht wird der Schmuck meiner Hütte bleiben, und wenn ich in der Nacht aufwache, was oftvorkommt, denn an die Geräusche in Gras, Baum und Luft bin ich noch nicht gewöhnt, so werdeich es bei der Kerze lesen. Vielleicht bringe ich es einmal dazu, es auswendig hersagen zu können,dann werde ich mich, und sei es auch nur im Gefühl, wenn ich verkannt bei meinen Nüssen sitze,

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damit erheben. Es ist rein (nur mit den »schweren Trauben« kommt in die zwei Zeilen ein nichtganz sicherer Überfluß, da solltest Du noch mit der Hand hineingreifen), aber außerdem und vorhernoch hast Du es für mich bestimmt, nicht wahr, schenkst es mir vielleicht, läßt es gar nicht drucken,denn, weißt Du, noch die erträumteste Vereinigung ist für mich das Wichtigste auf dieser Welt.Der brave, der kluge, der tüchtige Rowohlt! Wandere aus, Max, wandere von Juncker aus, mitallem oder mit möglichst vielem. Er hat Dich aufgehalten, nicht in Dir, daran glaube ich nicht, dabist Du auf dem guten Weg, aber vor der Welt bestimmt. Die Schrift der Kleist-Anekdoten paßtganz genau, aus dieser trockenen Schrift wird man die »Höhe des Gefühls« und so besser rauschenhören.Vom Jahrbuch und vom »Billig« schreibst Du nichts. Nimmt Rowohlt den »Begriff« umsonst? Daßer an mein Buch denkt, ist mir natürlich recht, aber ihm von hier aus schreiben? Ich wüßte nicht,was ich ihm schreiben sollte.Wenn das Bureau Dich ein wenig plagt, so tut das nichts, dazu ist es hier, man kann nichts anderesverlangen. Dagegen kann man verlangen, daß aber schon in nächster Zeit Rowohlt oder irgendeinanderer kommt und Dich aus Deinem Bureau herauszieht Er soll Dich dann aber nur in Prag lassenund Du sollst dort bleiben wollen! Hier ist es schon schön, aber ich bin unfähig genug und traurig.Das muß nicht endgiltig sein, das weiß ich. Jedenfalls reicht es zum Schreiben noch lange nicht,Der Roman ist so groß, wie über den ganzen Himmel hin entworfen (auch so farblos undunbestimmt wie heute) und ich verfitze mich beim ersten Satz, den ich schreiben will. Daß ich michdurch die Trostlosigkeit des schon Geschriebenen nicht abschrecken lassen darf, das habe ich schonherausgebracht und habe von dieser Erfahrung gestern viel Nutzen gehabt.Dagegen macht mir mein Haus viel Vergnügen. Der Fußboden ist ständig mit Gräsern bedeckt, dieich hereinbringe, Gestern vor dem Einschlafen glaubte ich sogar Frauenstimmen zu hören. Wennman das Klatschen nackter Füße im Gras nicht kennt, so ist,. wenn man im Bett liegt, einvorüberlaufender Mensch wie ein dahineilender Büffel anzuhören. Mähen kann ich nicht erlernen.Lebe wohl und grüße alle.

Dein Franz

An Max Brod(Jungborn,) 13. Juli 1912

Mein lieber Max, wer verlangt denn, daß Du mir Briefe schreibst!Ich mache mir die Freude, Dir zu schreiben und so die Verbindung zwischen Dir und mirzusammenzuziehn (wobei ich allerdings auch an Weltsch und Baum denke, zu selbständigemSchreiben an sie bringe ich mich nicht; ich müßte so vieles wiederholen, um das Besondere zufinden) und sollte Dich außerdem noch aufhalten wollen? Du wirst mir eben, bis ich nach Pragkomme, die Stellen aus Deinem kurzen Tagebuch mit Erklärungen vorlesen und ich werdevollständig zufrieden sein. Nur eine kleine Karte schicke mir hie und da, damit ich meine Briefenicht gar so verlassen auf dem Felde singe.Du hast das Fräulein Kirchner für dumm gehalten. Nun schreibt sie mir aber 2 Karten, diemindestens aus einem unteren Himmel der deutschen Sprache kommen. Ich schreibe sie wörtlichab:

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»Sehr geehrter Herr Dr. Kafka!Für die liebenswürdige Sendung der Karten und freundliches Gedenken, erlaube ich mir Ihnenbesten Dank zu sagen. Auf dem Ball habe ich mich gut amüsiert, bin erst mit meinen Elternmorgens 1/2 5 Uhr nach Hause gekommen. Auch war der Sonntag in Tiefurt ganz nett. Sie fragen,ob es mir Vergnügen macht, Karten von Ihnen zu erhalten; darauf kann ich nur erwidern, daß esmir und meinen Eltern eine große Freude sein wird, von Ihnen zu hören. Sitze so gern im Gattenam Pavillon und gedenke Ihrer. Wie geht es Ihnen? Hoffentlich gut.Ein herzliches Lebewohl und freundliche Grüße von mir und meinen Eltern sendet

Margarethe Kirchner«

Es ist bis auf die Unterschrift nachgebildet. Nun? Bedenke vor allem, daß diese Zeilen von Anfangbis zu Ende Literatur sind. Denn wenn ich ihr nicht unangenehm bin, so bin ich ihr dochgleichgültig wie ein Topf. Aber warum schreibt sie dann so, wie ich es wünsche? Wenn es wahrwäre, daß man Mädchen mit der Schrift binden kann?Das Jahrbuch wird in Deiner Karte nicht erwähnt. Über Weltsch bitte ich Dich um eine kurzeNachricht. Streichle ihn für mich! Und grüße das Fräulein Taussig und die Baumischen.

Dein FranzNicht weniger als 7 Tagebuchblätter

An Max Brod(Jungborn,) 17. VII. 12

Mein lieber Max! Du bist nicht gerade lustig, wie ich aus Deinem Brief zu lesen glaube. Aber wasfehlt Dir? Du arbeitest an der Arche Noah und bringst sie vorwärts und machst sie in meinerErwartung so schön, daß ich Dich bitte, mir sie in einem Abzug zu schicken; außerdem sitzst Dubei Rowohlt fest und gut. Daß Lissauer Dich beschimpft, bewegt Dir doch wohl kein Härchen.Beneidest Du mich vielleicht?Mein Hauptleiden besteht darin, daß ich zu viel esse. Ich stopfe mich wie eine Wurst, wälze michim Gras und schwelle in der Sonne an. Ich habe die dumme Idee, mich dick machen zu wollen undvon da aus mich allgemein zu kurieren, als ob das zweite oder auch nur das erste möglich wäre. Diegute Wirkung des Sanatoriums zeigt sich darin, daß ich mir bei dem allen den Magen nichteigentlich verderbe, er wird bloß stumpfsinnig. Es ist damit nicht ohne Zusammenhang, daß meineSchreiberei langsamer weiter geht als in Prag. Dagegen, oder besser: überdies sind mir gestern undheute über das Minderwertige meines Schreibens einige Erkenntnisse aufgegangen, die, wie ichfürchte, nicht vergehen werden. Es macht aber nichts. Zu schreiben aufzuhören kann ich nicht, esist also eine Lust, die ohne Schaden bis auf den Kern geprüft werden kann.Das Jahrbuch hast Du also in der Hand? »Arcadia« würde ich es nicht nennen, so wurden bishernur Weinstuben genannt. Aber es ist leicht möglich, daß der Name, wenn er einmal feststeht,bezwingend sein wird.Warum sitzst Du Sonntag abend allein im Louvre? Warum bist Du nicht in Schelesen bei Baum?Das würde Dir besser passen.Weltsch werde ich also schreiben, aber sag Du ihm auch noch ein gutes Wort für mich. Es istwahrscheinlich eine Krankheit ähnlich der, welche seine Schwester letzthin hatte?Leb wohl, mein lieber Max, und sei nicht traurig! Wahr ist es schon, das Leben, das ich jetzt führe,ist zum großen Teil geeignet, um die Traurigkeit herumzuführen, aber ich will doch tausendmallieber mitten in sie hineinfahren, wie ich es fast jeden Abend in dem Schreibzimmer tue, wo ich 11/2 Stunden meist allein, und ohne zu schreiben, versitze. Es ist ein Gedanke des Jungborn, der mirwichtiger ist als seine eigentlich grundlegenden, daß nämlich im Schreibzimmer nicht gesprochenwerden darf. Allerdings besteht wieder der Befehl oder der Aberglaube, daß um 9 die Fenstergeschlossen wer den müssen. Man kann dort noch fast bis 10 bleiben, aber um 9 kommt ein

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Mädchen - manchmal scheint es mir, als wartete ich von 8 Uhr an auf diese Weiblichkeit - undschließt die Fenster. Ein Mädchen hat kurze Arme und ich muß ihr helfen. Besonders still ist eshier, wenn der Doktor im Vortragsaal (3 mal in der Woche) vorträgt, vor die Wahl der zweiGenüsse gestellt, wähle ich die Stille, trotzdem ich sehr gerne zu den Vorträgen ginge. Letzthinerklärte er, daß die Bauchatmung zum Wachsen und Reizen der Geschlechtsorgane beitrage,weshalb die auf Bauchatmung hauptsächlich beschränkten Opernsängerinnen so unanständig sind.Es ist aber auch möglich, daß gerade die zur direkten Brustatmung gezwungen sind. Nimm es nachBelieben! Grüßte auch alle

Dein FranzDrei Beilagen

An Max Brod(Jungborn im Harz, Juli 1912)

Mein liebster Max! Nach langer Plage höre ich auf. Ich bin außer Stande und werde es kaum innächster Zeit im Stande sein, die noch erübrigenden Stückchen zu vervollkommnen. Da ich es nunnicht kann, es aber zweifellos in guter Stunde einmal können werde, willst Du mir wirklich raten -und mit welcher Begründung, ich bitte Dich - bei hellem Bewußtsein etwas Schlechtes drucken zulassen, das mich dann anwidern würde, wie die zwei Gespräche im »Hyperion«? Das, was bishermit der Schreibmaschine geschrieben ist, genügt ja wahrscheinlich für ein Buch nicht, aber ist denndas Nichtgedrucktwerden und noch Ärgeres nicht viel weniger schlimm als dieses verdammteSichzwingen. Es gibt in diesen Stückchen ein paar Stellen, für die ich zehntausend Berater habenwollte; halte ich sie aber zurück, brauche ich niemanden als Dich und mich und bin zufrieden. Gibmir recht! Dieses künstliche Arbeiten und Nachdenken stört mich auch schon die ganze Zeit undmacht mir unnötigen Jammer. Schlechte Sachen endgültig schlecht sein lassen, darf man nur aufdem Sterbebett. Sag mir, daß ich recht habe, oder wenigstens, daß Du es mir nicht übelnimmst;dann werde ich wieder mit gutem Gewissen und auch über Dich beruhigt etwas anderes anfangenkönnen.

Dein Franz

An Max Brod(Jungborn,) 22. VII. 1912

Mein liebster Max, spielen wir wieder einmal das Spiel der unglücklichen Kinder? Einer zeigt aufden andern und sagt seinen alten Vers. Deine augenblickliche Meinung über Dich ist einephilosophische Laune, meine schlechte über mich ist keine gewöhnliche schlechte Meinung. Indieser Meinung besteht vielmehr meine einzige Güte, sie ist das, woran ich, nachdem ich sie imVerlaufe meines Lebens ordentlich eingegrenzt habe, niemals, niemals zweifeln mußte, sie bringtOrdnung in mich und macht mich, der ich Unübersichtlichem gegenüber sofort niederfalle,genügend ruhig.Wir stehn einander doch nahe genug, um in die Begründung der Meinung des andern hineinsehn zukönnen. Mir sind ja Einzelheiten gelungen und ich habe mich über sie mehr gefreut, als selbst Dufür recht halten würdest - könnte ich sonst die Feder noch in der Hand halten? Ich bin niemals einMensch gewesen, der etwas um jeden Preis durchsetzt. Aber das ist es eben. Was ich geschriebenhabe, ist in einem lauen Bad geschrieben, die ewige Hölle der wirklichen Schriftsteller habe ichnicht erlebt, von einigen Ausnahmen abgesehn, die ich trotz ihrer vielleicht grenzenlosen Stärkeinfolge ihrer Seltenheit und der schwachen Kraft, mit der sie spielten, aus der Beurteilung rückenkann.Ich schreibe auch hier, sehr wenig allerdings, klage für mich und freue mich auch; so beten frommeFrauen zu Gott, in den biblischen Geschichten wird aber der Gott anders gefunden. Daß ich Dir das,

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was ich jetzt schreibe, noch lange nicht zeigen kann, mußt Du, Max, begreifen, und wäre es nur mirzu Liebe. Es ist in kleinen Stücken mehr aneinander als ineinander gearbeitet, wird lange geradeausgehn, ehe es sich zum noch so sehr erwünschten Kreise wendet, und dann in jenem Augenblicke,dem ich entgegenarbeite, wird nicht etwa alles leichter werden, es ist vielmehr wahrscheinlich, daßich, der ich bis dahin unsicher gewesen bin, dann den Kopf verliere. Deshalb wird es erst nachBeendigung der ersten Fassung etwas sein, wovon man reden kann.Hast Du denn die Arche nicht mit der Schreibmaschine schreiben lassen? Kannst Du mir nicht dochnoch einen Abzug schicken? Und verdient ihr Gelingen nicht ein Wort?Weltsch liegt noch immer? Hat ihn das aber hingeworfen! Und ich schreibe ihm nicht und schreibeihm nicht. Bitte sag doch dem Frl.T. und dem Weltsch und wenn es geht, den Baumischen, daß ichsie alle liebe und daß Liebe mit Briefschreiben nichts zu tun hat. Sag es ihnen so, daß es besser istund freundlicher aufgenommen wird, als drei wirkliche Briefe. Wenn Du willst, so kannst Du's.An unserer gemeinsamen Geschichte hat mich außer Einzelheiten nur das Nebendirsitzen an denSonntagen gefreut (die Verzweiflungsanfälle natürlich abgerechnet) und diese Freude würde michsofort verlocken, die Arbeit fortzusetzen. Aber Du hast Wichtigeres zu tun und wenn es nur derUlysses wäre.Mir fehlt jedes organisatorische Talent und darum kann ich nicht einmal einen Titel für dasJahrbuch erfinden. Vergiß nur nicht, daß in der Erfindung gleichgültige und selbst schlechte Titeldurch wahrscheinlich unberechenbare Einflüsse der Wirklichkeit ein gutes Ansehn bekommen.Sag nichts gegen die Geselligkeit! Ich bin auch der Menschen wegen hergekommen und binzufrieden, daß ich mich wenigstens darin nicht getäuscht habe. Wie lebe ich denn in Prag! DiesesVerlangen nach Menschen, das ich habe und das sich in Angst verwandelt, wenn es erfüllt wird,findet sich erst in den Ferien zurecht; ich bin gewiß ein wenig verwandelt. Übrigens hast Du meineZeitangaben nicht genau gelesen, bis 8 Uhr schreibe ich wenig, nach 8 aber nichts, trotzdem ichmich dann am befreitesten fühle. Darüber würde ich mehr schreiben, wenn ich nicht gerade denheutigen Tag ganz besonders dumm mit Ball- und Kartenspielen und Umhersitzen und Liegen imGarten verbracht hätte. Und Ausflüge mache ich gar keine! Es ist die höchste Gefahr, daß ich denBrocken gar nicht sehen werde. Wenn Du wüßtest, wie die kurze Zeit vergeht! Wenn sie so deutlichverginge wie Wasser, aber sie vergeht wie Öl.Samstag nachmittag fahre ich von hier weg (hätte aber noch sehr gerne bis dahin eine Karte vonDir), bleibe Sonntag in Dresden und komme Abend nach Prag. Nur aus weithin sichtbarerSchwäche fahre ich nicht über Weimar. Ich habe einen kleinen Brief von ihr bekommen miteigenhändigen Grüßen der Mutter und 3 beigelegten Photographien. Auf allen dreien ist sie inverschiedenen Stellungen zu sehn, in einer mit den frühem Photographien unvergleichbarenDeutlichkeit und schön ist sie! Und ich fahre nach Dresden, als wenn es sein müßte, und werde mirden zoologischen Garten ansehn, in den ich gehöre!

Franz9 Tagebuchblätter

Kennst Du, Max, das Lied »Nun leb wohl... «? Wir haben es heute früh gesungen und ich habe esabgeschrieben. Die Abschrift heb ich mir ganz besonders gut auf! Das ist eine Reinheit und wieeinfach es ist; jede Strophe besteht aus einem Ausruf und einem Kopfneigen.Außerdem noch ein vergessenes Blatt von der Reise.

An Max Brod(Kafkas Schwester Ottla diktiert.

Wahrscheinlich aus der zweiten Jahreshälfte 1912)Liebster Max, ich weiß wirklich nicht, ob ich morgen Sonntag zu Dir komme, höchstens mit einerLüge, denn ich habe Angst vor Dir. So ein Gesicht wie Du es am Abend vor Deiner Abreise

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gemacht hast, vertrag ich nicht. Ich schlafe jetzt immer regelrecht bis viertel neun und ich habeauch richtig den Auftrag gegeben, daß man mich heute um sieben Uhr schon weckt und man hatmich auch um sieben geweckt, wie ich beim endgültigen Aufwachen um viertel neun dunkel micherinnern konnte. Aber dieses Aufwecken hat mich nicht mehr gestört als meine jetzt wütenddeutlichen Träume. (Gestern habe ich z. B. ein rasendes Gespräch mit Paul Ernst gehabt, es gingSchlag auf Schlag, er war dem Vater vom Felix ähnlich. Von morgen ab wird er täglich zweiGeschichten schreiben.) Seit zwei Tagen habe ich auch keinen Brief bekommen, Du hast mir aufzwei Karten und einen Brief nicht geantwortet, und wenn auch beides nicht schwer erklärlich ist, soführe ich es doch an, weil ich eben für meine Unpünktlichkeit keine bessere Entschuldigung habe.

An Max Brod(14. VIII. 1912)

Guten Morgen! Lieber Max, ich stand gestern beim Ordnen der Stückchen unter dem Einfluß desFräuleins, es ist leicht möglich, daß irgendeine Dummheit, eine vielleicht nur im Geheimenkomische Aufeinanderfolge dadurch entstanden ist. Bitte, schau das noch nach und laß mich denDank dafür in den ganz großen Dank einschließen, den ich Dir schuldig bin.

Dein FranzEs ist auch eine Anzahl kleiner Schreibfehler drin, wie ich jetzt beidem leider ersten Lesen einerKopie sehe. Und die Interpunktion! Aber vielleicht hat die Korrektur dessen wirklich noch Zeit.Nur dieses: »Wie müßtet ihr aussehn?« in der Kindergeschichte streich und hinter dem vier Wortevorhergehenden »wirklich« mach ein Fragezeichen.

An Ernst RowohltPrag, am 14. August 1912

Sehr geehrter Herr Rowohlt!Hier lege ich Ihnen die kleine Prosa vor, die Sie zu sehen wünschten; sie ergibt wohl schon einkleines Buch. Während ich sie für diesen Zweck zusammenstellte, hatte ich manchmal die Wahlzwischen der Beruhigung meines Verantwortungsgefühls und der Gier, unter Ihren schönenBüchern auch ein Buch zu haben. Gewiß habe ich mich nicht immer ganz rein entschieden. Jetztaber wäre ich natürlich glücklich, wenn Ihnen die Sachen auch nur soweit gefielen, daß Sie siedruckten. Schließlich ist auch bei größter Übung und größtem Verständnis das Schlechte in denSachen nicht auf den ersten Blick zu sehen. Die verbreitetste Individualität der Schriftsteller bestehtja darin, daß jeder auf ganz besondere Weise sein Schlechtes verdeckt.Ihr ergebener:

Dr. Franz KafkaManuscript folgt separat per Postpaquet

An den Rowohlt-Verlag(Briefkopf: Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt)Prag, am 7. September 1912

Sehr geehrter Herr!Ich danke Ihnen bestens für das freundliche Schreiben vom 4. d. M. Da ich mirdie geschäftlichen Aussichten der Veröffentlichung einer derartigen kleinen ersten Arbeit beiläufigvorstellen kann, bin ich gerne mit den Bedingungen einverstanden, die Sie mir selbst stellen wollen,solche Bedingungen, die Ihr Risiko möglichst einschränken, werden auch mir die liebsten sein. -Ich habe vor den Büchern, die ich am Ihrem Verlage kenne, zuviel Respekt, um mich mitVorschlägen wegen dieses Buches einzumischen, nur bitte ich um die größte Schrift, die innerhalbjener Absichten möglich ist, die Sie mit dem Buch haben. Wenn es möglich wäre, das Buch alseinen dunklen Pappband einzurichten, mit getöntem Papier, etwa nach der Art des Papieres der

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Kleistanekdoten, so wäre mir das sehr recht, allerdings wieder nur unter der Voraussetzung, daß esIhren sonstigen Plan nicht stört.In angenehmer Erwartung Ihrer nächsten NachrichtenIhr ergebener:

Dr. Franz KafkaAn Elsa Taussig

Prag, am 18. IX. 1912Liebes Fräulein! Besten Dank. Das ist eben der Süden. Schon beim Lesen dieses Tagebuchs fängtmir das Blut zu kochen an, wenn auch nur schwach, nach seiner Art.Schreiben Sie mir doch nur ein Wort, wann und wo ich Sie sehen kann und ich komme mit Freudenhin. Nur überraschen will ich Sie nicht, es gibt keine angenehmen Überraschungen. - Wie wärees übrigens, wenn wir einmal zusammen zum alten Onkel gingen; da Max uns allen weggefahrenist, gehören wir doch zusammen.Ihr herzlich ergebener

Franz K.An Felix Weltsch und Max Brod

(Briefkopf: Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt)Prag, 20. September 1912Meine lieben Glücklichen!Ich mache mir die allerdings sehr nervöse Freude, euch mitten in den Bürostunden zu schreiben.Ich würde es nicht tun, wenn ich noch Briefe ohne Schreibmaschine schreiben könnte. Aber diesesVergnügen ist zu groß. Reicht einmal und meistens die Laune nicht ganz aus, die Fingerspitzen sindimmer da. Ich muß annehmen, daß euch das sehr interessiert, weil ich euch das so in Eile schreibe.Danke, Max, für das Tagebuch. Dein Fräulein war so lieb, es mir gleich zu schicken, es kamgleichzeitig mit Deiner ersten Karte an. Ich habe mich aber auch gleich schön bedankt und offengesagt gleich um ein Rendezvous gebeten, für das ich, hoffentlich in Deinem Sinn, die WohnungDeines Onkels vorgeschlagen habe, damit wir drei Verlassenen einmal beisammen sind.Mit dem Tagebuch darfst Du nicht aufhören! Und besser wäre es noch, wenn ihr alle Tagebücherführtet und schicktet. Wenn wir uns schon im Neide wälzen, wollen wir wissen, warum. Schon ausden paar Seiten ist mir der Süden ein wenig eingegangen und die Italiener im Kupee, an die DuDich im ununterbrochenen Wohlleben wahrscheinlich gar nicht mehr erinnerst, haben mich starkgepackt.Gestern abend war ich, Max, bei Deinen Eltern. Dein Vater war allerdings in einem Verein und ichfühlte mich gerade zu schwach, um das Auspacken Deiner Briefschaften bei Deinem Bruderdurchzusetzen. An Neuigkeiten soll es (hier bricht die Maschinenschrift ab)Bei dieser spannenden Stelle wurde ich unterbrochen, eine Deputation des Landesverbandes derSägewerksbesitzer kommt, - nichts weniger, des Eindrucks halber, den das auf euch macht - undwird ewig bleiben.Also lebt wohl!

Euer FranzGrüße für Herrn Süssland

Meine Schwester Valli hat Samstag Verlobung gehabt, macht ihr die Freude und gratuliert ihr aufeiner Ansichtskarte, ohne zu schreiben, woher ihr es wißt.

An den Rowohlt-Verlag(Briefkopf: Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt)

Prag, am 25. September 1912Sehr geehrte Herren!In der Beilage erlaube ich mir Ihnen das eine Vertragsformular, unterschrieben, mit bestem Dankezurückzuschicken. Ich hielt es deshalb paar Tage zurück, weil ich Ihnen gleichzeitig eine bessere

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Lesart für das Stückchen »Der plötzliche Spaziergang« mitschicken wollte, denn in dem bisherigenSchluß des ersten Absatzes steckt eine Stelle, die mich anwidert. Leider habe ich diese bessereLesart noch nicht ganz, schicke sie aber bestimmt in den nächsten Tagen.Noch eine Bitte: Da im Vertrag der Erscheinungstermin nicht genannt ist - ich lege auch nicht dengeringsten Wert darauf, daß es geschieht - da ich aber natürlich sehr gerne wüßte, wann Sie dasBuch herauszugeben beabsichtigen, bitte ich Sie so freundlich zu sein, und es mir bei Gelegenheitzu schreiben.Ihr herzlich ergebener:

Dr. Franz Kafka

An Max Brod(Prag, Herbst 1912)

Liebster Max, wo bleibst Du denn? Ich wollte Dich auf dem Kanapee schlafend erwarten, aber ichbin weder eingeschlafen, noch bist Du gekommen. Jetzt muß ich schon nachhause, aber morgenvormittag will ich Dich endlich sehn. Ich bin bis zwölf im Bureau und will nicht sagen, daß Dumich dort besuchen oder abholen sollst, aber ich würde Dich dann immerhin früher sehn undvielleicht kannst Du Deine Wege so einrichten. Jedenfalls aber komme ich nach zwölf zu Dir.Wenn Du zuhause sein könntest - ich würde Dich dann in unserer Sonne spazieren führen. - Frl. B.läßt Dich grüßen und ich leihe ihr gerne meinen Mund.

Franz

An Max Brod(Prag, Herbst 1912)

Lieber Max, hier schicke ich Dir das zweite Kapitel ohne mich. Es war die einzige gute Stunde, dieich seit Samstag damit verbracht habe. Ich kann deshalb nicht kommen, weil meinem Vater nichtgut ist und er will, daß ich bei ihm bleibe. Vielleicht komme ich abends zum Besuch.

Dein Franz

An den Rowohlt-Verlag(Briefkopf: Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt]

Prag, am 6. Oktober 1912Sehr geehrte Herren!In der Beilage übersende ich Ihnen die bessere Lesart des Stückchens »Der plötzlicheSpaziergang«, die Sie an Stelle der bisherigen freundlichst in das Manuskript einlegen wollen.Gleichzeitig bitte ich neuerlich um die vor einiger Zeit schon erbetene Auskunft über denErscheinungstermin, den Sie für die »Betrachtung« in Aussicht genommen haben. Ich wäre Ihnenfür eine gefällige baldige Auskunft sehr verbunden.Ihr herzlich ergebener:

Dr. F. Kafka

An Max Brod(Prag, 8. Oktober 1912)

Mein liebster Max!Nachdem ich in der Nacht von Sonntag auf Montag gut geschrieben hatte - ich hätte die Nachtdurchschreiben können und den Tag und die Nacht und den Tag und schließlich wegfliegen - undheute sicher auch gut hätte schreiben können - eine Seite, eigentlich nur ein Ausatmen der gestrigen

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zehn ist sogar fertig - muß ich aus folgendem Grunde aufhören: Mein Schwager, der Fabrikant, ist,was ich in meiner glücklichen Zerstreutheit kaum beachtet hatte, heute früh zu einer Geschäftsreiseausgefahren, die zehn bis vierzehn Tage dauern wird. In dieser Zeit ist die Fabrik tatsächlich demWerkmeister allein überlassen und kein Geldgeber, um wie viel weniger ein so nervöser wie meinVater, wird an der vollkommen betrügerischen Wirtschaft zweifeln, die jetzt in der Fabrik vor sichgeht. Im übrigen glaube ich dasselbe, zwar nicht so sehr aus Angst um das Geld, als ausUninformiertheit und Gewissensunruhe. Schließlich aber dürfte auch ein Unbeteiligter, soweit ichmir ihn vorstellen kann, an der Berechtigung der Angst meines Vaters nicht besonders zweifeln,wenn ich auch nicht vergessen darf, daß ich im letzten Grunde es gar nicht einsehe, warum nichtein reichsdeutscher Werkmeister auch in Abwesenheit meines Schwagers, dem er in allemTechnischen und Organisatorischen himmelweit überlegen ist, alles in der gleichen Ordnung führenkönnte, wie sonst, denn schließlich sind wir Menschen und nicht Diebe.Nun ist außer dem Werkmeister noch der jüngere Bruder meines Schwagers da, zwar ein Narr inallen Sachen außer dem Geschäftlichen und auch noch weit ins Geschäftliche hinein, aber dochtüchtig, fleißig, aufmerksam, ein Springer möchte ich sagen. Der muß aber natürlich viel im Bureausein und außerdem das Agenturgeschäft führen, zu diesem Zweck den halben Tag in der Stadtherumlaufen und für die Fabrik bleibt ihm also wenig Zeit.Wie ich einmal in letzter Zeit Dir gegenüber behauptet habe, daß mich von außen her nichts imSchreiben stören könne (was natürlich keine Prahlerei, sondern Selbsttröstung war), dachte ich nurdaran, wie die Mutter mir fast jeden Abend vorwimmert, ich solle doch einmal hie und da zurBeruhigung des Vaters in die Fabrik schauen und wie mir das auch von seiner Seite der Vater mitBlicken und sonst auf Umwegen viel arger gesagt hat. Solche Bitten und Vorwürfe gingen zwarzum größten Teil nicht auf Unsinn heraus, denn eine Überwachung des Schwagers würde ihm undder Fabrik sicher sehr gut tun; nur kann ich aber - und darin lag der nicht aus der Welt zuschaffende Unsinn jenes Geredes - eine derartige Überwachung auch in meinen hellsten Zuständennicht leisten.Darum handelt es sich aber für die nächsten vierzehn Tage nicht, für die ja nichts anderes nötig ist,als zwei beliebige Augen, und seien es auch nur die meinen, in der Fabrik herumgehn zu lassen.Dagegen, daß diese Forderung gerade an mich gestellt wird, ist nicht das geringste zu sagen, dennich trage nach der Meinung aller die Hauptschuld an der Gründung der Fabrik - ich muß dieseSchuld halb im Traum übernommen haben, scheint mir allerdings - und außerdem ist auch niemandda, der sonst in die Fabrik gehen könnte, denn die Eltern, an die übrigens auch sonst nicht zudenken wäre, haben jetzt gerade die stärkste Geschäftssaison (das Geschäft scheint auch in demneuen Lokal besser zu gehn) und heute war z. B. die Mutter gar nicht beim Mittagessen zuhause.Als heute abend die Mutter also wieder mit der alten Klage anfing und abgesehen von dem Hinweisauf die Verbitterung und das Krankwerden des Vaters durch meine Schuld, auch diese neueBegründung von der Abreise des Schwagers und der vollständigen Verlassenheit der Fabrikvorbrachte und auch meine jüngste Schwester, die doch sonst zu mir hält, mit richtigem, von mir inder letzten Zeit auf. sie übergegangenem Gefühl und gleichzeitig mit ungeheuerem Unverstandmich vor der Mutter verließ, und mir die Bitterkeit - ich weiß nicht, ob es nur Galle war - durch denganzen Körper rann, sah ich vollkommen klar ein, daß es für mich jetzt nur zwei Möglichkeitengab, entweder nach dem allgemeinen Schlafengehen aus dem Fenster zu springen oder in dennächsten vierzehn Tagen täglich in die Fabrik und in das Bureau des Schwagers zu gehn. Daserstere gab mir die Möglichkeit, alle Verantwortung sowohl für das gestörte Schreiben als auch fürdie verlassene Fabrik abzuwerfen, das zweite unterbrach mein Schreiben unbedingt - ich kann mirnicht den Schlaf von vierzehn Nächten einfach aus den Augen wischen - und ließ mir, wenn ichgenug Kraft des Willens und der Hoffnung hatte, die Aussicht, in vierzehn Tagen möglicherweisedort anzusetzen, wo ich heute aufgehört habe.

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Ich bin also nicht hinuntergesprungen und auch die Lockungen, diesen Brief. zu einemAbschiedsbrief zu machen (meine Eingebungen für ihn gehn in anderer Richtung), sind nicht sehrstark.Ich bin lange am Fenster gestanden und habe mich gegen die Scheibe gedrückt und es hätte miröfters gepaßt, den Mauteinnehmer auf der Brücke durch meinen Sturz aufzuschrecken. Aber ichhabe mich doch die ganze Zeit über zu fest gefühlt, als daß mir der Entschluß, mich auf demPflaster zu zerschlagen, in die richtige entscheidende Tiefe hätte dringen können. Es schien mirauch, daß das Amlebenbleiben mein Schreiben - selbst wenn man nur, nur vom Unterbrechenspricht - weniger unterbricht als der Tod, und daß ich zwischen dem Anfang des Romans und seinerFortsetzung in vierzehn Tagen mich irgendwie gerade in der Fabrik, gerade gegenüber meinenzufriedengestellten Eltern im Innersten meines Romans bewegen und darin leben werde.Ich lege Dir, mein liebster Max, das Ganze nicht vielleicht zur Beurteilung vor, denn darüberkannst Du ja kein Urteil haben, aber da ich fest entschlossen war, ohne Abschiedsbriefhinunterzuspringen - vor dem Ende darf man doch müde sein - so wollte ich, da ich wieder alsBewohner in mein Zimmer zurücktreten soll, an Dich dafür einen langen Wiedersebensbriefschreiben und da ist er.Und jetzt noch einen Kuß und Gute Nacht, damit ich morgen ein Fabrikschef bin, wie es verlangtwird.

Dein FranzDienstag 1/2 1 Uhr, Oktober 1912

Und doch, das darf ich jetzt am Morgen auch nicht verschweigen, ich hasse sie alle der Reihe nachund denke, ich werde in diesen vierzehn Tagen kaum die Grußworte für sie fertig bringen. AberHaß - und das richtet sich wieder gegen mich - gehört doch mehr außerhalb des Fensters, als ruhigschlafend im Bett. Ich bin weit weniger sicher als in der Nacht.

An Max Brod(Prag, Herbst 1912)

Lieber Max - an eine Hauptsache habe ich gestern ganz vergessen: an unser Telephon. Du kannstDir gar nicht vorstellen, wie dringend wir es brauchen, wenigstens wie dringend wir es vor vierzehnTagen gebraucht haben, als ich zum letzten Mal in der Fabrik war. (Im Bureau bin ich öfter.) WeißtDu, ich möchte auch, so gut es geht, die Ausreden für das Eintreten eines Mißerfolgeseinschränken, dessen Möglichkeit ich in den Tatsachen noch gar nicht erkenne, während ich sie inden Gesichtern meiner Schwäger zu ahnen anfange.

Dein Franz

An den Rowohlt-Verlag(Briefkopf: Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt)

Prag, am 18. Oktober 1912Sehr geehrter Herr!Die Satzprobe, die Sie so freundlich waren, mir zu schicken, ist allerdings wunderschön. Ich kanngar nicht genug eilig und genug rekommandiert diesem Druck zustimmen und danke Ihnen vonHerzen für die Teilnahme, die Sie dem Büchlein erweisen.

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Die Seitenzahlen in der Satzprobe sind hoffentlich nicht die endgiltigen, denn »Kinder auf derLandstraße« sollten das erste Stück sein. Es war eben mein Fehler, daß ich kein Inhalts-Verzeichnismitgeschickt habe, und das Schlimme ist, daß ich diesen Fehler gar nicht gutmachen kann, da ich,abgesehen von dem Anfangsstück und dem Endstück. »Unglücklich sein« die Reihenfolge nichtrecht kenne, in der das Manuskript geordnet war.»Der plötzliche Spaziergang« in verbesserter Form ist wohl richtig angekommen?

Ihr herzlich ergebener: Dr. F.Kafka

An Max Brod(Postkarte. Prag, Stempel: 7. XI. 1912)

Liebster Max! Warum mischt sich der Mensch zwischen uns, wenn ich Dich nach langer Zeitwieder einmal allein sehen und sprechen soll. Interessiert hätte er mich allerdings, schon deshalb,weil er in meiner Korrespondenz einmal erwähnt worden ist; aber er stand mir doch nicht dafür,mich in meiner schon sterbemäßigen Müdigkeit aus dem Bett zu schleppen. So kam ich erst umneun zum Arco, erfuhr, daß ihr schon weggegangen seid, machte kehrtum und ging nachhause. Duarbeitest nicht? Ich bin traurig darüber, daß sich mit der Zeit so viele Abhaltungen um Dichangesammelt haben. Du wirst einmal mit einem großen Schwung des Armes den Platz um Dichherum räumen müssen. Deine Gedichte in den Herderblättern stehn sehr schön da. - Freitag kommeich also.

Dein Franz

An Max Brod(Prag,) 13. XI. 12

Liebster Max, (vom Bett aus diktiert, aus Faulheit und damit der im Bett ausgekochte Brief vomgleichen Ort herauf das Papier kommt.)Ich will Dir nur sagen, Sonntag lese ich bei Baum nicht vor. Vorläufig ist der ganze Romanunsicher. Ich habe gestern das sechste Kapitel mit Gewalt, und deshalb roh und schlecht beendet:zwei Figuren, die noch darin hätten vorkommen sollen, habe ich unterdrückt. Die ganze Zeit,während der ich geschrieben habe, sind sie hinter mir her gelaufen, und da sie im Roman selbst dieArme hätten heben und die Fäuste ballen sollen, haben sie das gleiche gegen mich getan. Sie warenimmerfort lebendiger als das, was ich schrieb. Nun schreibe ich heute außerdem nicht, nicht weilich nicht will, sondern weil ich wieder einmal zu hohläugig herumschau.Von Berlin ist allerdings auch nichts gekommen. Welcher Narr hat aber auch etwas erwartet? Duhast ja dort das äußerste gesagt, was man aus Güte, Verstand und Ahnung sagen konnte, aber wenndort statt Deiner ein Engel ins Telephon gesprochen hätte, gegen meinen giftigen Brief hätte aucher nicht aufkommen können. Nun, Sonntag wird ja noch der Laufbursch einer BerlinerBlumenhandlung einen Brief ohne Überschrift und Unterschrift überreichen.Um meiner sonstigen Quälerei aus Eigenem noch nachzuhelfen, habe ich dieses dritte Kapitel einwenig durchgelesen und gesehen, daß da ganz andere Kräfte nötig sind, als ich sie habe, um diesesZeug aus dem Dreck zu ziehen. Und selbst diese Kräfte würden nicht hinreichen, um sich zuüberwinden, das Kapitel im gegenwärtigen Zustand Euch vorzulesen. Überspringen kann ich esnatürlich auch nicht, und so bleibt Dir nur übrig, die Zurücknahme meines Versprechens mitzweierlei Gutem zu vergelten. Erstens, mir nicht bös zu sein, und zweitens, selbst vorzulesen.Adieu (ich will noch mit meiner Schreiberin Ottla spazieren gehn; sie kommt am Abend aus demGeschäft und ich diktiere ihr jetzt als Pascha vom Bett aus und verurteile sie überdies auch noch zurStummheit, denn sie behauptet zwischendurch, sie wolle auch etwas bemerken). Das Schöne an

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solchen Briefen ist, daß sie am Schluß nach vorne hin unwahr werden. Mir ist jetzt viel leichter alsam Anfang.

Dein Franz

An Willy Haas(Prag,) 25. XI. 1912

Lieber Herr Haas!Ich nehme die Einladung der Herdervereinigung natürlich an, es macht mir sogar große Freudevorzulesen. Ich werde die Geschichte aus der »Arkadia« 1esen, sie dauert nicht ganz eine 1/2Stunde. Was für ein Publikum gibt es da? Wer liest noch? Wie lange dauert das Ganze? GenügtStraßenanzug? (Unnötige Frage, die letzte, ich habe keinen andern.) Auf die andern Fragen aberantworten Sie mir bitte.Mit den herzlichsten Grüßen

Dr. F. Kafka

An Max Brod(Ende 1912)

Liebster Max, ich weiß nicht, ob Du meinen gestrigen Brief schon hast, nun für jeden Fall: DieBeschreibung der Hauptsache darin ist heute schon falsch und alles ist unausdenkbar gut geworden.

Franz

An Oskar Baum(Ansichtskarte, wahrscheinlich 1912)

Lieber Herr Baum,Max muß am Montag das Abschiedsfest eines Kollegen mitfeiern und ich muß meinen Vaterwegen einer Sache zu versöhnen suchen, von der ich Ihnen noch erzählen werde. Wir kommen alsonächsten Montag doppelt.Leben Sie wohl

F. Kafka

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1913

An Elsa und Max Brod(Ansichtskarte. Prag, Stempel: 4. II. 1913.

Adressiert nach Monte Carlo)Ihr Lieben, den Nachtwächter brauche ich nicht, ich bin doch selbst einer an Verschlafenheit,Abendwanderungen und Verfrorenheit. Wärmt Ihr Euch dort ordentlich unter der Sonne? Sucht mirbitte für den Sommer oder Herbst einen Ort aus, wo man vegetarisch lebt, unaufhörlich gesund ist,wo 1w auch allein sich nicht verlassen fühlt, wo selbst einem Klotz das Italienische eingeht u. s. f.,kurz einen schönen unmöglichen Ort. Lebt wohl. Man denkt viel an Euch.

Franz

An Elsa und Max Brod(Ansichtskarte. Prag, Stempel: 14. II. 1913.

Adressiert nach St. Raphael)Erst vor ein paar Tagen habe ich erfahren, daß Ihr 18 Tage wegbleiben werdet. So lange! Dasnimmt ja kein Ende. Führt Ihr wenigstens ein Tagebuch? Wenn Ihr es bis jetzt nicht getan habt,dann setzt Euch heute irgendwohin ans Meer und macht zusammen eine Beschreibung derbisherigen Reise und sollte es vom Morgen bis zum Abend dauern. Ich sage Euch, Ihr werdetKämpfe mit uns zu bestehen haben, wenn Ihr es nicht tut. Und kommt bald!

Franz

An Gertrud Thieberger(Postkarte. Prag, Stempel: 20. II. 1913)

Sehr geehrtes Fräulein,nun kann ich doch nicht zu Carmen gehen, ich habe heute Nachmittagsdienst. Ich hatte es vor demTelephon vergessen, wie ich überhaupt vor dem Apparat immer geradezu alles vergesse. Nochmalsbesten Dank für Ihre Freundlichkeit. Ist es übrigens ökonomisch. die Erinnerung an eine guteAufführung durch die Erinnerung an eine wahrscheinlich mangelhafte zu verwischen? Mitherzlichstem Gruße für Sie und Ihr Fräulein Schwester

F. Kafka

An den Verlag Kurt Wolff(Prag,) 8. III. 12

Sehr geehrter Herr Verleger!Hier schicke ich postwendend die Korrektur für die »Arkadia« zurück. Ich bin glücklich darüber,daß Sie mir noch die zweite Korrektur geschickt haben, denn auf Seite 61 steht ein schrecklicherDruckfehler : »Braut« statt »Brust«.Mit bestem Dank Ihr herzlich ergebener

Dr. F. Kafka

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An Kurt Wolff(Postkarte. Charlottenburg, Stempel: 25. III. 1913

Von einer Vollversammlung Ihrer Verlagsautoren die besten GrüßeOtto Pick Albert Ehrenstein Carl Ehrenstein)

Sehr geehrter Herr Wolff!Glauben Sie Werfel nicht! Er kennt ja kein Wort von der Geschichte. Bis ich sie ins Reine werdehaben schreiben lassen, schicke ich sie natürlich sehr gerne.Ihr ergebener

F. Kafka(Herzl. Gruß Paul Zech; mit einer Zeichnung von Else Lasker - Schüler, unterzeichnet : AbigailBasileus III.)

An Max Brod(Prag,) 3. IV. 1913

Liebster Max!Wenn es nicht gar zu dumm aussehn würde ohne genügende Erklärung - und wie brächte ich dafüreine genügende Erklärung in Worten zusammen! - einfach zu sagen, daß ich, so wie ich bin, ambesten tue, mich nirgends sehen zu lassen, - so wäre das die richtigste Antwort. Sonst hielt ichmich, wenn es schon nirgends sonst ging, wenigstens am Bureau fest, heute dagegen wüßte ich,wenn ich nur meiner Lust folgen würde, und viele Hemmungen gibt es nicht, nichts Besseres, alsmeinem Direktor mich zu Füßen zu werfen und ihn zu bitten, mich am Menschlichkeit (andereGründe sehe ich nicht, die Außenwelt sieht heute noch glücklicherweise fast nur andere) nichthinauszuwerfen. Vorstellungen wie z. B. die, daß ich ausgestreckt auf dem Boden liege, wie einBraten zerschnitten bin und ein solches Fleischstück langsam mit der Hand einem Hund in die Eckezuschiebe -, solche Vorstellungen sind die tägliche Nahrung meines Kopfes. Gestern habe ich nachBerlin das große Geständnis geschrieben, sie ist eine wirkliche Märtyrerin und ich untergrabe ganzdeutlich den Boden, auf dem sie früher glücklich und in Übereinstimmung mit der ganzen Weltgelebt hat.Ich würde heute kommen, liebster Max, nur habe ich heute einen wichtigen Weg. Ich gehe nachNusle und werde versuchen, bei einem der Gemüsegärtner auf der Nusler Lehne fürNachmittagsarbeit aufgenommen zu werden. Also morgen komme ich, Max.

Franz

An Kurt Wolff(Prag,) 4. IV. 13

Sehr geehrter Herr Wolff!Eben spät abend bekomme ich Ihren so liebenswürdigen Brief.Natürlich ist es mir auch beim besten Willen unmöglich, bis Sonntag die Manuscripte in IhreHände kommen zu lassen, wenn ich es auch viel leichter ertragen würde eine unfertige Sachewegzugeben, als auch nur den Anschein aufkommen zu lassen, daß ich Ihnen nicht gefällig seinwill. Ich sehe zwar nicht ein, auf welche Weise und in welchem Sinn diese Manuscripte eineGefälligkeit bedeuten könnten; um so eher sollte ich sie eben schicken. Das erste Kapitel desRomans werde ich auch tatsächlich gleich schicken, da es von früher her zum größten Teil schonabgeschrieben ist; Montag oder Dienstag ist es in Leipzig. Ob es selbständig veröffentlicht werdenkann, weiß ich nicht; man sieht ihm zwar die 500 nächsten und vollständig mißlungenen Seitennicht gerade an, immerhin ist es wohl doch nicht genug abgeschlossen; es ist ein Fragment undwird es bleiben, diese Zukunft gibt dem Kapitel die meiste Abgeschlossenheit. Die andereGeschichte, die ich habe, »die Verwandlung«, ist allerdings noch gar nicht abgeschrieben, denn in

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der letzten Zeit hielt mich alles von der Litteratur und von der Lust an ihr ab. Aber auch dieseGeschichte werde ich abschreiben lassen und frühestens schicken. Für späterhin würden vielleichtdiese zwei Stücke und »das Urteil« aus der Arkadia ein ganz gutes Buch ergeben, das »die Söhne«heißen könnte.Mit herzlichem Dank für Ihre Freundlichkeit und den besten Wünschen für Ihre Reise Ihr ergebener

Franz Kafka

An Kurt Wolff(Prag,) 11. IV. 13

Sehr geehrter Herr Wolff!Meinen besten Dank für Ihren freundlichen Brief, mit den Bedingungen für die Aufnahme des»Heizers« in den »Jüngsten Tag« bin ich vollständig und sehr gerne einverstanden. Nur eine Bittehabe ich, die ich übrigens schon in meinem letzten Briefe ausgesprochen habe. »Der Heizer«, »dieVerwandlung« (die 1 1/2 mal so groß wie der Heizer ist) und das »Urteil« gehören äußerlich undinnerlich zusammen, es besteht zwischen ihnen eine offenbare und noch mehr eine geheimeVerbindung, auf deren Darstellung durch Zusammenfassung in einem etwa »Die Söhne« betiteltenBuch ich nicht verzichten möchte. Wäre es nun möglich, daß »der Heizer« abgesehen von derVeröffentlichung im »Jüngsten Tag« später in einer beliebigen, ganz in Ihr Gutdünken gestellten,aber absehbaren Zeit mit den andern zwei Geschichten verbunden in ein eigenes Buchaufgenommen wird und wäre es möglich eine Formulierung dieses Versprechens in den jetzigenVertrag über den »Heizer« aufzunehmen? Mir liegt eben an der Einheit der drei Geschichten nichtweniger als an der Einheit einer von ihnen.Ihr herzlich ergebener

Dr. F. Kafka

An Kurt Wolff(Prag,) 20. IV. 13

Sehr geehrter Herr Wolff!Schon habe ich gefürchtet, daß ich zu viel forderte, und nun haben Sie mir so freundlichnachgegeben, ohne sich eigentlich überzeugt zu haben, ob meine Bitte innere Berechtigung hätte.Ich danke Ihnen herzlichst.Ihr ergebener

Dr. F. Kafka

An Gertrud Thieberger(Widmung in der Erstausgabe von »Betrachtung«,

wahrscheinlich Frühjahr 1913)Für Fräulein Trude Thieberger mit herzlichen Grüßen und einem Rat: In diesem Buche ist nochnicht das Sprichwort befolgt worden »In einen geschlossenen Mund kommt keine Fliege«(Schlußwort am »Carmen« von Merimée). Deshalb ist es voll Fliegen. Am besten es immerzugeklappt halten.

F. Kafka

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An Kurt Wolff(Prag,) 24. IV. 13

Sehr geehrter Herr Wolff!Beiliegend schicke ich die Korrekturbogen des »Heizers« zurück und bitte nur, auf jeden Fall mireine zweite Revision zu schicken. Es sind, wie Sie sehen, so viele wenn auch nur kleineKorrekturen notwendig geworden, daß diese Revision unmöglich genügen kann. Ich werde aber diezweite Revision, wann immer ich sie bekomme, umgehend zurückschicken. Könnte ich dann nichtauch das innere Titelblatt zu sehen bekommen? Es würde mir sehr viel daran liegen, daßwenigstens auf dem inneren Titel, wenn es nur irgendwie angeht, unter dem Titel »Der Heizer« derUntertitel »Ein Fragment« steht.Ihr herzlich ergebener

Dr. F. Kafka

An Max Brod(Ansichtskarte. Prag, Stempel: 14. V. 1913)

Liebster Max, ich muß morgen nach Aussig fahren, muß mich noch vorbereiten und will baldschlafen gehn. Zum Erzählen dessen, was ich in Berlin gemacht habe, wird es sowieso niemals spätgenug sein.

Franz

An Kurt Wolff(Prag,) 25. V. 13

Sehr geehrter Herr Wolff!Meinen herzlichsten Dank für die Sendung! Geschäftlich kann ich natürlich den »Jüngsten Tag«nicht beurteilen, aber an und für sich scheint er mir prachtvoll.Als ich das Bild in meinem Buche sah, bin ich zuerst erschrocken, denn erstens widerlegte es mich,der ich doch das allermodernste New York dargestellt hatte, zweitens war es gegenüber derGeschichte im Vorteil, da es vor ihr wirkte und als Bild konzentrierter als Prosa und drittens war eszu schön; wäre es nicht ein altes Bild, Könnte es fast von Kubin sein. Jetzt aber habe ich michschon längst damit abgefunden und bin sogar sehr froh, daß Sie mich damit überrascht haben, dennhätten Sie mich gefragt, hätte ich mich nicht dazu entschließen können und wäre um das schöneBild gekommen. Ich fühle mein Buch durchaus um das Bild bereichert und schon wird Kraft undSchwäche zwischen Bild und Buch ausgetauscht. Von wo stammt übrigens das Bild?Nochmals meinen besten Dank!Ihr ergebener

F. KafkaGleichzeitig bestelle ich: 1 Schönheit häßlicher Bilder ungebunden, 5 »Heizer« gebunden und fürspäter 3 »Arkadia« gebunden.

An Max Brod(Ansichtskarte. Prag, Stempel: 31. V. 1913)

Lieber Max, wenn Du nicht ins Tagblatt gehst, ist der Artikel verloren. Wenigstens war das meinEindruck. Also bitte, bitte.

Franz

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An Lise Weltsch(Prag,) 5. VI. 13

Gnädiges Fräulein!Das kann nur ein Irrtum sein, Sie sind dem Löwy gar nichts mehr schuldig, die Rechnungen sindschon längst abgeschlossen und da sie vollständig stimmen, kann ich nichts mehr annehmen undmuß die Marken zurückschicken. Seien Sie mir bitte deshalb nicht böse. Wenn Sie aber Ihrerirrtümlichen Meinung nach noch immer glauben, gegenüber dem Löwy, mit dem ich in dieserSache identisch bin, noch eine Verpflichtung zu haben, dann lösen Sie sie bitte auf die Weise ein,daß Sie ein kleines Buch, das ich Ihnen gleichzeitig schicke freundlich annehmen. Ich hatte schonlange Lust zu einem derartigen Unternehmen, fand aber keine rechte Gelegenheit und benutze nundiese, trotzdem es wie ich furchte auch nicht die rechte Gelegenheit und nicht beim richtigen Buchist. Aber Freude macht es mir trotz dieser Einschränkungen doch.Mit den herzlichsten GrüßenIhr ergebener

Franz Kafka

An Max Brod(Postkarte. Prag, Stempel: 29. VIII. (1913?)

Liebster Max, es scheint mir, ich hätte gestern zuletzt den Eindruck eines fürchterlichen Menschenauf Dich machen müssen, gar durch das Lachen beim Abschied. Gleichzeitig aber wußte ich undweiß ich, daß es gerade Dir gegenüber keiner Richtigstellungen bedarf. Trotzdem muß ich, sei esauch mehr für mich als für Dich sagen: das was ich gestern zeigte und wovon übrigens in dieserForm nur Du, F. und Ottla wissen (aber auch euch gegenüber hätte ich es verbeißen müssen), istnatürlich nur der Vorgang in einem Stockwerk des innern babylonischen Turmes, und was obenund unten ist, weiß man in Babel gar nicht. Immerhin es ist übergenug, selbst wenn ich, wie ich esleicht könnte, mit der darin so geübten Hand noch so viel retouchieren wollte. Es bleibt so,schrecklich und � gar nicht schrecklich. Was ja wieder ein Lachen bedeutet, dem in fünf Minutenwieder die gleiche Karte folgen müßte. Es gibt unzweifelhaft böse Menschen, funkelnd vonBösesein.

Franz

An Max Brod(Ansichtskarte (Kolonie Rechoboth).

Wien, Stempel: 9. IX. 1913)Lieber Max, erbarmungslose Schlaflosigkeit, darf die Hand nicht an die Augenbrauen legen, sonsterschrecke ich über die Hitze. Laufe von überall, Literatur und Kongreß, weg, wenn es aminteressantesten wird.Grüße alle

Franz

An Felix Weltsch(Ansichtskarte. Wien, Stempel: 10. IX. 1913)

Wenig Vergnügen, mehr Verpflichtungen, noch mehr Langwelle, noch mehr Schlaflosigkeit, nochmehr Kopfschmerzen - so lebe ich und habe jetzt gerade zehn Minuten Zeit ruhig in den Regen zuschauen, der in den Hotelhof fällt.

Franz

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An Max Brod(Venedig, Stempel: 10. IX. 1913)

Mein lieber Max, ich bin nicht imstande zusammenhängend etwas Zusammenhängendes zuschreiben. Die Tage in Wien möchte ich aus meinem Leben am liebsten ausreißen und zwar vonder Wurzel aus, es war ein nutzloses Jagen und etwas Nutzloseres als ein solcher Kongreß läßt sichschwer ausdenken. Im Zionistischen Kongreß bin ich wie bei einer gänzlich fremden Veranstaltungdagesessen, allerdings war ich durch manches beengt und zerstreut gewesen (jetzt schaut mir einJunge und ein schöner Gondelführer durch das Fenster herein) und wenn ich auch nicht geradePapierkugeln auf die Delegierten hinuntergeworfen habe, wie ein Fräulein auf dergegenüberliegenden Galerie, trostlos genug war ich. Von der literarischen Gesellschaft weiß ichfast gar nichts, ich war nur zweimal mit ihnen beisammen, auf einem gewissen Niveau imponierenmir alle, im Grunde gefällt mir keiner, außer vielleicht Stössinger, der gerade in Wien war undhübsch entschlossen spricht und dann E. Weiss, der wieder sehr zutunlich ist. Von Dir wurde vielgesprochen und während Du Dir vielleicht Tychonische Vorstellungen von diesen Leuten machst,saßen hier um den Tisch zufällig zusammengekommene Leute, die sämtlich Deine guten Freundewaren und immer wieder mit Bewunderung irgendeines Buches von Dir hervorbrachen. Ich sagenicht, daß es den geringsten Wert hat, ich sage nur, daß es so war. Davon kann ich Dir ja imeinzelnen noch erzählen, wenn einer aber Einwände hatte, dann kam es gewiß nur aus derallzugroßen Sichtbarkeit, an der Du für diese stumpfen Augen leidest.Aber das alles ist vorüber, jetzt bin ich in Venedig. Wäre ich nicht so schwer beweglich und traurig,selbständige Kräfte, um mich vor Venedig zu erhalten, hätte ich nicht. Wie es schön ist und wieman es bei uns unterschätzt! Ich werde hier länger bleiben, als ich dachte.Es ist gut, daß ich allein bin. Die Literatur, die mir schon lange nichts Gutes erwiesen hat, hat sichwieder an mich erinnert, als sie den P. in Wien zurückhielt. Meiner bisherigen Erfahrung nach kannich nur mit Dir reisen oder, viel schlechter, aber doch immerhin, allein.Grüße alle.

Franz

An Oskar Baum(Postkarte. Riva, Stempel: 24. IX. 1913)

Jetzt wohne ich, wenigstens solange Sonne ist, in einer elenden Bretterbude am See mit einemlangen Sprungbrett in den See hinaus, das ich aber bisher nur zum Liegen benützt habe. Die ganzeAnlage hat ihr Gutes und ich wälze mich dort, da ich ganz allein bin, langsam und schamlos herum.Herzliche Grüße an alle.

Franz

An Max Brod(Briefkopf: Dr. v. Hartungen,

Sanatorium und Wasserheilanstalt,Riva am Gardasee. Stempel: 28. IX. 1913)

Mein lieber Max, ich habe Deine beiden Karten bekommen, aber die Kraft zu antworten hatte ichnicht. Das Nichtantworten trägt auch dazu bei, es um einen still zu machen, und ich möchte amliebsten mitten in die Stille mich hineinsenken und nicht mehr herauskommen. Wie brauche ich dasAlleinsein und wie verunreinigt mich jedes Gespräch! Im Sanatorium rede ich allerdings nichts, beiTisch sitze ich zwischen einem alten General (der auch nichts spricht, wenn er sich aber einmalzum Reden entschließt, sehr klug spricht, zumindest allen andern überlegen) und einer kleinenitalienisch aussehenden Schweizerin mit dumpfer Stimme, die über ihre Nachbarschaft unglücklich

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ist. - Ich merke gerade, daß ich nicht nur nicht reden, sondern auch nicht schreiben kann, ich willDir eine Menge sagen, aber es fügt sich nicht in einander oder nimmt eine falsche Richtung. Ichhabe auch wirklich seit etwa vierzehn Tagen gar nichts geschrieben, ich führe kein Tagebuch, ichschreibe keine Briefe, je dünner die Tage rinnen, desto besser. Ich weiß es nicht, aber ich glaube,wenn mich nicht einer auf dem Schiff (ich war in Malcesine) heute angesprochen hätte und ich ihmnicht das Versprechen gegeben hätte. am Abend in den Bayerischen Hof zu kommen, ich säße jetztnicht hier und schriebe nicht, sondern wäre wirklich auf dem Marktplatz.Sonst lebe ich ganz vernünftig und erhole mich auch, seit Dienstag habe ich noch jeden Taggebadet. Wenn mich nur das Eine losließe, wenn ich nur nicht immerfort daran denken müßte,wenn es nur nicht manchmal, meistens früh, wenn ich aufkomme, wie zu etwas Lebendigemzusammengeballt über mich herfiele. Und es ist doch alles ganz klar und seit vierzehn Tagenvollständig beendet. Ich habe sagen müssen, daß ich nicht kann, und ich kann auch wirklich nicht.Aber warum habe ich plötzlich ohne besonderen Grund, unmittelbar aus dem Gedanken daran,wieder die Unruhe im Herzen, wie in Prag in der schlimmsten Zeit. Aber ich kann jetzt nichtniederschreiben, was mir ganz deutlich und immerfort schrecklich gegenwärtig ist, wenn dasBriefpapier nicht vor mir liegt.Daneben hat nichts Bedeutung und ich reise eigentlich nur in diesen Höhlen herum. Du könntestglauben, daß das Alleinsein und das Nichtreden diesen Gedanken eine solche Übermacht gibt. Dasist es aber nicht, das Bedürfnis nach Alleinsein ist ein selbständiges, ich bin gierig nach Alleinsein,die Vorstellung einer Hochzeitsreise macht mir Entsetzen, jedes Hochzeitsreisepaar, ob ich mich zuihm in Beziehung setze oder nicht, ist mir ein widerlicher Anblick, und wenn ich mir Ekel erregenwill, brauche ich mir nur vorzustellen, daß ich einer Frau den Arm um die Hüfte lege. Siehst du -und trotzdem, und obwohl die Sache beendet und ich nicht mehr schreibe und nichts Geschriebenesbekomme - trotzdem, trotzdem komme ich nicht los. Es sitzen hier eben in den Vorstellungen dieUnmöglichkeiten eben so nah beisammen wie in der Wirklichkeit. Ich kann mit ihr nicht leben undich kann ohne sie nicht leben. Durch diesen einen Griff ist meine Existenz, die bisher wenigstenszum Teil für mich gnädig verhüllt war, vollständig enthüllt. Ich sollte mit Ruten in die Wüstegetrieben werden.Du weißt nicht, welche Freude mir inmitten dem allen Deine Karten gemacht haben. Daß derTycho vorwärts geht (daß er stecken geblieben ist, glaube ich nicht) und daß Reinhardt an den»Abschied« denkt. Es wäre lächerlich, wenn ich aus meiner Tiefe Deine Nervositäten verjagenwollte, das wirst Du selbst und bald und vollständig tun. Grüße Deine liebe Frau und Felix (demdieser Brief auch gilt, ich kann nicht schreiben, verlange aber auch keine Nachricht, weder von Dirnoch von ihm).

Franz

An Felix Weltsch(Briefkopf: Dr. von Hartungen, Sanatorium.

Riva, September 1913)Nein Felix, es wird nicht gut werden, nichts wird gut werden bei mir. Manchmal glaube ich, daß ichnicht mehr auf der Welt bin, sondern irgendwo in der Vorhölle herumtreibe. Du glaubst,Schuldbewußtsein ist für mich eine Hilfe, eine Lösung, nein, Schuldbewußtsein habe ich nurdeshalb, weil es für mein Wesen die schönste Form der Reue ist, aber man muß nicht sehr genauhinschaun und das Schuldbewußtsein ist bloß ein Zurückverlangen. Aber kaum ist es das, steigtschon viel fürchterlicher als Reue das Gefühl der Freiheit, der Erlösung, der verhältnismäßigenZufriedenheit herauf, weit über alle Reue hinaus. Jetzt abend bekam ich den Brief von Max. WeißtDu davon? Was soll ich machen? Vielleicht nicht antworten, gewiß, es ist das einzig Mögliche.Wie es aber werden wird, das steht in den Karten. Vor ein paar Abenden sind wir sechs Leutebeieinander gesessen und eine junge, sehr reiche, sehr elegante Russin hat aus Langweile und

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Verzweiflung, weil elegante Leute unter Uneleganten viel verlorener sind als umgekehrt, allenKarten gelegt. Und zwar jedem zweimal nach verschiedenen Systemen. Es ergab sich dies und das,natürlich meistens Lächerliches oder Halbernstes, das, selbst wenn man es glaubte, am letzten Endeganz nichtssagend war. Nur in zwei Fällen ergab sich etwas ganz Bestimmtes, von allenKontrollierbares und zwar übereinstimmend nach beiden Systemen. In der Konstellation einesFräuleins stand, daß sie alte Jungfer werden wird, und in meinen Konstellationen waren, was sichsonst nirgends auch nur annähernd ereignet hatte, alle Karten, die menschliche Figuren enthielten,soweit als nur möglich von mir weg an den Rand gerückt und selbst solcher entfernter Figuren gabes einmal nur zwei, einmal war, glaube ich, gar keine da. Statt dessen drehten sich um michununterbrochen »Sorgen«, »Reichtum« und »Ehrgeiz«, die einzigen Abstrakta, welche die Kartenaußer der »Liebe« kennen.Geradezu den Karten zu glauben ist allem Anschein nach Unsinn, aber durch sie oder durch einenbeliebigen äußern Zufall in einen verwirrten unübersichtlichen Vorstellungskreis Klarheit bringenzu lassen, hat innere Berechtigung. Ich rede hier natürlich nicht von der Wirkung meiner Karten aufmich, sondern auf die andern, und kann dies an der Wirkung nachprüfen, welche die Konstellationdes Fräuleins, das alte Jungfer werden soll, auf mich gemacht hat. Es handelt sich hier um ein ganznettes junges Mädchen, an dem äußerlich, vielleicht mit Ausnahme der Frisur, nichts die zukünftigeAlte Jungfer verriet, und doch hatte ich, ohne mir vorher nur den geringsten klaren Gedanken überdieses Mädchen zu machen, es von allem Anfang an bedauert, nicht wegen seiner Gegenwart,sondern ganz eindeutig wegen seiner Zukunft. Seitdem nun die Karten so gefallen sind, ist es fürmich ganz zweifellos, daß sie alte Jungfer werden muß. - Dein Fall, Felix, ist vielleichtkomplizierter als meiner, aber doch unwirklicher. In seinen äußersten, in der Wirklichkeit immerschmerzlichsten Ausläufern ist er doch nur Theorie. Du strengst Dich an, eine zugegebenermaßenunlösbare Frage zu lösen, ohne daß ihre Lösung, so weit man sehen kann, Dir oder irgendjemandem nützen könnte. Wie weit stehe ich doch als Unglücksmensch über Dir! Hätte ich nur diegeringste Hoffnung, daß es etwas hilft, ich würde mich m dem Pfosten der Einfahrt desSanatoriums festhalten, um nicht abreisen zu müssen.

Franz

An den Verlag Kurt Wolff(Prag.) 15.X. 13

An den Verlag Kurt Wolff!Wie ich höre, soll vor etwa 14 Tagen (abgesehen von der Besprechung des »Heizers« in der NeuenFreien Presse; die kenne ich) noch in einem andern Wiener Blatte, ich glaube, in der »WienerAllgemeinen Zeitung« eine Besprechung erschienen sein. Falls Sie sie kennen, bitte ich Sie, sofreundlich zu sein und mir Namen, Nummer und Datum des Blattes anzugeben.Hochachtungsvoll

Dr. Franz Kafka

An Kurt WolffPrag, am 23. Oktober 1913

Sehr geehrter Herr Wolff!Vor allem meinen besten Dank für das bunte Buch, das ich heute bekommen habe. - Ich habe voretwa 10 Tagen mich mit einer kleinen Bitte m Ihren Verlag gewendet, allerdings, wie ich jetzt sehe,unter der alten Adresse, und habe bis heute keine Antwort bekommen. Ich habe nämlich gehört,daß vor etwa zwei, drei Wochen in einer Wiener Zeitung (ich meine nicht die Besprechung in derNeuen Freien Presse, die ich kenne), ich glaube in der Wiener Allgemeinen Zeitung eineBesprechung des »Heizer« erschienen sein soll und da bat ich Ihren geschätzten Verlag, falls ihm

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diese Besprechung bekannt sein sollte, um Angabe des Namens, der Nummer und des Datums desBlattes. Nun soll überdies in den letzten Tagen eine Besprechung im Berliner Börsenkuriererschienen sein. Auch für die Mitteilung der betreffenden Nummer des Börsenkurier wäre ichIhnen sehr verbunden. - Endlich bitte ich, mir ein ungebundenes Exemplar von »Anschauung undBegriff« schicken zu lassen.Ihr herzlich ergebener

Dr. Franz Kafka

An Lise Weltsch(Prag,) 29. XII. 13

Liebes gnädiges Fräulein!Ich danke Ihnen vielmals und Ihren Eltern für die freundliche Einladung. Natürlich komme ich undsehr gerne. Aber ebenso natürlich (- Sie müssen mir, wenn ich ins Zimmer komme, durch einbesonders freundliches Gesicht zeigen, daß Sie es auch natürlich finden und mir deshalb nicht bösesind, sonst laufe ich gleich nach dem Eintritt wieder aus dem Zimmer hinaus -) aber ebensonatürlich komme ich erst nach dem Abendessen.Ihr herzlich ergebener

F. Kafka

An Max Brod(wahrscheinlich 1913)

Ich freue mich, mein lieber Max, über Dein Glücklichsein, über euer aller Glücklichsein, nurschade, daß es euch nicht ein bischen gesprächiger macht. Aber es ist so und ich stimme Dir bei,man schreibt ungern, wenn man auf der Reise ist und ungern, wenn man glücklich ist. Sich dagegenwehren hieße sich gegen das Glücklichsein wehren. Also bade nur ruhig, mein lieber Max.Nur muß ich, da Du mir keine instruktive Ansichtskarte des Genfer Sees geschickt hast, mich ganzauf .meine Geographiekenntnisse verlassen, wenn ich an Dich denke. Diese sind. allerdings imallgemeinen vorzüglich, im Detail aber wieder nur auf die vorzügliche Allgemeinheit gestützt. Wieist es also?. Steigst Du in Riva in den See, schwimmst ein bischen, kommst zu einer derBorromeischen Inseln - wie heißt sie? - und liest im Gras den Brief, den ich mitschicke? Es ist einhübscher Brief., nicht wahr? Du erkennst schon aus der Schrift den Schreiber.Adieu.

Dein Franz K.

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1914

An Max Brod(Prag,) 6. II. 14

Mein lieber Max!Ich sitze zuhause mit Zahnschmerzen und Kopfschmerzen, jetzt bin ich eine halbe Stunde im fisternüberheizten Zimmer an einer Tischecke gesessen, vorher bin ich eine halbe Stunde an den Ofengelehnt gewesen, vorher bin ich eine halbe Stunde im Lehnstuhl gelegen, vorher bin ich eine halbeStunde zwischen Lehnstuhl und Ofen hin- und hergewandert, jetzt endlich werde ich michlosreißen und weggehn. In Deinem Namen eigentlich, Max, denn wäre ich nicht entschlossengewesen, Dir zu schreiben, ich hätte nicht das Gas anzünden können.Daß Du mir den Tycho widmen willst, ist seit langer Zeit die erste unmittelbar mich angehendeFreude. Weißt Du, was eine solche Widmung bedeutet? Daß ich (und sei es auch nur zum Schein,irgendein Seitenlicht dieses Scheins wärmt mich doch in Wirklichkeit) hinaufgezogen und dem»Tycho«, der um so viel lebendiger ist als ich, beigefügt werde. Wie klein werde ich dieseGeschichte umlaufen! Aber wie werde ich sie als mein scheinbares Eigentum lieb haben! Du tustmir unverdient Gutes, Max, wie immer.Du hast also die Arbeit von Haas so leicht verstanden? Bis in jedes Fremdwort hinein? Und wenner Deine allgemeine Meinung bestätigt, wie verhält es sich dann mit Fikher (so schreibt er sichgewiß nicht), der davon so erschüttert werden konnte?Du hättest Musil meine Adresse gar nicht geben sollen. Was will er? Was kann er, und überhauptjemand, von mir wollen? Und was kann er von mir haben?So, jetzt kehre ich zu meinen Zahnschmerzen zurück. Ich habe sie schon drei Tage in fortwährenderVerstärkung. Erst heute (gestern war ich beim Arzt, er fand nichts) weiß ich mit Bestimmtheit,welcher Zahn es ist. Die Schuld hat natürlich der Arzt, der Schmerz ist in einem plombierten Zahnunter den Plomben; Gott weiß, was dort in der Absperrung kocht; es schwellen mir auch die Drüsenunten an.Morgen zu Fanta komme ich kaum, ich gehe nicht gerne hin. Möchtest Du mir nicht schreiben,wann Du mir nächste Woche etwas vorlesen könntest. Offenbar denke ich, ich darf jetzt, was denTycho anlangt, kommandieren.

Franz

An den Verlag Kurt Wolff(Prag,) 22. IV. 14

An den Verlag Kurt Wolff!Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie ein Recensionsexemplar von »Betrachtung« an dieAdresse: Franti�ek Langer, Prag - Kgl. Weinberge, Nr. 679 senden würden. Langer ist einRedakteur des »Umìlecký mìsíèník«, einer führenden Monatsschrift und will ein paarÜbersetzungen aus dem Buch veröffentlichen. Vielleicht sind Sie auch so freundlich und zeigenmir die erfolgte Absendung an.Hochachtungsvoll

Dr. Franz Kafka

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An Lise Weltsch(Prag,) 27. IV. 14

Gnädiges Fräulein,vielen Dank für Ihre lieben Wünsche. Nun müssen Sie aber auch mich mit den besten Wünschenfür Ihre Berliner Arbeit Ihnen die Hand drücken lassen. Sehen Sie doch, Sie tun das, was ich selbstschon längst tun wollte. Wunderbar ist es von zuhause weg zu kommen, noch wunderbarer nachBerlin zu kommen. Wollen Sie mir wirklich die Freude machen, Sie dort ganz bestimmt undverabredeter Weise zu treffen? Pfingsten bin ich dort; Sie auch? Wäre es Ihnen recht, vielleichteinmal auch mit Dr. Weiß zusammenzukommen, der dort ständig lebt? Vom I. Juni ab wird dortauch eine Bekannte von mir sein, ein junges Mädchen (übrigens eine Berlinerin, die nach längeremFernsein wieder dauernd in Berlin bleiben wird) die Ihnen, meinem Gefühl nach, ebenso liebwerden könnte, wie sie es mir tatsächlich ist.Vergessen Sie nicht, mir ein paar Worte darüber zu schreiben, ich bitte Sie darum sehr.Mit den herzlichsten Grüßen Ihr ergebener

Franz Kafka

An Lise Weltsch(Prag,) 18.V.14

Liebes Fräulein,ein zerschnittener Daumen hat mich gehindert, Ihnen in lesbarer Schrift früher fürIhren freundlichen Brief zu danken. Es überrascht mich nicht, daß Sie sich rasch eingelebt haben.Es wäre sogar ganz bestimmt auch ohne Freunde geglückt. Und es ist doch wunderbar von zuhausewegzukommen, auch wenn Sie es leugnen. Das kann nur ein Außenstehender im Augenblickbeurteilen und der, welcher im Wunderbaren steckt, muß es ihm glauben, auch wenn er es nochnicht fühlen kann, denn es dringt ja erst in ihn ein.Ich hatte es mir im ersten Augenblick gar nicht recht überlegt, daß Sie gleich in einen großen Kreisvon Menschen kommen werden, mit denen Sie so vielerlei und so Wichtiges verbindet, daß Siekaum Zeit und jedenfalls keine Notwendigkeit haben, gleich und sei es auch mit irgendwelchenkleinen Umständlichkeiten verknüpft, mit fremden Menschen zusammenzukommen. Es wird Siewohl zunächst genug, allerdings durchaus gesunde, Anstrengung kosten, sich mit den notwendigenBekannten auseinanderzusetzen. Hätte ich das nicht eingesehen, so hätte ich Ihnen wohl auch mitblutendem Daumen geschrieben.Trotzdem würde ich Sie, wenn Sie es ermöglichen könnten, Pfingsten sehr gerne sehn: Aber Siemachen wohl, wenn Sie nicht in Prag sind, irgendeinen Ausflug und sind dann auch in Berlin nicht.Ich komme Samstag vor Pfingstsonntag hin und bleibe bis Dienstag nachmittag. Sind Sietelephonisch erreichbar? Dann wäre es wohl das Beste, ich rufe Sie Pfingstsonntag vormittag anund frage.Mit den herzlichsten Grüßen

Ihr F. Kafka

An Lise Weltsch(Prag,) 6. VI. 14

Liebes Fräulein,nun bin ich wieder in Prag und habe Sie nicht hier und nicht dort gesehn. Nichthier, weil ich an dem Abend nicht frei war und überdies hoffte, Sie in Berlin in Ihrem neuen Lebensehn zu können und in Berlin wieder, von wo ich übrigens schon Dienstag nachmittag weggefahrenbin, war ich so hin und her gezogen, so bis auf den Grund der schwachen Kraft verbraucht, daß ichnicht einmal telephonierte. Was hätten Sie auch für eine Erscheinung gesehn, wenn ich Sie wirklichbesucht hätte! Davon nichts mehr.Die Bemerkung »ich habe schon etwas gelernt u. s. w.« in Ihrem Brief scheint mir recht zu geben,als ich Sie zu der Übersiedlung beglückwünschte. Man lernt vielleicht nicht viel in der Fremde,

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aber dieses Wenige ist ungeheuer viel, solange man es nicht hat: Es geschieht nirgendsÜbermenschliches, wenn man für seine Augen die richtige Perspektive einhält, aber das was einemPrager Mädchen in dem ersten Monat des Zusehns an einer Berlinerin übermenschlich scheint, istdoch wert untersucht, erlebt und dann erst vielleicht verlacht zu werden. Ich weiß nicht warum ichgerade von einem Prager Mädchen spreche, ich könnte vielleicht noch passender von dem großenalten Menschen reden, der diesen Brief schreibt, Sie herzlich grüßt und sich für Sie freut.

Ihr Franz Kafka

An Jizchak Löwy(Prag, Juni/Juli 1914)

Lieber Löwy,Es hat mich viel mehr gefreut, daß Sie sich meiner erinnert haben, als man daraus schließen könnte,daß ich so spät antworte. Ich bin in großer Verwirrung und Beschäftigung, ohne daß es mir oderjemandem sonst vielen Nutzen bringt.Übrigens eine Neuigkeit: Ich habe mich verlobt und glaube damit etwas Gutes und Notwendigesgetan zu haben, wenn es natürlich auch soviele Zweifel in der Welt gibt, daß auch die beste Sachevor ihnen nicht sicher ist.Daß Sie sich noch immer quälen und keinen Ausweg finden können, ist sehr traurig. Daß Siegerade in Ungarn so lange bleiben, ist merkwürdig, wird aber wohl seine schlimmen Gründe haben.Es kommt mir vor, als wären wir beide viel hoffnungsvoller gewesen, als wir an den Abenden inPrag herumgezogen. Ich dachte damals, Sie müßten irgendwie durchbrechen und zwar mit einemSchlag.Übrigens gebe ich die Hoffnung für Sie gar nicht auf, das muß ich Ihnen sagen. Sie sind leichtverzweifelt, aber auch leicht glücklich, denken Sie in der Verzweiflung daran. Bewahren Sie nurIhre Gesundheit für spätere bessere Zeiten. Das, was Sie erleben müssen, scheint schlimm genug,verschärfen Sie es nicht noch dadurch, daß Sie Ihre Gesundheit schädigen.Ich würde sehr gern etwas Näheres über Sie und Ihre Freunde hören. Fahren Sie diesmal nicht nachKarlsbad?Mit den herzlichsten Grüßen

Ihr Franz K

An Ottla Kafka10. VII. 14

Liebe Ottla, nur ein paar Worte in Eile vor dem versuche zu schlafen, der in der gestrigen Nachtgänzlich mißlungen ist. Du hast mir, denke nur, mit Deiner Karte einen verzweifelten Morgen inAugenblicken erträglich gemacht. Das ist das wahre Reiben und so wollen wir es bei Gelegenheitweiter üben, wenn es Dir recht ist.Nein, ich habe niemanden sonst am Abend. Von Berlin schreibe ich Dir natürlich, jetzt läßt sichweder über die Sache noch über mich etwas Bestimmtes sagen. Ich schreibe anders als ich rede, ichrede anders als ich denke, ich denke anders als ich denken soll und so geht es weiter bis ins tiefsteDunkel.

FranzGrüße alle! Den Brief mußt Du weder zeigen, noch herumliegen lassen. Am besten Du zerreißt ihnund streust ihn in kleinen Stücken von der Pawlatsche den Hühnern im Hof, vor denen ich keineGeheimnisse habe.

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An Alfred Kubin(Postkarte, Stempel: 22. VII. 1914)

Verehrter Herr Kubin,vielen Dank für die Karte. die mich in einer noch nicht ganz überwundenen sinnlosen Zeitangetroffen hat; deshalb habe ich noch nicht geantwortet. Jetzt fahre ich an der Ostsee hin und her,Sie sind gewiß in der Ruhe Ihres schönen Besitzes versunken und arbeiten.Vielleicht gelingt es mir, doch noch einmal zu sagen, was mir diese Ihre Arbeit bedeutet.

Ihr F. Kafka

An Max Brod und Felix Weltsch(Briefkopf: Marielyst Ostersobad, Ende Juli 1914)

Lieber Max, lieber Felix,Spät schreibe ich, nicht wahr? Nun seht, was mir geschehn ist. Ich bin entlobt, war drei Tage inBerlin, alle waren meine guten Freunde, ich war der gute Freund aller. im übrigen weiß ich genau,daß es so am besten ist und bin also dieser Sache gegenüber, da es eine so klare Notwendigkeit ist,nicht so Unruhig wie man glauben könnte. Schlimmer aber steht es mit anderem. Ich war dann inLübeck, habe in Travemünde gebadet, bekam in Lübeck den Besuch des Dr. Weiss, der in diesesdänische Seebad fuhr und bin statt nach Gleschendorf hergefahren. Ein ziemlich öder Strand miteinigen wirklichen eigentümlichen Dänen. Ich habe den scheinbaren Eigensinn, der mich dieVerlobung gekostet hat, aufgegeben, esse fast nur Fleisch, daß mir übel wird und ich früh nachschlechten Nächten mit offenem Mund den mißbrauchten und gestraften Körper wie eine fremdeSchweinerei in meinem Bette fühle. Erholen werde ich mich hier gar nicht, zerstreuen immerhin.Dr. W. ist mit seiner Freundin hier. Samstag nachts komme ich wohl nach Prag.Grüßt alle lieben Fraun und Bräute.

Franz

An Felix Weltsch(Visitenkarte. Prag, September 1914)

Mein lieber Felix, ich höre, daß Du und Deine liebe Frau fast gekränkt darüber seid, daß ich euchnoch nicht besucht habe. Wenn das wahr wäre, hättet Ihr Unrecht. Nicht nur daß ich durch meinAusbleiben euere Flitterwochen respektiere, so bin ich auch in einem elenden ewigunausgeschlafenen Zustand, habe viel zu tun und wohne überdies am entgegengesetzten Ende derStadt, weit hinter dem Riegerpark. Aus allen diesen Gründen schicke ich diese Bücher statt sie zubringen. So wichtig die Wahl dieser Bücher gewesen ist, die mich und alles, was ich euch Guteswünsche, in euerer Wohnung vertreten sollen, so fürchte ich doch schlecht gewählt zu haben.Es ist das Unglück, daß meine innern Stimmen immer erst nach der Wahl zu sprechen anfangen. �Herzliche Grüße

Franz

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1915

An Felix Weltsch(Postkarte. Prag, Stempel: 13. I. 1915)

Lieber Felix, bitte hab noch bis Montag Geduld. Wenn es bis dahin nicht irgendwo herauskriecht -wie es geschehen könnte, kann ich mir allerdings nicht denken - werde ich zahlen müssen.Herzliche Grüße an Dich und Frau

Franz

An Max Brod(Prag, etwa August 1915)

Lieber Max, ich konnte nicht früher fertig werden. Bis viertel zwei im Bett, ohne zu schlafen undohne besonders müde zu sein. Hier ist das Manuscript. Es ist mir eingefallen, ob man jetzt, da Bleinicht mehr bei den Weißen Blättern ist, nicht etwa versuchen könnte, die Geschichte in die WeißenBlätter zu bringen. Wann es erscheinen würde, wäre mir ganz gleichgültig, nächstes odernächstnächstes Jahr.Fontane bringe ich nicht, es wäre mir zu unheimlich, das Buch auf der Reise zu wissen. Also bis ihrzurückkommt. Dagegen bringe ich Sybel. Lest und weint!Bitte Max, wenn Du irgendwo in Deutschland französische Zeitungen siehst, kauf sie auf meineKosten und bring sie mir! Und schließlich vergiß nicht, daß Du die Wahl zwischen Berlin und demThüringer Wald hast und daß in Berlin nur Berlin ist, im Thüringer Wald aber die »NeuenChristen« vorwärtskommen können, gar jetzt in dem entscheidenden Augenblick, wo der von untenheraufkommt.Und damit lebt wohl!

Franz

An Ernst Feigl(Postkarte. Prag, Stempel: 18. IX. 1915)

Lieber Herr Feigl, hätte mich nicht der Zustand meines Kopfes gehindert (er war allerdings seit fastundenklichen Zeiten nicht besser und wird es in undenklichen Zeiten nicht werden) ich hätte Ihnenschon früher geschrieben. Ich habe die Gedichte oft gelesen und bin ihnen, glaube ich,nähergekommen; sie verlocken mich sehr und beherrschen mich zum Teil geradezu. Sonderbar dieMischung von Hoffnung und Verzweiflung in ihnen und die Undurchdringlichkeit dieserMischung, die aber etwas durchaus Stärkendes hat. Ich möchte fast in jedem Gedichte Sie hörenwollen. Kommen Sie bitte, wann Sie wollen, zu mir ins Bureau, ich bin dort immer bis 2 Uhr, esmüßte ein außergewöhnlicher Zufall sein, daß ich weg wäre. Bedenken Sie, das muß ich nochsagen, bei jedem meiner Worte den Vorbehalt, den ich über meine Unzulänglichkeit Gedichtengegenüber machte. Mit herzlichsten Grüßen

Kafka.

An den Verlag Kurt Wolff(Briefkopf: Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt)

Prag, am 15.Oktober 1915Sehr geehrter Herr!Meinen besten Dank für Ihr Schreiben vom 11. l. M., Ihre Mitteilungen haben mir, insbesondere,was Blei und Sternheim anlangt, große Freude gemacht, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Zu Ihren

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Fragen selbst (die aber eigentlich keine Fragen waren, denn die Verwandlung wird ja schon gesetzt)könnte ich mich bestimmt äußern, wenn ich wüßte, wie es sich mit dem Fontanepreis verhält. NachIhrem Schreiben, vor allem auch nach dem Schreiben an Max Brod scheint die Sache so zu stehn,daß Sternheim den Preis bekommt, daß er aber den Geldbetrag jemandem, möglicherweise mir,schenken will. So liebenswürdig das nun natürlich ist, wird doch dadurch die Frage nach derBedürftigkeit gestellt, aber nicht nach der Bedürftigkeit hinsichtlich beider, des Preises und desGeldes, sondern nach der Bedürftigkeit hinsichtlich des Geldes allein. Und es käme dann meinemGefühl nach auch gar nicht darauf an, ob der Betreffende später einmal vielleicht das Geldbenötigen wird, entscheidend dürfte vielmehr nur sein, ob er es augenblicklich nötig hat. So wichtignatürlich auch der Preis oder ein Anteil am Preis für mich wäre - das Geld allein ohne jeden Anteilam Preis dürfte ich wohl gar nicht annehmen, ich hätte glaube ich kein Recht dazu, denn jenenotwendige augenblickliche Bedürftigkeit besteht bei mir durchaus nicht. Die einzige Stelle inIhrem Schreiben, die meiner Auffassung widerspricht, ist die, wo es heißt:»Durch den Fontanepreis wird die Aufmerksamkeit u.s.w.« Jedenfalls bleibt die Sache ungewißund ich wäre Ihnen für eine kleine Aufklärung sehr dankbar.Was Ihre Vorschläge betrifft, so vertraue ich mich Ihnen vollständig an. Mein Wunsch wäre eseigentlich gewesen, ein größeres Novellenbuch herauszugeben (etwa die Novelle aus der Arkadia,die Verwandlung und noch eine andere Novelle unter dem gemeinsamen Titel »Strafen«), auchHerr Wolff hat schon früher einmal dem zugestimmt, aber es ist wohl bei den gegenwärtigenUmständen vorläufig besser so, wie Sie es beabsichtigen. Auch mit der Neuausgabe derBetrachtung bin ich ganz einverstanden.Die Korrektur der Verwandlung ist beigeschlossen. Leid tut es mir, daß der Druck anders ist als beiNapoleon, trotzdem ich doch die Zusendung des Napoleon als ein Versprechen dessen ansehenkonnte, daß die Verwandlung ebenso gedruckt würde. Nun ist aber das Seitenbild des Napoleonschön licht und übersichtlich, das der Verwandlung aber (ich glaube bei gleicher Buchstabengröße)dunkel und gedrängt. Wenn sich darin noch etwas ändern ließe, wäre das sehr in meinem Sinn.Ich weiß nicht, wie die späteren Bändchen des »Jüngsten Tag« gebunden worden sind, der»Heizer« war nicht hübsch gebunden. Es war irgendeine Imitation, die man, wenigstens nacheiniger Zeit, nur fast mit Widerwillen anschauen konnte. Ich würde also um einen andern Einbandbitten.Sehr schade, daß Sie vorige Woche nicht kommen konnten, vielleicht wird es bald einmal möglich,ich würde mich sehr freuen.Mit herzlichen Grüßen Ihr ergebener

F. KafkaKönnte ich noch fünf Exemplare der Oktobernummer der Weißen Blätter bekommen? Ich würdesie benötigen.Herr Wolff hat mir einmal einige Besprechungen des »Heizer« geschickt; falls Sie sie irgendwiebrauchen sollten, kann ich sie schicken.Korrektur

An den Verlag Kurt WolffPrag 20. Okt. 15

Sehr geehrter HerrBesten Dank für Ihr Schreiben vom 18., den »Napoleon«, sowie die angekündigten Weißen Blätter.Die Angelegenheit des Fontanepreises ist mir zwar noch immer nicht klar, trotzdem vertraue ichIhrem Gesamturteil über die Frage. Allerdings scheint wieder daraus, daß Leonhard Frank (zumzweitenmal kann man doch wohl den Preis nicht bekommen) in Wahl stand, hervorzugehn, daß essich nur und ausschließlich um Verteilung des Geldes gehandelt hat. Trotzdem habe ich, wiederumnur Ihrem Rate folgend, an Sternheim geschrieben; es ist nicht ganz leicht jemandem zu schreiben,

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von dem man keine direkte Nachricht bekommen hat, und ihm zu danken, ohne genau zu wissenwofür.Mit dem »Napoleon« Einband bin ich natürlich einverstanden. Sind vielleicht die früheren Hefteder Sammlung in dieser Weise überbunden worden?Beiliegend schicke ich die Korrekturen. Ich beeile mich auch gern, aber an manchen Tagen ist esmir nicht möglich, die kleine dafür notwendige Zeit zu ersparen.Beiliegend auch die Besprechungen. Sie wurden mir als angeblich vollständige Sammlunggeschickt, sind aber nicht vollständig. Soviel ich weiß, fehlen Besprechungen aus BerlinerMorgenpost, Wiener Allg. Zeitung, Österr. Rundschau, Neue Rundschau. Ich besitze leider keinevon diesen. Die bedeutendste ist jedenfalls die von Musil in der Rundschau, Augustheft 1914, diefreundlichste die von H. E. Jakob, die beiliegt. Über »Betrachtung« die freundlichste von Max Brodim März und von Ehrenstein im »Berliner Tagblatt«, auch die besitze ich aber nicht.Sie rieten mir Sternheim zu danken, müßte ich dann aber nicht auch Blei danken? Und welches istseine Adresse?Das kleine Stück für den Almanach »Vor dem Gesetz« sowie den ersten Bogen der Korrektur derVerwandlung haben Sie wohl erhalten.Mit herzlichen Grüßen Ihr sehr ergebener

F. Kafka

An den Verlag Kurt WolffPrag, am 25. Oktober 1915

Sehr geehrter Herr!Sie schrieben letzthin, daß Ottomar Starke ein Titelblatt zur Verwandlung zeichnen wird. Nun habeich einen kleinen, allerdings soweit ich den Künstler aus »Napoleon « kenne, wahrscheinlich sehrüberflüssigen Schrecken bekommen. Es ist mir nämlich, da Starke doch tatsächlich illustriert,eingefallen, er könnte etwa das Insekt selbst zeichnen wollen. Das nicht, bitte das nicht! Ich willseinen Machtkreis nicht einschränken, sondern nur aus meiner natürlicherweise bessern Kenntnisder Geschichte heraus bitten. Das Insekt selbst kann nicht gezeichnet werden. Es kann aber nichteinmal von der Ferne aus gezeigt werden. Bestellt eine solche Absicht nicht und wird meine Bittealso lächerlich - desto besser. Für die Vermittlung und Bekräftigung meiner Bitte wäre ich Ihnensehr dankbar. Wenn ich für eine Illustration selbst Vorschläge machen dürfte, würde ich Szenenwählen, wie: die Eltern und der Prokurist vor der geschlossenen Tür oder noch besser die Elternund die Schwester im beleuchteten Zimmer, während die Tür zum ganz finsteren Nebenzimmeroffensteht.Sämtliche Korrekturen sowie die Besprechungen haben Sie wohl schon bekommen.Mit besten Grüßen Ihr ergebener

Franz Kafka

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1916

An Max Brod(Zwei Postkarten. Marienbad, Stempel: 5. VII. 1916)

Lieber Max, also in Marienbad. Hätte ich jeden Tag seit unserem Abschied, der mir für zu langeZeit zu gelten scheint, geschrieben, es wäre ein unentwirrbares Durcheinander gewesen. Nur dieletzten Tage : Glückseligkeit des Abschieds vom Bureau, ausnahmsweise freier Kopf, fast alleArbeit bewältigt, musterhafte Ordnung zurückgelassen. Wäre es Abschied für immer gewesen,dann wäre ich bereit gewesen, nach sechsstündigem Diktieren etwa noch auf den Knien das ganzeTreppenhaus zu waschen, vom Boden bis zum Keller und auf diese Art jeder Stufe die Dankbarkeitdes Abschieds zu beweisen. Aber am nächsten Tag Kopfschmerzen bis zur Betäubung: Hochzeitdes Schwagers, derentwegen ich noch Sonntag vormittag in Prag bleiben mußte, die ganzeZeremonie nichts als Märchennachahmung; die fast gotteslästerliche Trauungsrede: »Wie schönsind deine Zelte, Israel« und noch anderes derartige. Mitgewirkt an der Tageslaune hatte übrigensein grauenhafter Traum, dessen Merkwürdigkeit darin bestand, daß er nichts Grauenhaftesdargestellt hatte, nur eine gewöhnliche Begegnung mit Bekannten auf der Gasse. An dieEinzelheiten erinnere ich mich gar nicht, Du warst glaube ich gar nicht dabei. Das Grauenhafte aberlag in dem Gefühl, das ich einem dieser Bekannten gegenüber hatte. Einen Traum von dieser Arthatte ich vielleicht noch gar nicht gehabt. - Dann in Marienbad sehr lieb von F. vom Bahnhofabgeholt, trotzdem verzweifelte Nacht in häßlichem Hofzimmer.Übrigens die bekannte erste Verzweiflungsnacht. Montag Übersiedlung in ein außerordentlichschönes Zimmer, wohne jetzt nicht geringer als im »Schloß Balmoral«. Und darin werde ichversuchen, den Urlaub zu bewältigen, fange mit der bisher nicht ganz gelungenen Bearbeitung desKopfschmerzes an. .F. und ich grüßen euch herzlichst

Franz

An Max Brod(Postkarte. Tepl,) 8. VII. (1916)

Lieber Max - in Tepl ein paar Stunden. In den Feldern, heraus aus dem Irrsinn des Kopfes und derNächte. Was für ein Mensch bin ich! Was für ein Mensch bin ich! Quäle sie und mich zu Tode.

Franz

An Max Brod(Postkarte. Marienbad, Stempel: 9. VII. 1916)

Lieber Max - vielen Dank für den Brief. Die Kritik in der Täglichen Rundschau ist ja erstaunlich, inwelcher Breite Tycho die Welt mitnimmt! Übrigens war er das erste Buch, das uns hier imBuchladen als viel gekauftes empfohlen wurde. Ich lese nur ein wenig in der Bibel, sonst nichts.Wir gehen aber viel herum, in Unmengen Regen und hie und da ein wenig Sonne. Es istmerkwürdig, heute in Tepl z. B. elendes Wetter zum äußersten Verzweifeln, so auch gestern undfrüher, heute nachmittag aber ein Nachmittag wunderbar leicht und schön. Die Wolken allerdingsverschwinden nicht, wie könnten sie verschwinden. Nächstens ausführlich. - Bitte um OttosAdresse. - Brauche ein Bild Nowaks als Hochzeitsgeschenk meiner Eltern. Darf 100-200 K kosten.Wärest Du so freundlich zu vermitteln? Verkauft er so billig? -Morgen schreibe ich.Herzlichst

Dein Franz

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An Felix Weltsch(Postkarte. Marienbad. Stempel: 11. VII. 1916)

Lieber Felix, warum keine Antwort? Bei Deiner Pünktlichkeit ist das fast unverständlich. Solltewieder an der Hand etwas geschehen sein? Aber dann ist doch Deine Frau da, von der ich (ohnemeiner Wange zu glauben) immer glaube, daß sie es mit mir gut meint, und nun schreibt auch sienicht. Das Balkonzimmer wartet noch, aber nicht mehr lange.Herzliche Grüße von

Franz(Es folgt eine Anschrift von F. B.)

An Max Brod(Marienbad, Mitte Juli 1916)

Liebster Max - nicht immer wieder aufschieben und gerade heute ausführlicher antworten, da ichden letzten Abend (oder eigentlich vorletzten, denn morgen begleite ich sie noch nach Franzensbad,um meine Mutter zu besuchen) mit F. beisammen bin.Der Vormittag der Bleistiftkarte war (ich schreibe in der Halle, einer wunderbaren Einrichtung sichgegenseitig mit leichten Reizungen zu stören und nervös zu machen) etwa der Abschluß, (aber esgab mehr Übergänge, die ich nicht verstehe) einer Reihe schrecklicher Tage, die in nochschrecklicheren Nächten ausgekocht worden sind. Mir schien wirklich, nun sei die Ratte in ihremallerletzten Loch. Aber da es nicht mehr schlimmer werden konnte, wurde es nun besser. DieStricke, mit denen ich zusammengebunden war, wurden wenigstens gelockert, ich fand mich einwenig zurecht, sie, die in die vollkommenste Leere hinein immerfort die Hände zur Hilfe gestreckthatte, half wieder und ich kam mit ihr in ein mir bisher unbekanntes Verhältnis von Mensch zuMensch, das an Wert bis an jenes Verhältnis heranreichte, das in unsern besten Zeiten derBriefschreiber zur Briefschreiberin gehabt hatte.Im Grunde war ich noch niemals mit einer Frau vertraut, wenn ich zwei Fälle ausnehme, jenen inZuckmantel (aber dort war sie eine Frau und ich ein Junge) und jenen in Riva (aber dort war sie einhalbes Kind und ich ganz und gar verwirrt und nach allen Himmelsrichtungen hin krank). Jetzt abersah ich den Blick des Vertrauens einer Frau und konnte mich nicht verschließen. Es wird manchesaufgerissen, das ich für immer bewahren wollte (es ist nichts einzelnes, sondern ein Ganzes) undaus diesem Riß kommt auch, das weiß ich, genug Unglück für mehr als ein Menschenleben hervor,aber es ist nicht ein heraufbeschworenes, sondern ein auferlegtes. Ich habe kein Recht michdagegen zu wehren, umsoweniger als ich das, was geschieht, wenn es nicht geschähe, selbst mitfreiwilliger Hand täte, um nur wieder jenen Blick zu erhalten.Ich kannte sie ja gar nicht, neben andern Bedenken allerdings hinderte mich damals geradezuFurcht vor der Wirklichkeit jener Briefschreiberin; als sie mir im großen Zimmer entgegenkam, umden Verlobungskuß anzunehmen, ging ein Schauder über mich; die Verlobungsexpedition mitmeinen Eltern war für mich eine Folterung Schritt für Schritt; vor nichts hatte ich solche Angst wievor dem Alleinsein mit F. vor der Hochzeit. Jetzt ist es anders und gut. Unser Vertrag ist in Kürze:Kurz nach Kriegsende heiraten, in einem Berliner Vorort zwei, drei Zimmer nehmen, jedem nur diewirtschaftliche Sorge für sich lassen. F. wird weiter arbeiten wie bisher und ich, nun ich, das kannich noch nicht sagen. Will man sich allerdings das Verhältnis anschaulich darstellen, so ergibt sichder Anblick zweier Zimmer, etwa in Karlshorst, in einem steht F. früh auf, läuft weg und fälltabends müde ins Bett; in dem andern steht ein Kanapee, auf dem ich liege und mich von Milch undHonig nähre. Da liegt und streckt sich dann der unmoralische Mann (nach dem bekanntenAusspruch). Trotzdem - jetzt ist darin Ruhe, Bestimmtheit und damit Lebensmöglichkeit.(Nachträglich angesehn, sind das allerdings starke Worte, kaum dauernd niederzudrücken von einerschwachen Feder.)

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Wolff werde ich vorläufig nicht schreiben, so dringend ist es doch nicht und so dringend macht eres auch nicht. Von übermorgen bin ich allein, dann will ich mich (bis nächsten Montag habe ichZeit) ein wenig revidieren - wollte ich sagen und darüber ist aus Mittwoch Freitag geworden. Ichwar mit F. in Franzensbad bei der Mutter und der Valli, jetzt ist F. fort, ich bin allein. Es waren seitdem Tepler Vormittag so schöne und leichte Tage, wie ich nicht mehr geglaubt hätte, sie erleben zukönnen. Es gab natürlich Verdunklungen dazwischen, aber das Schöne und Leichte hatte dieOberhand, selbst in Gegenwart meiner Mutter, und das ist erst recht außerordentlich, ist soaußerordentlich, daß es mich gleichzeitig stark erschreckt. Nun -Hier im Hotel hat man mir eine unangenehme Überraschung vorbereitet, durch absichtliche oderunabsichtliche Verwechslung mein Zimmer vermietet und F.'s Zimmer mir gegeben, ein vielunruhigeres, mit Doppelmietern rechts und links, einfacher Tür, ohne Fenster, nur mit Balkon. Aberzum Wohnungsuchen werde ich mich kaum aufraffen. Trotzdem gerade jetzt die Aufzugtürezuschlägt und ein schwerer Schritt sein Zimmer sucht.Zu Wolff: ich schreibe also vorläufig nicht. Es ist auch doch gar nicht so vorteilhaft, zuerst miteiner Sammlung dreier Novellen aufzutreten, von denen zwei schon gedruckt sind. Besser doch ichverhalte mich still, bis ich etwas Neues und Ganzes vorlegen kann. Kann ich es nicht, dann mag ichfür immer still bleiben.Den Aufsatz im Tagblatt - denke: Geh. Hofrat! - schicke ich in der Beilage, heb ihn mir bitte auf:Sehr freundlich ist er und steigerte diese Freundlichkeit noch dadurch, daß er uns in einemAugenblick zufällig auf den Kaffeehaustisch im »Egerländer« gelegt wurde, als man dachte, nunhalten die Schläfen wirklich nicht mehr stand. Es war wahrhaft himmlisches Öl. Dafür hätte ichdem Herrn Hofrat gerne gedankt, werde es vielleicht noch tun.Zu Deiner Sammlung, die ich nicht billige, aber verstehe, schicke ich Dir die zwei Bilder.Merkwürdig ist unter anderem, daß beide horchen, der Beobachter auf der Leiter, der Studierendeüber dem Buch. (Wie trampeln jetzt die Leute vor meiner einfachen Tür! Allerdings, denStudierenden stört das Kind nicht.)9.-14. Tausend! Mein Glückwunsch, Max. Die große Welt langt also zu. Besonders in Franzensbadist Tycho in allen Auslagen. In der Täglichen Rundschau, die ich gestern zufällig las, annonciert einBuchhändler Gsellius das Buch. Könntest Du mir die Rundschaukritik schicken?Ich wiederhole noch die zwei Bitten: Adresse von Otto und Bilderkaufvermittlung. Habe aber nocheine dritte. Könntest Du einen Prospekt des Jüdischen Volksheims an F. (Technische Werkstätte,Berlin 0 - 27 Markusstraße 52) schicken?. Wir haben darüber gesprochen und sie wollte es sehrgerne haben.Für »Richard und Samuel« hast Du immer eine Vorliebe gehabt, ich weiß. Es waren wunderbareZeiten, warum muß es gute Literatur gewesen sein?Was arbeitest Du? Bist Du von Dienstag in einer Woche in Prag?Dieser Brief kann Felix natürlich gezeigt werden, aber Frauen gar nicht. �

Dein Franz

An Max Brod(Briefkopf: Marienbad, Schloß Balmoral u. Osborne,

Mitte Juli 1916)(Randbemerkung:) Wieder in der vollen Halle, es lockt mich.Lieber Max, danke für die Benachrichtigung, sie traf mich an einem Kopfschmerzentag, wie ich ihnwenigstens hier gar nicht mehr erwartet hätte. Trotzdem lief ich gleich nach dem Essen hin.Ich werde das Ganze nur beschreiben, mehr als das, was man sieht, kann ich nicht sagen. Man siehtaber nur allerkleinste Kleinigkeiten und das allerdings ist bezeichnend, meiner Meinung nach. Esspricht für Wahrhaftigkeit auch gegenüber dem Blödesten. Mehr als Kleinigkeiten kann man mitbloßem Auge dort, wo Wahrheit ist, nicht sehn.

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Zunächst war Langer unauffindbar. Es sind dort einige Häuser und Häuserchen zusammengedrängt,auf einer Anhöhe, die eine Verbindung der Häuser, die einem Besitzer gehören, nur durch halbunterirdische Treppen und Gänge zuläßt. Die Namen der Häuser sind zum Verwechselneingerichtet: Goldenes Schloß, Goldene Schüssel, Goldener Schlüssel, manche haben zwei Namen,vorn einen und hinten einen andern, dann wieder heißt die Restauration anders als das zugehörigeHaus, auf den ersten Anlauf kommt man also nicht durch. Später zeigt sich allerdings eineOrdnung, es ist eine kleine, nach Ständen geordnete Gemeinde, eingefaßt von zwei großeneleganten Gebäuden, Hotel National und Florida. Der goldene Schlüssel ist das ärmlichste. Aberauch dort kannte man Langer nicht. Erst später erinnerte sich ein Mädchen an einige junge Leute,die auf dem Dachboden wohnen; suche ich den Sohn des Prager Branntweinhändlers, dann dürfteich ihn dort finden. Jetzt sei er aber wahrscheinlich bei Herrn Klein in Florida. Als ich dorthin ging,kam er gerade aus dem Tor.Was er erzählt hat, will ich jetzt nicht schreiben, nur das, was ich gesehen habe.Jeden Abend um , 1/2 8 oder 8 fährt der Rabbi in einem Wagen spazieren. Er fährt langsam in denWald, einige Anhänger folgen ihm zu Fuß. Im Wald steigt er an einer im allgemeinen schonbestimmten Stelle aus und geht nun mit seinen Anhängern bis zum Dunkelwerden auf denWaldwegen hin und her. Zur Gebetzeit, gegen 10 Uhr, kommt er nachhause zurück.Ich war also um , 1/2 8 vor dem Hotel National, in dem er wohnt. Langer erwartete mich. Esregnete selbst für diese Regenzeit außerordentlich stark. Gerade zu dieser Stunde hatte es vielleichtin den letzten 14 Tagen nicht geregnet. Langer behauptete, es werde gewiß aufhören, aber das tat esnicht, sondern regnete noch stärker. Langer erzählte, nur einmal habe es bei der Ausfahrt geregnet,im Wald dann aber gleich aufgehört Diesmal hörte es aber nicht auf.Wir sitzen unter einem Baum und sehen einen Juden mit einer leeren Sodawasserflasche aus demHaus laufen. Der holt Wasser für den Rabbi, sagt Langer. Wir schließen uns ihm an. Er soll Wasseraus der Rudolfsquelle holen, die dem Rabbi verordnet ist. Leider weiß er nicht, wo die Quelle ist.Wir laufen im Regen ein wenig irre. Ein Herr, dem wir begegnen, zeigt uns den Weg, sagt abergleichzeitig, daß alle Quellen um 7 geschlossen werden. »Wie können denn die Quellengeschlossen werden« meint der zum Wasserholen Bestimmte und wir laufen hin. Tatsächlich ist dieRudolfsquelle geschlossen, wie man schon von weitem sieht. Es ändert sich nicht, als man trotzdemnäher geht. »Dann nimm Wasser aus der Ambrosiusquelle« sagt Langer »die ist immer offen,« DerWasserholer ist sehr einverstanden und wir laufen hin. Tatsächlich waschen dort noch Frauen dieTrinkgläser. Der Wasserholer nähert sich verlegen den Stufen und dreht die schon ein wenig mitRegenwasser gefüllte Flasche in den Händen. Die Frauen weisen ihn ärgerlich ab, natürlich ist auchdiese Quelle seit 7 Uhr geschlossen. Nun so laufen wir zurück. Auf dem Rückweg treffen wir zweiandere Juden, die mir schon früher aufgefallen sind, sie gehn wie Verliebte neben einander,schauen einander freundlich an und lächeln, der eine die Hand in der tief hinabgezogenenHintertasche, der andere städtischer. Fest Arm in Arm. Man erzählt die Geschichte von dengeschlossenen Quellen; die zwei können das nicht begreifen, der Wasserholer begreift es nunwieder auch nicht und so laufen die drei ohne uns wieder zur Ambrosiusquelle. Wir gehn weiterzum Hotel National, der Wasserholer holt uns wieder ein und überholt uns, außer Atem ruft er unszu, daß die Quelle wirklich geschlossen ist.Wir wollen, um uns vor dem Regen zu schützen, in den Flur des Hotels treten, da springt L. zurückund zur Seite. Der Rabbi kommt. Niemand darf sich vor ihm aufhalten, vor ihm muß immer allesFrei sein, es ist nicht leicht, dies immer einzuhalten, da er sich oft überraschend wendet und esnicht leicht ist, im Gedränge schnell genug auszuweichen. (Noch schlimmer soll es im Zimmersein, da ist das Gedränge so groß, daß es den Rabbi selbst in Gefahr bringt. Letzthin soll ergeschrien haben: »Ihr seid Chassidim? Ihr seid Mörder.«)Diese Sitte macht alles sehr Feierlich, der Rabbi trägt förmlich (ohne zu Führen, denn rechts undlinks von ihm sind ja Leute) die Verantwortung für die Schritte aller. Und immer wieder ordnet sichdie Gruppe neu, um ihm Freie Blickrichtung zu geben.

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Er sieht aus wie der Sultan, den ich als Kind in einem Doré-Münchhausen oft gesehn habe. Aberkeine Maskerade, wirklich der Sultan. Und nicht nur Sultan, sondern auch Vater, Volksschullehrer,Gymnasialprofessor u. s. f. Der Anblick seines Rückens, der Anblick der Hand, die auf der Hüfteliegt, der Anblick der Wendung dieses breiten Rückens - alles das gibt Vertrauen. Auch in denAugen der ganzen Gruppe ist dieses ruhige glückliche Vertrauen, das ich gut ahne.Er ist mittelgroß und recht umfangreich, aber nicht schlecht beweglich. Langer weißer Bart,außergewöhnlich lange Schläfenlocken (die er auch an andern liebt; wer lange Locken hat, für denist er schon gut gestimmt; er lobt die Schönheit zweier Kinder, die der Vater an den Händen führt,er kann aber mit der Schönheit nur die Locken meinen). Ein Auge ist blind und starr. Der Mund istschief gezogen, es sieht gleichzeitig ironisch und freundlich aus. Er trägt einen seidenen Kaftan, dervorn offen ist; einen starken Gurt um den Leib; eine hohe Pelzmütze, die ihn äußerlich am meistenhervorhebt. Weiße Strümpfe und, wie L. sagt, weiße Hosen.Vor dem Verlassen des Hauses vertauscht er den Silberstock mit dem Schirm. (Es regnet immerfortgleichmäßig stark und hat bis jetzt 1/2 11 Uhr noch nicht aufgehört.) Der Spaziergang (zumerstenmal keine Ausfahrt, offenbar will er die Leute nicht im Regen in den Wald hinter sich ziehn)beginnt jetzt. Es gehn etwa 10 Juden hinter und neben ihm. Einer trägt den Silberstock und denSessel, auf den sich der Rabbi vielleicht wird setzen wollen, einer trägt das Tuch, mit dem er denStuhl abtrocknen wird, einer trägt das Glas, aus dem der Rabbi trinken wird, einer (Schlesinger, einreicher Jude aus Preßburg) trägt eine Flasche mit dem Wasser der Rudolfsquelle, er hat sie offenbarin einem Geschäft gekauft. Eine besondere Rolle spielen im Gefolge die vier Gabim (oder ähnlich),es sind die »Nächsten«, Angestellte, Sekretäre. Der oberste der vier ist, wie Langer behauptet, einganz besonderer Schuft; sein großer Bauch, seine Selbstgefälligkeit, sein schiefer Blick scheinendafür zu sprechen. Übrigens darf man ihm daraus keinen Vorwurf machen, alle Gabim werdenschlecht, die dauernde Nähe des Rabbi kann man nicht ertragen, ohne Schaden zu nehmen, es istder Widerspruch zwischen der tieferen Bedeutung und der ununterbrochenen Alltäglichkeit, die eingewöhnlicher Kopf nicht ertragen kann.Der Spaziergang geht sehr langsam vorwärts.

Der Rabbi kommt zunächst schwer in Gang, ein Bein, das rechte, versagt ihm ein wenig den Dienst,auch muß er anfänglich husten, achtungsvoll umsteht ihn das Gefolge. Nach einem Weilchenscheint es aber kein äußeres Hindernis zu geben, wohl aber beginnen jetzt die Besichtigungen undbringen den Zug jeden Augenblick zum Stillstehn. Er besichtigt alles, besonders aber Bauten, ganzverlorene Kleinigkeiten interessieren ihn, er stellt Fragen, macht selbst auf manches aufmerksam,das Kennzeichnende seines Verhaltens ist Bewunderung und Neugierde, Im Ganzen sind es diebelanglosen Reden und Fragen umziehender Majestäten, vielleicht etwas kindlicher und freudiger,jedenfalls drücken sie alles Denken der Begleitung widerspruchslos auf das gleiche Niveau nieder.Langer sucht oder ahnt in allem tiefern Sinn, ich glaube, der tiefere Sinn ist der, daß ein solcherfehlt, und das ist meiner Meinung nach wohl genügend. Es ist durchaus Gottesgnadentum, ohne dieLächerlichkeit, die es bei nicht genügendem Unterbau erhalten müßte.Das nächste Haus ist ein Zanderinstitut. Es liegt hoch über der Straße auf einem Steindamm und hateinen durch ein Gitter eingefaßten Vorgarten. Der Rabbi bemerkt einiges zum Bau, danninteressiert ihn der Garten, er fragt, was das für ein Garten ist. Ähnlich wie etwa der Statthalter vordem Kaiser in ähnlichem Fall sich benehmen würde, rast Schlesinger (hebr. Sina genannt) dieTreppe zum Garten hinauf, hält sich oben gar nicht auf, sondern rast sofort (alles im strömendenRegen) wieder herunter und meldet (was er natürlich schon gleich anfangs von unten erkannt hat),daß es nur ein Privatgarten ist, der zu dem Zanderinstitut gehört.Der Rabbi wendet sich, nachdem er nochmals den Garten genau angeschaut hat, und wir kommenzum Neubad. Hinter dem Gebäude, wohin wir zuerst kommen, laufen in einer Vertiefung dieRöhren für das Dampfbad. Der Rabbi beugt sich tief über das Geländer und kann sich an denRöhren nicht satt sehn, es wird Meinung und Gegenmeinung über die Röhren ausgetauscht.

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Das Gebäude ist in einem gleichgültigen unkenntlichen Mischstil aufgebaut. Die untersteFensterreihe ist in laubenartige, aber vermauerte Bogen eingebaut, welche im Scheitel einenTierkopf tragen. Alle Bogen und alle Tierköpfe sind gleich, trotzdem bleibt der Rabbi fast vorjedem der 6 Bogen der Breitseite besonders stehn, besichtigt sie, vergleicht sie, beurteilt sie undzwar von der Ferne und Nähe.Wir biegen um die Ecke und stehn jetzt an der Frontseite. Das Gebäude macht großen Eindruck aufihn. Über dem Tor steht in goldenen Lettern »Neubad«. Er läßt sich die Inschrift vorlesen, fragt,warum es so heißt, ob es das einzige Bad ist, wie alt es ist u.s.w. Öfters sagt er, mit dem besondernostjüdischen Staunen: »Ein schönes Gebäude«.Schon früher hat er öfters die Dachtraufen beobachtet, jetzt da wir eng am Gebäude (wir haben dieFront schon einmal auf der gegenüberliegenden Straßenseite passiert) zurückgehn, macht er eigenseinen Umweg, um zu einer Dachtraufe zu kommen, die in einem durch einen Hausvorsprunggebildeten Winkel herunterführt. Es freut ihn, wie das Wasser drin klopft. er horcht, schaut dieRöhre entlang nach oben, betastet sie und läßt sich die Einrichtung erklären. (Hier bricht der Briefmitten im Briefbogen ab.)

An Felix Weltsch(Postkarte. Marienbad, Stempel: 19. VII. 1916)

Lieber Felix, wäre es wirklich so, wie Du schreibst, dann wäre es für mich wirklich eineAufforderung hinzukommen und ich käme. Aber es ist nicht so und ist jedenfalls den zweiten Tagnicht mehr so. Nur das Ausbleiben der Furunkeln möge so bleiben. Dagegen ist mir gar nicht gut,Kopfschmerzen, Kopfschmerzen ! (Briefwechsel zweier Datscher, würde Langer sagen.) Ja Langerist hier, wie jetzt hier überhaupt eine Art Mittelpunkt der jüdischen Welt ist, denn der Belzer Rabbiist hier. Zweimal war ich schon in seinem Gefolge auf Abendspaziergängen. Er allein lohnt dieFahrt Karlsbad - Marienbad. - Weißt Du, daß Baum in Franzensbad, Haus Sanssouci ist?Herzliche Grüße und alle guten Wünsche Dir und den Deinen

Franz

An den Verlag Kurt WolffPrag, am 28. Juli 1916

Sehr geehrter Herr Meyer!Als ich jetzt von einer Reise zurückkam, fand ich Ihr Schreiben vom 10. 1.M. sowie die Büchervor. Für beides danke ich Ihnen bestens.Hinsichtlich der Herausgabe eines Buches bin ich gleichfalls Ihrer Meinung, wenn auch die meineerzwungenerweise ein wenig radikaler ist. Ich glaube nämlich, daß es das allein Richtige wäre,wenn ich mit einer ganzen und neuen Arbeit hervorkommen könnte; kann ich das aber nicht, sosollte ich vielleicht lieber ganz still sein.Nun habe ich tatsächlich eine derartige Arbeit gegenwärtig nicht und fühle mich auchgesundheitlich bei weitem nicht so gut, daß ich in meinen sonstigen hiesigen Verhältnissen zu einersolchen Arbeit fähig sein könnte. Ich habe in den letzten 3, 4 Jahren mit mir gewüstet (was dieSache sehr verschlimmert: in allen Ehren) und trage jetzt schwer die Folgen. Sonstiges kommt auchnoch hinzu.Ihrem liebenswürdigen Vorschlag, Urlaub zu nehmen und nach Leipzig zu kommen, kann ichaugenblicklich aus den verschiedensten Gründen nicht folgen. Vor 4, 3 ja sogar noch vor 2 Jahrenhätte ich es, was meine äußern Umstände und meine Gesundheit anlangte, tun können und sollen.Jetzt bleibt mir nur übrig zu warten, bis mir die einzigen Heilmittel, die mir wahrscheinlich nochhelfen könnten, zugänglich werden, nämlich: ein wenig Reisen und viel Ruhe und Freiheit.

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Vorher kann ich keine größere Arbeit vorlegen und es bleibt also nur die Frage (die ich für meinenTeil verneinen würde), ob es irgendwelchen Nutzen bringen könnte, die Erzählungen »Strafen«(Das Urteil, die Verwandlung, In der Strafkolonie) jetzt zu veröffentlichen. Sind Sie der Meinung,daß ein e solche Herausgabe gut wäre, auch wenn in absehbarer Zeit keine größere Arbeit folgenkann, so füge ich mich vollständig Ihrer gewiß besseren Einsicht.Mit meinen besten Grüßen, die ich gelegentlich auch Herrn Wolff zu vermitteln bitte, verbleibe ichIhr sehr ergebener

F. Kafka

An den Verlag Kurt WolffPrag, am 10. August 1916

Sehr geehrter Herr Meyer!Aus der mich betreffenden Bemerkung in einem Brief an Max Brod sehe ich, daß auch Sie daransind, von dem Gedanken an die Herausgabe des Novellenbuches abzugehn. Ich gebe Ihnen unterden gegenwärtigen Verhältnissen durchaus Recht, denn es ist jedenfalls höchst unwahrscheinlich,daß Sie das verkäufliche Buch, das Sie wollen, mit diesem Buch erhalten würden. Dagegen wäreich sehr damit einverstanden, daß die »Strafkolonie« im »Jüngsten Tag« herauskommt, dann abernicht nur die »Strafkolonie« sondern auch das »Urteil« aus der »Arkadia«, und zwar jedeGeschichte in einem eigenen Bändchen. In dieser letzteren Art der Herausgabe liegt für mich derVorteil gegenüber dem Novellenbuch, daß nämlich jede Geschichte selbstständig angesehenwerden kann und wirkt. Falls Sie mir zustimmen, würde ich bitten, daß zuerst das »Urteil«, an demmir mehr als an dem andern gelegen ist, erscheint; die »Strafkolonie« kann dann nach Beliebenfolgen. Das »Urteil« ist allerdings klein, aber kaum wesentlich kleiner als »Aissé« oder »Schuhlin«;im Druck der »Fledermäuse« dürfte es über 30 Seiten haben, die »Strafkolonie« über 70 Seiten.Mit besten Grüßen Ihr sehr ergebener

F. Kafka

An den Verlag Kurt Wolff(Postkarte) Prag, am 14. August 16

Sehr geehrter Herr Meyer!Unsere Briefe haben sich offenbar gekreuzt. Zu der Sache selbst:Die Herausgabe des »Urteils« und der »Strafkolonie« in einem Bändchen wäre nicht in meinemSinn; für den Fall ziehe ich das größere Novellenbuch vor. Nun verzichte ich aber auf diesesgrößere Buch, das mir übrigens Herr Wolff schon zur Zeit des »Heizer« zugesagt hat, sehr gern,bitte aber dafür um die Gefälligkeit, daß das »Urteil« in ein besonderes Bändchen kommt. »DasUrteil«, an dem mir eben besonders gelegen ist, ist zwar sehr klein, aber es ist auch mehr Gedichtals Erzählung, es braucht freien Raum um sich und es ist auch nicht unwert ihn zu bekommen.Mit besten Grüßen Ihr sehr ergebener

F. Kafka

An den Verlag Kurt WolffPrag, am 19. August 16

An den Kurt Wolff Verlag!Entsprechend Ihrem freundlichen Schreiben vom 15. 1. M. stelle ich zusammen, was mich zumeiner Bitte nach Einzelabdruck des »Urteil« und der »Strafkolonie« geführt hat:Zunächst war überhaupt nicht von der Veröffentlichung im »Jüngsten Tag« die Rede, sondern voneinem Novellenband »Strafen« (Urteil - Verwandlung - Strafkolonie), dessen Herausgabe mir HerrWolff schon vor langer Zeit in Aussicht gestellt hat. Diese Geschichten geben eine gewisse Einheit,

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auch wäre natürlich ein Novellenband eine ansehnlichere Veröffentlichung gewesen, als die Heftedes »Jüngsten Tag«, trotzdem wollte ich sehr gerne auf den Band verzichten, wenn mir dieMöglichkeit erschien, daß das »Urteil« in einem besonderen Heft herausgegeben werden könnte.Ob »Urteil« und »Strafkolonie« gemeinsam in einem Jüngstentag-Bändchen erscheinen sollen,steht wohl nicht eigentlich in Frage, denn die »Strafkolonie« reicht gewiß, auch nach der in IhremSchreiben vorgenommenen Bemessung, für ein Einzelbändchen reichlich aus. Hinzufügen möchteich nur, daß »Urteil« und »Strafkolonie« nach meinem Gefühl eine abscheuliche Verbindungergeben würden; »Verwandlung« könnte immerhin zwischen ihnen vermitteln; ohne sie aber hießees wirklich zwei fremde Köpfe mit Gewalt gegen einander schlagen.Insbesondere für den Sonderabdruck des »Urteil« spricht bei mir folgendes: Die Erzählung ist mehrgedichtmäßig als episch, deshalb braucht sie ganz freien Raum um sich, wenn sie sich auswirkensoll. Sie ist auch die mir liebste Arbeit und es war daher immer mein Wunsch, daß sie, wennmöglich, einmal selbstständig zur Geltung komme. Jetzt da von dem Novellenband abgesehen wird,wäre dafür die beste Gelegenheit. Nebenbei erwähnt bekomme ich dadurch, daß die »Strafkolonie«nicht gleich jetzt im »Jüngsten Tag« erscheint, die Möglichkeit, sie den »Weißen Blättern«anzubieten. Es ist das aber wirklich nur nebenbei erwähnt, denn die Hauptsache bleibt für mich,daß das »Urteil« besonders erscheint.Die buchtechnischen Schwierigkeiten dessen sollten unüberwindlich sein? Ich gebe zu, daß einMonumentaldruck nicht sehr passend wäre, aber erstens ergeben sich schon im Fledermausdruck 30Seiten und zweitens enthalten bei weitem nicht alle Jüngste-Tag-Bändchen 32 bedruckte Seiten,Aissé z. B. hat deren nur 20 und andere Bändchen, die ich gerade nicht zur Hand habe, wieHasenclever und Hardekopf- bestehen gar nur aus wenigen Blättern.Ich glaube also, daß mir der Verlag die Gefälligkeit des Einzelabdrucks - ich würde es durchaus alsGefälligkeit ansehn � wohl machen könnte.In vorzüglicher Hochschätzung Ihr sehr ergebener

F. Kafka

An den Verlag Kurt Wolff(Prag,)] 30. IX. 16

Sehr geehrter Herr Meyer!In der Beilage erlaube ich mir, Ihnen zur freundlichen Durchsicht eine Auswahl von Gedichteneines Pragers, Ernst Feigl, vorzulegen. Ich für meinen Teil würde sie für eine wesentlicheBereicherung etwa des »Jüngsten Tages« halten, in den sie einen neuen halbdunklen in vielemwahrhaftig zeitgemäßen Ton brächten. Auch scheint mir Feigl noch starke, beiweitem noch nichtgehörte Möglichkeiten in sich zu haben. Die beiliegenden Gedichte sind nur eine Auswahl der alsEinheit gedachten und auch gewachsenen Sammlung, die wohl noch einmal so viel Verse umfaßtund nach dem ersten Gedicht »Wir altern Mensch« benannt werden soll. Sollten Sie vor einerendgültigen Entscheidung noch die andern Gedichte sehen wollen, schicke ich sie sofort.Mit besten Grüßen Ihr sehr ergebener

F. Kafka

An Kurt WolffPrag, 11. X. 16

Sehr geehrter Herr Kurt Wolff!zunächst erlaube ich mir Sie herzlichst wieder einmal in unserer Nähe zu begrüßen, trotzdem jetztallerdings Ferne und Nähe nicht sehr unterschieden sind. Ihre freundlichen Worte über meinManuskript sind mir sehr angenehm eingegangen. Ihr Aussetzen des Peinlichen trifft ganz mitmeiner Meinung zusammen, die ich allerdings in dieser Art fast gegenüber allem habe, was bisher

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von mir vorliegt. Bemerken Sie, wie wenig in dieser oder jener Form von diesem Peinlichen freiist! Zur Erklärung dieser letzten Erzählung füge ich nur hinzu, daß nicht nur sie peinlich ist, daßvielmehr unsere allgemeine und meine besondere Zeit gleichfalls sehr peinlich war und ist undmeine besondere sogar noch länger peinlich als die allgemeine. Gott weiß wie tief ich auf diesemWeg gekommen wäre, wenn ich weitergeschrieben hätte oder besser, wenn mir meine Verhältnisseund mein Zustand das, mit allen Zähnen in allen Lippen, ersehnte Schreiben erlaubt hätten. Dashaben sie aber nicht getan. So wie ich jetzt bin, bleibt mir nur übrig auf Ruhe zu warten, womit ichmich ja, wenigstens äußerlich als zweifelloser Zeitgenosse darstelle. Auch damit stimme ich ganzüberein, daß die Geschichte nicht in den »Jüngsten Tag« kommen soll, Allerdings wohl auch nichtin den Vorlesesaal Goltz, wo ich sie im November vorlesen will und hoffentlich auch vorlesenwerde. Ihr Angebot, das Novellenbuch herauszugeben, ist außerordentlich entgegenkommend, dochglaube ich, daß (insbesondere da jetzt das »Urteil« dank Ihrer Freundlichkeit besonders erscheint)das Novellenbuch nur als naher Vor- oder Nachläufer einer neuen größeren Arbeit eigentlichenSinn hätte, augenblicklich also nicht. Übrigens glaube ich diese Meinung auch aus der betreffendenBemerkung im Brief an Max Brod herauslesen zu können. Vor einer Woche etwa habe ich an HerrnMeyer einige Gedichte von Ernst Feigl (er ist Bruder des Malers Fritz Feigl, der unter anderem fürGeorg Müller Dostojewski illustriert) geschickt, es ist mir nun lieb, daß jetzt die Möglichkeitbesteht, daß auch Sie die Gedichte in Leipzig lesen können. Vielleicht wäre es dem Verlagmöglich, diese schönen Gedichte irgendwie herauszubringen, es müßte ja nicht gleich sein, wennauch »gleich« natürlich das erfreulichste wäre. Beim ersten Lesen der Gedichte mag beirren, daßsie verschiedene Anknüpfungen nach verschiedenen Seiten zeigen, liest man aber weiter, so mußman glaube ich aus der Einheit des Ganzen finden, daß die kleinen Anknüpfungen wirklich klein,die großen aber im guten Sinne groß sind, als eine Flamme im gemeinsamen Feuer. So scheint esmir.Ihr herzlich ergebener

Franz Kafka

An Dr. Siegfried Löwy(1916)

(Auf dem Titelblatt eines »Führers in die Umgebung von Marienbad«, von Kafka an seinen OnkelSiegfried geschickt.)Natürlich nur nach Marienbad fahren! Im Dianahof frühstücken (süße Milch, Eier, Honig, Butter),schnell im Maxtal gabelfrühstücken (saure Milch), schnell im Neptun beim Oberkellner Müllermittagessen, zum Obsthändler Obst essen, flüchtig schlafen, im Dianahof Milch im Teller essen(vorher zu bestellen!), schnell im Maxtal saure Milch trinken, zum Neptun nachtmahlen, dann sichin den Stadtpark setzen und sein Geld nachzählen, zum Konditor gehen, dann mir ein paar Zeilenschreiben und soviel in einer Nacht schlafen, als ich in den 21 Nächten zusammen.

An den Verlag Kurt Wolff(Prag,) 30. IX. 16

Sehr geehrter Herr Meyer!In der Beilage erlaube ich mir, Ihnen zur freundlichen Durchsicht eine Auswahl von Gedichteneines Pragers, Ernst Feigl, vorzulegen. Ich für meinen Teil würde sie für eine wesentlicheBereicherung etwa des »Jüngsten Tages« halten, in den sie einen neuen halbdunklen in vielemwahrhaftig zeitgemäßen Ton brächten. Auch scheint mir Feigl noch starke, beiweitem noch nichtgehörte Möglichkeiten in sich zu haben. Die beiliegenden Gedichte sind nur eine Auswahl der alsEinheit gedachten und auch gewachsenen Sammlung, die wohl noch einmal so viel Verse umfaßt

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und nach dem ersten Gedicht »Wir altern Mensch« benannt werden soll. Sollten Sie vor einerendgültigen Entscheidung noch die andern Gedichte sehen wollen, schicke ich sie sofort.Mit besten Grüßen Ihr sehr ergebener

F. Kafka

An Kurt WolffPrag, 11. X. 16

Sehr geehrter Herr Kurt Wolff!zunächst erlaube ich mir Sie herzlichst wieder einmal in unserer Nähe zu begrüßen, trotzdem jetztallerdings Ferne und Nähe nicht sehr unterschieden sind. Ihre freundlichen Worte über meinManuskript sind mir sehr angenehm eingegangen. Ihr Aussetzen des Peinlichen trifft ganz mitmeiner Meinung zusammen, die ich allerdings in dieser Art fast gegenüber allem habe, was bishervon mir vorliegt. Bemerken Sie, wie wenig in dieser oder jener Form von diesem Peinlichen freiist! Zur Erklärung dieser letzten Erzählung füge ich nur hinzu, daß nicht nur sie peinlich ist, daßvielmehr unsere allgemeine und meine besondere Zeit gleichfalls sehr peinlich war und ist undmeine besondere sogar noch länger peinlich als die allgemeine. Gott weiß wie tief ich auf diesemWeg gekommen wäre, wenn ich weitergeschrieben hätte oder besser, wenn mir meine Verhältnisseund mein Zustand das, mit allen Zähnen in allen Lippen, ersehnte Schreiben erlaubt hätten. Dashaben sie aber nicht getan. So wie ich jetzt bin, bleibt mir nur übrig auf Ruhe zu warten, womit ichmich ja, wenigstens äußerlich als zweifelloser Zeitgenosse darstelle. Auch damit stimme ich ganzüberein, daß die Geschichte nicht in den »Jüngsten Tag« kommen soll, Allerdings wohl auch nichtin den Vorlesesaal Goltz, wo ich sie im November vorlesen will und hoffentlich auch vorlesenwerde. Ihr Angebot, das Novellenbuch herauszugeben, ist außerordentlich entgegenkommend, dochglaube ich, daß (insbesondere da jetzt das »Urteil« dank Ihrer Freundlichkeit besonders erscheint)das Novellenbuch nur als naher Vor- oder Nachläufer einer neuen größeren Arbeit eigentlichenSinn hätte, augenblicklich also nicht. Übrigens glaube ich diese Meinung auch aus der betreffendenBemerkung im Brief an Max Brod herauslesen zu können. Vor einer Woche etwa habe ich an HerrnMeyer einige Gedichte von Ernst Feigl (er ist Bruder des Malers Fritz Feigl, der unter anderem fürGeorg Müller Dostojewski illustriert) geschickt, es ist mir nun lieb, daß jetzt die Möglichkeitbesteht, daß auch Sie die Gedichte in Leipzig lesen können. Vielleicht wäre es dem Verlagmöglich, diese schönen Gedichte irgendwie herauszubringen, es müßte ja nicht gleich sein, wennauch »gleich« natürlich das erfreulichste wäre. Beim ersten Lesen der Gedichte mag beirren, daßsie verschiedene Anknüpfungen nach verschiedenen Seiten zeigen, liest man aber weiter, so mußman glaube ich aus der Einheit des Ganzen finden, daß die kleinen Anknüpfungen wirklich klein,die großen aber im guten Sinne groß sind, als eine Flamme im gemeinsamen Feuer. So scheint esmir.Ihr herzlich ergebener

Franz KafkaAn Dr. Siegfried Löwy

(1916)(Auf dem Titelblatt eines »Führers in die Umgebung von Marienbad«, von Kafka an seinen OnkelSiegfried geschickt.)Natürlich nur nach Marienbad fahren! Im Dianahof frühstücken (süße Milch, Eier, Honig, Butter),schnell im Maxtal gabelfrühstücken (saure Milch), schnell im Neptun beim Oberkellner Müllermittagessen, zum Obsthändler Obst essen, flüchtig schlafen, im Dianahof Milch im Teller essen(vorher zu bestellen!), schnell im Maxtal saure Milch trinken, zum Neptun nachtmahlen, dann sichin den Stadtpark setzen und sein Geld nachzählen, zum Konditor gehen, dann mir ein paar Zeilenschreiben und soviel in einer Nacht schlafen, als ich in den 21 Nächten zusammen.

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Das alles läßt sich bei Regen fast noch besser machen als bei schönem Wetter, da dann dieSpaziergänge nicht stören, und in den entfernten Kaffeegärten immer etwas fehlt, im Kaffee Almz.B. die Milch, im Kaffee Nimrod die Butter, und in allen die Semmeln, die man überhauptimmerfort mittragen soll.Zeitung muß man nicht kaufen, im Dianahof Berliner Tageblatt, gleich nach Erscheinen, andereZeitungen (Zeitschriften nicht) im Lesesaal des Stadthauses, die abends erscheinenden Berichte desMarienbader Tagblatts sind wenigstens in einem Exemplar in allen Logierhäusern abonniert.Besonders billiges, aber nicht ganz reines Obst am Eingang der Judengasse.Ich würde für meinen Teil die von Dir notierten Häuser bei der Waldquelle vorziehen, nicht nur,weil ich dort gewohnt habe, und Dianahof in der Nähe ist, sondern weil die andere Häusergruppe inder Front nach Nordwest gehen dürfte. Empfehlenswertes bei Neptun: Gemüseomlette,Emmentaler, Kaiserfleisch, Portion Roheier mit Portion grüne Erbsen. -Willst Du abends arbeiten, nimm ein Zimmer mit Balkon (ohne allzu nahe Nachbarbalkone), woman die Nachtlampe auf den Balkontisch hinausstellen kann; dann habt ihr zwei Zimmer, auf demBalkon besondere Ruhe. -Gutes Obst auch auf dem Weg zum Maxtal (das waren etwa meine Gedanken auf dem Balkon inder ruhigen Nacht). - Hast Du einmal irgendeine Beschwerde oder sonst etwas, dann geh insStadthaus zu dem »unermüdlichen Presseleiter« Fritz Schwappacher, der einen Verein derzeitweise in Marienbad anwesenden Journalisten gegründet hat.Jetzt ist es aber genug und ihr könnt fahren. Bei dem Gedanken, euch irgendwie als Vertreter dortzu haben, ist mir sehr wohl.

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1917

An Felix Weltsch(Postkarte. Prag, Stempel: 2. I. 1917)

Lieber Felix - gestern wollte ich euch zum neuen Jahr glückwünschen, aber es ging nicht. Ich sahDich so friedlich, tief in Ruhe, lesen, dann sogar die Mappe öffnen, Papier herausnehmen undschreiben, daß es für mich gar keine Frage war, daß ich Dich nicht stören dürfe. Allerdings standneben Dir eine Tasse und die Tür zum beleuchteten Wohnzimmer war halb offen - ich sagte miralso, falls Du Dich stärker mit der Tasse zu beschäftigen anfängst oder falls Deine Frauhereinkommt, dann dürfe auch ich vielleicht kommen. Das war aber ein Irrtum. - Denn alsschließlich Deine Frau hereinkam, und Du, mit gutem Appetit in etwas hineinbeißend, mit ihr zusprechen anfingst, schämte ich mich natürlich weiter zuzuschauen, konnte deshalb nicht feststellen,ob die Arbeitsunterbrechung eine längere war und ging deshalb. Nächstens.Viele Grüße. Übrigens gute Zeitungsnachrichten.

Franz

An Gottfried KölwelPrag, 3. Januar 16

Sehr geehrter Herr Kölwel!Jetzt fand ich Ihre Gedichte. Vielen Dank. Ich dachte kaum mehr, daß sie kamen und bedauerte es,denn ich hatte den allgemeinen Eindruck stark in meinem alle Einzelheiten unsinnig raschverlierenden Gedächtnis und wäre ihm gerne in der Wirklichkeit nachgegangen. Nun kann ich es anden drei Gedichten tun, besonders an den Wehenden, die mir am besten den Münchner Eindruckwieder beleben. Ich las die Gedichte dort unter ungewöhnlichen Umständen. Ich war hingekommenmit meiner Geschichte als Reisevehikel, in eine Stadt, die mich außer als Zusammenkunftsort undals trostlose Jugenderinnerung gar nichts anging, las dort meine schmutzige Geschichte invollständiger Gleichgültigkeit, kein leeres Ofenloch kann kälter sein, war dann, was mir hier seltengeschieht, mit fremden Menschen beisammen, von denen mich Pulver eine Zeitlang geradezubetörte, fand Sie zu einfach, um mich wesentlich zu kümmern, wunderte mich dann am nächstenTag im Kaffeehaus über die Zufriedenheit, mit der Sie von Ihrem Leben, Ihren Arbeiten und Plänenerzählten, wußte mit Ihrer Nacherzählung einer Prosaarbeit nichts anzufangen und bekamschließlich - ohne daß ich damit alles was in München in mir vorging gestreift hätte - Ihre Gedichtein die Hand. Diese Gedichte trommelten mir zeilenweise förmlich gegen die Stirn. So rein, sosündenrein in allem waren sie, aus reinem Atem kamen sie; ich hätte alles was ich in Münchenangestellt hatte, an ihnen reinigen wollen. Und vieles davon finde ich jetzt wieder. Denken Sie bittewieder einmal an mich und schicken mir etwas.Mit besten Grüßen sehr ergeben

Kafka

An Gottfried KölwelPrag, 31. I. 16 (1917)

Sehr geehrter Herr Kölwel!Ich war krank und bin es noch heute, mein Magen will nicht mit. Ich hätte Ihnen sonst schon längstgeschrieben und für Ihre Sendung gedankt, die mir Freude gemacht hat, wie mir jede weitereFreude machen wird, das weiß ich schon. Es sind trostreiche Gedichte, Trostgesänge alle; Siehalten sich förmlich nur mit einer Hand im Dunkel, vielleicht um nicht ganz losgebrochen zuwerden aus der Erde, alles andere ist Helligkeit, gute und wahrhaftige. Gerade weil Sie die

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Bestimmung dazu haben, stört mich manchmal eine kühle Gefühlswendung, die sich so eindeutiggibt, als werde sie auf dem Trapez, und sei es auch das höchste, vollführt und nicht im Herzen; sieist einwandfrei, aber das genügt gewiß Ihnen am allerwenigsten. So z.B. die Wendung imTrostgesang, die das Gedicht, das doch auf höchste Wahrheit ausgeht, erfüllt, wie mit zwei riesigenStützbalken. Oder zum Teil auch im Gekreuzigten, in dessen einzelnen Versen man allerdingsversinkt. Ein starkes Gegenbeispiel in meinem Sinn ist etwa der Herbstgesang, der in seiner Gänzeschwebt und darum auch tragen kann.Ich wundere mich nicht darüber, daß Sie bei Verlagen Schwierigkeiten haben, Sie verblüffenweder, noch erschrecken Sie, aber ebenso gewiß, als Sie das nicht tun, ist: daß man auf die Dauerden Gedichten nicht widerstehen kann. Deshalb glaube ich aber auch nicht - Ihre vielleicht besserenGegenbeweise kenne ich nicht - daß wirklich jemand geradezu gegen Sie tätig ist oder vielmehr daßman auch ohne den Glauben an solche Feindseligkeit - der Glaube daran verbittert doch - dieSchwierigkeiten der ersten Zeit verstehen kann. Was Kurt Wolff betrifft, so will ich natürlich alleswas Sie wissen wollen, zu erfahren versuchen. Nicht direkt, denn mein Verkehr ist hiezu viel zugeringfügig und einflußlos, wohl aber durch meinen Freund Max Brod. Schreiben Sie mir nur umwas es sich im Einzelnen handelt oder besser, was im Einzelnen gefragt oder getan werden soll undin welcher Art.Mit besten Grüßen Ihr sehr ergebener

Franz Kafka

An Gottfried KölwelPrag, 21. II. 17

Sehr geehrter Herr Kölwel! Vielen Dank für die neuen Gedichte. Irre ich nicht, so sind es wirklichneue Gedichte. Viel neue Welt öffnet sich gegenüber den frühem. Wie groß Ihr Reich ist!Daß Wolff nachgegeben hat, freut mich sehr. Es beweist, daß seiner Einsicht auf die Dauer Wertenicht entgehen können und daß vom schlechten Nein zum guten Ja der Weg für ihn doch nichtallzulang ist. Oder vielleicht sogar sehr kurz ist, wenn Ihre Vermutung hinsichtlich derMachenschaften richtig war.Mit besten Grüßen für Sie und Herrn Dr. SommerfeldIhr sehr ergebener

An den Verlag Kurt WolffPrag, am 14. III. 17

Verehrlicher Verlag!Am 20. v. M. bestätigte ich mit eingeschriebener Karte den Erhalt der Abrechnung 1917 für dasBuch Betrachtung und bat, den Betrag, etwa 95 M an Frl. F. B., Technische Werkstätte, Berlin 0-27, Markusstraße 52 überweisen zu wollen. Gleichzeitig fragte ich an, ob und wie die Verrechnungder zweiten Auflage des »Heizer« und des »Urteil" erfolgen werde.Eine Antwort auf diese Karte habe ich bis heute nicht erhalten, auch ist das Geld bisher bei dergenannten Adressatin nicht eingelangt. Das letztere ist mir umso peinlicher, als ich gleichzeitig mitder damaligen Karte den bevorstehenden Eingang des Geldes anzeigte. Ich bitte nun so freundlichzu sein und meine Karte zu erledigen.Hochachtungsvoll ergebenst

Dr. F. Kafka

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An Felix Weltsch(Prag, Sommer 1917)

Lieber Felix, das hast Du sehr gut gemacht und ich gönne es Dir grenzenlos. An gewöhnlichenTagen ist es für mich schwierig, aber Sonntag komme ich vielleicht. Sollte ich nicht Oskarmitbringen?Schade, daß ich niemals weiß, ob ich am nächsten Tag leben oder nur taumeln werde und daß dasLetztere immer das Wahrscheinlichere ist. Ich bringe Dir dann einen ausgezeichneten, schwer, abermit Deiner Hilfe vielleicht doch zu fassenden politischen und Wahlrechts-Aufsatz von Heimannaus der Rundschau.

FranzHerzliche Grüße Dir und Deiner Frau

An Kurt WolffPrag, am 7. Juli 1917

Sehr geehrter Herr Kurt Wolff!Es freut mich ungemein, wieder einmal direkt von Ihnen etwas zu hören. Mir war in diesem Winter,der allerdings schon wieder vorüber ist, ein wenig leichter. Etwas von dem Brauchbaren aus dieserZeit schicke ich, dreizehn Prosastückes. Es ist weit von dem, was ich wirklich will.Mit herzlichen Grüßen Ihr ergebener:

F. Kafka

An Frau Irma Weltsch(Prag,) 20. VII. 17

Liebe Frau Irma! Ihren Brief, der erst nach unserer Abreise (wir fuhren Mittwoch Mittag weg)ankam, habe ich erst jetzt bekommen; ich bin zwar schon gestern früh angekommen, war aber erstheute mittag im Geschäft, wo ihn die Kusine aufgehoben hatte. Daher also die verspätete Antwort.Die Tasche habe ich damals, kurz nachdem ich bei Ihnen gewesen war, in der Wohnung meinerSchwester gefunden. Unglücklich über den Verlust, ich bin so schmerzhaft geizig, ging ichgeradewegs von Ihnen in die doch schon einmal durchsuchte Wohnung, rutschte auf den Kniensystematisch jedes Stück Bodens ab und fand schließlich die Tasche ganz unschuldig unter einemKoffer liegen, wo sie sich klein gemacht hatte. Natürlich war ich auf diese Leistungaußerordentlich stolz und wäre schon deshalb am liebsten gleich zu Ihnen gefahren. Aber dannmußte ich es doch zuerst zuhause sagen, zuhause war aber wieder alle mögliche Abhaltung,nächsten Mittag sollten wir doch wegfahren, die Meldung bei Ihnen wurde also immer wiederverschoben, schreiben wollte ich nicht, weil ich doch selbst zu Ihnen gehn wollte und schließlichschrieb ich nicht einmal, weil es schon auch dafür zu spät wurde, ich überdies Max die Meldung fürSie übergab und mir außerdem sagte, daß Sie ebenso wie meine Braut und ich gar nicht ernstlichdaran geglaubt hatten, die Tasche könne bei Ihnen geblieben sein. Ich hatte ja auch Ihnengegenüber öfters gesagt, so wie es sich auch tatsächlich verhielt, daß meine Braut überzeugt sei, dieTasche beim Weggang aus Ihrer Wohnung noch gehabt zu haben, und daß ich eigentlich nur ausdem formalen Grunde, nichts versäumen zu wollen, nachfragen kam.Das wären meine Entschuldigungen. An Zahl genug, vielleicht sogar zu viel. Wäre nicht Ihr Briefda, würde ich mich fast schuldlos fühlen. Da Sie nun aber offenbar auch noch weiterhin an dasTäschchen gedacht und möglicherweise es gar noch gesucht haben, sind natürlich alleEntschuldigungen unzulänglich und ich muß mich darauf verlegen, Sie zu bitten, mir die Freude andem Wiederfinden der Tasche nicht ganz und gar dadurch zu verderben, daß Sie mir wegen meinerNachlässigkeit böse werden. Das wäre, trotzdem in der Tasche an 900 Kronen waren (das erklärtdie Schnelligkeit meiner ersten Mitteilung) ein ungeheuerlich hoher Finderlohn, den ich demglücklichen Zufall auszuzahlen hätte. Sie tun es nicht.

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Mit herzlichen GrüßenIhr Kafka

An Kurt WolffPrag, 27. Juli 1917

Verehrter Herr Kurt Wolff!Daß Sie über die Manuskripte so freundlich urteilen, gibt mir einigeSicherheit. Falls Sie eine Ausgabe dieser kleinen Prosa (jedenfalls kämen noch zumindest zweikleine Stücke hinzu: das in Ihrem Almanach enthaltene »Vor dem Gesetz« und der beiliegende»Traum«) jetzt für richtig halten, bin ich sehr damit einverstanden, vertraue mich hinsichtlich derArt der Ausgabe Ihnen völlig an, auch liegt mir an einem Ertrag augenblicklich nichts. DiesesLetztere wird sich allerdings nach dem Krieg ganz und gar ändern. Ich werde meinen Postenaufgeben (dieses Aufgeben des Postens ist überhaupt die stärkste Hoffnung, die ich habe), werdeheiraten und aus Prag wegziehn, vielleicht nach Berlin. Ich werde zwar, wie ich heute noch glaubendarf, auch dann nicht ausschließlich auf den Ertrag meiner literarischen Arbeit angewiesen sein,trotzdem aber habe ich oder der tief in mir sitzende Beamte, was dasselbe ist, vor jener Zeit einebedrückende Angst; ich hoffe nur, daß Sie, verehrter Herr Wolff mich dann, vorausgesetztnatürlich, daß ich es halbwegs verdiene, nicht ganz verlassen. Ein Wort von Ihnen, schon jetztdarüber gesagt, würde mir, über alle Unsicherheit der Gegenwart und Zukunft hinweg, doch vielbedeuten.Mit herzlichen Grüßen Ihr ergebener

Kafka

An Kurt WolffPrag, am 20. August 17

Sehr geehrter Herr Kurt Wolff! Um Sie nicht ein zweites Mal während Ihres Urlaubs zu stören,danke ich erst heute für Ihr letztes Schreiben. Was Sie darin zu meinen Ängstlichkeiten sagen, istüberaus freundlich und genügt mir für den Augenblick vollkommen.Als Titel des neuen Buches schlage ich vor: »Ein Landarzt« mit dem Untertitel: »KleineErzählungen«. Das Inhaltsverzeichnis denke ich mir etwa so:

Der neue AdvokatEin LandarztDer KübelreiterAuf der GallerieEin altes BlattVor dem Gesetz .Schakale und AraberEin Besuch im BergwerkDas nächste DorfEine kaiserliche BotschaftDie Sorge des HausvatersElf SöhneEin BrudermordEin TraumEin Bericht für eine Akademie

Mit besten Empfehlungen Ihr herzlich ergebenerF Kafka

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An Kurt WolffPrag, 4. September 1917

Verehrter Herr Wolff! Einen schöneren Vorschlag für den Landarzt konnte ich mir nicht wünschen.Aus Eigenem hätte ich gewiß nicht gewagt, nach jenen Lettern zu greifen, nicht mir, nicht Ihnenund nicht der Sache gegenüber, aber da Sie selbst es mir anbieten, nehme ich es mit Freude an.Dann wird wohl auch das schöne Format der Betrachtung an gewendet?Hinsichtlich der Strafkolonie besteht vielleicht ein Mißverständnis. Niemals habe ich aus ganzfreiem Herzen die Veröffentlichung dieser Geschichte verlangt. Zwei oder drei Seiten kurz vorihrem Ende sind Machwerk, ihr Vorhandensein deutet auf einen tieferen Mangel, es ist da irgendwoein Wurm, der selbst das Volle der Geschichte hohl macht. Ihr Angebot, diese Geschichte ingleicher Weise wie den Landarzt erscheinen zu lassen, ist natürlich sehr verlockend und kitzelt so,daß es mich fast wehrlos macht - trotzdem bitte ich, die Geschichte, wenigstens vorläufig, nichtherauszugeben. Stünden Sie auf meinem Standpunkt und sähe Sie die Geschichte so an, wie mich,Sie würden in meiner Bitte keine besondere Standhaftigkeit erkennen. Im übrigen: Halten meineKräfte halbwegs aus, werden Sie bessere Arbeiten von mir bekommen, als es die Strafkolonie ist.Meine Adresse ist von nächster Woche ab:Zürau, Post Flöhau in Böhmen.Die schon seit Jahren mit Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit angelockte Krankheit ist nämlichplötzlich ausgebrochen. Es ist fast eine Erleichterung. Ich fahre für längere Zeit aufs Land,vielmehr ich muß fahren.Mit herzlichen Grüßen Ihr immer ergebener

F KafkaAn Max Brod und Felix Weltsch

(Prag,) 5. 9. 1917Lieber Max, ein Durchschlagsbrief für Dich und Felix: Die erste Erklärung für meine Mutter warerstaunlich leicht. Ich sagte einfach nebenbei, ich werde vielleicht vorläufig keine Wohnungmieten, ich fühle mich nicht recht wohl, etwas nervös, und werde lieber versuchen, einen größerenUrlaub zu bekommen und dann zur O. fahren. Infolge ihrer grenzenlosen Bereitschaft, mir auf diegeringste Andeutung hin einen beliebigen Urlaub zu geben (falls es auf sie ankäme), fand sie inmeiner Erklärung nichts Verdächtiges, und so wird es auch wenigstens vorläufig bleiben, das giltauch für den Vater. Deshalb bitte ich Dich, falls Du zu jemandem von der Sache sprichst (an undfür sich ist es natürlich gar kein Geheimnis, mein irdischer Besitzstand hat sich eben auf der einenSeite um die Tuberkulose vergrößert, allerdings auch auf der andern Seite etwas verkleinert),gleichzeitig oder, falls es schon geschehen ist, nachträglich hinzuzufügen, daß er meinen Elterngegenüber von der Sache nicht spricht, selbst wenn er im Gespräch irgendwie herausgefordertwerden sollte. Wenn es so leicht ist, vorläufig eine Sorge von den Eltern abzuhalten, soll man esdoch gewiß versuchen.Noch einmal, ohne Durchschlag, danke ich Dir, Max, es war doch sehr gut, daß ich hingegangenbin und ohne Dich wäre es gewiß nicht geschehn. Du sagtest dort übrigens, ich wäre leichtsinnig,im Gegenteil, zu rechnerisch bin ich und dieser Leute Schicksal sagt schon die Bibel voraus. Aberich klage ja nicht, heute weniger als sonst. Auch habe ich es selbst vorausgesagt. Erinnerst Du Dichan die Blutwunde im »Landarzt«? Heute kamen Briefe von F., ruhig, freundlich, ohne jedeNachträglichkeit, so eben wie ich sie in meinen höchsten Träumen sehe. Schwer ist es jetzt, ihr zuschreiben.

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An Max Brod(Zürau, Mitte September 1917)

Lieber Max, am ersten Tag kam ich nicht zum Schreiben, weil es mir allzusehr gefiel, auch wollteich nicht übertreiben, wie ich es hätte tun müssen, ich hätte dem Bösen damit das Stichwortgegeben.Heute aber bekommt alles schon ein natürliches Aussehn, die innern Schwächen (nicht dieKrankheit. von der weiß ich vorläufig fast nichts) melden sich, aus dem Hof gegenüber kommtzeitweilig das gesammelte Geschrei der Arche Noah, ein ewiger Klempfner klempft, Appetit habeich keinen und esse zu viel, es gibt kein Abendlicht u. s. w. Aber das Gute ist doch weit in derÜberzahl, soweit ich es bis jetzt überblicke: Ottla trägt mich wirklich förmlich auf ihren Flügelndurch die schwierige Welt, das Zimmer (allerdings nach Nordost gehend) ist ausgezeichnet, luftig,warm und das alles bei fast vollkommener Hausstille; alles, was ich essen soll, steht in Fülle undGüte um mich herum (nur die Lippen krampfen sich dagegen, so geht es mir aber in den erstenVeränderungstagen immer) und die Freiheit, die Freiheit vor allem.Allerdings ist hier noch die Wunde, deren Sinnbild nur die Lungenwunde ist. Du mißverstehst es,Max, nach Deinen letzten Worten im Hausflur, aber ich mißverstehe es auch vielleicht und es gibt(so wird es auch bei Deinen innern Angelegenheiten sein) überhaupt kein Verständnis solchenDingen gegenüber, weil es keinen Überblick gibt, so verwühlt und immer in Bewegung ist dieriesige, im Wachstum nicht aufhörende Masse, Jammer, Jammer und gleichzeitig nichts anderes alsdas eigene Wesen, und wäre der Jammer endlich aufgeknotet (solche Arbeit können vielleicht nurFrauen leisten), zerfielen ich und Du.Jedenfalls verhalte ich mich heute zu der Tuberkulose, wie ein Kind zu den Rockfalten der Mutter,an die es sich hält. Kommt die Krankheit von der Mutter, stimmt es noch besser, und die Mutterhätte mir in ihrer unendlichen Sorgfalt, weit unter ihrem Verständnis der Sache, auch noch diesenDienst getan. Immerfort suche ich eine Erklärung der Krankheit, denn selbst erjagt habe ich siedoch nicht. Manchmal scheint es mir, Gehirn und Lunge hätten sich ohne mein Wissen verständigt.»So geht es nicht weiter« hat das Gehirn gesagt und nach fünf Jahren hat sich die Lunge bereiterklärt, zu helfen.Aber das Ganze ist auch in dieser Form ganz falsch, wenn ich will. Erkenntnis der ersten Stufe. Derersten Stufe jener Treppe, auf deren Höhe mir als Lohn und Sinn meines menschlichen (dannallerdings nahezu napoleonischen) Daseins das Ehebett ruhig aufgeschlagen wird. Es wird nichtaufgeschlagen werden und ich komme, so ist es bestimmt, nicht über Korsika hinaus.Es sind das übrigens nicht Zürauer Erkenntnisse, sie kommen noch von der Eisenbahnfahrt her, aufwelcher die Briefkarte, die ich Dir gezeigt habe, der schwerste Teil meines Gepäcks war. Ich werdeaber natürlich auch hier darüber nachzudenken nicht aufhören.Grüße alle und besonders auch Deine Frau vom Tartuffe. Sie hat keinen schlechten Blick, aber zukonzentriert, sie sieht nur den Kern; den Ausstrahlungen zu folgen, die ja eben den Kern fliehen, istihr zu mühsam.

Herzlichst Franz

An Oskar Baum(Zürau, Mitte September 1917)

Lieber Oskar, ich konnte nicht mehr kommen, nicht mehr hören. Übrigens muß man auch mit derKrankheit nicht überall herum laufen.Vorläufig bin ich hier sehr zufrieden und beginne mein neuesLeben nicht ohne Zuversicht. Gestern saß beim ersten Mittagessen ein Gegenbild von mir anmeinem Tisch. Ein wirklicher Wanderer. Ist 62 Jahre alt und wandert seit zehn Jahren. Im Gesichtüber dem gepflegten Kaiserbart rein und rosig. Sieht vom Tischrand aufwärts wie ein pensionierterhöherer Beamter aus. Ernährt sich seit zehn Jahren, von kleinen Arbeitspausen abgesehen,ausschließlich mit Betteln. Ist z.B. den ganzen letzten Winter gewandert, im gleichen Kleid, das er

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jetzt trägt (nur eine Weste, in der ihm jetzt zu warm geworden ist, hat er inzwischen verkauft) undhat kein wesentliches Rheuma, auch keine sonstige Krankheit. Nur im Kopf fühlt er in den letztenJahren eine gewisse Unordnung. Er wird oft ohne Grund traurig, verliert alle Lust zu allem, dannweiß er nicht, was er machen soll. Ich frage ihn, ob ihm der Glaube an Gott nicht helfen kann.Nein, der kann ihm nicht helfen, im Gegenteil, daher kommt ja das Spekulieren und die Traurigkeit.Man wird zu fromm erzogen, dann macht man sich solche Gedanken. Das Hauptunglück aber ist,daß er nicht geheiratet hat. Sorgen? Ja Sorgen hätte er dann auch, aber vor allem ein Zuhause,Freude an den Kindern und Ruhe im Kopf. Er hat einigemal Gelegenheit gehabt zu heiraten, aberseine Mutter, die bis zu seinem 52. Jahr gelebt hat, hat ihm immer vom Heiraten abgeraten. Auchdie zwei Schwestern und der Vater, mit denen zusammen er ein kleines Geschäft im Egerlandgeführt hat, haben ihm abgeraten. Und wenn alle einem abraten, verliert man die Lust. Und wennman nicht heiratet, fängt man zu trinken an, das hat er auch gemacht. Jetzt wandert er und oft findeter gute Leute. In Böhm. Leipa z.B. hat ihm einmal vor Jahren ein Advokat (also auch ein Dr., aberim Gegensatz zu mir schon ausstudiert) ein Mittagessen und zwei Kronen gegeben. In Zürau beimeiner Schwester war er schon vor ein paar Tagen, er ist jetzt zum zweiten Mal hergekommen,ohne es zu wollen. Er wandert ohne eigentlichen Plan (eine Karte hat er zwar, aber die Dörfer sinddort nicht angegeben), so geschieht es ihm oft, daß er im Kreis wandert. Es ist auch gleichgültig,die Leute erkennen ihn kaum jemals wieder.Er hat einen wirklichen Beruf, der keine Zeitverschwendung erlaubt. Kaum hat er den letztenBissen im Mund (durch Fragen bin ich ihm nicht lästig geworden, vielmehr sind wir einandermeistens stumm gegenübergesessen und ich habe mein Essen vor Verlegenheit nur im Geheimenhinuntergeschluckt), steht er auf und geht.Werdet Ihr uns das Bierrezept schicken, damit wir unsern Gästen etwas Gutes vorsetzen können?Vielleicht läßt sich dann auch etwas für Euch verschaffen.Herzliche Grüße.

FranzDie Wohnung oben nehme ich nicht. Abgesehen davon, daß ich vorläufig keine brauche und dieZukunft unsicher ist, scheint mir die Wohnung auch zu groß, zu niedrig gelegen, zu sehr in dieStraße und in Werkstätten eingebaut und zu melancholisch.

An Max Brod(Zürau, Mitte September 1917)

Lieber Max, dieser feine Instinkt, den ich ebenso habe wie Du! Ein Geier, Ruhe suchend, fliege ichoben und lasse mich schnurgerade in dieses Zimmer hinunter, dem gegenüber ein Klavier, wild diePedale schlagend, jetzt spielt, gewiß das einzige Klavier weit im Land. Aber ich werfe es, leider nurbildlich, zur Mischung in das viele Gute, das mir hier gegeben wird.Unser Briefwechsel kann sehr einfach sein; ich schreibe Meines, Du Deines, und das ist schonAntwort, Urteil, Trost, Trostlosigkeit, wie man will. Es ist das gleiche Messer, an dessen Schärfesich unsere Hälse, armer Tauben Hälse, einer hier, einer dort, zerschneiden. Aber so langsam, soaufreizend, so Blut sparend, so Herz quälend, so Herzen quälend.Das Moralische ist hiebei vielleicht das Letzte, oder vielmehr nicht einmal das Letzte, das Blut istdas Erste und das Zweite und das Letzte. Es handelt sich darum, wieviel Leidenschaft da ist,wieviel Zeit nötig ist, um die Herzwände genügend dünn zu klopfen, d.h. wenn die Lunge demHerzen nicht zuvor kommt.F. hat sich mit ein paar Zeilen angekündigt. Ich fasse sie nicht, sie ist außerordentlich, oder besser:ich fasse sie, aber kann sie nicht halten. Ich umlaufe und umbelle sie, wie ein nervöser Hund eineStatue oder, um das ebenso wahre Gegenbild zu zeigen: ich sehe sie an wie ein ausgestopftes Tier

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den ruhig in seinem Zimmer lebenden Menschen ansieht. Halbwahrheiten, Tausendstel-Wahrheiten. Wahr ist nur, daß F. wahrscheinlich kommt.Es bedrängt mich so vieles, ich finde keinen Ausweg. Ist es falsche Hoffnung, Selbsttäuschung, daßich immer hier bleiben wollte, ich meine, auf dem Land, weit von der Bahn, nahe demunauflösbaren Abend, der herunterkommt, ohne daß sich jemand oder etwas im geringsten gegenihn wehrt? Wenn es Selbsttäuschung ist, dann lockt mich damit mein Blut zu einer neuenVerkörperung meines Onkels, des Landarztes, den ich (in aller und allergrößter Teilnahme)manchmal den »Zwitscherer« nenne, weil er einen so unmenschlich dünnen, junggesellenmäßigen,aus verengter Kehle kommenden, vogelartigen Witz hat, der ihn nie verläßt. Und er lebt so auf demLand, unausreißbar, zufrieden, so wie einen eben ein leise rauschender Irrsinn zufrieden machenkann, den man für die Melodie des Lebens hält. Ist aber das Verlangen nach dem Lande keineSelbsttäuschung, dann ist es etwas Gutes. Darf ich das aber erwarten, mit vierunddreißig Jahren,höchst fraglicher Lunge und noch fraglicheren menschlichen Beziehungen? Landarzt istwahrscheinlicher; willst Du Bestätigung, ist gleich der Fluch des Vaters da; wunderschönernächtlicher Anblick, wenn die Hoffnung mit dem Vater kämpft.Die Absichten (wir lassen inzwischen die Kämpfenden), die Du mit der Novelle hast, entsprechenganz meinem Wunsch. Die Novelle ist zu Großem bestimmt. Werden sich aber diesen Absichtengegenüber die doch immerhin leichtfertigen zwei ersten Kapitel behaupten können? MeinemGefühl nach in keiner Weise. Was sind es für drei Seiten, die Du geschrieben hast? Entscheiden sieim Ganzen etwas? Daß es Tycho widerlegen wird, ist ein Schmerz? Es wird ihn, da alles Wahreunwiderleglich ist, nicht widerlegen, nur niederwerfen vielleicht. Ist es aber, wie alleKriegsberichterstatter schreiben, nicht die noch immer beste Art des Angriffs: aufstehn, springen,niederwerfen? Ein Vorgang, der gegenüber der ungeheuren Bastion unaufhörlich wiederholtwerden muß, bis man im letzten Band der Gesamtausgabe glückselig müde niederfällt oder -ungünstigerenfalls - in den Knien bleibt.Das ist nicht traurig gemeint. Ich bin auch nicht wesentlich traurig. Mit Ottla lebe ich in kleinerguter Ehe; Ehe nicht auf Grund des üblichen gewaltsamen Stromschlusses, sondern des mit kleinenWindungen geradeaus Hinströmens. Wir haben eine hübsche Wirtschaft, in der es Euch, wie ichhoffe, gefallen wird. Ich werde einiges für Euch, Felix und Oskar zu sparen suchen, es ist nichtleicht, da nicht viel hier ist und die vielen Familienesser das erste Anrecht haben. Aber etwas wirdes doch, muß aber persönlich abgeholt werden.Ja, noch meine Krankheit. Kein Fieber, Gewicht bei der Ankunft 61 1/2, habe wohl schonzugenommen. Schönes Wetter. Lag viel in der Sonne. Entbehre vorläufig die Schweiz nicht, überdie Du übrigens nur vorjährige Nachrichten haben kannst.Alles Gute, irgendeinen vom Himmel herunterregnenden Trost!

Franz(Zwei Randbemerkungen:)Brauchst Du einen Briefvermittler, kann ich mein Schreibmaschinen-fräulein sehr gut dazu anleiten.Du hast doch wohl schon einen Brief von mir. Ein Briefweg dauert drei bis vier Tage.

An Oskar Baum(Zürau, Mitte September 1917)

Lieber Oskar, besten Dank für das Bierrezept, Wir werden es bald ausprobieren und die Gegenddamit zu bezaubern suchen. Man muß bezaubern, wenn man etwas Wesentliches bekommen will.Für den hiesigen Gebrauch ist alles in ziemlicher Fülle da, aber um viel aufzusammeln, dafür reichtes nicht, besonders wenn sich solche Schmarotzer wie ich, der in der ersten Woche ein Kilogrammzugenommen hat (die Wage behauptet es), hier festgesetzt haben. Einiges werde ich aber für Euch,Felix und Max doch zusammensparen, Die Prager Verbindungen haben mich allerdings alle im

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Stich gelassen, besonders der große Lieferant. Irgendeine Anzeige schwebt über ihm, er muß sichdeshalb einige Zeit im Dunkel halten.Mit meinem Leben hier bin ich zufrieden, wie euch schon vielleicht Max erzählt hat. Ruheallerdings, nach der Du besonders fragst, gibt es auch hier nicht und ich werde aufhören, sie imLeben noch zu suchen. Mein Zimmer ist zwar in einem stillen Haus, aber gegenüber ist das einzigeKlavier von Nordwestböhmen untergebracht, in einem großen Hof, dessen Tiere einanderüberschreien. Fast alle Gespanne des Ortes fahren früh an mir vorüber und alle Gänse laufen dortzum Teich. Aber das Schlimmste sind zwei Klopfer irgendwo, einer klopft auf Holz, einer aufMetall, unermüdlich besonders der erste, er arbeitet über seine Kräfte, er übernimmt sich, aber ichkann kein Mitleid mit ihm haben, wenn ich ihm von sechs Uhr früh an zuhören muß. Hört er aberfür ein Weilchen wirklich auf, ist es nur, um auch den Metallklopfer vorzulassen.Trotzdem und trotz einigem andern, ich will nicht nach Prag, ganz und gar nicht.Herzlichste Grüße Dir und Deiner lieben Frau von

FranzIhr habt doch wohl schon einen Brief von mir? Die Postverbindung ist hier nicht nur langsam (einBrief von Prag kommt erst in drei bis vier Tagen an), sondern auch unsicher.

An Max Brod(Zürau, etwa Mitte September 1917)

Liebster Max, wie hast Du Deinen letzten Reisewunsch auf der Treppe - erinnerst Du Dich? �gemeint? Wenn Du es als Prüfung gemeint hast, ich fürchte, daß ich sie nicht bestehe. Mich härtenPrüfungen nicht ab, ich bekomme die Schläge nicht auf meinem Platz, sondern laufe hin undverschwinde unter ihnen. Soll ich dafür danken, daß ich nicht heiraten konnte? Ich wäre dann sofortgeworden, was ich jetzt allmählich werde: toll. Mit kürzeren und kürzeren Erholungspausen, indenen nicht ich, sondern das Andere Kräfte sammelt.Das Merkwürdige, worauf ich doch endlich aufmerksam werden könnte, ist, daß alle Menschen zumir über die Maßen gut und, wenn ich will, gleich aufopfernd sind, von dem Für mich niedrigstenbis zu den höchsten. Ich habe daraus auf die Menschennatur im allgemeinen geschlossen und ichdadurch noch mehr bedrückt gefühlt. Aber es ist wahrscheinlich unrichtig, sie sind durchwegs sonur zu demjenigen, dem Menschen überhaupt nicht helfen können. Ein besonderer Geruchssinnzeigt ihnen diesen Fall an. Auch zu Dir, Max, sind viele (nicht alle) Menschen gut und aufopfernd,aber Du zahlst auch unaufhörlich der Welt dafür, es ist ein regelrechter Geschäftsverkehr (darumkannst Du auch menschlich Dinge ausbalancieren, an die ich kaum rühren darf), ich aber zahlenichts oder zumindest nicht den Menschen.Beiliegend ein Brief des Vater Janowitz, immerhin erfreulich, er verdient wohl eine freundlicheAntwort, der Brief wurde mir erst jetzt nachgeschickt. Grüße bitte Felix und Oskar. Wie geht esdenn in Palästina zu!

Franz

An Max Brod(Ansichtskarte (Zürau), Mitte September 1917)

Lieber Max, vielen Dank für die Sendung. Der Brief des Mädchens (jetzt haben gerade Mäuse, ichbin in Ottlas Zimmer, einen unverschämten Krawall gemacht) ist bei weitem das Schönste. DieseUmsicht, Ruhe, Überlegenheit, Weltlichkeit, es ist das großartig und gräßlich Frauenhafte. - Ichschicke Dir alles nächstens zurück. - Auf der Ansicht habe ich meine Fenster umrahmt, das HausOttlas steht hinter dem angezeichneten Baum. In Wirklichkeit ist aber alles noch besser, gar in derjetzigen Sonne.

Franz

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Eben Telegramm von F., kommt nachmittag.(Beischrift:) Wir werden Sie von der Bahn holen, mit Wagen sogar. Sie würden sonst nachFranzens Zeichen in das Haus des Herrn Feigl gehen, statt zu uns. Unser Haus werden Sie, bis Siekommen, selber anschauen und ich zeichne es nicht an.

Ottla Kafka

An Felix Weltsch(Zürau, 22. September 1917)

Lieber Felix, das scheint ein Mißverständnis gewesen zu sein. Wir haben Dich d.h. Eucheingeladen, um Euch hier zu haben, nicht damit Ihr das Nichtviele wegträgt, was es hier gibt.Wurde etwas Derartiges angedeutet, sollte es nur Verlockung sein. Die Hauptschwierigkeit schienmir in der Beschaffung des Urlaubs zu liegen, aber gerade diese Schwierigkeit nimmst Du amleichtesten. Schlafgelegenheit gibt es für beide. Zu haben ist aber tatsächlich nicht viel. Für dieörtlichen Bedürfnisse und den zugereisten Kranken reicht es vorläufig, es gibt sogar eine gewisseFülle, aber abziehn läßt sich sehr wenig und nur allmählich. Jedenfalls wird aber etwas für Euchaufgespart werden.Vor der Übersiedlung stehe ich wirklich stramm, vor wie viel Geringerem versage ich. Die Teekurgefällt mir nicht, aber mit meiner Lunge darf ich vielleicht nichts mehr in Gesundheitssachensagen. Nur das eine, daß zu dieser Kur ein Jakett gehört, in dessen Hintertasche halb sichtbar mandie Thermosflasche steckt.Für welchen Klub galt die Einladung? Den jüdischen doch? Hältst Du einmal einen öffentlichenVortrag und wird er rechtzeitig angezeigt, wirst Du sogar einen Zuhörer haben, der eigens aus derProvinz kommt, vorausgesetzt allerdings, daß er noch transportabel ist.Vorläufig bin ichs zweifellos, habe ein Kilogramm in der ersten Woche zugenommen und fühle dieKrankheit in ihrer Anfangserscheinung mehr als Schutzengel denn als Teufel. Aber wahrscheinlichist gerade die Entwicklung das Teuflische an der Sache und vielleicht erscheint dann im Rückblickdas scheinbar Engelhafte als das Schlimmste.Gestern kam ein Brief von Dr. Mühlstein (ich hatte ihm erst brieflich mitgeteilt, daß ich beimProfessor P. gewesen bin, legte auch eine Abschrift des Gutachtens bei), in welchem es unteranderem heißt: Besserung (!) können Sie sicher erwarten, allerdings wird sie nur in längernZeitintervallen zu konstatieren sein.So haben sich allmählich meine Aussichten bei ihm getrübt. Nach der ersten Untersuchung war ichfast ganz gesund, nach der zweiten war es sogar noch besser, später ein leichter Bronchialkatarrhlinks, noch später "um nichts zu verkleinern und nichts zu vergrößern« Tuberkulose rechts undlinks, die aber in Prag und vollständig und bald ausheilen wird, und jetzt schließlich kann icheinmal, einmal Besserung sicher erwarten. Es ist, als hätte er mir mit seinem großen Rücken denTodesengel, der hinter ihm steht, verdecken wollen und als rücke er jetzt allmählich beiseite. Michschrecken (leider?) beide nicht.Mein Leben hier ist ausgezeichnet, wenigstens bei dem schönen Wetter bisher. Ich habe zwar keinsonniges Zimmer, aber einen großartigen Sonnenplatz zum Liegen, Eine Anhöhe oder vielmehreine kleine Hochebene in der Mitte eines weiten halbkreisförmigen Kessels, den ich beherrsche.Dort liege ich wie ein König, mit den begrenzenden Höhenzügen in gleicher Höhe etwa. Dabeisieht mich infolge vorteilhafter Anlage der nächsten Umgebung kaum irgend jemand, was bei derkomplizierten Zusammenstellung meines Liegestuhles und bei meiner Halbnacktheit sehrangenehm ist.Nur sehr selten steigen am Rand meiner Hochebene ein paar oppositionelle Köpfe auf- und rufen:»Gehns vom Bänkel runter!« Radikalere Zurufe kann ich wegen des Dialekts nicht verstehn.Vielleicht werde ich noch Dorfnarr werden, der gegenwärtige, den ich heute gesehen habe, lebteigentlich wie es scheint in einem Nachbardorf und ist schon alt.

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Mein Zimmer ist nicht so gut wie dieser Platz, nicht sonnig und nicht ruhig. Aber gut eingerichtetund es wird Euch gefallen, denn dort würdet Ihr schlafen. Ich kann sehr gut in einem andernZimmer schlafen, wie ich z.B. gestern getan habe, als F. hier war.Wegen F. habe ich eine bibliothekarische Bitte, Du kennst unsern alten »bis«-Streit. Nun habe ichsie mißverstanden, Sie meint, »bis« könne zwar als Konjunktion verwendet werden, aber nur in derBedeutung »solange bis«. Man könne deshalb z.B. nicht sagen : »Bis Du herkommst, werde ich Dirfünfhundert Kilogramm Mehl geben«. (Still, es ist nur ein grammatikalisches Beispiel.) Willst Dubitte nach dem Grimm (ich habe die Beispiele schon vergessen) oder nach andern Büchernentscheiden, ob F. recht hat. Die Sache ist nicht unwichtig zur Charakterisierung meinerDoppelstellung ihr gegenüber als eines Erd- und Höllenhundes.Übrigens noch eine Bitte, die gut anschließt: Im zweiten Band der »krankhaften Störungen desTrieb- und Affektlebens (Onanie und Homosexualität)« von Dr. Wilhelm Steke1 oder so ähnlich(Du kennst doch diesen Wiener, der aus Freud kleine Münze macht), stehn fünf Zeilen über die»Verwandlung«. Hast Du das Euch, dann sei so freundlich und schreib es mir ab.Und, es hört nicht auf, noch eine Bitte, aber die letzte: Ich lese hier fast nur Tschechisch undFranzösisch und ausschließlich Selbstbiographien oder Briefwechsel, natürlich halbwegs gutgedruckt. Könntest Du mir je einen derartigen Band borgen? Die Auswahl überlasse ich Dir. Es istfast alles derartige, wenn es nicht allzu begrenzt militärisch, politisch oder diplomatisch ist, fürmich sehr ergiebig. Die tschechische Auswahlmöglichkeit wird wahrscheinlich besonders kleinsein, zudem habe ich jetzt vielleicht das beste dieser Bücher, eine Briefwechselauswahl der Bo�enaNìmcová, unerschöpflich für Menschenerkenntnis, gelesen.Wo hält jetzt Dein politisches Buch?Viele Grüße

FranzEs fällt mir ein: Das Liebesleben der Romantik wäre auch nicht übel. Aber die obigen zwei Büchersind wichtiger. Ist Kaution nötig, lasse ich sie erlegen. Die vier Bände (Steinerne Brücke und Prag)hast Du wohl schon bekommen. - Wenn Du mir dann einmal schreibst, daß Du die Bücher hast,holt sie jemand aus unserem Geschäft und ich bekomme sie in einem Paket, das man mir von Zeitzu Zeit schickt.Ottla ist seit gestern in Prag, sonst hätte sie auch geschrieben. Die durchstrichenen Worte auf dervorigen Seite sind der Anfang einer Frage gewesen, die ich unterlassen habe, weil zu viel rohefachmännische Neugier darin gewesen wäre. Jetzt da ich es eingestanden habe, ist es schon besserund ich kann fragen : Was weißt Du von Robert Weltsch?

An Max Brod(Zürau, Ende September 1917)

Liebster Max, beim ersten Lesen Deines Briefes war ein Berliner Unterton drin, beim zweiten aberhat er schon ausmusiziert und Du warst es. Ich habe immer gedacht, von der Krankheit werde Zeitzu reden sein, bis es Zeit sein wird, aber da Du es willst: Ich habe Messungsstichproben gemachtund bin absolut fieberfrei, es gibt also keine Kurven, auch der Professor hat doch nach demVorzeigen der Daten der ersten Woche vorläufig jedes Interesse an der Sache verloren. - KalteMilch zum Frühstück. Der Professor hat (bei Verteidigungen wird mein Gedächtnis majestätisch)gesagt, die Milch solle entweder eiskalt oder heiß getrunken werden. Da warmes Wetter ist, istdoch gegen die kalte Milch nichts zu sagen, besonders, da ich an sie gewöhnt bin und unterUmständen einen halben Liter kalte Milch und höchstens einen viertel Liter warme vertrage. -Unabgekochte Milch. Ungelöste Streitfrage. Du denkst, die Bazillen bekämen Verstärkung, ichdenke, die Sache verlaufe nicht so rechnerisch und unabgekochte Milch kräftige mehr. Aber ich binnicht eigensinnig, trinke auch abgekochte und werde, sobald es kälter wird, nur warme oder saureMilch trinken. - Keine Zwischenmahlzeit. Nur in der Anfangszeit, ehe die Mästung in Gang kam,

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oder dann, wenn ich gar keine Lust dazu habe, sonst Vormittag und Nachmittag ein viertel Litersauerer Milch. Noch öfters essen kann ich nicht; das Leben (im allgemeinen) ist traurig genug. -Keine Liegekur? Ich liege täglich etwa acht Stunden. Zwar nicht auf einem eigentlichen Liegestuhl,aber auf einem Apparat, der mir bequemer ist als die vielen Liegestühle meiner Erfahrung. Es istein alter breiter Polsterstuhl mit davorgestellten zwei Schemeln. Diese Kombination istausgezeichnet, wenigstens jetzt, da ich keine Decken brauche. Denn einpacken? Ich liege doch inder Sonne und bedauere, nicht auch die Hose ausziehn zu können, die während der letzten Tagemein einziges Kleidungsstück war. Ein wirklicher Liegestuhl ist schon auf dem Weg. - Zum Arztfahren. Wann habe ich denn gesagt, daß ich nicht zum Arzt fahren werde? Ungern werde ichfahren, aber fahren werde ich. - Schnitzer hat nicht geantwortet. - Du meinst, ich beurteile dieKrankheit für die Zukunft zu schwer? Nein. Wie könnte ich das, da mir ihre Gegenwart so leichtwird und hier das Gefühl am stärksten entscheidet. Sage ich einmal etwas Derartiges, so ist es nurleere Affektation, an der ich in armen Zeiten so reich bin, oder aber es spricht dann die Krankheitstatt meiner, weil ich sie darum gebeten habe. Sicher ist nur, daß es nichts gibt, dem ich mich mitvollkommenerem Vertrauen hingeben könnte, als der Tod.Über die lange Vorgeschichte und Geschichte von F.´s Besuch sage ich nichts, denn auch überDeine Sache stehn bei Dir nur allgemeine Klagen. Aber Klagen, Max, sind doch selbstverständlich,erst der Kern läßt sich knacken.Recht hast Du, daß es nur von der Perspektive abhängt, ob sich Unentschlossenheit oder etwasanderes zeigt. Auch ist man in der Unentschlossenheit immer Neuling, es gibt keine alteUnentschlossenheit, denn die hat immer die Zeit zermahlen. Merkwürdig und lieb zugleich, daß Dumeinen Fall nicht einsiehst. Ich dürfte noch viel besser von F. sprechen und sollte es auch - unddieser durchaus für Lebenslänge gebaute Fall verschwände doch nicht. Andererseits aber getraueich mich ganz und gar nicht zu sagen, ich wüßte was in Deiner Lage für mich zu tun wäre.Ohnmächtig wie der Hund, der jetzt draußen bellt, bin ich in meinem wie in Deinem Fall. Nur mitder kleinen Wärme, die ich in ~r habe, kann ich beistehn, sonst nichts.Gelesen habe ich einiges, aber gegenüber Deinem Zustand verdient es kein Wort. Höchstens eineAnekdote aus Stendhal, die auch in der »Education« stehn könnte. Er war als junger Mensch inParis, untätig, gierig, traurig, unzufrieden mit Paris und mit allem. Eine verheiratete Frau aus demBekanntenkreis des Verwandten, bei dem er wohnte, war manchmal freundlich zu ihm. Einmal ludsie ihn ein, mit ihr und ihrem Liebhaber ins Louvre zu gehn. (Louvre? ich bekomme Zweifel. Nurirgend etwas Derartiges.) Sie gingen. Als sie aus dem Louvre treten, regnet es stark, überall ist Kot,der Weg nach Hause ist sehr weit, man muß einen Wagen nehmen. In einer seiner jetzigen Launen,deren er nicht Herr ist, weigert er sich mitzufahren und macht den trostlosen Weg zu Fuß allein;ihm ist fast zum Weinen, als ihm einfällt, daß er, statt in sein Zimmer zu gehn, dieser Frau, die ineiner nahen Gasse wohnt, einen Besuch machen könnte. Ganz zerstreut steigt er hinauf. Natürlichfindet er eine Liebesszene zwischen der Frau und dem Liebhaber. Entsetzt ruft die Frau: »UmGotteswillen, warum sind Sie nicht mit in den Wagen gestiegen?« Stendhal rennt hinaus. - Imübrigen hat er das Leben gut zu führen und zu wenden verstanden.

FranzNächstens bitte schreib vor allem von Dir.

An Max Brod(Zürau, Ende September 1917)

Lieber Max,Deine zweite Drucksachensendung bekam ich nur zufällig, der Bote hatte sie bei einem beliebigenBauer liegen gelassen. Die Postzustellung ist hier sehr unsicher, auch die Bestellung meiner Briefe(vielleicht trägt dazu bei, daß unser Postort nicht einmal Bahnstation ist), es wäre gut, Dunummeriertest die Postsachen, durch Reklamieren bekommt man dann das Verlorene doch. Um die

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letzte Sendung wäre besonders schade gewesen; die chassidischen Geschichten im Jüdischen Echosind vielleicht nicht die besten, aber alle diese Geschichten sind, ich verstehe es nicht, das einzigeJüdische, in welchem ich mich, unabhängig von meiner Verfassung, gleich und immer zuhausefühle, in alles andere werde ich nur hineingeweht und ein anderer Luftzug bringt mich wieder fort.Ich lasse mir die Geschichten vorläufig hier, wenn Du nichts dagegen hast.Warum hast Du die Bitte des Jüdischen Verlages oder gar die Bitte des Dr. J. abgelehnt? Es istnatürlich ein großes Verlangen und Dein gegenwärtiger Zustand ein Einwand, aber reicht das zurRechtfertigung der Ablehnung aus? - Die Aufsatzsammlung willst Du wohl nicht, weil alles für»Esther« bestimmt ist?Löwy schreibt mir aus einem Budapester Sanatorium, wo er für drei Monate untergebracht ist. Erschickt mir den Anfang des Aufsatzes für den »Juden«. Ich halte ihn für sehr brauchbar, abernatürlich erfordert er eine kleine grammatikalische Bearbeitung und diese wieder eine unmöglichzarte Hand. Ich werde Dir die Sache in Schreibmaschinenschrift (es ist ganz kurz) nächstens zurBeurteilung vorlegen. Beispiel für die Schwierigkeiten : Im Publikum des polnischen Theaters siehter zum Unterschied von jenem des jüdischen Theaters: frackierte Herren und neglegierte Damen.Ausgezeichneter läßt sich das nicht sagen, aber die deutsche Sprache weigert sich. Und derartigesist vieles; die Blender leuchten umso stärker, als ja seine Sprache zwischen Jiddisch und Deutschschwankt und mehr zum Deutschen neigt. Hätte ich Deine Übersetzungskraft!

FranzVon den Rebhühnern ein Paar Dir, ein Paar Felix. Guten Appetit.

An Oskar Baum(Zürau, Anfang Oktober 1917)

Lieber Oskar, die Reise hierher ist erstaunlich einfach, man fährt nach Michelob, und zwar vorsieben Uhr früh vom Staatsbahnhof mit dem Schnellzug und ist nach neun Uhr hier, oder um zweiUhr mit dem Personenzug und kommt um halb sechs abends an. Auf telegraphische Verständigunghin wird man von uns mit unsern Pferden abgeholt und ist in etwa einer halben Stunde in Zürau.Die Reise kann sowohl als Tagesausflug gemacht werden (Ankunft in Prag vor 10 Uhr abends)oder für länger, denn in meinem Zimmer sind zwei ausgezeichnete Nachtlager, ich schlafe indessenin einem andern Zimmer, das so gut ist, daß ich es zu meiner ständigen Wohnung machen würde,wenn es einen Ofen hätte. Auch für Milch und Zugehör wäre genügend vorgesorgt und selbst fürein wenig Fortzutragendes.Trotzdem - ich kann Euch nicht mit freiem Herzen raten, zu kommen. In der ersten Woche,vielleicht auch noch in der zweiten, war es anders, ich hätte Euch alle hier haben wollen, und wennich nicht jeden Einzelnen um den Besuch gebeten habe, so nur deshalb, weil es mir einerseitsselbstverständlich schien, daß ihr alle kommen müßtet, und andrerseits die Post, die hier die Gestalteines launischen unzuverlässigen Burschen hat, einen viel zu langen Weg macht (Zürau-Prag-Zürau= 8 Tage oder überhaupt nicht), um so dringende Nachrichten austragen zu können. - Jetzt aber, inder dritten Woche, wird es hier anders und ich wüßte nichts, was verdienen würde, daß man dazueinlädt. Für mich bleibt Zürau allerdings das alte und ich gedenke mich hier so festzubeißen, daßman zuerst mein Gebiß wird überwältigen müssen, ehe man mich fortbringt (nein, das istübertrieben und ich hatte nicht den ganzen Überblick, als ich das schrieb). Immerhin für mich ist eshier gut, sonst aber gibt es einiges, was niemandem, selbst Euch, die Ihr so willig seid, gefallenkönnte, unter anderem ich selbst oder vielleicht gar nicht »unter anderem«, sondern nur ich selbst.Und so bitte ich Euch, zu denen ich offen sprechen darf, fast so herzlich, wie ich Euch frühergebeten hätte zu kommen: kommt jetzt nicht.Das hat natürlich nichts mit meiner ärztlich bewilligten Krankheit zu tun. Ob es mir besser geht alsfrüher, weiß ich gar nicht, d.h., es geht mir so gut wie früher, ich hatte bisher kein Leiden, das soleicht zu tragen und so zurückhaltend gewesen wäre, es müßte denn sein, daß gerade dies

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verdächtig scheinen könnte, was es ja vielleicht auch ist. Ich sehe so gut aus, daß mich die Mutter,die Sonntags hier war, auf dem Bahnhof gar nicht erkannte (nebenbei: meine Eltern wissen von derTuberkulose nichts; nicht wahr, Ihr seid vorsichtig, wenn Ihr zufällig mit ihnen zusammenkommensolltet), in vierzehn Tagen habe ich eineinhalb Kilogramm zugenommen (morgen wird zum drittenMal gewogen) und schlafe sehr verschiedenartig, aber der Durchschnitt ist nicht der schlimmste. -Übrigens komme ich nächstens (ich sage »nächstens« und meine »Ende des Monats«, ein solcherHerrscher über die Zeit bin ich geworden) nach Prag und Ihr werdet alles, das Schlechte und dasGute, selbst überprüfen können.Von dem neuen Rezept, das Ihr uns so freundlich einschickt, sind wir beschämt. Auch diese Sachehat eine Zürauer Entwicklung durchgemacht. Zuerst war man entzückt und das Fehlen der Korkeund der Korkmaschine schien ein ganz unwesentliches Hindernis. Dann hat sich das Entzückenverloren und es ist mir die Überzeugung geblieben, daß die Korke und die Korkmaschine auf keineWeise zu beschaffen sein werden. Jetzt schreibt Ihr, daß man die Flaschen auch versiegeln kann.Das könnte die Sache wieder ein wenig beleben. Doch ist allerdings jetzt gerade in der Wirtschaftviel zu tun und Ottla ist in fortwährender großartiger Arbeit.Eine meiner Hauptsorgen, die sich allerdings nur in Träumen auf dem Liegestuhl äußert, ist: wieich Euch etwas zu essen verschaffen könnte. Es ist leider wenig zu haben und auf dieses Wenigesind wir, die wir weder Hübner noch Kühe noch genügend Korn haben, angewiesen und was wirdarüber hinaus an Butter und Eiern zusammenbekommen, danach schreit die Prager Familie. WolltIhr Wild? Vorläufig habe ich für Euch vier Kilogramm schönen Mehls aufgehoben, die gehörenEuch und Ihr bekommt sie spätestens, sobald ich nach Prag komme ; ich weiß, im Dunkel deskommenden Winters ist das nur ein winziges Licht.

An Elsa und Max Brod(Zürau, Anfang Oktober 1917)

Liebe Frau Elsa, Sie wundern sich, daß es Ihnen nicht gelingt, den Sinn der »Lucerna«herauszusagen? Darüber kann man sich doch nur freuen. Das, was dort geschieht, geschiehtgewissermaßen auf einer Fensterbrüstung der Menschheit; hält man sich zu lange dort oben auf,muß man fallen ; aber dann ist es doch besser, herein ins Zimmer zu fallen, als hinaus ins Leere. Esist durchaus ein Äußerstes und W. vertritt es. Auf dem Bild ist er entwaffnend, selbst das Vor-sich-Ausspeien übernimmt er noch, wie seine Lippenstellung in Bild und Wirklichkeit zeigt; Sie deutendas scheinbare Lächeln falsch. Übrigens ist er nicht ganz und gar einzig, wie Sie zu glaubenscheinen. Ich will ihn durch den Vergleich mit einem Schwein gar nicht beschimpfen, aber anMerkwürdigkeit, Entschiedenheit, Selbstvergessenheit, Süßigkeit und was noch zu seinem Amtgehört, steht er in der Weltordnung vielleicht doch mit dem Schwein in einer Reihe. Haben Sie einSchwein in der Nähe so genau angesehn wie W.? Es ist erstaunlich. Das Gesicht, einMenschengesicht, bei dem die Unterlippe über das Kinn hinunter, die Oberlippe, unbeschadet derAugen- und Nasenlöcher, bis zur Stirn hinaufgestülpt ist. Und mit diesem Maul-Gesicht wühlt dasSchwein tatsächlich in der Erde. Das ist ja an sich selbstverständlich und das Schwein wäremerkwürdig, welches das nicht täte, der Sie müssen das mir, der es jetzt öfters neben sich gesehnhat, glauben: noch merkwürdiger ist es, daß es das tut. Man sollte doch meinen, um irgendeineFeststellung vorzunehmen, genüge es, wenn man das Fragliche mit dem Fuß betastet oder dazuriecht oder im Notfall es in der Nähe beschnuppert - nein, das alles genügt ihm nicht, vielmehr dasSchwein hält sich damit gar nicht auf, sondern fährt gleich und kräftig mit dem Maul hinein, und istes in etwas Ekelhaftes hineingefahren - rings um mich liegen die Ablagerungen meiner Freunde,der Ziegen und Gänse - schnauft es vor Glück. Und - das vor allem erinnert mich irgendwie an W. -das Schwein ist am Körper nicht schmutzig, es ist sogar nett (ohne daß allerdings die Nettigkeitappetitlich wäre), es hat elegante, zart auftretende Füße und beherrscht seinen Körper irgendwie auseinem einzigen Schwung heraus, - nur eben sein edelster Teil, das Maul, ist unrettbar schweinisch.

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Sie sehen, liebe Frau Elsa, auch wir in Zürau haben unsere "Lucerna« und ich wäre glücklich, wennich Ihnen zum Dank für das W.-Bild einen Schinken unseres Schweinchens schicken könnte, abererstens gehörts mir nicht und zweitens nimmt es bei allem Wohlleben so langsam zu, daß es zuunserer (Ottlas und meiner) Freude noch lange nicht geschlachtet werden kann.Mir geht es recht gut zwischen all den Tieren. Heute nachmittag habe ich Ziegen gefüttert. Aufmeinem Platz stehn einige Sträucher, die schmackhaftesten Blätter sind für die Ziegen zu hochoben und da habe ich den Ziegen die Zweige niedergehalten. Diese Ziegen also - sind äußerlichvollkommen jüdische Typen, meistens Ärzte, doch gibt es auch Annäherungen an Advokaten,polnische Juden und vereinzelt auch junge Mädchen. Besonders Dr. W., der Arzt, der michbehandelt, ist stark unter ihnen vertreten. Das aus drei jüdischen Ärzten bestehende Konsilium, dasich heute gefüttert habe, war so mit mir zufrieden, daß es sich abend kaum forttreiben lassen wollte,um gemolken zu werden. So enden friedlich ihre und meine Tage.Beschämen Sie mich nicht durch die Erwähnung des Mehls. Es ist mein ernstliches Leid, daß ichnichts Wesentliches für Sie verschaffen kann, obwohl es bei einiger Geschicklichkeit möglich seinmüßte.

Mit herzlichsten Grüßen Ihr Franz K.Ich lese den Brief noch einmal, eigentlich kein Brief an eine Frau, W. nicht ich ist der Schuldige.Lieber Max, vielen Dank für die »Ziehtochter«, sie wird mein morgiges Liegestuhlvergnügen sein.Sonderbar die Nachricht von Schreiber. Übrigens war, wie ich jetzt lese, auch Flauberts Vatertuberkulös, es mag sich also damals manches Jahr im Geheimen um die Frage gehandelt haben, obdie Lunge des Kindes flöten geht (ich schlage diesen Ausdruck für »Rasseln« vor) oder ob esFlaubert wird. Was Du für Grünberg tust, ist mir sehr recht. Was für eine Freude er haben wird,wenns gelingt. - Keine neuen Nachrichten von Deiner Novelle? - Von mir müßtest Du in der letztenZeit zwei Briefe bekommen haben. - Ich komme Ende Oktober nach Prag.

FranzErschien vorige Woche, also am 28. September eine »Selbstwehr«?

An Max Brod(Zürau, Anfang Oktober 1917)

Lieber Max, meine Krankheit? Im Vertrauen sage ich Dir, daß ich sie kaum spüre. Ich fiebere nicht,ich huste nicht viel, ich habe keine Schmerzen. Kurzen Atem habe ich, das ist wahr, aber beimLiegen und Sitzen spür ich es nicht, und beim Gehn oder bei irgendeiner Arbeit trägt es sich leicht,ich atme eben zweimal so schnell als früher, eine wesentliche Beschwerde ist das nicht. Ich bin zuder Meinung gekommen, daß die Tuberkulose, so wie ich sie habe, keine besondere Krankheit,keine eines besonderen Namens werte Krankheit ist, sondern nur eine ihrer Bedeutung nachvorläufig nicht einzuschätzende Verstärkung des allgemeinen Todeskeims. In drei Wochen habe ichzweieinhalb Kilo zugenommen, habe mich also für den Wegtransport wesentlich schwerergemacht.Die guten Nachrichten über Felix freuen mich, wenn sie auch schon veraltet sein können, immerhintragen sie doch dazu bei, den Durchschnitt oder den Fernblick des Ganzen etwas tröstlicher zumachen; ihm allerdings schadet das vielleicht mehr als es nützt. - Vor länger als vierzehn Tagenhabe ich ihm geschrieben, eine Antwort habe ich noch nicht. Er ist mir doch nicht böse? Ich wäredann schlecht genug, an meine Krankheit zu erinnern und daran, daß man doch einem solchenKranken nicht böse wird.Ein neues Stück des Romans. Ein ganz neues oder eine Überarbeitung der Teile, die Du mir nochnicht vorgelesen hast? � Glaubst Du, daß sich das erste Kapitel einfügt, dann wird es wohl sein. -Wie merkwürdig mir das klingt: »Probleme, die ich jetzt vor mir sehe«. An sich ist es ja etwasSelbstverständliches, nur daß es mir so unverständlich und in Dir so nahegebracht ist. Das istwirklicher Kampf ist des Lebens und Todes wert, bleibt es, ob man es bewältigt oder nicht. Man hat

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wenigstens den Gegner gesehn oder zumindest seinen Schein am Himmel. Wenn ich dasdurchzudenken suche, komme ich mir förmlich wie ungeboren vor, selbst ein Dunkles, jage ich imDunkeln.Doch nicht ganz. Was sagst Du zu diesem blendenden Stück Selbsterkenntnis, das ich mir auseinem Brief an F. abgeschrieben habe. Es wäre eine gute Grabschrift:»Wenn ich mich auf mein Endziel hin prüfe, so ergibt sich, daß ich nicht eigentlich danach strebe,ein guter Mensch zu werden und einem höchsten Gericht zu entsprechen, sondern, sehrgegensätzlich, die ganze Menschen- und Tiergemeinschaft zu überblicken, ihre grundlegendenVorlieben, Wünsche, sittlichen Ideale zu erkennen und mich dann möglichst bald dahin zuentwickeln, daß ich durch aus allen wohlgefällig würde und zwar hier kommt der Sprung - sowohlgefällig, daß ich, ohne die allgemeine Liebe zu verlieren, schließlich als der einzige Sünder,der nicht gebraten wird, die mir innewohnenden Gemeinheiten offen, vor aller Augen ausführendürfte. Zusammengefaßt kommt es mir also nur auf das Menschen- und Tiergericht an und dieseswill ich überdies betrügen, allerdings ohne Betrug.«Dieser Mittelpunkt einer Selbsterkenntnis gibt vielleicht Möglichkeit zu verschiedenenFolgerungen und Begründungen.»Jenufa« habe ich bekommen. Das Lesen ist Musik. Der Text und die Musik haben ja dasWesentliche beigebracht, Du aber hast es wie ein Riesenmensch ins Deutsche getragen. Wie hastDu nur die Wiederholungen Leben-atmend gemacht!Soll ich daneben Kleinigkeiten erwähnen? Nur dieses: Kann man vom »Schaffen« weglaufen?»Siehst Du, dann soll man Dich lieben?« Ist das nicht Deutsch, das wir von unsern undeutschenMüttern noch im Ohre haben? »Mannsverstand ins Wasser gefallen« ist künstliches Deutsch.»Bange Inbrunst« - gehört das hierher? Zwei Bemerkungen des Richters versteh ich nicht : »Hätt'ich mir die Zigarre . . .« und »ohne die gelehrten Herren seh' (steh'?) ich da . . ." »Gerne« amSchluß stört ein wenig in dieser großen Stelle. - Schönere Liedertexte hätte man erwartet, siekönnen auch im Tschechischen nicht sehr gut sein. - Den »grinsenden Tod« hätte ich gern demReichenberger überlassen, auch erwähnst Du das Ende des zweiten Aktes als verdorben, aber ichglaube mich zu erinnern, daß diese Stelle Dir besondere Mühe machte und Du, vielleicht nur alsLesart, eine ähnliche Übersetzung im Manuskript hattest. � Sollte nicht eine Vorbemerkung überdie Bedeutung der »Küsterin« gemacht werden?Über Scheler nächstens. - Blüher zu lesen bin ich begierig. � Ich schreibe nicht. Mein Wille gehtauch nicht geradezu aufs Schreiben. Könnte ich mich wie die Fledermaus durch Graben vonLöchern retten, würde ich Löcher graben.

FranzVon Gross, Werfel und der Zeitschrift hast Du nichts gehört?Deine Komotauer-Teplitzer Reise?Du sagtest nichts über Ottlas Zeichnung, sie war so stolz sie Dir zu schicken (zu ihrerVerteidigung), deshalb wurde der Brief rekommandiert geschickt.

An Felix Weltsch(Zürau, Anfang Oktober 1917)

Lieber Felix, Du bist also nicht böse, das ist gut, aber daß um die »Lügen«der Schein der tiefernWahrheit zu sehn ist, kann den Lügner nicht trösten. Übrigens ist in der Sache selbst noch einigesErgänzende zu sagen, aber Dir gegenüber ist es nicht nötig. (Nebenbei: ich bin heute nach einemnicht unschönen Tag so stumpf und so sehr gegen mich eingenommen, daß ich das Schreibenbesser lassen sollte.)Erstaunlich ist der Umfang, welchen Dein Unterricht annimmt, nicht erstaunlich, was die Schülerbetrifft, das habe ich immer vorhergesagt, sie drängten mir sogar zu langsam, aber erstaunlich vonDeiner Seite. Was für Selbstbeherrschung, Launenlosigkeit, Geistes-gegenwart, Sicherheit, wahre

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Arbeitergesinnung oder um das große Wort zu wagen: Männlichkeit gehört dazu, sich in solcheDinge einzulassen, bei ihnen zu bleiben und sie bei tatsächlich stärkstem Gegenwind noch zuDeinem geistigen Nutzen zu wenden, wie Du es tatsächlich tust, wenn Du es auch verreden willst.Das wäre also gesagt und selbst mir wird in dieser Sphäre wohler.Jetzt solltest Du nur noch imstande sein, den Lärm der Kinder als Jubel über dieseUnterrichtserfolge hinzunehmen. Übrigens muß er doch mit zunehmendem Herbst verschwinden,ebenso wie man hier, wo es doch nichts zu bejubeln gibt, allmählich die Gänse einsperren, dieFahrten auf die Felder einstellen, die Schmiede nur in der Werkstatt arbeiten lassen und die Kinderzu Hause halten wird, nur der helle singende Dialekt und das Bellen der Hunde wird nichtaufhören, während es vor Deinem Hause schon längst still sein wird und die Schülerinnen ungestörtDich anstarren werden.Dir geht es also gesundheitlich besser (merkwürdig: Deine geheime Vorliebe für Furunkeln, dienoch übertroffen wird durch die für Jod), mir nicht schlechter, wobei ich die Gewichtszunahme, diejetzt schon dreieinhalb Kilogramm beträgt, als neutral ansehe. Hinsichtlich der Ursachen derKrankheit bin ich nicht eigensinnig, bleibe aber, da ich doch gewissermaßen im Besitz derOriginaldokumente über den »Fall« bin, bei meiner Meinung und ich höre, wie sogar die zunächstbeteiligte Lunge förmlich zustimmend rasselt.Zur Gesundung ist, da hast Du natürlich recht, vor allem der Gesundungswille nötig. Den habe ich,allerdings, soweit sich dies ohne Ziererei sagen läßt, auch den Gegenwillen. Es ist eine besondere,wenn man will, eine verliehene Krankheit, ganz anders als alle, mit denen ich bisher zu tun hatte.So wie ein glücklicher Liebhaber etwa sagt: »Alles Frühere waren nur Täuschungen, jetzt erst liebeich.«Dank für die »bis«-Erklärung. Brauchbar ist für mich nur das Beispiel: »Borge mir, bis wir wiederzusammenkommen« vorausgesetzt, daß es bedeutet : »Du sollst mir erst dann borgen, bis wirzusammenkommen« und nicht etwa: »Du sollst mir für so lange Zeit borgen, bis wir...« das ist ausder bloßen Anführung nicht ersichtlich.Wegen der Bücher hast Du mich mißverstanden. Es kommt mir hauptsächlich darauf an,Originaltschechisches oder Originalfranzösisches zu lesen, nicht Übersetzungen. Die Bibliothekkenne ich übrigens, sie ist mir (zumindest der Rakowitza-Band) zu schlecht gedruckt, das Licht isthier durchaus nicht besser als in der Stadt, bei meinen Nordfenstern. Französisch gibt es natürlichzahlloses für mich, sollte es Tschechisches nichts anderes geben, würde ich etwas aus derähnlichen, aber wissenschaftlichen Laichter-Bibliothek nehmen.Ich lese im Ganzen nicht viel, das Leben auf dem Dorf ist mir so entsprechend. Hat man erst einmaldas Gefühl mit allen seinen Unannehmlichkeiten überwunden, in einem nach neueren Prinzipieneingerichteten Tiergarten zu wohnen, in welchem den Tieren volle Freiheit gegeben ist, dann gibtes kein behaglicheres und vor allem kein freieres Leben als auf dem Dorf, frei im geistigen Sinn,möglichst wenig bedrückt von Um- und Vorwelt. Nicht verwechseln darf man dieses Leben mitdem in einer Kleinstadt, das wahrscheinlich fürchterlich ist. Ich wollte immer hier leben,nächstnächste Woche fahre ich wahrscheinlich nach Prag, es wird mir schwer.Herzliche Grüße Dir und der Frau. Es ist schon zwölf Uhr, ich treibe das so seit drei, vier Tagen,gut ist es nicht, weder für mein Aussehn, noch für den Petroleumvorrat, der sehr klein ist, noch fürirgend etwas sonst, aber äußerst verlockend ist es, nur das, nichts sonst.

Franz

An Max Brod(Zürau, 12. Oktober 1917)

Lieber Max, ich habe mich eigentlich immer darüber gewundert, daß Du dieses Wort: »im Unglückglücklich« für mich und andere in Dir trägst, und zwar nicht als Feststellung oder als Bedauern oderals Mahnung äußersten Falls, sondern als Vorwurf. Weißt Du denn nicht, was es bedeutet? Mit

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diesem Hintergedanken, der natürlich gleichzeitig das: »im Glück unglücklich« enthält, istwahrscheinlich Kain das Zeichen aufgedrückt worden. Wenn einer »im Unglück glücklich« ist, soheißt das zunächst, daß er den Gleichschritt mit der Welt verloren hat, es heißt aber weiter, daß ihmalles zerfallen ist oder zerfällt, daß keine Stimme ungebrochen mehr ihn erreicht und er daherkeiner aufrichtig folgen kann. Ganz so schlimm steht es mit mir nicht oder war es wenigstens bishernicht; ich bin schon vom Glück und Unglück voll getroffen worden; was aber meinen Durchschnittbetrifft, so hast Du allerdings recht, auch zum größten Teil hinsichtlich der jetzigen Zeit, nur mußtDu es in einem andern Tone sagen.Ähnlich wie Du zu diesem »Glück« stehst, stehe ich zu einer andern Begleiterscheinung der»überzeugten Trauer«, ich meine, zur Selbstgefälligkeit, ohne die jene kaum jemals auftritt. Ichhabe öfters darüber nachgedacht, letzthin nach dem Palestina-Aufsatz von Mann in der NeuenRundschau. Mann gehört zu denen, nach deren Geschriebenem ich hungere. Auch dieser Aufsatzist eine wunderbare Speise, die man aber wegen der Menge der darin herumschwimmenden(beispielsweise ausgedrückt) Salus'schen Locken lieber bewundert als aufißt. Es scheint, daß, wennnun traurig ist. man, um den traurigen Anblick der Welt noch zu erhöhen, sich strecken und dehnenmuß wie Frauen nach dem Bad.Nach Komotau komme ich natürlich. Mißverstehe nicht meine Angst vor Besuchen. Ich will nicht,daß man nach langer Reise, mit reichlichen Kosten, hierher in das herbstliche Wetter, das (demFremden) öde Dorf, die (dem Fremden) notwendigerweise unordentliche Wirtschaft, die vielenkleinen Unbequemlichkeiten und selbst Unannehmlichkeiten kommt, um mich aufzusuchen, mich,der einmal gelangweilt (was für mich nicht das Schlimmste ist), einmal überempfindlich ist, einmalin Angst vor einem kommenden oder ausbleibenden oder angedrohten Brief, einmal beruhigt durcheinen Brief, den er geschrieben hat, einmal maßlos besorgt um sich und seine Bequemlichkeiten,einmal gelaunt, sich als das Widerlichste auszuspein und so fort in den Kreisen, die der Pudel umFaust macht. Fährst dagegen Du gelegentlich vorüber, nicht meinetwegen, sondern wegen derKomotauer, was kann ich Besseres wünschen? Übrigens wird sich der Besuch in Zürau kaummachen lassen, es müßte denn sein, daß Du in Komotau Sonntag rechtzeitig wegfahren kannst (ichkenne vorläufig die Bahnzeiten nur beiläufig), um Mittag in Zürau zu sein. Dann könntet ihrSonntag Abend sehr bequem nach Prag fahren, über Nacht zu bleiben würde sich nicht empfehlen,da ihr Montag sehr bald fort müßtet (falls Du Mittag in Prag sein willst) und da überdies der Wagenum diese Zeit nur schwer beigestellt werden könnte, denn jetzt ist auf den Feldern viel zu tun!Übrigens werde ich wahrscheinlich mit euch nach Prag fahren, allein brächte ich es kaum zustande,schon die freundlichen Briefe aus dem Bureau und besonders die Notwendigkeit, mich im Bureauvorzustellen, schreckt mich sehr.Ich denke mir also die Einrichtung so, daß ich Samstag in Michelob in euren Zug steige, daß wirSonntag gemeinsam nach Zürau fahren und abends gemeinsam nach Prag.Deine Begründung der Notwendigkeit, sich gesund zu machen, ist schön, aber utopisch. Das, wasDu mir als Aufgabe gibst, hätte vielleicht ein Engel über dem Ehebett meiner Eltern ausführenkönnen oder noch besser: über dem Ehebett meines Volkes, vorausgesetzt, daß ich eines habe.Alle guten wünsche dem Roman. Deine kurze Erwähnung scheint Großes zu bedeuten. Er wirddazu beitragen, daß ich mich in Prag, trotz der Beschwerung durch das Bureau, auf der andern Seitedoch vielleicht halbwegs im Gleichgewicht erhalte.Herzliche Grüße Dir Und der Frau. In Kabarettstimmung bin ich allerdings nicht, war es aber auchniemals. Und sie? Für mich aber sind sogar die Kabaretts selbst von jetzt an abgeschafft. Wohinsollte ich mich, wenn die »Stimmkanonen« losgehn, mit meiner Kinderpistole von Lungeverkriechen? Allerdings bestand dieses Verhältnis seit jeher.

FranzSchreib mir, bitte, noch rechtzeitig, wann Du in K. am Sonntag fertig werden kannst, damit ichweiß, ob wir noch nach Zürau fahren, ob der Wagen uns abholen soll und wie ich mein Gepäckeinzurichten habe.

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An Felix Weltsch(Zürau, Mitte Oktober 1917)

Lieber Felix, nur kurz zum Beweis des Eindrucks, den Deine Kurse auf mich machen, ein heutigerTraum: Es war großartig, d.h. nicht mein Schlaf (der eher sehr schlecht war, wie überhaupt inletzter Zeit; sollte ich abnehmen und der Professor nimmt mich von Zürau weg - was tue ich?) auchnicht der Traum, aber deine Tätigkeit darin.Wir trafen uns auf der Gasse, ich war offenbar eben nach Prag gekommen und sehr froh, Dich zusehn; etwas merkwürdig mager, nervös und professorenhaft-verdreht (so geziert-gelähmt hieltestDu Deine Uhrkette) fand ich Dich allerdings. Du sagtest mir, Du gehest in die Universität, wo Dueben einen Kurs abhältst. Ich sagte, ich ginge ungemein gerne mit, nur müsse ich für einenAugenblick in das Geschäft, vor dem wir gerade standen (es war etwa am Ende der Langengassegegenüber dem großen Wirtshaus, das dort ist). Du versprachst, auf mich zu warten, aber währendich drin war, überlegtest Du es Dir und schriebst mir einen Brief. Wie ich ihn bekam, weiß ich nichtmehr, aber ich sehe noch die Schrift jenes Briefes. Es hieß darin unter anderem, der Kurs beginneum 3 Uhr, Du könntest nicht länger warten, unter Deinen Zuhörern sei auch Prof. Sauer, dendürftest Du durch Zuspätkommen nicht verletzen, viele Mädchen und Frauen kämen hauptsächlichseinetwegen zu Dir, bliebe er aus, blieben mit ihm Tausende aus. Also müßtest Du eilen.Ich kam aber rasch nach, traf Dich in einer Art Vorhalle. Irgendein auf dem davor liegenden wüstenfreien Feld ballspielendes Mädchen fragte Dich, was Du jetzt machen wirst. Du sagtest, Du hieltestjetzt einen Kurs ab, und nanntest genau, was dort gelesen wird, zwei Autoren, Werke undKapitelnummer. Es war sehr gelehrt, ich habe nur den Namen Hesiod behalten. Von dem zweitenAutor weiß ich nur, daß er nicht Pindar hieß, sondern bloß ähnlich, aber viel unbekannter, und ichfragte mich, warum Du nicht »wenigstens« Pindar liest.Als wir eintraten, hatte die Stunde schon begonnen, Du hattest sie wohl schon auch eingeleitet undwarst nur hinausgegangen, und nach mir zu sehn. Oben auf dem Podium saß ein großes starkes,frauenhaftes, unhübsches, schwarzgekleidetes, knollennasiges, dunkeläugiges Mädchen undübersetzte Hesiod. Ich verstand gar nichts. Jetzt erinnere ich mich, nicht einmal im Traum wußteichs: Es war die Schwester von Oskar, nur ein wenig schlanker und viel größer.Ich fühlte mich (offenbar in Erinnerung an Deinen Zuckerkandl-Traum ganz als Schriftsteller,verglich mein Unwissen mit den ungeheuren Kenntnissen dieses Mädchens und sagte zu mir öfters:»kläglich - kläglich!«Professor Sauer sah ich nicht, aber viele Damen waren da. Zwei Bänke vor mir (diese Damen saßenauffallender Weise mit dem Rücken zum Podium) saß Frau G., sie hatte lange Ringellocken undschüttelte sie, neben ihr war eine Dame, die Du mir als die Holzner (sie war aber jung) erklärtest. Inder Reihe vor uns zeigtest Du mir die andere ähnliche Schulinhaberin aus der Herrengasse. Allediese also lernten von Dir. Unter andern sah ich noch in der andern Bankabteilung Ottla, mit der ichkurz vorher Streit wegen Deines Kurses gehabt hatte (sie hatte nämlich nicht kommen wollen undnun war sie also zu meiner Befriedigung doch und sogar sehr bald gekommen).Überall, auch von denen, welche nur schwätzten, wurde von Hesiod gesprochen. Eine gewisseBeruhigung war es für mich, daß die Vorleserin bei unserm Eintritt gelächelt hatte und sich unterdem Verständnis der Zuhörerschaft noch lange nicht vor Lachen fassen konnte. Dabei hörte sieallerdings nicht auf; richtig zu übersetzen und zu erklären.Als sie mit ihrer Übersetzung fertig war und Du den eigentlichen weitern Vortrag beginnen solltest,beugte ich mich zu Dir, um aus Deinem Buch mitzulesen, sah aber zu meinem größten Erstaunen,daß Du nur eine zerlesene schmutzige Reclamausgabe vor Dir hattest, den griechischen Text hattestDu also - erhabener Gott! - »inne«. Dieser Ausdruck kam mir aus Deinem letzten Brief zu Hilfe.Jetzt aber - vielleicht weil ich einsah, daß ich unter diesen Umständen der Sache nicht weiter folgenkönne - wurde das Ganze undeutlicher, Du nahmst ein wenig das Aussehn eines meiner früherenMitschüler an (den ich übrigens sehr gern gehabt hatte, der sich erschossen hat und der, wie mirjetzt einfällt, auch eine kleine Ähnlichkeit mit der vorlesenden Schülerin gehabt hat), also Du

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verändertest Dich und es begann ein neuer Kurs, weniger detailliert, ein Musikkurs, den ein kleinerschwarzer rotbackiger junger Mann leitete. Er war einem entfernten Verwandten von mir ähnlich,welcher (bezeichnend für meine Stellung zur Musik) Chemiker und wahrscheinlich verrückt ist.Das war also der Traum, bei weitem der Kurse noch nicht würdig, ich lege mich jetzt zu einemvielleicht noch eindringlicheren Kurs-Traum nieder.

Franz

An Max Brod(Zürau, Mitte Oktober 1917)

Lieber Max, also möglichst wenig Störung von mir, wenn ich schon alle anderen nicht verringernkann:Das Aktionsheft habe ich, wie auch noch einiges andere, ich bringe Dir dann alles auf einmal. JedeSendung macht mir große Freude. Der Eindruck des »Radetzkymarsches« war natürlich nichtderartig wie damals, als Du ihn fast gedichtmäßig vorgelesen hast. Aber auch sonst fehlt etwasdarin. Hat es die Kürzung verschuldet? Das kann nicht gut sein. Der Haß steigt hinter demEntzücken auf; aber man hat ihn nicht wachsen gesehn. Vielleicht ist der Raum für die antithetischeWendung nicht weit genug, vielleicht der Raum eines Herzens nicht.Das Teweles-Feuilleton ist wahrscheinlich für Kuh, der übrigens letzthin recht miserabel-geistreichüber Werfel geschrieben hat, bestimmt, als Lektion in der Zartheit. Undurchdringlich dieGeistesverfassung, aus der etwas derartiges geschrieben wird. Und ich saß doch am Tisch diesesRätsels, ganz nah bei ihm. - Besonders angemerkt habe ich mir, daß Goethe »nicht auch von Stein«war. Am peinlichsten ist aber das Ganze wahrscheinlich für die alte Dame, die geglaubt hatte, einmelancholisches Buch über die Frau von Stein geschrieben zu haben und der hier gezeigt wird, daßsie die ganze Zeit über, offenbar in der Tränenverwirrung, mit Goethes Hosen beschäftigt war.Das Komotauer Komitee hat mir die Reise nach Prag etwas erschwert, ich fahre natürlich trotzdem,vorläufig aber schicke ich Ottla aus, damit sie nachsieht »wie das Wasser steht«. Ich komme dannEnde des Monats.Der Leitartikel der »Selbstwehr« könnte, was raschen Blick, Protestkraft und Kühnheit anlangt, fastvon Dir sein, nur einige Stellen halten mich davon ab, es geradezu zu behaupten. Von Hellmannwahrscheinlich?Herzlichst

Franz

An Felix Weltsch(Zürau, Mitte/Ende Oktober 1917)

Lieber Felix, ich suche die Tage nicht aus, an denen ich Dir schreibe, aber ich bin doch heutewieder (ohne daß es immer so wäre) so kleinmütig, klotzig, schwerbäuchig, vielmehr so war ich,als der Tag auf der Höhe war, jetzt nach dem gemeinsamen Nachtmahl, Ottla ist in Prag, bin ichnicht einmal das, noch tiefer. Und nun finde ich überdies, daß nach dem heutigen großenAufräumen, für das ich so sehr gedankt habe, der Lampenzylinder unten ein Loch bekommen hat,Luft fängt und die Ramme, selbst nachdem ich das Loch mit einem Hölzchen verdeckt habe,flackert. Vielleicht aber taugt alles das irgendwie gerade zum Briefschreiben.Das Dorfleben ist schön und bleibt es. Ottlas Haus steht auf dem Ringplatz, schaue ich aus demFenster, sehe ich auf der andern Platzseite wieder ein Häuschen, aber schon dahinter ist das freieFeld. Was kann, in jedem Sinn, für das Atemholen besser sein; was mich betrifft, so schnaufe ichzwar in jedem Sinne, körperlich am wenigsten, aber anderswo wäre ich dem Ersticken nahe, wasallerdings, wie ich aus aktiver und passiver Erfahrung weiß, jahrelang ausgehalten werden kann.Meine Beziehungen zu den Menschen hier sind so locker; das ist schon gar kein Erdenleben mehr.Ich begegne z.B. heute abend auf der finstern Landstraße zwei Menschen; Männern, Frauen,

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Kindern, ich weiß nicht; sie grüßen, ich danke; mich haben sie vielleicht an meinem Mantelumrißerkannt, ich wüßte wahrscheinlich auch bei Licht nicht, wer sie sind, jedenfalls erkenne ich sie ander Stimme nicht, das scheint bei dialektsprechenden Menschen überhaupt unmöglich zu sein.Nachdem sie mich passiert haben, dreht sich einer um und ruft: »Herr Hermann (so heißt meinSchwager, ich habe also den Namen übernommen), habens ka Zigaretten?« Ich: »Leider nein«.Damit ist es vorüber; Worte und Irrtümer der Abgeschiedenen. Ich wünsche mir, so wie ich jetztbin, nichts Besseres.Was Du mit der »Eindrängung« des »Gegenwillens« meinst, glaube ich zu verstehn, es gehört zudem verdammt psychologischen Theorienkreis, den Du nicht liebst, aber von dem Du besessen bist(und ich wohl auch). Die Naturtheorien haben Unrecht so wie ihre psychologischen Schwestern.Das rührt aber nicht an die Lösung der Frage, ob die Welt aus einem Punkte zu kurieren ist.Den Schnitzervortrag hätte ich gern gehört. Was Du über Schnitzer sagst, ist sehr richtig, aber manunterschätzt doch solche Leute leicht. Er ist ganz kunstlos, daher großartig aufrichtig, daher dort,wo er nichts hat, als Redner, Schriftsteller, selbst als Denker nicht nur unkompliziert, wie Du sagst,sondern geradezu blödsinnig. Setze Dich ihm aber gegenüber, sieh ihn an, suche ihn zuüberschauen, auch seine Wirksamkeit, versuche für ein Weilchen Dich seiner Blickrichtung zunähern - er ist nicht so einfach abzutun.»Das Buch« von mir mag wirklich wertvoll sein, ich wollte es auch lesen, es liegt irgendwo in denhimmlischen Regalen. Daß aber eine 77jährige es sich zu ihrem Geburtstag schenken läßt(vielleicht von ihrem Urenkel: »Ich bin klein, mein Geschenk ist klein...«), daß dadurchClemenceau'sches Familienblut in Wallung kommt, daß der Hofrat zu einem entscheidenden Urteilohne Zeigefingerhebung sich drängen läßt (ein Umstand übrigens, der zweifellos die tiefereVerächtlichkeit beweist, welche die Sache für ihn hat), das alles - es ist zuviel, das ist der Fehler.Vor dem Hofrat habe ich auch immer eine besondere Achtung gehabt, nicht deshalb weil ich,soweit die Erinnerung reicht, sehr schlecht bei ihm entsprochen habe, sondern weil er, zumUnterschied von den andern, die immer mit dem ganzen Gewicht ihrer Umständlichkeit auf demPodium standen, nur eine mit fünf Strichen zu umreißende, reinliche Figur hingestellt hat, alsoseine wesentlichen Absichten zurückgehalten haben muß, vor denen man sich irgendwie beugte.Drei Kurse? Hat denn die Halbtag-Woche überhaupt für sie Platz? Das ist zu viel, das genügt ja fastzur Ausfüllung eines Gymnasialprofessorenlebens. Was sagt Max dazu?Das Vortragsangebot, das Du den alten Schülerinnen machtest, war vielleicht etwas unpädagogisch,nämlich wirklich erschreckend, und sie haben Dich eben aus Deiner damaligen Riesengestalt mitaller Mädchenenergie zum »jungen Deutschland« zusammengedrückt, das Dir auch nicht immer sofremd ist, wie Du unter dem Zwange klagst. Übrigens beginnt im nächsten Monat eine Zeitschrift»Das junge Deutschland«, vom Deutschen Theater herausgegeben, von Kornfeld redigiert.Und »der Mensch«? Zwar etwas lang- und widerhaarig angezeigt, aber doch vielleicht eine guteSache. Du erwähnst es gar nicht.Dir und der Frau viele Grüße.

Franz(Randbemerkung:) Von Wolff laß Dich nicht abschrecken, er muß sich zieren. Was rennt nichtalles gegen ihn an! Er kann nicht imstande sein, Unterscheidungen zu machen.

An Max Brod(Postkarte. Zürau, 22. Oktober 1917)

Lieber Max, also am 27. nach Komotau, die wechselnden Entschlüsse der Komotauer werfen einennatürlich stark herum, Dich wohl am stärksten. Aber mich auch. Um die Wahrheit zu sagen: ichwäre ohne Deine Komotauer Reise noch immer nicht nach Prag gekommen, frühestens in vierzehnTagen. Es ist ja nicht nur das Leben hier, das Wert hat, sondern auch sein Zusammenhang und denverliere ich durch die Reise. Außerdem bin ich in den letzten Tagen - bei bestem Wohlbefinden -

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ganz appetitlos; wie, wenn ich abnehme und der Professor mich von Zürau, dem besten Ort,fortnimmt? Das sind die Sorgen, die der Freude, Dich zu sehn und zu sprechen, den Mund zuhalten.Noch etwas: ich werde wohl zumindest drei Tage wegen Zahnbehandlung in Prag bleiben müssenund das Bureau hat ja auch hineinzusprechen. Jedenfalls geht es aus Freiheit in Knechtschaft undTrauriges.Aber nun ist die Komotauer Reise doch wohl sichergestellt? Oder Du telegraphierst mir beiAbsage. Ich will nicht allein hinfahren, abgesehen davon, daß ich dich dort hören will, will ichdoch auch mit Dir die Spuren Deines früheren Lebens sehn.

Franz

An Oskar Baum(Zürau, Oktober/November 1917)

Lieber Oskar,an Direktor Marschner kann ich allerdings nicht schreiben, ein Vierteljahr und längerhat er von mir keinen Laut gehört, er kommt mir in meiner Sache wie eine Art Schmerzensreichvor, der nur zahlt und duldet. Aber es ist glücklicherweise gar nicht nötig ihm zu schreiben; derVorstand des Bureaus der »Staatlichen Landeszentrale für Fürsorge für heimkehrende Krieger«,Poøiè 7, ist Sekretär Dr. F. (er der erste, ich der zweite und letzte und abbröckelnde Jude derAnstalt), ein ausgezeichneter Mann, mit Liebe bei der Sache, jeder halbwegs erfüllbaren Bittezugänglich. Ich habe ihm eben den Sachverhalt geschrieben und das genügt wahrscheinlich, besseraber wäre es noch, wenn Du einmal zwischen neun und ein Uhr selbst zu ihm ins Bureau gingest,ich habe Dich ihm für jeden Fall angekündigt. Ich rate das besonders deshalb, weil mir (ich kenneallerdings die Einzelheiten der Blindenfürsorge nicht) 8000 Kè ein in der allgemeinengewöhnlichen Kriegsbeschädigten-Fürsorge unerhört hoher Betrag scheint und ein mündlicheserklärendes Wort doch nützlich wäre.Damit Du jedenfalls ein Bild des Dr. F. im Umriß hast: er ist dreiviertel Tscheche, ganzerSozialdemokrat, seine Muttersprache ist Deutsch (Du sprichst natürlich ungescheut deutsch mitihm, so wie auch ich immer), hat eine schwere Jugend gehabt, war unter anderem Sekretär des altenKlaar von der »Vossischen«, für Literatur hat er ein ursprüngliches Nichtinteresse, hat jetzt imvierzigsten bis fünfzigsten Jahr ein tschechisches Schreibmaschinenfräulein geheiratet, seinSchwiegervater ist ein armer Tischler - also alles in allem ein Mann, mit dem sich sehr gut und sehroffen sprechen läßt. Sagst Du ein lobendes Wort nebenbei darüber, wie er sich seiner Sache hingibt,kannst Du ihn glücklich machen und hast keine Unwahrheit gesagt, übrigens wird er Dichvielleicht, eine kleine Schwäche. Selbst halb gegen seinen Willen dazu herausfordern. Bleib abernicht lange bei ihm, er hat sehr viel zu tun, vergiß es im Gespräch und bereut dann, es vergessen zuhaben. Besonders die Sorge P`s um seine Schwester wird ihn rühren. Was das bedeutet, weiß er auseigener Erfahrung.

Der Referent für Kriegsblindenfürsorge, zu dem er Dich vielleicht führen wird (ohne aber dieeinmal übernommene Sache aus einer Hand zu geben), ist Konzipist, Dr. (er ist nicht Dr., aber nenn

ihn so) T. Der ist allerdings sehr anders, war im Krieg, äußerst regelmäßiges Gesicht, bleich,mager, mittelgroß, einige tiefe Falten der Korrektheit im Gesicht, spricht sehr langsam, schnarrend,

ohne daß das Gesagte meistens die großen Pausen, Betonungen und Lippenanspannungenrechtfertigen würde � und ist also im ganzen eher abschreckend, aber nach meinen Erfahrungen hatdas nicht viel zu bedeuten, er ist ein ganz guter und angenehmer Mensch, seinem Tempo muß man

sich allerdings fügen.Vielleicht mischt sich dann, wenn ich erwähnt werde, auch sein Zimmernachbar Herr VizesekretärK. (ich schreibe es der Deutlichkeit halber noch einmal: K., es ist ein wirklicher, nicht ein von Direrfundener Name) ins Gespräch, er ist mein nächster Kollege, von hier aus liebe ich ihn geradezu(Dr. F. liebt ihn nicht) und so wirst Du allmählich von drei Freunden umgeben sein, die hoffentlichalles für Herrn P. zum guten führen werden.

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Das die Sommerwohnung sich nicht ermöglichen läßt, hat mir sehr leid getan, trotzdem ich auchkaum meine Sommerwohnung hier haben werde. � Kierkegaard ist ein Stern, aber über einer mirfast unzugänglichen Gegend, es freut mich, daß Du ihn jetzt lesen wirst, ich kenne nur »Furcht undZittern«.- Willst Du nicht Krastik mir oder uns im Manuskript schicken? Du hast hier drei treueLeser, edlen in seiner Art. Herzliche Grüße Dir und Deiner lieben Frau.

An Max Brod(Zürau, Anfang November 1917)

Liebster Max, heute hatten wir Besuch, sehr gegen meinem Willen, das Bureaufräulein (nun, Ottlahatte sie eingeladen), außerdem aber als ein Mitgebrachtes noch einen Bureauherrn (Du erinnerstDich vielleicht: wir gingen einmal in der Nacht mit irgendwelchen Gästen über den Quai, ichdrehte mich nach einem Paar um, das war eben dieses), einen an sich ausgezeichneten und mir auchsehr angenehmen und interessanten Menschen (katholisch, geschieden), aber eine Überraschung,wo doch schon ein angemeldeter Besuch Überraschung genug ist. Solchen Dingen bin ich nichtgewachsen und ich durchlief von flüchtiger Eifersucht, großer Unbehaglichkeit, Hilflosigkeitgegenüber dem Mädchen (ich riet ihr, unüberzeugt, den Mann zu heiraten), bis zu vollständigerÖde den ganzen langen Tag, wobei ich noch ganz häßliche Zwischengefühle verschweige; beimAbschied war auch ein wenig Trauer, die höchste Sinnlosigkeit, irgendein Einfall des Magens odersonst etwas. Im ganzen war es ein Besuchstag wie alle, nämlich lehrreich, eine einförmige Lehre,die man aber nicht oft genug repetieren kann.Ich erzähle das nur wegen einer Sache, die zu unsern Gesprächen Beziehung hat, wegen jener»flüchtigen Eifersucht«. Es war der einzige gute Augenblick des Tages, der Augenblick, wo icheinen Gegner hatte, sonst war "freies Feld«, fast abschüssig.Nach Frankfurt schicke ich nichts, ich fühle es nicht als eine Sache, die mich zu kümmern hat;schicke ich es, tue ich es nur aus Eitelkeit, schicke ich es nicht, ist es auch Eitelkeit, aber nicht nurEitelkeit, also etwas Besseres. Die Stücke, die ich schicken könnte, bedeuten für mich wesentlichgar nichts, ich respektiere nur den Augenblick, in dem ich sie geschrieben habe, und nun soll sieeine Schauspielerin, die für ihren Vorteil viel Wirksameres finden wird, aus dem Nichts, in das sieschnell oder langsamer hinunterfallen, für einen Augenblick eines Abends hochheben? Das istsinnlose Mühe.Atemnot und Husten. Du hast an sich nicht Unrecht, ich bin auch seit Prag viel aufmerksamer alsfrüher. Es ist möglich, daß ich anderswo mehr im Freien liegen würde, stärkendere Luft hätteu.dgl., aber - und das ist für meinen Nervenzustand und dieser für meine Lungen sehr wesentlich-ich würde mich sonst nirgends so wohl befinden, nirgends so wenig Ablenkungen haben (bis aufdie Besuche, aber auch diese tauchen in ihrer Vereinzeltheit in das friedliche Leben ohne allzugroße Spur), nirgends mit weniger Trotz, Galle, Ungeduld die Haus- und Hotelwirtschaft ertragenals hier bei meiner Schwester. In meiner Schwester ist irgendein fremdes Element, dem ich mich indieser Form am ehesten fügen kann. (Die »Angst um die Persönlichkeit«, die Stekel einmal mir undder Unmenge ebenso Kranker nachgesagt hat, habe ich ja tatsächlich, finde es aber, selbst wennman es nicht der »Angst um sein Seelenheil« gleichsetzt, sehr natürlich; immer bleibt doch dieHoffnung, daß man einmal »seine Persönlichkeit« brauchen oder daß sie gebraucht werden wird,daß man sie also bereit halten muß.) Nirgends nun stehe ich hinter einem mir fremden Element sofest wie hinter meiner Schwester. Hier kann ich mich fügen; dem Vater, der auf dem Boden liegt,kann ich mich fügen. (Täte es ja auch so gern dem Aufrechtstehenden gegenüber, darf es abernicht.)Du hast mir drei Stücke aus dem Roman vorgelesen. Die Musik des ersten, die starke Klarheit desdritten, gingen mir ohne weiteres glückbringend ein (im ersten fuhren einem die tatsächlichen»jüdischen Stellen« ein wenig störend über die Augen, als würden im dunklen Saal bei einzelnenStellen alle Lichter schnell auf- und abgedreht). Wirklich stocke ich nur gegenüber dem zweiten,

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nicht aber wegen der Einwände, die Du erwähntest. Das Kugelspiel, ist es ein jüdisches Spiel inDeinem Sinn des Jüdischen? Jüdisch höchstens darin, daß Ruth für sich ein anderes Spiel gespielthat, aber darum geht es doch nicht. Ist diese Strenge des Spiels eine Selbstquälerei und Quälerei desGeliebten, dann verstehe ich sie, ist sie aber selbständige Überzeugung, die keinen geradenursächlichen Zusammenhang mit Ruths oder mit Deinen Lebensverhältnissen hat, dann ist es eineverzweifelte Überzeugung, die eigentlich nur im Traum, wie es auch geschieht, ein Palästina vorsich sehen kann. Das Ganze ist doch fast ein Kriegsspiel, aufgebaut auf der berühmtenDurchbruchsidee, eine Hindenburg-angelegenheit. Vielleicht mißverstehe ich Dich, aber wenn esnicht zahllose Möglichkeiten der Befreiung gibt, besonders aber Möglichkeiten in jedemAugenblick unseres Lebens, dann gibt es vielleicht überhaupt keine. Aber ich mißverstehe Dichwirklich. Das Spiel wird ja fortwährend wiederholt, durch den augenblicklichen Fehltritt ist nur derAugenblick verloren, nicht alles. Dann müßte es aber gesagt werden, schon auskrankenschwesterlicher Rücksichtnahme.

FranzVon Wolff heute Abrechnung über 102 Stück »Betrachtung« 16/17, erstaunlich viel, aber die durchDich versprochene Abrechnung schickt er nicht, auch über »Landarzt« nichts.Beiliegend Deine Nährpflicht-Erklärung, die Du in dem Heft vergessen hattest. Bitte, Max, »dieJüdische Rundschau« immer schicken. - Ottla will übrigens in vierzehn Tagen nach Prag kommenund mich pensionieren lassen.

An Felix Weltsch(Zürau, Anfang November 1917)

Lieber Felix, wäre ich damals im Theater gewesen, hättest Du gewiß mitkommen müssen und Duhättest, glaube ich, eine gute Vorstellung von Zürau zurückgebracht. Aber am nächsten vormittaghatte ich noch einiges zu tun, war dann bei Max, Deine wirkliche Person war nicht da, Gelegenheitzu der notwendigen Besprechung fehlte, ein vorigen Tags abgeschicktes Telegramm hinderte michlänger zu bleiben, ein vom Zahnarzt abgebrochener Zahn konzentrierte meine Gedanken zu sehr, anEntschlußkraft bin ich in Prag auch nicht gewachsen, so blieb es dabei und ich fuhr allein. Zürauhabe ich unenttäuschbar wiedergefunden. Es besonders zu loben, wie es die Wahrhaftigkeitverlangt, ist allerdings jetzt nicht der Augenblick, da ich den Magen ein wenig verdorben habe, zubisher nicht nachgeprüfter Tageszeit unerwarteter Lärm rings im Hause sich zeigt und einegelegentliche Revision meiner Bestände (gewiß in vernünftiger Absicht) stört. Ich habe eben vonallem Anfang an von Prag her viel Sauerei in diese Gegend gebracht; damit muß ich immerrechnen. Landwirtschaftliches Denken, in gewissem Sinn, wird hier immer nützlich sein.Einen starken Gegensatz zu dem Leben hier gibt das Leben in Deiner Wohnung ab, darum denkeich manchmal daran. Es hat mich überrascht. Deine vorige Wohnung war schon üppig, diese aberist es bis zur Brutwärme. Aber was für eine Unabhängigkeit des Geistes mußt Du haben und wiesorgfältig muß er aufs Gleichgewicht hin organisiert sein, daß Du es nicht nur ohne Schadenerträgst, wie ich es nach allem sagen muß, sondern daß Du Dich darin auch ohne jede innereAbsperrung bewegen kannst, es aufnimmst, zwar nicht als Dein eigenes, aber als ein Dirfreundliches Element. Max hat vielleicht doch recht, wenn er Dich so hoch stellt, daß Du nur dieSpitzen, aber nicht mehr den Grund der großen Ruinenhaftigkeit siehst. Aber man will doch eineWarnung sagen und kanns nicht mit Überzeugung und bleibt in häßlicher Schwebe.Meine Reise nach Prag hat mich unter anderem auch um einen halben Brief von Dir gebracht. Ichbitte zum Ersatz nur um zweierlei in Kürze: was hat es damit auf sich, daß Du gegenüber derEntwicklung, die Deine Ethik in der Zeit nimmt, zögerst und zweitens wie steht es mit den Kursen(Junges Deutschland), die doch auch zu den halbbezwungenen Dämonen Deines Lebens gehören?

Franz

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(Randbemerkung:) Jetzt gehst Du wohl viel zu Urania-Vorträgen? - Keine Antwort von Wolff?

An Max Brod(Postkarte, Zürau, Stempel: 13. XI. 1917)

Liebster Max, vorläufig nur diese Karte zur Bestätigung der Karte, des Briefes und derDrucksachen (Jüdische Rundschau, Aktion, Extrablatt Selbstwehr). Unverständlicher Weise kamenBrief und Karte erst heute am 13., aber es macht nichts, die Freude über Deine Briefe hat etwas vonder Zeit Unabhängiges. Langer kann ich in dieser Weise nicht helfen. Die Anstalt ist für Judenunzugänglich.Nur zu meinem Spaß das Attentat auf den Direktor ausführen zu lassen, welches die Bitte einesNeuaufzunehmenden bedeuten würde, Samstag nicht arbeiten zu müssen das will ich nicht. Es istunverständlich wie die zwei Juden, die dort sind (durch Hilfe des dritten Juden) hineinkamen undes wiederholt sich nicht. Aber vielleicht gibt es in unserem Geschäft eine Möglichkeit, wenn mandas - warum dürfte man das nicht? dem Vater gegenüber verantworten kann. Willst Du Dich dorteinmal aufhalten und mit der Mutter, Schwester oder Kusine sprechen, ich werde es anzeigen. AberLanger ist stark, warum geht er nicht zu irgendeinem jüdischen Pächter? - Der »Gruß an OnkelFranz« ist sehr hübsch, aber sanft. Eine Tante kann den nicht schlagen, den ihr Neffe liebt.

FranzOttla hält die Aufnahme L's bei uns für ausgeschlossen und sie kennt den Vater und das Geschäftbesser.

An Max Brod(Zürau, Mitte November 1917)

Liebster Max, was ich tue, ist etwas einfaches und selbstverständliches: Ich habe in der Stadt, in derFamilie, dem Beruf, der Gesellschaft, der Liebesbeziehung (setz sie, wenn Du willst, an die ersteStelle), der bestehenden oder zu erstrebenden Volksgemeinschaft, in dem allen habe ich mich nichtbewährt und dies in solcher Weise, wie es - hier habe ich scharf beobachtet - niemandem rings ummich geschehen ist. Es ist das ja im Grunde die kindliche Meinung (»so gemein wie ich istniemand«), die sich später zu neuem Schmerz widerlegt, in dieser Beziehung aber (es handelt sichhier nicht mehr um Gemeinheit oder Selbstvorwürfe, sondern um die offenbare innere Tatsache desSich-Nicht-Bewährens) ist diese Meinung aufrecht geblieben und bleibt. Ich will mich nicht desLeidens rühmen, welches dieses nichtgelebte Leben begleitete, es erscheint auch (und dies auf allenkleinen Stationen seit jeher) im Rückblick unverdient geringfügig gegenüber den Tatsachen, derenDruck es zu widerstehen hatte, immerhin war es zu groß, um weiterhin ertragen werden zu können,oder wenn es nicht zu groß war, so war es doch jedenfalls zu sinnlos. (In diesen Niederungen istvielleicht die Frage nach dem Sinn erlaubt.) Der nächste Ausweg, der sich, vielleicht schon seit denKinderjahren, anbot, war, nicht der Selbstmord, sondern der Gedanke an ihn. In meinem Fall war eskeine besonders zu konstruierende Feigheit, die mich vom Selbstmord abhielt, sondern nur diegleichfalls in Sinnlosigkeit endigende Überlegung: »Du, der Du nichts tun kannst, willst geradedieses tun? Wie kannst Du den Gedanken wagen? Kannst Du Dich morden, mußt Du esgewissermaßen nicht mehr. U.s.w.« Später kam langsam noch andere Einsicht hinzu, an Selbstmordhörte ich auf zu denken. Was mir nun bevorstand, war, wenn ich es über verwirrte Hoffnungen,einsame Glückzustände, aufgebauschte Eitelkeiten hinweg klar dachte (dieses »hinweg« gelang mirja eben nur so selten. als das Am-Leben-Bleiben es vertrug): ein elendes Leben, elender Tod. »Eswar, als sollte die Scham ihn überleben« ist etwa das Schlußwort des Prozeßromans.Einen neuen, in dieser Vollständigkeit bisher nicht für möglich gehaltenen Ausweg, den ich auseigenen Kräften .(soweit die Tuberkulose nicht zu »meinen Kräften« gehört) nicht gefunden hätte,sehe ich jetzt, Ich sehe ihn nur, ich glaube ihn nur zu sehen, ich gehe ihn noch nicht. Er besteht

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darin, er würde darin bestehn, daß ich nicht nur privat, nicht nur durch Beiseite-Sprechen, sondernoffen, durch mein Verhalten eingestehe, daß ich mich hier nicht bewähren kann. Ich muß ja zudiesem Zweck nichts anderes tun, als die Umrisse meines bisherigen Lebens mit vollerEntschiedenheit nachziehen. Die nächste Folge würde dann sein, daß ich mich zusammenhalte,mich nicht in Sinnlosem verzettle, den Blick frei halte.Das wäre die Absicht, die, selbst wenn sie ausgeführt wäre - sie ist es nicht - nichts»Bewundernswertes«. an sich hätte, nur etwas sehr Folgerichtiges. Nennst Du es bewundernswert,macht es mich eitel, macht mir Orgien der Eitelkeit, trotzdem ich es besser weiß. Das ist schade.Schon das Nichtige eines Kartenhauses fällt zusammen, wenn der Künstler sich aufbläst.(Glücklicherweise ein falscher Vergleich.)Deinen Weg nun sehe ich, wenn es hier ein Sehen gibt, ganz anders. Du bewährst Dich, alsobewahre Dich. Du kannst das Widerstrebende zusammenhalten, ich nicht oder wenigstens nochnicht. Unsere immer enger werdende Nähe wird darin bestehn, daß wir beide »gehn«; bisher fühlteich mich zu oft als Deine Last.Was Du »Verdacht« nennst, scheint mir manchmal nur das Spiel überschüssiger Kräfte zu sein, dieDu, bei noch unvollständiger Konzentration, Deiner Literatur oder dem Zionismus, die ja einessind, vorenthältst. In diesem Sinne also, wenn Du es willst, ein »begründeter Verdacht«.

Damit, daß Deine Frau die Geschichte vorliest, bin ich natürlich einverstanden, mit derVeranstaltung selbst gar nicht. Der Einwand der gleiche wie gegen Frankfurt. Du hast das Rechtaufzutreten, ich, vielleicht auch Fuchs und Feigl (Adresse »Union«) das Recht still zu sein, und dassollten wir ausnützen.Wie verhältst Du Dich zum »Daimon«? Schreibe mir bitte die Adresse von Werfel. Wenn mir eineZeitschrift längere Zeit hindurch verlockend schien (augenblicksweise natürlich jede), so war es dievon Dr. Gross, deshalb weil sie mir, wenigstens an jenem Abend, aus einem Feuer einer gewissenpersönlichen Verbundenheit hervorzugehen schien. Zeichen eines persönlich aneinandergebundenen Strebens, mehr kann vielleicht eine Zeitschrift nicht sein. Aber »Daimon«? Von demich nichts kenne als das Bild seines Redakteurs im »Donauland«.Wenn ich jetzt noch hinzufüge, daß ich vor einiger Zeit Werfel im Traum einen Kuß gegeben habe,falle ich mitten in das Blühersche Buch hinein. Darüber aber nächstens. Es hat mich aufgeregt,zwei Tage lang mußte ich deshalb das Lesen unterbrechen. Im übrigen hat es das mit allemPsychoanalytischem gemein, daß es im ersten Augenblick erstaunlich sättigt, man aber kurznachher den gleichen alten Hunger wieder hat. Psychoanalytisch »natürlich« sehr leicht zu erklären:Eil-Verdrängung. Der Hofzug wird am schnellsten befördert.Jetzt noch: Gesundheit ausgezeichnet (nicht einmal der Professor sprach vom Süden),Besuchsankündigung lieb und gut, Geschenkauffassung sehr fragwürdig, wird nächstens widerlegt.

FranzNein, die Widerlegung noch jetzt, weil sie zu schlagend ist. Wir »schenken« ausschließlich zuunserem Vergnügen, und zwar sowohl zu Euerem gefühlsmäßigen als auch materiellen Schaden.Denn wenn wir nicht »schenken«, sondern verkaufen würden, würden wir natürlich viel mehrschicken als bisher, Ihr würdet durch die Differenz der hiesigen und der Prager Preise weit mehrverdienen als der Wert des »Geschenkten« beträgt und hättet außerdem mehr Lebensmittel. Das tunwir nun aber nicht, wir schädigen Euch und »schenken« rücksichtslos, weil es uns Freude macht.Duldet es deshalb. Wir schicken ja nur wenig und es wird immer weniger.

An Elsa Brod(Postkarte. Zürau, Mitte November 1917)

Liebe Frau Elsa, gewiß! Vermeiden Sie aber, daß es irgendwie in der Zeitung erwähnt wird. WasSie auch wählen, es ist ja eine Kleinigkeit, die sich als Zugabe vielleicht eignet und sonst nicht zu

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erwähnen ist. Und sollte im Text etwas Schmutziges sein, lassen Sie es nicht aus; wollte manwirklich reinigen, wäre ja kein Ende. Und viel Glück! Sie haben einmal das Lied aus der »Höhe desGefühls« so schön gelesen. Vielleicht ergänzt sich Ihre rezitierende Stimme mit Musik so gut.Versuchen Sie es doch einmal mit einem Melodrama trotz aller Abneigungen. - Sie allein werdendiesmal lesen?Herzliche Grüße

Kafka

An Felix Weltsch(Zürau, Mitte November 1917)

Lieber Felix, der erste große Fehler von Zürau: eine Mäusenacht, ein schreckliches Erlebnis. Ichselbst bin ja unangetastet und mein Haar ist nicht weißer als gestern, aber es war doch das Grauender Welt. Schon früher hatte ich es hie und da (ich muß jeden Augenblick das Schreibenunterbrechen, Du wirst den Grund noch erfahren), hie und da in der Nacht zart knabbern gehört,einmal war ich sogar zitternd aufgestanden und habe nachgesehn, es hörte dann gleich auf - diesmalaber war es ein Aufruhr. Was für ein schreckliches stummes lärmendes Volk das ist. Um zwei Uhrwurde ich durch ein Rascheln bei meinem Bett geweckt und von da an hörte es nicht auf bis zumMorgen. Auf die Kohlenkiste hinauf, von der Kohlenkiste hinunter, die Diagonale des Zimmersabgelaufen, Kreise gezogen, am Holz genagt, im Ruhen leise gepfiffen und dabei immer das Gefühlder Stille, der heimlichen Arbeit eines gedrückten proletarischen Volkes, dem die Nacht gehört.Um mich gedanklich zu retten, lokalisierte ich den Hauptlärm beim Ofen, den die Länge desZimmers von mir trennt, aber es war überall, am schlimmsten, wenn einmal ein ganzer Haufenirgendwo gemeinsam hinuntersprang. Ich war gänzlich hilflos, nirgends in meinem ganzen Wesenein Halt, aufstehn, anzünden wagte ich nicht, das Einzige waren einige Schreie, mit denen ich sieeinzuschüchtern versuchte, So verging die Nacht, am Morgen konnte ich vor Ekel und Traurigkeitnicht aufstehn, blieb bis 1 Uhr im Bett und spannte das Gehör, um zu hören, was eineUnermüdliche den ganzen Vormittag über im Kasten zum Abschluß dieser Nacht oder zurVorbereitung der nächsten arbeitete. Jetzt habe ich die Katze, die ich im Geheimen seit jeher hasse,in mein Zimmer genommen, oft muß ich sie verjagen, wenn sie auf meinen Schoß springen will(Schreibunterbrechung); verunreinigt sie sich, muß ich das Mädchen aus dem Erdgeschoß holen; istsie brav (die Katze), liegt sie beim Ofen, und beim Fenster kratzt unzweideutig eine vorzeitigerwachte Maus. Alles ist mir heute verdorben, selbst der gute dumpfe Geruch und Geschmack desHausbrotes ist mäusig.Im übrigen war ich schon unsicher, als ich. gestern abend zu Bett ging. Ich hatte Dir schreibenwollen, auch zwei Seiten zweier Briefe geschrieben, aber es gelang nicht, ich kam nicht bis zumErnst der Sache vor, Vielleicht auch deshalb, weil Du im Anfang Deines Briefes so unernst von Dirsprichst, Dich verlachst, wo unmöglich etwas zum Verlachen sein kann. Mit demGewissensleichtsinn, den Du vorgeblich hast, wärest Du gewiß nicht so alt geworden, ich meine:unter sonst gleichen Umständen. Es kann also nicht so sein, daß neben dem »felsenfesten Glauben«die »leichtsinnigen Theorien« stehn, die ihn doch im Grunde beseitigen, und neben diesen der»Denkzipfel«, der wieder sie beseitigt, so daß schließlich nur der »Denkzipfel« übrigbleibt odervielmehr auch er nicht, denn aus sich heraus kann er sich allein nicht schwenken. So wärest Du alsoglücklich ganz beseitigt, glücklicher Weise bist Du aber doch vorhanden und das ist das Schöne.Darüber aber müßtest Du Dich wundern, es als geistige Leistung bewundern, also mit Max und mireinig sein.Auch sonst hast Du nicht eigentlich recht. (Wunderbar, sie wittert etwas und wagt sich im Sprungin das Dunkel hinter dem Kasten! Jetzt sitzt sie beim Kasten und wacht. Wie mir leichter wird!)Glaube einem Rattenhöhlenbesitzer, daß Deine Wohnung üppig ist, und es stört (abgesehen vonanderem, das Dich eben bewundernswerter Weise nicht stört) dadurch, daß das »räumliche Zuviel«

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das »zeitliche Zuwenig« bewirkt. Deine Zeit liegt eben z.B. als Teppich im Vorzimmer. Mag siedort liegen, sie ist schön als Teppich und gut als Hausfrieden, aber die künftige Zeit sollunverwandelt bleiben, für Dich und alle.Meine Frage nach der Ethik war, wie ich jetzt sehe, eigentlich eine Bitte nach schriftlichenVorlesungen, die ich als Ungeheuerlichkeit zurücknehme. Allerdings weiß ich dann mit DeinerBemerkung über Glaube und Gnade und das Auseinandergehn mit Max oder gar mir nichtsanzufangen.Meine Gesundheit ist recht gut, vorausgesetzt, daß die Mäusefurcht der Tuberkulose nicht zuvorkommt.Noch eine interessante Einzelheit aus dem militärischen Programm der Mittelmächte für 1918:Meiner Enthebung ist als Endtermin der 1.1.1918 gegeben. Hier ist Hindenburg einmal zu spätgekommen.Herzliche Grüße Dir und Deiner Frau (bei der ich ja seit der Taschengeschichte leider nichts mehrzu verlieren habe).

Franz

An Max Brod(Zürau, 24. November 1917)

Lieber Max, viel freie Zeit, aber zum Briefeschreiben merkwürdigerweise doch nicht. Rechne esnach: Seit der Mäuseplage, von der Du vielleicht schon gehört hast (lange Unterbrechung, mußteeine Schachtel Und einen Topf bemalen), habe ich eigentlich kein Zimmer. Mit der Katze, aber nurmit ihr, kann ich dort knapp übernachten, aber dort etwa zu sitzen, um einmal hinterm Korb, einmalbeim Fenster es rascheln zu hören (man hört Kralle für Kralle), dazu habe ich keine Lust, aber auchdie Katze, die übrigens ein äußerst gutes kindliches Tier ist, während des Schreibens oder Lesenszu überwachen, sich davor bewahren, daß sie auf den Schoß springt oder rechtzeitig mit der Aschedabei sein, wenn sie ihre vielfache Sache abtut, ist sehr umständlich; ich bin, kürzer gesagt, auchmit der Katze nicht gern allein beisammen, sind Leute dabei, verliert es fast jede Peinlichkeit, sonstaber ist es schon lästig genug, vor ihr sich auszuziehn, zu turnen, ins Bett zu gehn.Bleibt mir also nur das Zimmer der Schwester, ein sehr angenehmes Zimmer, der Schrecken, mitdem man es vielleicht zum erstenmal von der Schwelle überschaut (ebenerdig, vergitterte Fenster,abbröckelnde Mauer) ist ganz unberechtigt, aber Gelegenheit zum Schreiben, wenn man abendschreiben will, gibt es als gemeinsames Zimmer natürlich wenig. Bei Tag aber - die Tage sind sokurz, wenn man im Bett frühstückt, spät aufsteht und es fast um zwei Uhr in dem ebenerdigenZimmer schon dunkel wird - bei Tag aber, es sind nicht viel mehr als drei Stunden, vorausgesetztdaß der Himmel nicht stark bewölkt ist, dann sind es noch weniger und werden in den Winterhinein noch weniger werden, liege ich entweder im Freien oder beim Fenster und lese; diese Zeit,wo man zwischen Dunkel und Dunkel aus einem Buch etwas erschnappen will (und dazwischensäubern doch auch Honved das Piavedelta, aus Tirol wird der Stoß geführt, Jaffa erobert, Hantkeempfangen, Mann hat mit einer Vorlesung großen Erfolg, Essig gar keinen, Lenin heißt nichtZederblum sondern Uljanoff- u. dgl.) diese Zeit also will man nicht zum Schreiben verwenden undkaum will man nicht, ist es schon finster und man sieht nur noch die Gänse undeutlich draußen imTeich, diese Gänse, die (davon könnte ich viel erzählen) sehr widerlich wären, wenn man nichtnoch widerlicher mit ihnen umgehen würde. (Heute lag eine abgeschlachtete Stopfganz draußen inder Schüssel, anzusehen wie eine tote Tante.)Also keine Zeit, das wäre bewiesen, bliebe noch zu beweisen, daß es so richtig ist. Es ist richtig. Ichweiß es nicht immer, das ist aber mein Fehler und ich erkenne ihn auch immer, sogar noch einenAugenblick Früher, ehe ich ihn mache. Hätte ich noch die alten Prinzipien: - meine Zeit ist derAbend und die Nacht, - wäre es schlimm, besonders auch, da es mit dem Licht Schwierigkeitengibt. Da es aber nicht mehr so ist, ich ja gar nicht schreibe, mich vor mäuseloser beleuchteter

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Abend- und Nachtruhe zwar nicht fürchten würde, aber auch nicht auf sie abziele, die freie Zeitvormittag im Bett, (kaum ist die Katze am Morgen weggeschafft, fängt es allerdings schonirgendwo hinterm Schrank zu kratzen an. Mein Gehör hat sich tausendmal verfeinert und istebensoviel unsicherer geworden, streiche ich mit dem Finger übers Leintuch, weiß ich nicht mehrganz bestimmt, ob ich nicht eine Maus höre. Aber Phantasien sind die Mäuse deshalb nicht, magerkommt abends die Katze zu mir herein und wird am Morgen dick hinausgetragen), die paarAugenblicke beim Buch (jetzt Kierkegaard), gegen Abend ein Spaziergang auf der Landstraße, mirals Alleinsein genügen und nur immer voller erfüllt sein wollten, ist äußerlich keine Klage nötig, eswäre denn, daß es demütigend ist, umsorgt und von fremder Arbeit umgeben zu sein, während man,ohne die sichtbaren Zeichen der Krankheit zu haben, doch zu irgendwie ansehnlicher Arbeitäußerlich unfähig ist. Ich habe letzthin nur ganz wenig im Gemüsegarten zu arbeiten versucht undfühlte es nachher stark genug.Ottla ist in Prag, vielleicht bringt sie mir noch genauere Nachricht über den Wiener Abend.Besseres als Jugend konntest Du im Saal nicht haben. Auch ich habe ein ähnliches Vertrauen zuihr, trotzdem ich es zu meiner Jugend gar nicht hatte und hätte es doch einfach als Jugend, alszukunftlose, lediglich junge Jugend ebenso verdient. Wie schön muß es sein, dieses Vertrauenbeweisen zu können, wie Du z.B. letzthin in Komotau, wo Rührung (Du schriebst davon) durchausmeine Sache war.

FranzIch merke jetzt, daß ich gestern abend alles, d.h. meine innere Situation zu leicht und leichthingesehen habe.Sendung 5 (Rundschau, Hiller, Marsyas) angekommen.Was macht Oskar? Ich schreibe ihm gar nicht und er schickt mir den versprochenen Roman nicht.Aber zu Neujahr kommt Oskar für einige Tage her.Eine Neuigkeit: den ganzen Vormittag habe ich die Ohren gespitzt und jetzt sehe ich neben der Türein frisches Loch. Also auch hier Mäuse. Und die Katze heute unwohl, erbricht fortwährend.

An Oskar Baum(Zürau, Ende November/ Anfang Dezember 1917)

Lieber Oskar, ich habe gar nicht geschrieben und Du hast gar nicht den versprochenen Romangeschickt. Das ist das Äußerliche, sonst aber hat sich hier nichts verändert, und drüben hoffentlichauch nicht.Zürau ist schön wie immer, nur wird es winterlich, der Gänseteich vor dem Fenster friert schonmanchmal zu, schön schleifen die Kinder, und mein Hut, der mir im Nachtsturm in den Teichfliegt, muß am Morgen fast losgeeist werden, Mäuse haben sich fürchterlich gezeigt, was Dirunmöglich verborgen geblieben sein kann, ich habe sie mit der Katze, die ich immer abends überden Ringplatz »warm im Arm« nach Hause trage, ein wenig vertrieben, aber schon gestern wiederist eine rohe Backofenratte, die wahrscheinlich noch niemals in einem Schlafzimmer war, miteinem unerhörten Gepolter bei mir eingebrochen, ich mußte die Katze aus dem Nebenzimmer, woich sie wegen meiner Unfähigkeit zur Reinlichkeitserziehung und aus Angst vor Bettsprüngenuntergebracht habe, rufen; wie bereitwillig stieg das gute Tier aus einer Schachtel unbekanntenInhalts, die aber jedenfalls nicht zum Schlafen bestimmt ist und meiner Hausfrau gehört; dannwurde es still. Sonstige Neuigkeiten: eine Gans ist totgestopft worden, der Fuchs hat die Räude, dieZiegen waren schon beim Bock (der ein besonders schöner Junge sein soll; eine Ziege, die schonbei ihm gewesen war, lief in plötzlicher Erinnerung den langen Weg von unserem Haus zum Bocknoch einmal zurück) und das Schwein soll nächstens glattweg abgeschlachtet werden.Das ist ein gedrängtes Bild des Lebens und Sterbens, dem Du also Neujahr ganz nahekommenwirst, Wie es mit mir dann sich verhalten wird, weiß ich allerdings noch nicht bestimmt. Nach demvormonatlichen Ausspruch des Professors müßte ich eigentlich schon im Bureau sein, obwohl ich

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bürgerlich gewiß nicht gesund bin (sonst allerdings mich gesundheitlich kaum jemals wohlergefühlt habe). Entgehe ich wenigstens noch für die nächste Zeit dem Bureau, worauf (auf dasEntgehn nämlich) mein ganzes Wünschen gerichtet ist, dann will ich es so machen: Ende Dezembermuß ich jedenfalls nach Prag kommen, denn meine Enthebung geht am 1. Jänner zu Ende und ichmuß mich stellen. Da man wohl kein Interesse daran hat, mich in Ple� zu verpflegen, während iches hier selbst tue, wird man mich (andere Hilfe als den gesunden Verstand des Kommissionsrateswerde ich vielleicht auch noch haben) wahrscheinlich wegschicken. Dann nur eiligst wieder nachZürau und Du könntest ausgezeichnet mit mir fahren. So wäre es am besten, für michhauptsächlich. Was Dich betrifft, so kommst Du ja ohne Rücksicht auf mein Schicksal jedenfallshierher. Ottla freut sich sehr. Bett und Katze werden vorbereitet, Schnee und Frost kommen auseigenem.Und der Roman?Herzlichste Grüße Dir, Frau und Kind.

Franz

An Felix Weltsch(Zürau, Anfang Dezember 1917)

Lieber Felix, schon Max sagte der Ottla, daß es Dir gut geht, und Dein Brief bestätigt es auch gegenDeinen Willen. Was für Arbeit! Drei bis vier Bücher täglich und seien es auch immer die gleichen.Nicht die Menge an sich ist natürlich das Erstaunliche, aber die Stärke des Suchens, die sich darinzeigt. Auch ich lese, vergleichsweise allerdings fast nichts, aber ich kann nur Bücher halten, die mirvon Natur sehr nah sind, nah bis zur Berührung, alles andere marschiert an mir vorüber, suchenkann ich es schlecht.Wenn Du mir eine gutgedruckte und käufliche Ausgabe der »Bekenntnisse« (so heißt das Buchdoch wohl) des Augustinus angeben könntest, würde ich es mir gern bestellen. Wer war Pelagius?Vom Pelagianismus habe ich schon so viel gelesen und keinen Hauch behalten, etwas Katholisch-Ketzerisches vielleicht? Wenn Du Maimonides liest, würde Dir vielleicht »Salomon MaimonsLebensgeschichte« (von Fromer bei Georg Müller herausgegeben) etwas beitragen können, auch ansich ein gutes Buch, eine äußerst grelle Selbstdarstellung eines zwischen Ost- und Westjudentumgespenstisch hinlaufenden Menschen. Dann aber auch ein Abriß der Lehre des Maimonides, dessengeistiges Kind er sich fühlte. Aber wahrscheinlich kennst Du das Buch besser als ich.Daß Du ins Religiöse kommst, wundert Dich? Du hast deine Ethik ursprünglich das einzige, wasich von ihr bestimmt zu wissen glaube - ohne Fundament gebaut und nun merkst Du vielleicht, daßsie doch Fundamente hat. Wäre das so merkwürdig?Mäuse vertreibe ich mit der Katze, aber womit soll ich die Katze Vertreiben? Du glaubst, Du habestnichts gegen Mäuse? Natürlich, Du hast auch gegen Menschenfresser nichts, aber wenn sie in derNacht unter allen Kästen hervorkriechen und die Zähne fletschen werden, wirst Du sie bestimmtnicht mehr leiden können. Übrigens suche auch ich mich jetzt auf Spaziergängen durch Betrachtungder Feldmäuse abzuhärten, sie sind ja nicht übel, aber das Zimmer ist kein Feld und der Schlaf keinSpaziergang.Trompeten allerdings - auch Deine wird schon austrompetet haben - gibt es hier wieder nicht unddie Kinder, die immer großartig gelärmt und mich doch nie wesentlich gestört haben, sind, seitdemder Gänseteich zugefroren ist, auf hundert Schritte Entfernung sogar sanft und schön geworden.Eine Bitte: Die Tochter eines reichen hiesigen Bauern oder vielleicht des reichsten, ein rechtangenehmes, etwa 18jähriges Mädchen, will für ein Vierteljahr nach Prag fahren. Zweck:Tschechisch lernen, Klavierspielfortsetzen, Haushaltungsschule und - was vielleicht derHauptzweck ist - irgend etwas nicht genau zu umschreibendes Höheres erreichen, denn ihreStellung hier hat insofern etwas Verzweifeltes, als sie z.B. zwar infolge ihres Vermögens, ihrerKlostererziehung keine ebenbürtige Freundin hier hat und doch auch wieder nicht weiß, wo ihr

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eigener Platz ist. Auf solche Weise kann auch ein glänzend christliches Mädchen einer Jüdin nichtunähnlich werden. Das alles sage ich übrigens nur auf Grund eines oberflächlichen Eindrucks, ichselbst habe kaum fünfzig Worte mit ihr gesprochen.Dich bitte ich in dieser Sache deshalb um Rat, weil ich keinen eigenen weiß und weil Du doch soviele Tschechen kennst, die ein solches Mädchen, dessen Besitz Hungersnot ausschließt, vielleichtsehr gern in ihre Familie aufnehmen und ihr auch darin, was sie will, wirklich nützen könnten. DerRat müßte aber bald gegeben werden.Meine Einrückung macht mir wenig Sorgen, übrigens ist auch gewiß überflüssigerweise noch etwasvon der Anstalt veranlaßt worden. Mehr, vielleicht nicht Sorgen, aber Gedanken macht mir meinVerhältnis zur Anstalt, über das doch in allernächster Zeit irgend etwas entschieden werden muß.Ginge es nach dem Professor, müßte ich eigentlich schon im Bureau sitzen.Herzliche Grüße

Franz

An Max Brod(Zürau, Anfang Dezember 1917)

Lieber Max, nur Zufall, daß ich erst heute antworte und eben auch die Zimmer-, Licht- undMäuseverhältnisse. Aber mit Nervosität und einem Stadt-Dorf-Austausch hat das nichts zu tun. Daswas ich gegenüber den Mäusen habe, ist platte Angst. Auszuforschen woher sie kommt, ist Sacheder Psychoanalytiker, ich bin es nicht. Gewiß hängt sie wie auch die Ungezieferangst mit demunerwarteten, ungebetenen, unvermeidbaren, gewissermaßen stummen, verbissenen,geheimabsichtlichen Erscheinen dieser Tiere zusammen, mit dem Gefühl, daß sie die Mauernringsherum hundertfach durchgraben haben und dort lauem, daß sie sowohl durch die amengehörige Nachtzeit als auch durch ihre Winzigkeit so fern uns und damit noch weniger angreifbarsind. Besonders die Kleinheit gibt einen wichtigen Angstbestandteil ab, die Vorstellung z.B., daß esein Tier geben sollte, das genau so aussehn würde wie das Schwein, also an sich belustigend, aberso klein wäre wie eine Ratte und etwa aus einem Loch im Fußboden schnaufend herauskäme - dasist eine entsetzliche Vorstellung.Seit ein paar Tagen habe ich einen recht guten, wenn auch nur provisorischen Ausweg gefunden.Ich lasse die Katze während der Nacht im leeren Nebenzimmer, verhüte dadurch dieVerunreinigung meines Zimmers (schwer ist, sich in dieser Hinsicht mit einem Tier zuverständigen. Es scheinen lediglich Mißverständnisse zu sein, denn die Katze weiß infolge vonSchlägen und verschiedenen sonstigen Aufklärungen, daß die Verrichtung der Notdurft etwasUnbeliebtes ist und der Ort dafür sorgfältig ausgesucht werden muß. Wie macht sie es also? Siewählt z.B. einen Ort, der dunkel ist, der mir ferner ihre Anhänglichkeit beweist und außerdemnatürlich auch für sie Annehmlichkeiten hat. Von der Menschenseite aus gesehn ist dieser Ortzufällig das Innere meines Pantoffels. Also ein Mißverständnis und solcher gibt es so viele alsNächte und Bedürfnisse) und die Möglichkeit des Bettsprungs, habe aber doch die Beruhigung,wenn es schlimm werden sollte, die Katze einlassen zu können. Diese letzten Nächte waren auchruhig, wenigstens gab es keine ganz eindeutigen Mäuseanzeichen. Dem Schlaf nützt es allerdingsnicht, wenn man einen Teil der Katzenaufgabe selbst übernimmt, mit gespitzten Ohren undFeueraugen aufrecht oder vorgebeugt im Bett horcht, aber so war es nur in der ersten Nacht, es wirdschon besser.Ich erinnere mich an die besonderen Fallen, von denen Du mir schon öfter erzählt hast, die sindaber wohl jetzt nicht zu haben, auch will ich sie eigentlich nicht, Fallen locken ja sogar noch an undrotten nur die Mäuse aus, die sie totschlagen, Katzen dagegen vertreiben die Mäuse schon durch diebloße Anwesenheit, vielleicht sogar schon durch die bloßen Ablagerungen, weshalb auch diesenicht ganz zu verachten sind. Auffallend war es besonders in der ersten Katzennacht, welche aufdie große Mäusenacht folgte. Es war zwar noch nicht ganz »mäuschenstill«, aber keine lief mehr

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herum, die Katze saß, verdüstert wegen des ihr aufgezwungenen Lokalwechsels, im Winkel beimOfen und rührte sich nicht, aber es genügte, es war wie die Anwesenheit des Lehrers, nur nochgeschwätzt wurde hie und da in den Löchern.Du schreibst so wenig von Dir, ich räche mich mit den Mäusen. Du schreibst: »ich warte aufErlösung«. Glücklicherweise deckt sich Dein bewußtes Denken und Dein Handeln nicht ganz. Werfühlt sich denn nicht »krank, schuldbewußt, ohnmächtig« im Kampf mit seiner Aufgabe odervielmehr als Aufgabe, die sich selbst löst? Wer kann erlösen, ohne daß er gleichzeitig erlöst würde?Auch Janáèek (um dessen Brief Dich übrigens meine Schwester bittet) läuft am Tage seinesKonzertes in Prag herum. Im übrigen: Du bist nicht wehleidig und das alles sind Augenblicke. Undjene Talmuderzählung würde ich anders erzählen: Die Gerechten weinen, weil sie so viel Leidhinter sich zu haben geglaubt hatten und nun sehen, daß es nichts war im Vergleich zu dem, was siejetzt sind. Die Ungerechten aber - gibt es solche?Meinen vorletzten Brief hast Du mit keinem Wort beantwortet, auch Werfels Adresse nichtgeschickt, deshalb mußt Du jetzt, bitte, meinen Brief an Werfel selbst schicken. Eine Einladungvom »Anbruch«so hast Du wohl veranlaßt?

Franz

An Max Brod(Postkarte. Zürau, Anfang Dezember 1917)

Liebster Max - eine gute Tat, es war die erste Nachricht hier, ich bekam sie ins Bett, es drehtemeine ganzen Morgenphantasien herum. Auch zwei Sendungen bekam ich in der letzten Zeit, heutedie zweite (Jüdische Rundschau, Panideal (eine, von der Sache unabhängig, grauenhafte Schrift),Proscenium (Konkurrenzblatt des »Artist«), Kataloge Löwit (die ich mir vielleicht behalten darf),Aktion, Tablettes, Al�bìta (Janáèeks Erwähnung einer Leipziger Premiere ist wohl ein Irrtum, ermeint die Dresdner? Was stand in der Hudební Revue?) So viel also. Du darfst schenken, wir nicht.Das Buttergeschäft hat hier nicht befriedigt, einen küssen-wollen- den Mund klebt man doch nichtmit einer Banknote zu. (Eben höre ich in der Küche, als Unterbrechung eines abscheulichen Liedes,den Schreckensruf: »Eine Maus!« Bleibe kühl.) Eine Bitte, Max: Donauland lädt mich ein, miteiner Nachschrift von Dr. Körner. Ich muß ihm antworten, kann ihm aber die Antwort unmöglich indie Redaktion schicken, besonders mit Rücksicht auf eine gedruckte Bemerkung in der Einladung.Frau Fanta hat aber gewiß K's Privatadresse. Sei so freundlich und verschaff sie mir, aber bald,wenn es möglich ist.

FranzBei den Proben in Dresden wirst Du nicht sein?

An Max Brod(Zürau, Stempel: 10. XII. 1917)

Lieber Max, ein Mißverständnis: keine schlaflosen Nächte wegen der Mäuse außer der erstenwilden Nacht. Ich schlafe überhaupt vielleicht nicht sehr gut, aber im Durchschnitt zumindest sogut wie in den besten Prager Schlafzeiten. Auch die »Feueraugen« bedeuteten nur, daß ich mitMißlingen Katzenaugen in das Mäusedunkel hinein zu machen versuchte, und jetzt ist das alles,wenigstens vorläufig, überflüssig, denn eine Schachtel mit Sand nimmt fast alles gesammelt auf,was die Katze früher über Teppiche und Kanapee verstreute. Wunderbar wenn man mit einem Tiereinig geworden ist. Wie ein gut erzogenes Kind geht es abend, nachdem es Milch bekommen hat,zur Schachtel, steigt hinein, buckelt sich, weil die Schachtel zu klein ist, und tut, was es muß. DieseAngelegenheit macht mir also augenblicklich keine Sorgen. »Mäuseloses Sanatorium«: »mäuselos«

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was ja gleichzeitig »katzelos« bedeutet, ist allerdings ein großes Wort, aber nicht so groß, als dasWort »Sanatorium« klein ist und darum will ich doch nicht gern hinein. Meine Gesundheit istgleicherweise gut: Aussehen befriedigend, Husten, wenn es möglich ist, noch seltener als in Prag,es gibt wohl Tage, ich achte nicht darauf, an denen ich gar nicht huste, die Kurzatmigkeit allerdingsdürfte noch ebenso bestehn, d. h. sie kommt bei meinem gewöhnlichen arbeitslosen Lebenüberhaupt nicht hervor, nicht einmal bei meinen Spaziergängen, nur wenn ich während des Gehnsmit jemandem reden soll, - das wird zuviel. Aber das ist eine Begleiterscheinung des ganzenZustandes, über den sich ja auch der Professor, als ich ihm davon erzählte, und auch Dr. Mühlsteingar nicht aufhielt. Ich weiß nicht, warum sich die Sanatoriumfrage jetzt entscheiden soll, das nicht,aber die Anstaltsfrage wird sich entscheiden, denn wenn ich jetzt zum Professor komme, wird ermich für den Winter in die Anstalt schicken wollen, ich aber werde nicht gehn oder so unendlichzögernd, daß es vom Direktionsfenster aus gesehn, wie ein Nichtgehn aussehn wird. Aber es ist vorallem deshalb kein Spaß, weil sie wahrhaft freundlich zu mir sind und manches mancheminsbesondere von manchem nicht begreiflich gemacht werden kann.Zweites Mißverständnis: ich will Dich nicht trösten, indem ich Dein Kranksein anzweifle. Wiekönnte ich es anzweifeln, da ich es doch sehe. Auf Deiner Seite stehe ich nur deshalb entschiedenerals Du, weil ich Deine Würde, Deine Menschenwürde dadurch bedroht fühle, daß Du unter demKranksein so sehr leidest. Gewiß, es ist leicht in einer ruhigeren Zeit so zu urteilen und Du wirst esebenso tun, aber ein Vergleich etwa zwischen meinem Früher und Deinem Jetzt müßte dochunterscheiden. War ich verzweifelt, so war ich es unverantwortlich, mein Kranksein und mein-unter-dem-Kranksein- Leiden war eines, ich hatte fast nichts darüber hinaus. So steht es aber mitDir nicht. In Deinem Fall heißt es nicht: es dürfte, heißt es vielmehr: es darf keinen so starkenAngriff geben, daß Du vor ihm so zurückweichst, wie Du es tust oder wie Du, das ist mein Glaube(der Dich nicht trösten soll, sondern nur mein Glaube ist), es zu tun scheinst, Dir selbst zu tunscheinst.Ich glaube nicht, daß ich Dir einen wesentlicheren Rat hätte geben können, als das geringfügigUnbestimmte, das ich sagte. Ich wäre allerdings noch sehr gern stundenlang in Deinem Bureau mitDir gesessen, dort war es besonders schön, und hätte Dir zugehört, aber das hätte nur meine Freude,unabhängig vom Gut und Böse des Vorgelesenen ergeben, aber keinen entscheidenden Rat, keinenim Einzelfall brauchbaren Rat. Solche Ratschläge konnte ich niemals geben, jetzt aber aus andernGründen nicht. Ich glaube, solche Ratschläge können nur aus dem Geiste der Selbstbeherrschungs-Pädagogik, die mir immer hilfloser erscheint, gegeben werden. Mir fällt, sehr undeutlich allerdings,ein Beispiel aus Förster ein, welches zeigt, wie man unfehlbar einem Kinde Überzeugungbeibringen kann, daß nicht nur jeder Mensch beim Eintritt ins Zimmer die Tür hinter sich zuschließen hat, sondern unbedingt auch dieses Kind diese Tür. - Eine Aufgabe, der gegenüber ichratlos wäre, aber der gegenüber ich Ratlosigkeit für richtig halte. Gewiß ist es schwer, die Fähigkeitdes Türschließens zu erkitzeln, aber es ist auch sinnlos, es wäre denn, daß es wenigstens unrecht ist.Ich will damit etwa sagen: es ist vielleicht möglich zu raten, aber besser ist Nicht-ablenken. - Max,Du fehlst mir zumindest nicht weniger, aber das Bewußtsein, daß Du lebst, daß ich Dich habe, daßBriefe von Dir kommen, gibt mir in dieser Richtung Ruhe. Und außerdem weiß ich, daß Du dasGlück des Romans hast, das Du auf keine W eise entschuldigen kannst.

Franz(Randbemerkung:) Wegen der Einladung des »Anbruch« fragte ich deshalb, weil ich mir sonstnicht erklären konnte, woher man meine Zürauer Adresse wußte. Die sagtest Du also ihnen doch?Bitte rechtzeitig schreiben, wann Du nach Dresden fährst. Wegen meiner Prager Reise.

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An Oskar Baum(Zürau, Mitte Dezember 1917)

Lieber Oskar, ich komme zwar in den nächsten Tagen zu Dir, aber dieses muß ich doch nochschreiben, weil Du davon schreibst: Das einzige Bedenken, das ich gegen Deinen Besuch habe(abgesehen von meiner allerersten Zürauer Zeit, wo gewisse Angewöhnungen, die im Zuge waren,vielleicht die Notwendigkeit vollständigen Alleinseins glaubhaft machen konnten); ist, daß Dirmöglicherweise - und das allerdings sucht mir Ottla auszureden - Zürau oder ich oder sonstwasnicht gefallen könnte. Wird Dir aber etwas hier irgendwelche Freude machen, dann werde ich - dasist gewiß - diese irgendwelche Freude zweifach haben. Darüber müssen wir jetzt nicht mehrsprechen.Das, was ich von den Mäusen geschrieben habe, war natürlich nur Spaß. Ernst nämlich wird es erstdann werden, bis Du die Mäuse wirklich hörst. Ich glaube nicht, daß es einen Schriftsteller- undMusikerschlaf gibt, der ihnen widerstehen könnte, und kein entsprechendes Herz, das, nichteigentlich von Angst, aber von Ekel und Traurigkeit nicht überliefe. Aber auch das ist nur Spaß,denn ich höre dank der Katze schon seit langer Zeit nichts Verdächtiges, was immerhin schonetwas bedeuten will, denn ich werde in Prag ohne Katze zweifellos hie und da Mäuse hören.Übrigens hat mich jetzt Max auf eine Falle aufmerksam gemacht, die vierzig Mäuse auf einmal (ichweiß nicht ob mit einem Ruck oder allmählich) fangen kann, sie ist schon bestellt und wird sich beimir wohlfühlen. Und Du unter ihrem Schutz.Das wäre vorläufig das Wichtigste, alles übrige Wichtige, z.B. über Zürauer Verkehrsformen, nachwelchen keine Magd, sondern ein Fräulein die Gänse stopft, u. dgl., werden wir mündlichbesprechen, auch den Roman, der nicht kommen will, werde ich mir wohl holen müssen und wirlesen ihn dann zu dritt.

An Josef Körner(Zürau, Stempel: 17. XII. 1917)

Sehr geehrter Herr Doktor,Sie waren einmal so freundlich zu mir ins Bureau zu kommen, um wegen D. mit mir zu sprechen;damals sagte ich, daß ich einen Beitrag schicken werde, schickte dann aber nichts. (Sie allerdingsversprachen mir, Ihre Schrift über Arnim zu schicken, schickten sie aber auch nicht). Dann erschienIhr Aufsatz im D., in der mich betreffenden Stelle über alle erdenkbaren Grenzen Lob häufend, wasmir eine Orgie der Eitelkeit verursachte und außerdem ein ängstliches Gefühl, Sie so verführt zuhaben. Und jetzt kam Ihre Einladung.Sie erlauben mir gewiß ein offenes Wort: D. scheint mir eine unheilbare Lüge zu sein, er kann diebesten Leute um sich haben, der litterarische Teil kann, wie es von Ihnen zweifellos geschehenwird, mit bester Absicht und Kraft geführt werden - das Unreine kann nicht rein gemacht werden,wenn es aus seiner Quelle notwendiger Weise immer neue Unreinheit hervorbringen muß. Ich sagedamit nichts gegen Österreich, nichts gegen Militarismus, nichts gegen den Krieg, nicht etwasdavon ist es, was mich im D. abschreckt, es ist vielmehr die besondere Mischung, die ausgesuchtfrevelhafte Mischung, aus der die Zeitschrift hervorgekocht worden ist.Es ist nicht Anmaßung, daß ich Ihnen sehr geehrter Herr Doktor das schreibe. Vom PragerCivilleben oder gar von meiner Landruhe aus (ich bin hier schon ein Vierteljahr, krank, aber nichtwesentlich bedauernswert) würden Sie es gewiß nicht viel anders ansehen, als Mitarbeiterallerdings als gezwungener Mitarbeiter zwar nur, müssen Sie es als immerhin geistigeAngelegenheit, die Ihnen anvertraut wird, ernst nehmen und sehen nicht die Zeitschrift vor sich,sondern Ihren eigenen guten Willen, mit dem Sie ihr dienen.Ich für mein Teil kann mir nur 3 Gründe für eine Mitarbeit denken:

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Erstens den Gedanken daran, daß Sie Redakteur sind. Aber gerade das muß mich abhalten, denn ichwill Sie in meiner Erinnerung nicht mit der Tatsache zusammenbringen, daß ich Ihretwegen, undsonst freiwillig, an etwas erkennbar Unwahrem mich beteiligt habe, wozu dann auch noch dieRücksicht darauf kommt, daß Sie für Ihre Zeitschrift natürlich nicht den allergeringsten Schadendurch mein Ausbleiben erleiden, denn die Einladung geht ja nur auf Ihre besondere Freundlichkeitmir gegenüber zurück und auf nichts sonst.Zweitens der Gedanke, daß die Mitarbeit vielleicht für meinen Militärdienst mir irgendwie nützlichsein könnte. Aber das entfällt bei mir, denn ich bin krank.Drittens die Rücksicht auf ein mögliches Honorar. Aber augenblicklich brauche ich es nicht und fürdie Zukunft will ich so nicht sorgen.Das alles könnten unter Umständen vollständig ehrenwerte Begründungen meiner Mitarbeit sein,sie kommen aber eben hier nicht in Betracht.Es ist nun sehr geehrter Herr Doktor Ihre Sache mir durch Zusendung Ihrer Arnimschrift (Siesagten, glaube ich, Sie hätten nur ein Exemplar, ich würde es aber sehr bald zurückschicken) zuzeigen, daß Sie im Grunde, selbst wenn Sie das Vorgebrachte nicht ganz billigen sollten, mir dochnicht böse sind. Das wäre mir sehr lieb.Mit herzlichen Grüßen Ihr ergebener

F Kafka Zürau P. Flöhau (Böhmen)

An Felix Weltsch(Zürau, Mitte Dezember 1917)

Lieber Felix!Wärest Du doch gekommen! Denn, das merke Dir, als Zuflucht (nicht als Ziel, Ziel bin weder ichnoch Zürau) gehört Dir ausnahmslos alles, was ich in Zürau bin und habe, alles »mit Mann undMaus«.Daß solcher Arger zur Arbeit notwendig ist, glaube ich eigentlich nicht, das zur Arbeit nötigeZufluchtverlangen ist schon durch das allgemeine alte Rippenwunder und die daraus hervorgehendeVertreibung gegeben.Ich hätte nicht geglaubt, daß es so schwer ist, für ein Mädchen einen Platz zu finden, offenbargehört die Schwierigkeit zu ihrem Fluch (den sie übrigens, damit Du Dir keine falsche Vorstellungdavon machst, sehr munter trägt). Vielleicht finden wir gemeinsam etwas, denn ich kommewahrscheinlich schon übermorgen nach Prag. Was mich betrifft, wäre ich erst später gekommen,aber F. kommt.

FranzDer Abschluß mit Wolff freut mich sehr.

An Max Brod(Zürau, 18./19. Dezember 1917)

Lieber Max, ich hätte Dir schon längst für Esther gedankt, aber sie kam gerade in die innerlichschlimmsten Tage - auch das gibt es - die ich bisher in Zürau hatte. Es ist die Unruhe, dieWellenunruhe, die nicht aufhören wird, solange die Schöpfungsgeschichte nicht rückgängiggemacht wird. Aber es ist etwas anderes als Dein Leid, insoferne als niemand außer mir mithineingezogen wird, es wäre denn die eine, die es vielleicht und hoffentlich allmählich zu fühlenaufhört.Deine Sache hat also Fortschritte gemacht in einer Richtung, wo ich kaum welche mehr erwartethätte. Aber immer noch glaube ich, daß die Entscheidung hier weder von rechts noch links, nichtvon den Frauen kommen wird. Denn wie es anderswo auch sein mag, ich sehe Dich nicht hier,

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nicht dort unbedingt lieben, das Negative hier jagt Dich auf und hinüber, das Negative dort jagtDich wieder zurück, vielleicht kannst Du Dich für Ruth entscheiden, zwischen diesen beidenFrauen aber tust Du nicht so, als ob Du es könntest oder als ob es von Dir verlangt würde oder alsob es Deine Sache wäre. Das Weinen scheint nicht dem Ort zu gelten, wo Du es tust, hier weinstDu wegen jener, dort wegen dieser oder wenn auch gewiß nicht in dieser Bestimmtheit, so ruhst Dudoch wohl in keiner.Könnte man das nicht so deuten, daß Du überhaupt aus diesem Kreis verwiesen wirst. Natürlichträgt diese Deutung allzusehr mein Zeichen.Die Frau tut Übermenschliches? Gewiß. Vielleicht nur Übermännliches, aber auch das ist natürlichübergenug.»Esther« habe ich Ottla in einem Zug vorgelesen (auch eine Atemleistung, nicht?). Im Ganzen hatsich der Eindruck von Prag bestätigt, also die Bewunderung eines großen Teiles des Vorspieles, fastalles dessen, was Haman gehört, - eine wirklich große Unterbrechung, infolge deren ich dasangefangene Blatt zerreiße, hauptsächlich wegen der Unterbrechung. Unser Fräulein war heute inFlöhau und bringt jetzt abend die Post, die ich sonst erst morgen bekommen hätte: DeineGeschenke überwiegen, die Drucksachensendung, die Karte, zu der sich nichts sagen läßt (Werfelbricht immer so aus und ist es bei Dir Gutsein zu mir, so gilt es gern in jeder Weise), dann Zeitungund Selbstwehr, dann ein langer Brief von meinem Oberinspektor (mit dem ich in sehr freundlicherVerbindung bin, er war auch hier zu Besuch), schließlich aber, und das ist die Unterbrechung, einBrief von F., die ihre Ankunft für Weihnachten anzeigt, trotzdem wir vorher eindeutig über dasSinnlose, ja Böse einer solchen Fahrt uns geeinigt zu haben schienen. Aus verschiedenen desAufzählens nicht werten Gründen werde ich deshalb wahrscheinlich, trotzdem ich erst nachWeihnachten nach Prag kommen sollte, schon diesen Samstag gegen Abend kommen.

zurück zu Esther so gut es danach geht.

Bewunderung des zweiten Aktes, der mich durchdringt, und des ganzen Anteiles der Juden. AlleAbneigungen gegen Kleinigkeiten, die Du kennst, blieben, da ich sie für mich begründen kann.Aber andererseits wußte ich auch im Voraus, daß ich das Stück anders lesen würde, als in derschlechten Unruhe in Prag. Das Ergebnis dessen aber ist, daß ich das Stück weniger gut zuverstehen glaube und daß mir gleichzeitig die Wichtigkeit des Stückes noch mehr aufgegangen ist.Ich meine damit: ich faßte es auch früher, etwa so wie man etwas am Henkel faßt, als Kunstwerkalso, aber ich umfaßte es nicht und dazu reicht mein Verständnis des Stückes nicht hin. Es liegt diesvielleicht an der Grundschwierigkeit, daß etwas notwendig Unwahres dadurch gegeben ist, daß diedrei Spieler Haman, König und Esther doch nur Eines sind, eine ebenso künstliche als künstlerischeDreifaltigkeit, die durch ihre ineinander sich wühlenden Teile solche Voraussetzungen,Spannungen, Durchblicke, Folgerungen entstehen läßt, die nur zum Teil, wenn auch zum größtenTeil vielleicht, wahr sind oder richtiger unbedingt notwendig sind für die Geschichte der Seele. EinBeispiel dafür, ein, eben weil ich es nicht ganz fasse, gewiß irriges Beispiel: Haman und Estherspringen zu gleicher Zeit, am gleichen Abend auf: wie überhaupt etwas tief Marionettenhaftes drinverborgen ist, im ganzen Stück (in der Verzweiflung des letzten Aktes z.B. die ich in derAufzählung meiner Stellen vergessen habe). Auch daß Haman zuschauend sieben Jahre an desKönigs Tafel sitzt, ist sehr schön und sehr unmenschlich. Aber kommen sie wirklich erst an diesemAbend? Der König hat schon eine wesentliche Lebensperiode hinter sich, er hat gesündigt, gelitten,sich bezwungen und doch verloren, vielleicht liegt das alles eine Ebene tiefer als das, was jetztgeschieht, vielleicht aber ist es auch von oberster Höhe gesehn ganz das Gleiche, jedenfalls war esohne Haman und Esther nicht möglich; die wiederholten Grottenbesuche deuten es fast an, wie jaüberhaupt der König im ersten Akt schon den Schauplatz des Ganzen kennt und versteht, als wärees ein altes vergangenes Spiel und im Abschiedsgespräch im letzten Akt in einer gewissenUndurchdringlichkeit mehr durchsprochen und durchklagt wird als bloß die Ereignisse des Stückes.

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was aber in den Voraussetzungen dieser Szenen zu wenig gesagt wird, entladet sich dann wieder inder Geschichte der Jahrtausende im zweiten Akt. - Dadurch ergeben sich, glaube ich, gewisse dasKunstwerk sogar stärkende, schwer zugängliche Irrwege, die ich nicht gehn kann und die, wenn iches genau ansehe, etwas in mir zu gehn sich weigert, weil sie ein der Kunst gebrachtes Opfer undDein Schaden sind. Ich meine: Dein Schaden, sowie etwa in Deinem Roman (wie Du letzthineinmal schriebst), eine Dreiteilung Deines Wesens erfolgt und jeder Teil den andern bedauert undtröstet. Hier ergibt sich vielleicht ein schädigender Gegensatz zwischen Kunst Und wahrerMenschlichkeit. Dort wird eine gewisse künstlerische Gerechtigkeit verlangt (die Dich z.B. denKönig, über den in Wahrheit längst entschieden worden ist, bis ans Ende führen und darüber hinausin die Zukunft stoßen läßt oder die Dich z.B. dazu bringt, daß Esther, die doch die Welt trägt, imLeben des Stückes klein und unwissend - wie sie ja sein muß, wie es aber in der Perspektive desStückes einen andern Sinn mitbekommt - neben Haman geht und sie, die Unveränderliche, durchseine Tötung sich im Wesen ändert), hier aber nur entschiedenes Dasein. -Zu spät und zuviel. Wir sehen uns ja bald. über diese Dinge kann ich allerdings noch wenigersprechen als schreiben.

Franz(Randbemerkung:) Falle schon bestellt. - Ja, Anbruch-Adresse von Fuchs, er schrieb mir vom»miesen Anbruch«, zu dem er mich hatte einladen lassen. Ich habe den Leuten schon längst - weilmir das Rundschreiben gefallen hat - aufrichtig die Nicht-Mitarbeit erklärt.

An Elsa Brod(Zürau,) 19. XII. 1917

Liebe Frau Elsa, es ist ein Augenblicksbrief, im zweiten Augenblick wäre er nicht geschrieben, imdritten nicht weggeschickt worden. Deshalb ist er auch im wesentlichen irrig und entspricht nichtder Kenntnis menschlicher Dinge, die Sie im Grunde reichlich haben.Wenn wir, liebe Frau Elsa, über Max sprechen wollen, müssen wir doch zuerst auf gleicher Ebenesein, müssen also nur als Maxens Freunde miteinander sprechen, nur als Freunde und alles andereaußerhalb lassen, wonach zu greifen ich nicht wage, selbst wenn Sie, im Irrtum des Augenblicks,die Hand mir dorthin führen wollen. Als Freunde aber sind wir weder seine Ärzte, noch seineLehrer, noch seine Richter, sondern nur Menschen neben ihm, die ihn lieb haben. Als solche aber,glaube ich, dürfen wir ihn, wenn es um sein Ganzes geht, nicht beeinflussen durch Ratschläge,Zuflüsterungen, Andeutungen, sondern nur durch das, was sich ohne weiteres ergibt, also durchunser Dasein, durch Liebe, Güte, Zurückhaltung, Freundschaft. Das haben ja auch Sie getan, ichselbst sah es oft mit Rührung. aber natürlich haben Sie auch mehr als das d. h. also weniger getan,wie eben alle Menschen, denn das was ich oben sagte, ist nur als Ziel gemeint. Auch ich habe,sogar in letzter Zeit (ich glaube, einmal auch in Ihrer Gegenwart) einen Rat zu geben versucht, dervielleicht nicht in Ihrem Sinn, aber durchaus nicht gegen Ihren Sinn war, der aber jedenfalls gegenmeinen eigenen Willen war, abgetrotzt durch Maxens Anblick, unter dem Sie allerdings inunaufhörlicher Gegenwart unvergleichlich mehr, bis an die Grenzen der Kraft leiden müssen; dasverstehe ich gut, hier ist mein Verständnis ohne Vorbehalt. Wahr bleibt aber doch nur, daß manzwar Max zurückhalten soll, wenn man sieht, daß er in Gefahr ist, über einen Stein zu stolpern, daßman ihn aber, vorausgesetzt überhaupt daß man das ganz Unwahrscheinliche zu tun imstande wäre,nicht durch einen Stoß hindern darf, in das zu rennen, was man für sein Leid hält. Ihm hierRatschläge geben zu wollen, wäre etwa gleichwertig dem, wenn ich ihm Vorwürfe deshalb machenwollte, daß er mir als Freund nicht längst geraten hat Tuberkulose zu bekommen.Aus dieser Überzeugung erkenne ich die Irrtümer Ihres Briefes, die ich, ich wiederhole es, nicht fürIhre Irrtümer halte, weshalb ich auch Ihren Brief nicht behalten darf und hier zurückschicke. DieseIrrtümer sind etwa: Sie klagen aus Liebe und haben die wahre Gelegenheit der Liebe. - Sie sucheneinen Fürsprecher und haben gerade im unbeirrten Max den stärksten. Sie sehen (oder lassen

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wenigstens Ihren Blick so wenden) eine vielleicht entfernte Nebensache als Hauptsache an,verwirren sich und versäumen dadurch, ruhig das zu sein, was Sie sind.Im Tone Ihres Briefes könnten Sie jetzt denken: »Es ist sehr leicht Prinzipien aufzusagen, wenn derandere in Not ist« und Sie hätten Recht; dieses Gefühl beschämt mich, so oft ich an Sie denke.Aber soll man aus Scham schweigen oder gar lügen? Besonders hier, wo wir doch in der Sorge umMax einig sind.

Franz K

An Max Brod(Prag, Ende Dezember 1917)

Lieber Max, hier die Manuskripte (meine einzigen) für Deine Frau, zeig sie niemandem. Von demKübelreiter und dem »Alten Blatt« laß bitte eine Abschrift auf meine Kosten machen und schickesie mir, ich brauche sie für Kornfeld.Die Romane lege ich nicht bei. Warum die alten Anstrengungen aufrühren? Nur deshalb weil ichsie bisher nicht verbrannt habe? Bis (nein, wenn: gerade kommt ein Brief von F., dankt für Esthersehr, fragt ob sie Dir danken soll) wenn ich nächstens komme, geschieht es hoffentlich. Worin liegtder Sinn des Aufhebens solcher »sogar« künstlerisch mißlungener Arbeiten? Darin, daß man hofft,daß sich aus diesen Stückchen mein Ganzes zusammensetzen wird, irgendeine Berufungsinstanz,an deren Brust ich werde schlagen können, wenn ich in Not bin. Ich weiß, daß das nicht möglichist, daß von dort keine Hilfe kommt. Was soll ich also mit den Sachen? Sollen die, die mir nichthelfen können, mir auch noch schaden, wie es, dieses Wissen vorausgesetzt, sein muß? Die Stadtzehrt an mir, sonst hätte ich nicht gesagt, daß ich die Papiere bringe.Zum gestrigen Abend nur noch kurz: Die Angelegenheit stellt sich mir, dem im eigentlichenSchmerz Unbeteiligten, etwa so dar: Deine Frau hat in ihrem Hauptvorwurf vielleicht etwasWesentlicheres berührt als Du in Deinem.Es ist zu spät, ich muß noch ins Bureau, ich schreibe Dir von Zürau sehr bald, vielleicht ist es gut,gerade heute nicht zwischen Euch zu sprechen.

FranzNoch eine Bitte: Schicke mir Blankette der Militäranmeldung, die man, wie ich glaube, im Jännerleisten muß.

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1918

An Felix Weltsch(Ansichtskarte. Zürau, Anfang Januar 1918)

Lieber Felix, bei sechs und acht Grad Kälte und offenen Fenstern schlafen und früh waschen,nachdem die Eisdecke in der Kanne durchgeschlagen und im Lavoir neu gebildet ist, bei ganznacktem Körper natürlich, nach acht Tagen noch keinen Schnupfen, nachdem vorher an den Tag-und Nachtdauerbrenner gewöhnt gewesen - das mußt Du mir jetzt nachmachen. Es ist aber wirklichherrlich, man kann sogar acht Tage Bibliothek dafür hingeben. Ich werde euch mündlich noch vielmehr Lust machen. Herzlichste Grüße Oskar. Auch Klavier gibts, Frau Irma!Alles als richtig bestätigt vom Sanatoriumsbesitzer und Hauptkranken:

Franz

An Max Brod(Postkarte. Zürau, Anfang Januar 1918)

Lieber Max, heute nur als Sekretär Oskars, in glücklicher Verantwortungslosigkeit:»Du kannst also schon den Tag bestimmen, an welchem Du das Romanende mir und Felix vorlesenmöchtest. Nach dem verheißungsvollen Schönen, das mir Franz davon erzählte, bin ich nochbegieriger als vorher. Ich komme Sonntag, also ab Montag bin ich jeden Abend bereit. Vielleichtschreibst Du mir eine Karte, nachdem Du es mit Felix verabredet hast. Wie schön und friedlich eshier ist will ich Dir gar nicht erzählen, falls Du nicht die Möglichkeit hast, es mir gleichzutun.« Mir(das bin nun ich, Franz, der Dir nächstens mehr schreiben wird) ist letzthin bei Vorlesung desTröltschaufsatzes eingefallen, daß der positive Schluß des Romans eigentlich etwas Einfacheresund Näheres will, als ich zuerst dachte, nämlich die Aufrichtung einer Kirche, einer Heilanstalt,also etwas, was fast zweifellos kommen wird und sich schon im Tempo unseres Zerfallens um unsaufbaut.Mit Oskar sind wir sehr schön beisammen.

Franz

An Max Brod(Zürau, Mitte Januar 1918)

SonntagLiebster Max, während Oskar hier war, habe ich Dir nicht geschrieben, teils weil ich so an dasAlleinsein gewöhnt bin (nicht an Stille, an Alleinsein), daß ich kaum schreiben konnte, teils weil erDir doch bald selbst von Zürau erzählen wird. Er ist mir in einigem deutlicher geworden, schade,daß man nicht stark genug ist, der Deutlichkeit immer und ständig ein deutliches Gesicht zu zeigen.Du hast Oskar im Ganzen zweifellos richtiger beurteilt als ich, im Einzelnen scheinst Du Dich zuirren. - Der Roman ist an vielen Stellen erstaunlich, ich habe viel zu viel Äußerliches in Oskarsveränderter Arbeitsweise bisher gesehn, das ist es nicht, vielmehr ist Wahrheit da, aber sie schlägtsich an den äußerst gespannten und doch zu engen Grenzen und daraus ergibt sich Müdigkeit,Irrtum, Schwäche, Schreien. Ich wäre sehr froh, wenn ihm Zürau, woran ich allerdings zweifle, einwenig geholfen hätte, froh um seinet- und meinetwillen. Vielleicht schreibst Du mir darüber.Für »tablettes«, Aktion und Formulare danke ich; kann ich »tablettes« diesmal F. schenken?Unser letzter Abend war nicht gut, ich hätte gern seither eine Nachricht von Dir gehabt. Nicht gutwar der Abend, weil ich (natürlicher Weise hilflos, aber das tat mir gar nichts) Dich hilflos gesehenhabe und das kann ich fast nicht ertragen, trotzdem ich mir auch diese Hilflosigkeit zu erklärensuchte damit, daß, wenn an dem alten Joch zum erstenmal gerüttelt und offenbar es bewegt wird,

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man den richtigen Schritt nicht gleich finden kann. So war auch Dein Hin- und Hergehn im Zimmerunsicher, als Du Unsicheres sagtest. Und dabei schien mir, in anderer Weise dem entsprechend,Deine Frau so viel mehr Recht als Du zu haben, wie vielleicht den Frauen überhaupt, zur Ablösunganderer Dinge, mehr Recht gegeben ist. Der Vorwurf: daß Du nicht zur Ehe taugst, klingtzumindest in ihrem Mund wahr. Wendest Du ein, daß das eben Dein Leid ist, bleibt ihr dieAntwort, daß Du es eben nicht zu ihrem hättest machen dürfen, da es doch nicht ihres war. BliebeDir nur die Antwort, daß sie eben Frau und dieses ihre Sache ist. Dadurch aber führt man wiederdie Angelegenheit vor ein so hohes Gericht, das nicht entscheiden wird und den Prozeß wieder vonneuem beginnen läßt.Dieses »nicht-zur-Ehe-taugen« sieht sie und ich mit ihr (nein so sehr will ich mich mit Deiner Fraunicht verbinden, sie sieht es doch wohl anders) darin, daß Du zwar die Ehe brauchst, aber nur zumTeil, während Dein anderes Wesen Dich fortzieht und dadurch auch am ehemännischen Teil zerrtund so gerade durch ihn, der das gar nicht will, den Eheboden aufreißt. Natürlich hast Du in DeinerGänze geheiratet, aber mit dem jener Teilung entsprechenden Fernblick, den Du allerdings zunächstzum Schielen zwangst, was nicht taugen konnte. So hast Du z.B. Deine Frau geheiratet und mit ihrund über ihr die Literatur, so würdest Du z.B. jetzt eine andere heiraten und mit ihr und über ihrPalästina. Das sind aber Unmöglichkeiten, wenn auch vielleicht notwendige. Ein wirklicherEhemann dagegen müßte - so könnte es die Theorie fassen - zwar in seiner Frau die Welt heiraten,aber nicht so, daß er jenseits der Frau die zu heiratende Welt sieht, sondern durch die Welt seineFrau. Alles andere ist Qual der Frau, aber vielleicht nicht weniger Rettung oderRettungsmöglichkeit des Mannes, als in jener Idealehe.

Franz

An Felix Weltsch(Zürau, Januar 1918)

Lieber Felix, hoffentlich ist das Geschäft gut zustandegekommen. In Deinem Bureau war ich ganztraurig, denn Du warst schon fort, ich war als Kranker nur unter großer Erschöpfung zu Dirgelaufen, eben in der Hoffnung, daß du mich beleben wirst. Auch war noch ein strenger Herrnebenan streng zu mir. Kam aber das Geschäft zustande, stehts hoffentlich in den Rückwirkungendafür.Hier allerdings wären viel bessere Geschäfte zu machen, wohl aber kaum ohne persönlicheAnwesenheit. Könntest Du nicht zu diesem Zweck für ein paar Tage herkommen?Schlafmöglichkeit gäbe es. Meine Schwester, die Dich letzthin gesehen hat, findet, daß Du schlechtaussiehst. Auch dem wäre hier vielleicht in ein paar Tagen abzuhelfen. Die Einladung gilt natürlichauch für Deine Frau, nur sehe ich vorläufig noch keine passende Schlafgelegenheit für sie, dochauch das wird sich wohl finden. Also?

Herzlichst FranzWie geht es Robert Weltsch?

An Oskar Baum(Zürau, Mitte Januar 1918)

Lieber Oskar, zuerst meinen Dank für die großartige Beschenkung. Wenn ich bedenke, daß Du fürdas schöne und selbstverleugnende Klavierspiel nichts bekommen hast als das Vergnügen, michmit Herrn R. sprechen zu hören (ich hätte ihm gern Deine Mitteilung ausgerichtet, aber ich verstehesie nicht), ich dagegen Ottla diese zwei Überraschungen aus dem Koffer ganz unerwartet ziehensehe, nur verdient durch meine Lust, - dann finde ich (immer wieder einmal), daß etwas in der Weltnicht stimmt. Besonders der Himbeersaft, ein reiner Genuß vom ersten Tropfen bis zum letzten;fast hätte ich mir ihn infolge meiner Gier verdorben, als ich aus Ungeduld den Pfropfen in die

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Flasche stieß, aber Ottla hats noch für mich gerettet und rettet es jeden Tag durch Verzicht. Undnoch etwas Gutes hat der Saft, da er eben etwas Edles ist, er nimmt sogar die Gier nach sich selbstund ich trinke ihn jetzt nur noch aus Freiheit und weil er da ist und weil er an eine Wohltaterinnert.Hier hat sich, wie es sich gehört, nichts geändert, außer daß Du fort bist; wenn Du alsowiederkommst, wird alles vollständig wie früher sein, Du brauchst nur zu kommen. Ich nur bin,vielleicht, um von vornweg dem Namen Glückskind auszuweichen, in den letzten Tagen etwastrübseliger als sonst, aber das ist nur das Auf und Ab der Zeiten.Du aber hattest Glück, weil Du die Mäuse nicht erlebt hast. Etwa drei Tage nach Deiner Abreise -den Kater nehme ich nicht mehr mit - werde ich in der Nacht durch Lärm geweckt, zuerst denke ichfast, es müsse doch der Kater sein, bis es gleich klar wird, daß eine Maus, schamlos wie ein kleinesKind, mit der Falle spielt, d.h. sie zupft vorsichtig den Speck fort, während die Falltür laut auf undab klappt, aber ohne sich so weit zu öffnen, daß die Maus durchfällt. Die von Max in gutemGlauben empfohlene Falle ist mehr Wecker als Falle. Übrigens wurde in der nächsten Nacht auchaus einer anderen Falle der Speck gestohlen. Ich hoffe, daß Du nicht glaubst, ich schleiche imHalbschlaf unter die Kredenz und hole selbst den Speck heraus. Übrigens ist es in den allerletztenTagen still geworden.Die sizilianische Sängerin spricht also schlecht vom Tagebuch?. Ist das merkwürdig oder herz- undverständnislos? Herz- und verständnislos ist es, ihr das Buch zur Besprechung zu geben, ebenso guthätte man es der Gräfin Tolstoi geben können. Was soll die Frau sagen, wenn sie plötzlich in dasTagebuch hineinkommt, noch erhitzt vom Tennisspiel, das sie unter seinem Fenster gespielt hat.»Konservatismus schadet der Kunst immer« ist übrigens Fast ein Zitat aus dem Tagebuch selbst,wir haben es gelesen.Wie ist Krastik in Prag mit Dir angekommen? Und das Buch der dramatischen Geschichten? HatWolff geschrieben? Und der Schlaf?Mit herzlichen Grüßen Dir und Deiner Frau.

Franz

An Max Brod(Zürau, Mitte/Ende Januar 1918)

Lieber Max, Dein Brief. war mir diesmal (wieder zunächst ohne Rücksicht auf die Mitteilungen,das sagte ich schon öfters und fühle es sehr deutlich) deshalb besonders wichtig, weil ich in derletzten Zeit zwei oder drei Unglücksfälle oder vielleicht auch nur einen hatte, die die ständigeVerwirrung so sehr vergrößerten, als wäre ich z.B. aus der letzten Gymnasialklasse durch einen inseiner Begründung mir unzugänglichen Lehrbeschluß in die erste Volksschulklasse degradiertworden. Und dabei sind es, damit Du mich richtig verstehst, nur gewissermaßen Unglücksfälle, ichachte ihr Gutes und kann mich über sie freuen und habe es getan, aber in der Grenze des»gewissermaßen« sind sie allerdings vollständig.Der eine und hauptsächliche ist Oskars Besuch. Ich habe von dem Wesen der Sache während seinerAnwesenheit nicht das Geringste gefühlt oder vielleicht nur etwas, ein Kleines, während des letztenTags, aber hier war es nur das gewöhnliche nicht weiter nachprüfenswerte Gefühl einer Schwäche,einer Ermüdung, wie es sich eben zwischen zwei Menschen ausdrücklicher zeigt, als innerhalb desEinzelnen. Wir waren auch die Woche über lustig, vielleicht allzu lustig, nachdem wir an denallerersten Tagen uns an Oskars Unglück müdegedacht hatten. Ich ermüde übrigenserfahrungsgemäß leichter als irgendjemand am meiner Bekanntschaft. Aber davon ist hiereigentlich nicht zu reden und würde es doch ausgebreitet, so würde sich dadurch gewiß auch reinHistorisches aus alter Leidensgeschichte finden.Auch Oskars Unglück gehört nicht genau in diesen Zusammenhang. Aber Du fragst mich danachund ich habe es bisher nur deshalb allgemein erwähnt, weil es mir noch kurz vorher nicht gerade als

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Geheimnis, aber doch als Geständnis anvertraut war, weil ich ferner nicht wollte, daß Du gleich beider ersten Zusammenkunft mit Oskar diese Gedanken im Kopfe hast und weil es schließlich auchdeshalb nicht sehr notwendig war, weil Du in dem Fall dem Richtigen doch immer sehr nahegewesen bist. Das Unglück hat, wenn man will, drei Ansichten (vorläufig soll es aber wirklichunser Geheimnis sein), wird aber noch mehrfacher, wenn man genauer zusieht. Erstens kann er dieEhe mit seiner Frau aus einer Reihe unzähligemal durchdachter Ursachen nicht ertragen, kann esschon, ich glaube er ist sieben Jahre verheiratet, seit fünf Jahren nicht. Zweitens ergibt sich, wennman danach fragt, daß er zwar immer zuerst von den Unmöglichkeiten seiner Frau spricht (die ihmübrigens sexuell vollständig entspricht und die er in ihren Grenzen sehr liebenswert findet) aber dieUnmöglichkeit der Ehe meint, der Ehe überhaupt. Gewiß bleibt hier ein ungelöster Rest, für denz.B. charakteristisch ein novellistischer Versuch ist, den er einmal über das Thema einerReihenfolge eigener Heiraten mit einer Reihe ihm gut bekannter Frauen und Mädchen gemacht hat,wobei sich immer am Ende vollständige Unmöglichkeit ergab. Drittens würde er, hier beginnen dieganz großen Unsicherheiten, seine Frau vielleicht verlassen können, er glaubt innere und äußereBerechtigungen zu dieser als schwere Grausamkeit gefühlten Tat zu haben, gegenüber seinem Sohnaber kann er, wenn auch nicht eigentlich aus Vatergefühl, diese Schuld nicht auf sich nehmen,trotzdem er weiß, daß dieses Auseinandergehn das einzig Richtige wäre und das Versäumen dessenihn niemals zur Ruhe kommen lassen wird. -Im Ganzen insbesondere mit seiner Fülle »diesseitiger« Konstruktionen und Nachtgespenster (wirschliefen im gleichen Zimmer und tauschten Krankheitskeime gegen Gespenster aus) gehört er mitseinen nicht annähernd nachzufühlenden Qualen eng zum Dr. Askonas, wie dieser eng zu unsererwestjüdischen Zeit. In diesem Sinn, also einem sozialgeistigen etwa, ist der Roman ein großartigoffenes Wort und wird sich, wenn er das ist, erst während der Wirkung in die Weite eigentlichoffenbaren. Mehr als dieses Konstatieren, als dieses der-Zeit-an-die-Seite-springen ist er vielleichtnicht, aber auch das kann ein großer Beginn sein. Wir sprachen in den ersten Nächten von demRoman wie von einem historischen Dokument, das man verwendete, um dieses oder jenes zubelegen. So war es ja auch mit Nornepygge, aber damals war ich noch zu wenig davon berührt.Was nun mich in meinem verhalten gegenüber Oskars Sache betrifft, so war dieses, wenigstens inder Absicht, ganz einfach, es schwankte, bei innerlicher aber doch vielleicht vorurteilsmäßigerEntschiedenheit, mit seinem Schwanken, ich sagte »ja« und »nein«, wenn ich »ja« und »nein« zuhören glaubte und nur dieses zu-hören-glauben war mein Werk, genug, um ihn gut oder schlecht zubeeinflussen und darüber eben wollte ich gern etwas von Dir hören. Außerdem wirkte halbunabhängig von meiner Absicht Zürau und mit Zürau das, was sich mir bis dahin hier ergebenhatte, mit. Auch Troeltsch und Tolstoi, die ich ihm vorlas.Bei dem allen ergab sich aber eine Rückwirkung auf mich, die ich erst nachher merkte. Ich hatteden Besuch als Prüfung halbwegs bestanden, aber nachher, als schon abgeläutet worden war, fielich durch. Letzthin schrieb ich Oskar, daß es schwer ist sich umzustellen, wenn man eine Wochelang beisammen war und daß er uns fehlt. Das ist, auch was mich allein betrifft, wahr, aber dochnur im Zusammenhalt mit der Woche Zusammenlebens und überdies ist es nicht alles. Ich tragenoch immer an dem Zusammensein mit diesem mir doch lieben Menschen und zwar nicht in demSinne, daß ich unter seinem Leiden leide oder daß irgendein konkretes eigenes Leid mitaufgerührtworden ist, sondern daß, fast ganz abstrakt, seine Denkrichtung, das prinzipiell Verzweifelte seinesZustandes, die bis nahe an die durchgeführte Nachweisung gehende Unauflösbarkeit seinesKonfliktes, das Durcheinander seiner an sich sinnlosen, beleidigenden, vielfach sich spiegelnden,gegenseitig aufeinander kletternden - Fachwort aus Deinem Roman - Hilfskonstruktionen, daß dasalles in mich ausmündet wie ein toter Wasserarm, den eine Woche zu einem lebendigen gemachthat Was für eine Riesenstärke gehört dazu, was für Riesenstärke und vorgängige Einsamkeit, umeinem Menschen nicht zu erliegen, neben dem man eine Zeitlang geht mitten zwischen den fremd-eigenen Teufeln, nicht weniger ihr Mittelpunkt, als ihr eigentlicher Besitzer es ist.

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Ich übertreibe hier ein wenig, anderes kommt gewiß noch dazu, aber die Grundwahrheit bleibt. Undüberdies habe ich zum Teil als Folge des Besuches »Entweder - Oder« mit besondererHilfsbedürftigkeit am Abend vor Oskars Abreise zu lesen angefangen und jetzt, von Oskargeschickt, Bubers letzte Bücher. Abscheuliche, widerwärtige Bücher, alle drei zusammen. Richtigund genau sind sie und »Entweder - Oder« besonders mit allerspitzigster Feder geschrieben (fastder ganze Kassner wälzt sich einem aus ihm entgegen) , aber sie sind zum Verzweifeln und wennman vor ihnen einmal, wie es bei gespanntem Lesen vorkommen kann, unbewußt das Gefühl hat,es seien die einzigen Bücher auf der Welt, muß auch der gesündesten Lunge fast der Atem ausgehn,Das würde natürlich ausführliche Erklärung verlangen, nur mein sonstiger Zustand erlaubt mir sozu sprechen. Es sind Bücher, die sowohl geschrieben als auch gelesen werden können nur in derWeise, daß man wenigstens eine Spur wirklicher Überlegenheit über sie hat. So aber wächst mirihre Abscheulichkeit unter den Händen.In Deiner Sache überzeugst Du mich nicht. Ob Du mich nichtmißverstehst, so daß wir uns etwaschon irgendwo begegnet wären, ohne es zu wissen? Ich behaupte nicht, daß Du Deine Frau um derLiteratur willen geheiratet hast, sondern trotz der Literatur und daß Du, weil Du auch aus ehrlichemGrunde heiraten mußtest, dieses »trotz« dadurch vergessen zu machen suchtest, daß Du eineliterarische »Vernunftheirat« (Deiner Meinung nach) eingingst. Du brachtest»Vernunftgründe« indie Ehe mit, da Du eben aus vollem Bräutigamsherzen nicht heiraten konntest. Und ähnlich scheintes sich mir auch jetzt zu verhalten. Du schwankst, so scheint es mir, nicht zwischen den zweiFrauen, sondern zwischen Ehe und Außer-Ehe. Dieses Schwanken soll die Frau, ohne eines derzwei Elemente zu verletzen, zur Festigkeit bringen, das ist Dein Verlangen nach der »Führerin«,aber abgesehen davon ob dieser Konflikt überhaupt mit einem Schlage zu lösen ist, so ist dieseLösung vielleicht überhaupt nicht Aufgabe des Frauentums, sondern Deine, und dieser Versuch derAbwälzung wäre dann eine Art Schuld.Sie setzt sich gewissermaßen auch darin fort, was Du nicht mehr Schuld, oder richtiger auchSchuld, aber auch Güte nennst, Gewiß bist Du weichherzig, aber hier ist keine Gelegenheit, es zubewähren. Es ist so wie wenn ein Chirurg, nachdem er (mit Gewissensbissen vor dem Prinzip, abernicht eigentlich vor dem durch Krankheit schuldtragenden Lebewesen) tapfer kreuz und quergeschnitten und gestochen hat und nun aus Weichherzigkeit, aber auch aus Trauer weil dieserwichtige Fall dadurch für immer verabschiedet würde (»meine Frau müßte, ohne die sekundär-geistigen Beziehungen zu mir zu lösen. . .«) zögert, den letzten vielleicht heilenden, vielleichtSiechtum verursachenden, vielleicht tötenden, aber jedenfalls entscheidenden Schritt zu tun.Ich kenne »die versunkene Glocke« nicht, aber nach dem was Du sagst, nehme ich den Konflikt alsDeinen, kann aber nur zwei Menschen in ihm gefangen sehn, denn die auf den Bergen ist keinMensch.Und Olga? Sie ist nicht primär geformt, sondern bewußt als Gegenspiel Irenes, als Rettung vor ihr.Aber abgesehen von dem allen: was Dir hier erscheint und mit Gewißheit erscheint: »im ErosRuhe, völliger Frieden« ist etwas so Ungeheueres, daß es schon durch die Tatsache, daß es Dichnicht widerspruchslos hinnimmt, widerlegt erscheint. Nur wenn Du es mit weniger hohem Namenbezeichnen würdest, könnte man zweifeln. Aber - und hier komme ich wieder zu meiner Meinungzurück - eben weil Du es so bezeichnest, ist ein anderer Konflikt wahrscheinlicher.Das was Werfel sagte, ist gewiß nur flüchtig gesagt und so besonders ist er nicht organisiert, daßdort, wo bei andern Menschen etwa Verzweiflung sitzt, bei ihm Zorn säße ; aber bezeichnend ist esdoch, er beruft sich stillschweigend auf den Augenblick des Gedichtes, ebenso wie ich und Du undalle, so als ob hier etwas wäre, worauf man sich zu berufen hätte und wovon man nicht vielmehrden Blick abzulenken suchen sollte, dann wenn man sich zu Verantworten hat. Brüderlich-verräterisch übrigens auch jenes: »nur leere Tage sind unerträglich« und schlechtzusammenstimmend mit jenem Zorn. FranzDie »Botschaft« liegt bei. Dank für »tablettes«.

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An Josef Körner(Zürau, Ende Januar 1918)

Sehr geehrter Herr Doktor!Daß mir das Donauland jemals eine solche Freude machen könnte, hätte ich nicht gedacht. Nurgerade gestern morgens fiel es mir im Halbtraum ein, wie es wäre, wenn ich doch die Arnim-Arbeitbekäme und dazu einen etwa so und so lautenden Brief. Und dann kam er wirklich, Besten Dank.Was Sie über Oskar Baum sagen, ist ganz richtig; jemehr hier geschehen kann, desto besser, Wärees übrigens trotzdem das wahrscheinlich nicht mehr in Ihr Redaktionsgebiet gehört - nicht möglichDr. Felix Weltsch (Universitätsbibliothekar) zur Mitarbeit aufzufordern; von seiner Seite wärevielfache Mitarbeit möglich, die dem D. durchaus nur Ehre bringen könnte. Nächstens erscheintvon ihm bei Wolff eine Schrift »Organische Demokratie« auch am 2. Band von Hillers »Ziel« ist erbeteiligt. Diese Dinge kämen natürlich für das D. nicht in Betracht, aber manches andere.Der Arnimaufsatz ist sehr zart und wahrhaftig; das hätte nicht jede Hand bis zum Endeaufrechterhalten können; ohne Liebe und weitere Einsicht gewiß nicht. Es ist doch etwasPhantastisches von Drückebergerei und Kriegslust, er steht förmlich die ganzen Jahre invollständiger Ausrüstung hinter der Tür und bleibt dort. Die Anordnung der Zitate verteidigt gut,ohne advokatorisch zu sein. Es ist eben der Grundkampf, das Leiden daran, daß es nicht zweierleiWahrheit gibt, sondern höchstens dreierlei: es ist notwendig sich zu opfern, es ist notwendiger sichzu schonen und es ist noch notwendiger sich aufzuopfern. Darüber ist auch Arnim nichtweggekommen und seine Meinung über sich wird im Lauf der Zeit nicht besser geworden sein. DenVergleich mit dem Ehestand hätte ich, allerdings erst auf Grund seines Einfalls, anders geschrieben:»Der Krieg ist wie der Ehestand, traurig, aber anders, als der Junggeselle fürchtet.«Einen Fehler - und das führt zu Ihrer Frage wegen Wolff - hat der Aufsatz, er ist aus zu großerKenntnis geschrieben, die sich natürlich dort nicht mitteilen läßt. - Aussichtslos wäre es gewißnicht, aber schwierig, gar jetzt, wo der Papiermangel so groß ist, Wolff von verschiedenen Außer-Verlagsdingen in Anspruch genommen ist und sein neues Unternehmen »Der Neue Geist« ihm amHerzen liegt. Ich bin jetzt ohne Verbindung mit ihm, mein letzter Brief, Antwort auf einendringenden Brief von seiner Seite ist seit etwa 4 Monaten unbeantwortet. Aber möglich wäre eswohl doch. Ich denke dabei daran, daß Wolff eigentlich Literarhistoriker ist (ich glaube,Herausgeber von Mercks Schriften im Inselverlag und einer Schrift über Eulenberg in der BonnerSeminarsammlung) und man also literarhistorisch mit ihm reden könnte, gar über etwas soBeziehungsreiches, wie es Arnim zu sein scheint. Die Gesamtausgabe würde er wohl ablehnen; diewürde ihm wohl auch nicht gebüren, aber vielleicht eine Briefausgabe mit einleitenderAbhandlung. Er hat doch erst letzthin den Lenz'schen Briefwechsel herausgegeben, hier ließe sichvielleicht anknüpfen. Lesen Sie doch vielleicht diesen Briefwechsel, auf den ich übrigenspersönlich sehr begierig bin, und schreiben Sie darüber einen Aufsatz im Donauland, eine bessereEinleitung (und eine würdigere auch) der Verhandlungen mit Wolff könnte ich mir nicht denken.Irgendwie muß man aufschreien, damit ein solcher unter Autoren begrabener Verleger zuhört. Ichwäre sehr froh, wenns gelänge.Herzlichst

Ihr Dr.Kafka

An den Verlag Kurt Wolff(Zürau, 27. I. 1918)

Sehr geehrter Verlag!In der Beilage schicke ich die Korrektur zurück und bitte Folgendes freundlichst zu beachten: DasBuch soll aus 15 kleinen Erzählungen bestehn, deren Reihenfolge ich Ihnen vor einiger Zeit ineinem Briefe angegeben habe. Wie diese Reihenfolge war, weiß ich augenblicklich nichtauswendig, jedenfalls war aber »Landarzt« nicht das erste Stück, sondern das zweite; das erste aber

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war »Der neue Advokat«. Ich bitte jedenfalls nach der damals angegebenen Reihenfolge das Bucheinzurichten. Ferner bitte ich vorne ein Widmungsblatt mit der Inschrift: »Meinem Vater«einzuschalten. Die Korrektur des Titels, welcher lauten soll:

Ein Landarzt.Kleine Erzählungen

habe ich noch nicht bekommen.In ausgezeichneter Hochachtung

Dr. KafkaIch bitte mir auf meine Rechnung zum Autorenpreis den Lenz'schen Briefwechsel zu schicken.

An Max Brod(Zürau, Stempel: 28. I. 1918)

Lieber Max, in Deiner Sache sage ich, solange ich Deine Antwort nicht habe, nur noch das: Auchich glaube an eine Führerschaft der Frau, so wie sie sie z.B. im Sündenfall gezeigt hat und wo mansie ihr, wie vielleicht meistens, schlecht gelohnt hat. Auch Deine Frau z.B. ist in diesem SinneFührerin, indem sie Dich gewissermaßen über ihren eigenen Leib weg zu der andern führt; daß sie,nachdem sie geführt hat, Dich dann hält, gehört in eine andere Kategorie, ja vielleicht führt sie dannerst recht. Recht hast Du, wenn Du sagst, daß mir das Tiefere des eigentlichen Sexuallebensverschlossen ist; das glaube ich auch. Darum weiche ich aber auch der Beurteilung dieses TeilesDeines Falles aus oder beschränke mich nur auf die Feststellung, daß dieses Feuer, das Dir heiligist, nicht genug Kraft hat, die mir schon verständlichen Widerstände zu verbrennen. Warum derDante-Fall so gedeutet werden muß, wie Du es tust, weiß ich nicht, aber selbst wenn es so wäre, istes doch ein ganz anderer Fall als der Deine, wenigstens wie er sich bisher entwickelt hat: ihm starbsie weg, Du aber läßt sie Dir wegsterben, indem Du Dich gezwungen fühlst, auf sie zu verzichten.Übrigens hat auch Dante in seiner Art auf sie verzichtet und freiwillig eine andere geheiratet, wasnicht für Deine Deutung spricht.Aber komm nur, komm, um das zu widerlegen. Nur mußt Du rechtzeitig vorher telegraphieren,damit wir Dich abholen können und damit nicht etwa Dein Besuch mit meiner Abreise (wenn ichwider Erwarten doch nach Prag zur Stellung fahren müßte, gegen Mitte Feber) zusammenfällt.Auch die Gleichzeitigkeit Deines Besuches und jenes meines Schwagers, der Anfang Feberkommen soll, möchte ich vermeiden, was sich übrigens, wie mir jetzt einfällt, ohne weiters machenläßt, da er gewiß nicht für einen Sonntag, wie Du wohl, kommmen wird. Also es besteht, wenn Duvorher telegraphierst, für den ganzen Feber kein Hindernis und wann Ottla hier wäre ( sie ist inPrag, wird Dich wohl Montag aufsuchen und wegen Deiner Vortragsreise nicht finden) würde siegar nicht genug (für sich genug) Verlockungen aufzählen können, um Dich herzulocken. Du fährst,wenn Du nicht etwa schon Samstag morgens fahren kannst (aber in diesem Fall wäre es besserschon Freitag nachmittag wegzufahren). Samstag nach zwei Uhr vom Staatsbahnhof weg und bistum halb sechs in Michelob, wo wir Dich mit den Pferden erwarten. (Sonntag allein genügt jetzt fürdie Reise nicht mehr, da der Frühschnellzug nicht mehr in Michelob hält, seit dem 1. Jänner.)Für die Manuskriptabschriften (die ich übrigens, wenigstens für Kornfeld nicht mehr brauche, daich einen andern Ausweg gefunden habe) und die große Drucksachensendung danke ich sehr, auchdafür, daß Du Wolff an mich erinnert hast. Es ist soviel angenehmer durch Dich als selbst zuerinnern (vorausgesetzt daß es Dir nicht unangenehm ist), denn dann kann er es, wenn er zu etwaskeine Lust hat, offen sagen, während er sonst, wenigstens ist das mein Eindruck, nicht offenspricht, zumindest nicht in Briefen, persönlich ist er offener. Ich bekam schon eine Korrektur desBuches.Da Dich Ottla mit der Anfrage kaum erreicht, sie fährt schon Montag mittag hierher zurück: DerSchriftstellerverein (der von der »Feder«) meldet mir einen unbefugten Nachdruck des »Berichtesfür eine Akademie« in einer »Österreichischen Morgenzeitung« und will eine Ermächtigung, ein

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Honorar von 30 M (gegen Rückbehaltung von 30%) für mich eintreiben zu dürfen. Soll ich das tun?Die zwanzig Mark wären mir sehr lieb z.B. für den weiteren Kierkegaard. Aber dieser Verein isteine schmutzige Sache, das Eintreiben auch und die Zeitung ist vielleicht jene jüdische Zeitung.Soll ich also? Könntest Du mir übrigens die Nummer (es müßte wohl eine Dezember-Sonntags-Nummer oder Jänner sein) durch Wltschek bestellen?Zum Dank dafür einen Satz aus einem Aufruf für das Frankensteiner Sanatorium, da ich niemandenhabe, um mit ihm die Freude zu teilen: Ein Herr Artur von Werther, Großindustrieller, hat in Fr. beider ersten Vorstandsitzung eine große Rede gehalten, hat offenbar den Wunsch gehabt, sie gedrucktzu sehn und sie dem Verein für ein Flugblatt zur Verfügung gestellt. Sie ist besser als sonstiges indieser Art, frischere unschuldigere Phrasen u. s. w. Den Schlußabsatz habe ich letzthin in Pragdazugemacht. Das scheint ihn seinerseits wieder zu Verbesserungen, Ergänzungen aufgemuntert zuhaben und jetzt im Druck lese ich noch dieses: »Lange Jahre im praktischen Leben stehend, klingtmeine Lebensauffassung, unbeeinflußt von allen Theorien, in den Sinn aus: Gesundsein, tüchtigund mit Erfolg arbeiten, für sich und seine Familie, einiges Vermögen ehrlich erwerben, führt dieMenschheit zur Zufriedenheit auf Erden«,(Randbemerkung:) Bitte Max, frage Pfemfert, wodurch sich die Rubinersche Ausgabe desTolstoitagebuches von der Müller'schen unterscheidet.

An Felix Weltsch(Zürau, Anfang Februar 1918)

Lieber Felix, besten Dank Dir, und Fürth natürlich auch. So ist es sehr gut. Die Sache wirdgelingen, so wie sie ohne alle Mithilfe gelungen wäre; ich habe mich mit meiner Mithilfe gemeldet,habe ausdrücklich gesagt, daß ich dieser Hilfe nur wenig vertraue, werde es auch nachherwiederholen und doch wird ein wohltätiger lügenhafter Glanz auf mir bleiben, sogar dann wenn dieSache selbst mißlingt. Woher kommt diese Lüge?Daß ich Deine Vorträge nicht hören werde, ist für mich eine Entbehrung, umsomehr, als Du Dichoffenbar zu dem Wichtigsten aussprechen wirst. Könntest Du mich nicht irgendwie teilnehmenlassen? Hast Du nicht z.B. für den ersten Vortrag »Literatur und Religion« irgendeinen lesbarenEntwurf oder Grundriß?Was Du über Zürau nach der Ansichtskarte bemerkst, ist richtig. Ordnung ist hier in Tag- undJahreszeiten, und kann man sich ihr einfügen, ist es gut. Auch die Kirche hat einige Bedeutung.Letzthin war ich bei der Predigt, sie war geschäftsmäßig-einfältig, aus der besprochenen BibelstelleLukas 2, 41-52, wurden drei Lehren gezogen: 1. die Eltern sollen ihre Kinder nicht draußen imSchnee spielen lassen, sondern in die Kirche mitnehmen (seht, die leeren Bänke!); 2. die Elternsollen um ihre Kinder so besorgt sein, wie das heilige Paar um seines (und dabei war es doch dasJesuskind, um das man eigentlich keine Sorge haben mußte); 3. die Kinder sollen so fromm mitihren Eltern sprechen, wie Jesus mit seinen. Das war alles, denn es war sehr kalt, aber irgendeineletzte Kraft war doch noch im Ganzen. Und gestern z.B. war Begräbnis, es handelte sich um einenarmen Mann aus einem Nachbardorf, das noch ärmer als Zürau ist, aber es war sehr feierlich, wiees auf dem großen Marktplatz im Schnee nicht anders sein kann. Der Wagen kann wegen eines denhalben Platz durchziehenden Grabens nicht gleich zur Kirche fahren, sondern muß einen großenKreis um den Gänseteich fahren. Die Trauergäste, eben das ganze Nachbardorf, standen schonlängst an der Kirchentür und noch immer fuhr der Wagen seinen Kreis langsam weiter, eine kleinezusammengefrorene, förmlich von einem Blasinstrument umschlungene Musikkapelle vor sich undhinter sich die Feuerwehr (auch unser Schaffer darunter) im ruhigen Ackerpferdeschritt. Und ichlag an meinem Fenster im Liegestuhl und sah das zu meiner Belehrung an, eben als Anwohner derKirche.Herzliche Grüße, viel Glück für die Vorträge

Franz

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An Kurt Wolff(Zürau, Anfang Februar 1918)

Sehr geehrter Herr Wolff!Herzlichen Dank für Ihre Mitteilungen und das schöne Geschenk der Lenz-Briefe; das Buch, dasich mir schon längst wünschte, noch ehe ich von Ihrer Absicht es herauszugeben wußte, ist mirdadurch doppelt wert.Mit herzlichen Grüßen Ihr

F.Kafka

An Felix Weltsch(Zürau, Anfang Februar 1918)

Lieber Felix, viel Zeit habe ich, da hast Du Recht, aber eigentlich freie Zeit, so daß ich frei tunkönnte, was ich wollte, ist es nicht. Du überschätzest mich, wenn Du das glaubst. Die Tage vergehnso rasch, und noch rascher, wenn man an einem Tag, wie das manchmal geschieht, alles zuverlieren glaubt, zu dessen Erwerbung man alle vorhergehenden Tage verbraucht hat. Aber daskennst Du ebenso gut und es läßt sich überwinden, aber viel freie Zeit ist es nicht.Natürlich bist Du jetzt übertrieben beschäftigt, das sehe ich besser ein als Du, und jede Woche,nicht unter dem Schutz eines Amtes, sondern allein unter persönlicher Verantwortung, vor Leute zutreten, die auf ihrer Forderung bestehen, Wesentliches von Dir zu erfahren, und denen Du selbstdieses Recht in jeder Hinsicht gibst, - das ist etwas sehr Großes, fast Geistliches. Ich stehe so unterdem Eindruck dessen, daß ich wieder davon geträumt habe. Allerdings war es etwas Botanisches,was Du vorgetragen hast (sag es dem Professor Kraus), irgendeine löwenzahnähnliche Blume odervielmehr einige von dieser Art hieltest Du dem Publikum entgegen; es waren vereinzelte großeExemplare, die eins über dem andern, vom Podium bis zur Decke, dem Publikum entgegengehaltenwurden; wie Du das allein mit Deinen zwei Händen machen konntest, verstand ich nicht. Dann kamvon irgendwo aus dem Hintergrund (eben waren Masken da, eine grauenhafte Unsitte, daswiederholt sich fast jeden Abend einige Male. Es ist eine Prüfung, vor die man gestellt wird, denndie Masken schweigen, um sich nicht zu verraten, gehn im Zimmer herum als Eigentümer und manmuß sie unterhalten und besänftigen) oder vielleicht aus den Blumen selbst ein Licht und siestrahlten. Auch übe das Publikum machte ich einige Beobachtungen, habe sie aber vergessen.Das Wesentliche, die Vorträge selbst, erwähnst Du gar nicht und gerade darum hatte ich dochgebeten, aber wahrscheinlich ist es jetzt unmöglich und Du schickst mir, wenn Du einmal mit denVorträgen fertig bist, die vollständigen Manuskripte. Kannst Du aber schon früher etwasAnnäherndes tun, tu`s.Das was ich dem Oskar ins Ohr gesetzt haben soll, hat der arme Mensch reichlichst schon nachZürau mitgebracht. Sehr gerne wüßte ich wie es ihm geht, aber ich komme möglicher Weise schonnächste Woche (wegen des Militärs, wenn`s sein muß) nach Prag. Von Max hatte ich letzthin einenüberraschend ruhigen Brief.Der Sohn meines Oberinspektors ist durchgerutscht. Dank habe ich zwar bekommen, aberirgendetwas Außergewöhnliches scheint nicht bemerkt worden zu sein. Der Junge, der über denAusgang der Sache sehr traurig ist, tröstet sich damit, daß er nur deshalb wegggeschickt worden ist,weil er einer der Letzten war.Ich glaube augenblicklich völlig gesund zu sein bis auf einen nicht heilen-wollenden Daumen, denich mir bei ein paar Spatenstichen im Garten aufgerissen habe. Schwach bin ich, kann es anArbeitskraft nicht mit dem kleinsten Bauernmädchen aufnehmen. So war es allerdings auch früher,aber im Angesicht der Felder ist es beschämender, und traurig auch deshalb, weil es alle Lustnimmt, etwas derartiges zu tun. Und so ergibt sich auf diesem Umweg was auch früher war: ichsitze lieber im Lehnstuhl am Fenster und lese oder lese nicht einmal.Herzliche Grüße

Franz

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An Max Brod(Zürau, Mitte Februar 1918)

Lieber Max, Dein letzter Brief schien verhältnismäßig so ruhig, so keines Beistandes bedürftig undandererseits so unruhig, nämlich dem Übermaß Deiner Arbeit (für das ich ja keinen praktischenVergleich habe) abgespart, daß ich lieber nicht gleich geantwortet habe, um Dich weder in demeinen noch den andern zu stören. Übrigens komme ich wenn nicht bis dahin ein Gegenbrief aus derAnstalt kommt, nächste Woche nach Prag; ich soll mich ja wieder stellen. Dann können wir auchüber die zwei Dinge sprechen, die mir in Deinem Brief besonders gefehlt haben: Nachrichten überOskar und, so als hättest Du meinen letzten Brief gar nicht bekommen, irgendeine Nachricht überDeinen Besuch.Dante ist sehr schön, aber es geht doch allem Anschein nach um anderes und erst weit in derAllgemeinheit kannst Du Dich mit ihm treffen. Und wie leicht oder wie notwendig man dort ihntrifft! Letzthin las ich in einem Vrchlicky-Brief, daß ihm, in Livorno glaube ich, ein armerzerlumpter Handwerker weinend Gesänge aus Dante rezitierte.Die Königsberger Annahme ist gewiß ein großer Erfolg, denn es ist doch eine der erstenliterarischen Versuchsbühnen, die Dich jetzt in Deinem wesentlichsten Drama vorführen wird. Esfreut mich sehr.Über alles andere sprechen wir. Jedenfalls: in Zürau macht man sich über mich keine Sorgen; man(unbekannte Verfasser) hat über fast jeden Zürauer einen Vers gemacht, meiner ist, bis auf seineReimschwäche, tröstlich:

Der Doktor ist ein guter MonGott wird sich seiner erborm.

Herzlichste GrüßeFranz

An Max Brod(Zürau, Anfang März 1918)

Lieber Max, ich antworte gleich, trotz des so schönen Tags. Mein Schweigen mißverstehst Du,nicht Rücksicht auf Dich war es, die hätte sich besser im Verzicht auf Antwort ausgedrückt, es warUnfähigkeit; drei Briefe habe ich in der langen Zeit begonnen und ließ es, es war Unfähigkeit, abernicht »Verblassung« richtig verstanden, es war »meine Sache«, die sich mit großer Anstrengung(weil ich selbst dieses Einfache nur mit großer Anstrengung kann, zum Unterschied vom glücklich-unglücklich fortgetragenen Kierkegaard, der das unlenkbare Luftschiff- so wunderbar dirigiert,trotzdem es ihm auf das gar nicht eigentlich ankommt und man in seinem Sinn das nicht könnendürfte, worauf es nicht eigentlich ankommt) sagen, aber nicht mitteilen läßt, aber dann bin ich erstrecht unfähig, es zu sagen. Und das Schweigen gehört auch zum Land hier, gehört dazu, wenn ichvon Prag komme (nach der letzten Fahrt kam ich förmlich wie vollgetrunken an, so als wäre ich inZürau beispielsweise zu dem Zweck, um nüchtern zu werden und machte, wenn ich erst auf demWege zur Nüchternheit wäre, immer gleich die Fahrt nach Prag, um mich vorzeitig wiedervollzutrinken), es gehört aber auch dazu, wenn ich längere Zeit hier bin, immer. Es ergibt sich vonselbst, meine Welt wird durch die Stille immer ärmer; ich habe es immer als mein besonderesUnglück gefühlt, daß ich (Verkörperlichung der Symbole!) förmlich nicht genug Lungenkraft hatte,der Welt die Mannigfaltigkeit für mich einzublasen, die sie ja, wie die Augen lehren, offenbar hat;jetzt gebe ich mir diese Mühe nicht mehr, sie entfällt aus meinem Stundenplan des Tages und erwird deshalb nicht trüber. Aber aussagen kann ich womöglich noch weniger als damals, und wasich sage, ist fast gegen meinen Willen.In Kierkegaard habe ich mich möglicherweise wirklich verirrt, ich bemerkte das mit Staunen, alsich Deine Zeilen über ihn las. Es ist tatsächlich so wie Du sagst: Das Problem seiner Ehe-Verwirklichung ist seine Hauptsache, seine bis ins Bewußtsein immerfort hinaufgetragene

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Hauptsache, ich sah das in »Entweder - Oder«, in »Furcht und Zittern«, in »Wiederholung« (dieletzten habe ich in diesen vierzehn Tagen gelesen, »Stadien« bestellt), ich aber habe es - trotzdemmir Kierkegaard jetzt immer irgendwie gegenwärtig ist - wahrhaftig vergessen, so sehr treibe ichmich anderswo herum, ohne allerdings jemals völlig außer Verbindung damit zu kommen.Die »körperliche« Ähnlichkeit mit ihm, wie sie mir eben etwas nach jenem kleinen Buch»Kierkegaards Verhältnis zu >ihr<« (Inselverlag 12, - ich habe es ja hier, ich werde es Dirschicken, wesentlich ist es aber nicht, es wäre denn später zur Nachprüfung -) erschien, ist jetztganz verschwunden, aus dem Zimmernachbar ist irgendein Stern geworden, sowohl was meineBewunderung, als eine gewisse Kälte meines Mitgefühls betrifft. Im übrigen wage ich nichtsBestimmtes zu sagen, außer den genannten Büchern kenne ich nur das letzte »Der Augenblick« undes sind das wirklich zwei sehr verschiedene Gläser (»Entweder - Oder« und »Augenblick«), durchdie man dieses Leben nach vorwärts oder rückwärts und natürlich auch nach bei den Richtungenzugleich untersuchen kann. Aber nur negativ kann man ihn gewiß weder hier noch dort nennen, in»Furcht und Zittern« z.B. (das Du jetzt lesen solltest) geht seine Positivität ins Ungeheuerliche undmacht erst vor einem - gewöhnlichen Steuermann halt, wenn es nicht eben ein Einwand - so meineich es - gegen die Positivität wäre, daß sie sich zu hoch versteigt; den gewöhnlichen Menschen (mitdem er übrigens merkwürdigerweise so gut sich zu unterhalten verstand) sieht er nicht Und maltden ungeheueren Abraham in die Wolken. Aber negativ darf man ihn doch des halb nicht nennen(außer höchstens mit der Terminologie seiner ersten Bücher) und wer könnte sagen, was das alleswar: seine Schwermut.Was die vollkommene Liebe und Ehe betrifft, seid ihr übrigens auf dem Boden des »Entweder -Oder« wohl einig, nur der Mangel der vollkommenen Liebe macht A. zur vollkommenen Ehe desB. unfähig. Das erste Buch von »Entweder - Oder« kann ich aber noch immer nicht ohneWiderwillen lesen.Oskars Empfindlichkeit verstehe ich (abgesehen davon, daß man ihn nicht mit etwas Miserablem,so erschien ihm der andere wenigstens, hätte zusammenbringen sollen) so, daß er es derartigschmerzlich fühlt (sich zu etwas, was ihm von allem Anfang nicht richtig erschien, habe drängenlassen), daß er nicht bei der Selbstquälerei stehen bleiben kann, sondern auch noch Dich ein wenigquält. In dieser Hinsicht kann ich ihn verstehn und diese Dinge auch nicht für nichtig halten.Von Pick bekam ich glücklicherweise noch nichts, würde wahrscheinlich freundlich ablehnen, einReiz, der mich nicht irre führt, der aber wirklich groß ist. Für Dich dürfte er aber nicht gelten.(Vom Reiss-Verlag bekam ich eine freundliche Einladung, von Wolff nach der erstenKorrektursendung nichts mehr.)Liebstöckls Notiz über Dich war ein widerlicher Haßausbruch, auch in der Widerlichkeit derSchreibweise von der übrigen Jenufa-Kritik unterschieden. Die Antwort hat ihn meinem Gefühlnach ein wenig unterstützt, indem sie dem Leser erst zu Bewußtsein brachte, daß man auch übersolches Zeug diskutieren kann. �Viel Glück und Freude in Deutschland!

Dein Franz

(Randnotizen:) Grüße bitte auch Felix und Oskar, ich weiß nicht, ob ich ihnen bald genug schreibenwerde.Hast Du Pfemfert, bitte, wegen des Rubinerschen Tolstoi-Tagebuches gefragt? -Von was für Laufereien, Plagen sprichst Du? -Das Verhältnis zur Anstalt ist weiterhin mein Leid. Ich halte mich hier, solange ich kann. -Vielen Dank für die zwei Sendungen, Du bist sehr gut zu mir, nur solltest Du nicht von»Veränderung, Verblassung« sprechen.

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An Max Brod(Zürau, Ende März 1918)

Lieber Max, daß es in Dresden so möglich gemacht wurde, ist erstaunlich; wie haben sie es dort sobegreifen können, ich meine die Schauspieler, die Theaterleute. Erstaunlich und schön. Und dasGlück, die Eltern dort zu haben, kann ich gut verstehn. Deine Frau war nicht mit? Jedenfalls alsowaren es gute Tage und ihre Güte kann für den Verlust der Willensfreiheit zeitweiligEntschädigung sein. Ich sage das so leichthin, weil ich mit meinem bis zu vollständiger Ödevereinfachendem Auge den Begriff der Willensfreiheit niemals so geistesgegenwärtig an einemganz bestimmten Punkte des Horizonts fassen konnte wie du. Im übrigen kannst auch du hier dieWillensfreiheit behalten oder mußt sie wenigstens nicht verloren geben, indem du entweder dichvorläufig weigerst, es als Gnade hinzunehmen oder es zwar als Gnade nimmst, aber sie für nichtigachtest. Diese Willensfreiheit bleibt uns unverlierbar. Und weißt du denn, was du durch ehrlichsteArbeit langer Jahre in unabsehbar ausstrahlende Bewegung gebracht hast? Ich sage das für dich,nicht für mich.Dank für die Vermittlung bei Wolff. Seitdem ich mich entschlossen habe, das Buch meinem Vaterzu widmen, liegt mir viel daran, daß es bald erscheint. Nicht als ob ich dadurch den Vaterversöhnen könnte, die Wurzeln dieser Feindschaft sind hier unausreißbar, aber ich hätte doch etwasgetan, wäre, wenn schon nicht nach Palästina übersiedelt, doch mit dem Finger auf der Landkartehingefahren. Darum wollte ich, da Wolff sich so gegen mich sperrt, nicht antwortet, nichts schicktund es doch mein wahrscheinlich letztes Buch ist, die Manuskripte an Reiss schicken, der sich mirfreundlich angeboten hat. Ich schrieb noch einen Ultimatumbrief an Wolff, der allerdings bis jetztauch nicht beantwortet ist, doch kam inzwischen vor etwa zehn Tagen eine neue Korrektursendung,worauf ich Reiss doch abgeschrieben habe. Soll ich es doch anderswohin geben? Inzwischen kamauch eine Einladung von Paul Cassirer. Woher kennt er übrigens meine Zürauer Adresse?Hast du mit Adler vielleicht auch über Kierkegaard gesprochen? Mir ist er jetzt nicht mehr sogegenwärtig, da ich die alten Bücher längere Zeit nicht mehr gelesen habe (ich habe bei demschönen Wetter im Garten gearbeitet), »Stadien« aber noch nicht gekommen sind. - Du erwähnstdie »Durchreflektiertheit« und fühlst offenbar mit mir, daß man sich der Macht seinerTerminologie, seiner Begriffsentdeckungen nicht entziehen kann. Etwa auch der Begriff des»Dialektischen« bei ihm, oder jener Einteilung in »Ritter der Unendlichkeit« und »Ritter desGlaubens« oder gar der Begriff der »Bewegung«. Von diesem Begriff kann man geradewegs insGlück des Erkennens getragen werden und noch einen Flügelschlag weiter. Ist das ganzursprünglich? Ist vielleicht Schelling oder Hegel (mit beiden hat er sich gegensätzlich sehrbeschäftigt) irgendwie dahinter?Der Übersetzer benimmt sich allerdings schändlich, ich dachte, nur in »Entweder - Oder« hätte er»verändert mit Rücksicht auf die Jugend« des Verfassers, nun also auch in »Stadien«? Das istwiderlich, besonders in dem Gefühl der Hilflosigkeit dem gegenüber. Aber das Deutsch derÜbersetzung ist doch nicht das schlechteste, und hie und da im Nachwort findet sich einebrauchbare Bemerkung, es kommt das daher, daß von Kierkegaard so viel Licht ausgeht, daß in alleTiefen etwas davon kommt, Doch hätten allerdings diese »Tiefen« vom Verlag nichtheraufbeschworen werden müssen, Kierkegaard zu übersetzen.In der Buchveröffentlichung (»Stadien« kenne ich nicht, aber in diesem Sinn sind ja alle seineBücher kompromittierend) sehe ich keinen entscheidenden Widerspruch zu seiner Grundabsicht.Sie sind nicht eindeutig und selbst wenn er sich später zu einer Art Eindeutigkeit entwickelt, istauch diese nur ein Teil seines Chaos von Geist, Trauer und Glauben. Das mögen seineZeitgenossen noch deutlicher gefühlt haben als wir, Außerdem sind ja seine kompromittierendenBücher pseudonym und zwar pseudonym bis nahe an den Kern, sie können in ihrer Gänze, trotzihrer Geständnisfülle, doch recht gut als verwirrende Briefe des Verführers gelten, geschriebenhinter Wolken. Und selbst wenn das alles nicht wäre, mußten sie unter der mildernden Wirkung derZeit die Braut aufatmen lassen, diesem Folterwerk, das jetzt leer lief, oder wenigstens nur mit

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ihrem Schatten beschäftigt war, entgangen zu sein; um diesen Preis mag sie auch die»Geschmacklosigkeit« der fast alljährlichen Veröffentlichungen geduldig ertragen haben. Undschließlich blieb sie ja, als bester Beweis für die Richtigkeit von Kierkegaards Methode (zuschreien, um nicht gehört zu werden, und falsch zu schreien, für den Fall, daß man doch gehörtwerden sollte) unschuldig fast wie ein Lämmchen. Und vielleicht gelang hier Kierkegaard etwasgegen seinen willen oder nebenbei auf seinem anderswohin gerichteten Weg.Kierkegaards religiöse Lage will sich mir nicht in der außerordentlichen, auch für mich sehrverführerischen Klarheit zeigen, wie Dir. Schon Kierkegaards Stellung - er muß noch kein Wortsagen - scheint Dich zu widerlegen. Denn das Verhältnis zum Göttlichen entzieht sich zunächst fürKierkegaard jeder fremden Beurteilung, vielleicht so sehr, daß selbst Jesus nicht urteilen dürfte, wieweit derjenige gekommen ist, der ihm nachfolgt. Es scheint das für Kierkegaard gewissermaßeneine Frage des jüngsten Gerichts zu sein, also beantwortbar - sofern eine Antwort noch nötig istnach Beendigung dieser Welt. Darum hat das gegenwärtige Außenbild des religiösen Verhältnisseskeine Bedeutung. Nun will sich allerdings das religiöse Verhältnis offenbaren, kann das aber nichtin dieser Welt, darum muß der strebende Mensch sich gegen sie stellen, um das Göttliche in sich zuretten, oder, was das gleiche ist, das Göttliche stellt ihn gegen die Welt, um sich zu retten. So mußdie Welt vergewaltigt werden von Dir wie von Kierkegaard, hier mehr von Dir, hier mehr von ihm,das sind Unterschiede bloß auf der Seite der vergewaltigten Welt. Und die folgende Stelle ist nichtaus dem Talmud: »Sobald ein Mensch kommt, der etwas Primitives mit sich bringt, so daß er alsonicht sagt: Man muß die Welt nehmen wie sie ist (dieses Zeichen das man als Stichling freipassiert), sondern der sagt: Wie die Welt auch ist, ich bleibe bei einer Ursprünglichkeit, die ichnicht nach dem Gutbefinden der Welt zu verändern gedenke: im selben Augenblick, als dieses Wortgehört wird, geht im ganzen Dasein eine Verwandlung vor sich. Wie im Märchen, wenn das Wortgesagt wird, sich das seit hundert Jahren verzauberte Schloß öffnet und alles Leben wird: so wirddas Dasein lauter Aufmerksamkeit. Die Engel bekommen zu tun und sehen neugierig zu, wasdaraus werden wird, denn dies beschäftigt sie. Auf der andern Seite: finstere, unheimlicheDämonen, die lange untätig dagesessen und an ihren Fingern genagt haben, springen auf undrekken die Glieder, denn, sagen sie, hier, worauf sie lange gewartet haben, gibts etwas für unsu.s.w.«Zum Gott der Selbstquälerei: »Die Voraussetzungen, die das Christentum macht (Leiden in mehrals allgemeinem Maß und Schuld in ganz besonderer Art), die habe ich, und ich finde meineZuflucht beim Christentum. Aber es gebieterisch oder direkt andern verkündigen, kann ich nichtrecht, denn ich kann ja die Voraussetzungen nicht herbeischaffen.«Zu Freud (bei Betrachtung dessen, daß Jesus immer gesund war): »Überhaupt leiblich undpsychisch ganz gesund ein wahres Geistesleben führen - das kann kein Mensch.«Sagst du, er sei kein Beispiel, meinst du, kein letztes Beispiel. Gewiß, kein Mensch ist das.

Franz

An Max Brod(Zürau, Anfang April 1918)

Mein lieber Max, war mein Brief gar so unprivat?, schwer verständlich gelegentlich Kierkegaards,leicht verständlich im Hinblick auf mich. Bedenke auch, daß es jetzt die Zeit einer Art Abschiedvom Dorf ist, in Prag macht man die beste Politik, die man (vorausgesetzt, daß man mich behaltenwill) machen kann : man schweigt, duldet, zahlt, wartet. Das ist nicht leicht auszuhalten und ich binnächsten Monat vielleicht wieder Beamter in Prag.Dank für die Briefe, die beiliegen. Picks Brief gehört nicht zu den schlechten Kriegsfolgen, wennman auch merkt, wie ihn Dein voriger Brief, den ich nicht kenne, an der Hand führt und außerdemgerade die wesentlichsten Bedenken etwas unklar bleiben, ohne daß sie ihm unklar sein müßten. Imübrigen wiederholt sich mir immer das Gleiche: am Werk wird der Schriftsteller nachgeprüft;

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stimmt es, so ist es gut; ist es in einer schönen oder melodischen Nichtübereinstimmung, ist es auchgut; ist es aber in einer sich reibenden Nichtübereinstimmung, ist es schlecht. Ich weiß nicht, obsolche Prinzipien überhaupt anwendbar sind, gern würde ich es leugnen, vorstellbar wäre es miraber für eine von lebendiger Idee geordnete Welt, wo die Kunst den mir aus Erfahrungunbekannten Platz hätte, der ihr gebührt. (Inzwischen war ich mit der Stute in einem Dorf Schaabbeim Hengst, jetzt ist es im Zimmer schon zu kalt, hier im Garten in einem halbfertigen Gurkenbeetaber noch sehr warm. Ziegenmist, den Ottla gerade hergeführt hat, sticht mir sehr in die Nase.) Ichmeine: eine Analyse, wie sie für die Anwendung jener Prinzipien Voraussetzung wäre, ist unsgegenüber nicht möglich, wir bleiben immer ganz (in diesem Sinn), wir haben, wenn wir etwasschreiben, nicht etwa den Mond ausgeworfen, auf dem man Untersuchungen über seineAbstammung machen könnte, sondern wir sind mit allem, was wir haben, auf den Mondübersiedelt, es hat sich nichts geändert, wir sind dort, was wir hier waren, im Tempo der Reise sindtausend Unterschiede möglich, in der Tatsache selbst keine, die Erde, die den Mond abgeschüttelthat, hält sich selbst seitdem fester, wir aber haben uns einer Mondheimat halber verloren, nichtendgültig, hier gibt es nichts Endgültiges, aber verloren. Darum kann ich auch DeineUnterscheidung zwischen Wille und Gefühl hinsichtlich des Werkes nicht mitfühlen (odervielleicht nur infolge der Namengebung und außerdem, zur Einschränkung, spreche ich docheigentlich nur für mich, hole also zu weit aus, kann aber nicht anders, habe keinen anderenGesichtskreis). Wille und Gefühl, alles ist immer und richtig als ein Lebendiges vorhanden, hierläßt sich nichts trennen (erstaunlich, jetzt komme ich ohne es gewußt zu haben, zu einem ähnlichenSchluß wie Du), die einzige Trennung, die gemacht werden kann, die Trennung von der Heimat istschon vollzogen, kann vom Kritiker schon mit geschlossenen Augen festgestellt, aber niemals inihren, gegenüber der Unendlichkeit auch ganz unwesentlichen Unterschieden bewertet werden.Darum scheint mir jede Kritik, die mit Begriffen von Echt, Unecht umgeht, und Wille und Gefühldes nicht vorhandenen Autors im Werk sucht, ohne Sinn und eben nur dadurch zu erklären, daßauch sie ihre Heimat verloren hat und alles eben in einer Reihe geht, ich glaube natürlich : diebewußte Heimat verloren hat.In Königsberg wird es eine noch größere Probe des Theaters und Publikums werden. Fahr Max mitallen meinen guten wünschen hin.

FranzGroßen Eindruck hat Deine Erwähnung des Ehrenfels auf mich gemacht. Könntest Du mir dasBuch borgen? Im übrigen: alle bestellten Bücher bleiben aus, niemand liefert.

An Johannes Urzidil(Prag, Frühjahr 1918)

Sehr geehrter Herr Urzidil!Meinen besten Dank für Ihre freundliche Einladung und die Zeitschrift, doch bitte ich von meinerMitarbeit, wenigstens vorläufig, abzusehen, denn ich habe nichts, was ich veröffentlichen könnte.Mit herzlichen Grüßen

F. Kafka

An Felix Weltsch(Zürau, Mai/Juni 1918)

Lieber Felix,zur wörtlichen Wiederanknüpfung: einen letzten Gruß aus Zürau, den nächsten in Prag. Dirgegenüber muß ich mich nicht entschuldigen, Du hast gewiß, wenigstens ahnungsweise, meinStillsein verstanden und mehr verstanden habe ich es ja auch nicht. Mir war nicht zum Schreiben,

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zum Reden übrigens auch nicht. An Dich habe ich viel gedacht, nicht nur gelegentlich des»Friedens« und der »Rundschau«. Auf Wiedersehn!

Franz

An Oskar Baum(Zürau, Juni 1918)

Lieber Oskar, ich hätte Dir schon längst geschrieben, wenn über meine Erholung etwas besondersGutes zu schreiben gewesen wäre. Es ist eben medizinisch, im Spaß und im Ernst, einaussichtsloser Fall. Willst Du eine Laiendiagnose? Die körperliche Krankheit ist hier nur ein Aus-den-Ufern-Treten der geistigen Krankheit; will man sie nun wieder in die Ufer zurückdrängen,wehrt sich natürlich der Kopf, er hat ja eben in seiner Not die Lungenkrankheit ausgeworfen undnun will man sie ihm wieder aufdrängen, und zwar gerade in einem Augenblick, wo er die größteLust hat, noch andere Krankheiten auszuwerfen. Und beim Kopf anfangen und ihn heilen, dazugehörte die Körperkraft eines Möbelpackers, die ich mir eben aus dem obigen Grunde niemalswerde verschaffen können. So bleibt es also beim Alten. Früher hatte ich immer die dumme, aberfür die ersten Jahrgänge der Selbstmedizin begreifliche Meinung, daß ich mich bei einer einzelnenGelegenheit aus diesem oder jenem zufälligen Grunde nicht ordentlich habe erholen können, jetztweiß ich, daß ich diesen Gegengrund immer mit mir herumtrage.Sonst ist es sehr schön hier, gar in diesem regnerisch-sonnigen Juni, immerfort streichelt die lau-duftende Luft; sie bittet, so schuldlos sie ist, um Verzeihung dafür, daß sie nicht gesund machenkann.Max schreibt von der Geschichte, die Du vorliest, ich freue mich sehr, wieder einmal bei Dir zusein, Ende Juni.Grüß Frau, Kind und Schwester,

Dein FranzIch merke, daß ich gar zu sehr ins Trübe ausgeglitten bin, so schlimm ist es auch nun wieder nicht.

An Felix Weltsch(Ansichtskarte (Rumburg), wahrscheinlich Herbst 1918)

Ein Gewinn des Sommers, Felix; ich werde niemals mehr in ein Sanatorium gehn. Jetzt, wo ichwirklich krank zu werden anfange, werde ich nicht mehr in Sanatorien gehn. Alles verkehrt. DeineSchwester ist heute weggefahren, ich wollte ihren Wagen auf der Landstraße mit Blumen erwarten,hielt mich aber zulange beim Gärtner auf, versäumte den Wagen und kann jetzt mit den Blumenmein Zimmer ausschmücken.Herzliche Grüße an Dich und Deine Frau

Franz

An Max Brod(Ansichtskarte (Turnau i. B.), Stempel: 27. IX. 1918)

Lieber Max, Dank für den Brief und die Vorsicht. Dein Hebräisch ist nicht schlecht, am Anfangsind einige Fehler. ist dann aber die Sache in Gang, wird es fehlerlos. Ich lerne gar nichts, suchenur den Besitz zu erhalten, ich wollte es auch nicht anders, den Tag über bin ich im Garten. DeineBemerkung über den Roman habe ich für Dr. W. herausgeschrieben, um ihm ein wenig (nicht ganzreine) Freude zu machen. Dein Urteil steht ihm sehr hoch.Auf Wiedersehen nächstnächsten Montag. Grüße Felix und Oskar.

Dein Franz

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An Felix Weltsch(Turnau, September 1918)

Lieber Felix, allererstes Ergebnis nach einer Unterredung mit dem sehr vernünftigen HausfräuleinLmd nach eigenen Erfahrungen: In der Umgebung dürfte sich kaum etwas finden, denn dieWaldhotels schließen schon, soweit sie nicht schon geschlossen haben oder gar nicht eröffnethatten. Auch dürfte sich Deine Schwester im späten Herbst oder Winter, selbst wenn eine ganzunwahrscheinliche Aufnahme dort zu erreichen wäre (was nur bei sehr engen persönlichenBeziehungen möglich wäre) sehr verlassen fühlen. Im übrigen sollen auch diese Hotels große Not(gar an Kohle) haben, während in Turnau selbst immerhin noch etwas zusammenkommt.Diese Überlegungen führen zu meinem Hotel, an das ich gleich dachte, und das Fräulein hat mirzumindest nicht abgeredet. Vorzüge des Hotels: gute Führung, große Reinheit, meiner Meinungnach ausgezeichnete Küche. Nachteile, aber nicht nur dieses Hotels: ausschließlich Fleischkost(diese allerdings nach Belieben reichlich) und Eier; im seltensten Fall etwas anderes, nicht einmalGemüse bekommt man.Milch und Butter habe ich bisher, trotz des Angebotes guter Seife und Zigaretten, nicht in derallergeringsten Menge bekommen und habe schon die verschiedenartigsten Versuche gemacht.Frauen sind allerdings in dieser Hinsicht geschickter. Das Brot, das die Gemeinde gibt, ist sehrschlecht und wird noch schlechter werden, ich vertrage es gar nicht.Die Wälder sind sehr schön, den Wäldern von Marienbad ganz ebenbürtig, überall schöneaufmunternde Ausblicke.Noch ein Vorteil Turnaus: ausgezeichnete Äpfel und Birnen. Deine Schwester kann, glaube ich,nicht sehr gut tschechisch, das erschwert allerdings ein wenig den Aufenthalt hier, aber nicht imHotel, wo es viele Gäste aus Nordböhmen gibt, Reichenberger Zeitung, PragerTagblatt, »Zeit«gehalten wird, eine deutsche Speisekarte gereicht wird.Preise, allerdings nur die augenblicklichen: Zimmer 3 Kronen, Rindfleisch mit Sauce undKartoffeln 4,50, Schweinsbraten Knödel Kraut 11 Kronen, Kalbsbraten 7-9 Kronen,Zwetschkenknödel (große Ausnahme) 4 Kronen, Rühreier mit Kartoffel 6 Kronen u.dgl.Vielleicht gibt es bei längerem Aufenthalt besondere Preise, mir hat sie der Wirt am ersten Tagunter großem Geschrei und Gelächter verweigert, wir sind aber schon wieder versöhnt.Das wäre alles, ich werde mich aber noch weiter umsehn. Herzliche Grüße

Franz(Auf separatem Blatt:) Lieber Felix, ein Nachtrag: In Kacanow bei Turnau gibt es ein Hotel-Pensionat, welches erstaunlicherweise hier plakatiert, um Gunst des Publikums bittet u.s.f. Ich binheute nachmittag hingegangen, es ist eine Wegstunde von Turnau entfernt, ein hübschesgeräumiges Haus, rings von Anhöhen mit Wäldern und Wiesen umgeben, selbst nicht allzu tief, mitFenstern gegen Süden. Es hat einen neuen Pächter, einen Mann, mit dem man reden kann, er istoffenbar strebsam, scheint aber bisher außer der Plakatierung dort nichts Größeres unternommen zuhaben, das Haus macht einen verlassenen Eindruck, nur Getränke sind zu haben, Essen nicht. Ererklärt es damit, daß er seine Frau noch nicht dort hat, sie ist noch in der früher von ihmgepachteten Wirtschaft, kommt aber in vierzehn Tagen, dann wird er auch Genaueres überVerköstigung und Preise sagen können, er behauptet aber schon jetzt, daß er Deine Schwester dannwird aufnehmen können. Eine sehr unsichere und noch genau nachzuprüfende Sache ist es gewiß.Nähere Auskünfte über Turnau bekommst Du mündlich, ich weiß ja vorläufig noch nicht, wie eseigentlich Deiner Schwester geht. Samstag oder Sonntag bin ich schon in Prag. Vielleicht kommeich Sonntag nachmittag zu Dir oder komm Montag ins Bureau zu mir.Herzliche Grüße

Franz

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An den Verlag Kurt WolffPrag, 1. Oktober 18

Sehr geehrter Verlag! Prag,Besten Dank für Ihre Mitteilungen. Verstehe ich Ihre Bemerkung über den Druck des Buches recht,so soll ich keine Korrekturen bekommen, das wäre schade. Die von Ihnen angegebene Reihenfolgeder Stücke im Buch ist richtig, bis auf einen unmöglich zu belassenden Fehler: das Buch soll mit»Ein neuer Advokat« anfangen, das von Ihnen als erstes Stück genannte »Ein Mord« ist einfachwegzuwerfen, da es mit geringfügigen Unterschieden dem später richtig genannten »EinBrudermord" gleich ist. Die Widmung des ganzen Buches »Meinem Vater« bitte ich nicht zuvergessen, Das Manuscript von »Ein Traum« liegt bei.Hochachtungsvoll ergeben

Dr. Kafka

An Kurt Wolff(Prag, 11. November 18)

Sehr geehrter Herr Kurt Wolff!Fast mnit dem ersten Federstrich nach einem langen Zu-Bettliegen danke ich Ihnen herzlichst fürIhr freundliches Schreiben. Hinsichtlich der Veröffentlichung der»Strafkolonie« bin ich mit allemgerne einverstanden, was Sie beabsichtigen. Das Manuscript habe ich bekommen, ein kleines Stückherausgenommen und schicke es heute wieder an den Verlag zurück.Mit herzlichen Grüßen Ihr immer ergebener

Dr. Kafka

An den Verlag Kurt Wolff(Postkarte. Prag,) 11. XI. 18

Sehr geehrter Verlag!Gleichzeitig schicke ich Ihnen express-rekommando das Manuscript der »Strafkolonie« mit einemBrief. Meine Adresse ist: Prag, Poøiè 7.Hochachtungsvoll ergeben

Dr. Kafka

An den Verlag Kurt Wolff(Prag, November 1918)

Sehr geehrter Verlag!Offenbar infolge eines Irrtums adressieren Sie Ihre Briefe an mich nach Zürau. Das ist unrichtig,solche Briefe kommen nur auf Umwegen und fast zufällig zu mir. Meine Adresse ist Prag, Poøiè 7.In der Beilage schicke ich das etwas gekürzte Manuscript der »Strafkolonie«. Mit den Absichtendes Herrn Kurt Wolff hinsichtlich einer Veröffentlichung bin ich völlig einverstanden.Ich bitte Sie zu beachten, daß nach dem mit »eisernen Stachels« endigenden Absatz (Seite 28 desManuscripts) ein größerer freier Zwischenraum, der mit Sternchen oder sonstwie auszufüllen wäre,einzuschieben ist.Hochachtungsvoll ergeben

Dr. Kafka

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An Max Brod(Prag, November 1918)

Lieber Max,Ich wollte letzten Sonntag schon wegfahren, mußte mich aber Samstag mit Fieber ins Bett legenund habe so die ganze Woche halb liegend halb sitzend verbracht. Morgen fahre ich. Bitte Max,einen Gefallen! Wie Du aus dem beiliegenden Brief siehst ist das Manuskript bei Wolff nichtangekommen. Ich habe - die beiliegenden Scheine sind Beweis � am gleichen Tag eineKorrespondenzkarte und das Manuskript mit Brief an Wolff geschickt. Die Karte (Wolff nennt sieBrief) ist angekommen, das Manuskript nicht. Beides war express-rekommando geschickt. WolltestDu es reklamieren? Ich habe niemals gewußt, wie man der Post beikommt, gegenüber derneustaatlichen Post weiß ich es schon gar nicht. Danke Dir bestens und leb wohl! Vielleicht schickeich Dir aus Schelesen Fragebogen über hebräische Zweifel. Es wird für Dich wenig Arbeit sein, dieFragen werden mit einem Wort oder einem Kopfschütteln zu beantworten sein und wir werdeneinen hebräischen Verkehr haben.

Dein Franz

An Max Brod(Pension Stüdl. Schelesen bei Liboch,

Anfang Dezember 1918)Lieber Max, schade daß ich Dich letzthin nicht zuhause getroffen habe, übrigens werde ich baldkommen, vielleicht schon Weihnachten, anfangs Jänner gewiß. So gut wie in Zürau ist es hier nicht,wenn auch gar nicht schlecht natürlich, und lehrreich wie überall. Außerdem erstaunlich billig; 6frc. pro Tag (bei dem nach den Zeitungen in Wien jetzt üblichen Umrechnungskurs von 1K = 10ctm.) Den Fragebogen lege ich bei, ich lerne fast gar nichts, der Tag ist kurz, Petroleum ist wenigund viele Stunden liege ich im Freien. Nicht einmal meine Bücher lese ich, nur aus derHausbibliothek (in der es auch »Tycho Brahe« gibt) die »Geschichte meines Lebens« vonMeissner, ein außerordentlich lebendiges und aufrichtiges Buch mit unaufhörlichen selbsterlebtenCharakteristiken und Anekdoten der ganzen politischen und literarischen böhmisch-deutsch-französisch-englischen Welt um die Mitte des vorigen Jahrhunderts und in politischer Hinsicht voneiner geradezu blendenden Aktualität.Leb wohl, grüß die Frau und Felix und Oskar. Hast Du reklamiert?

Franz(Beiliegend zwei Briefseiten mit Fragen, hebräische Grammatikprobleme betreffend; vieles inhebräischer Schrift.)

An Ottla KafkaSchelesen b. Liboch (Dezember 1918)

(6 kleine Zeichnungen Kafkas auf einer Postkarte.)Ansichten aus meinem Leben.Und wie geht es Dir? Weihnachten bring Hefte und Bücher, ich werde Dich prüfen. Soll ichübrigens nach Prag kommen? Es geht mir hier ebenso gut wie in Zürau, nur ist es hier etwasbilliger. Ich will 4 Wochen hier bleiben, könnte aber gut und gern Weihnachten nach Prag kommen.Viele Grüße.

Franz

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An Max Brod(Postkarte. Schelesen, Stempel: 16. XII. 1918)

Liebster Max, es wird nicht besorgt, aber beachtet werden. Übrigens liegt in meiner Brieftascheschon seit längerer Zeit eine an Dich adressierte Visitkarte mit ähnlicher sehr einfacher Verfügung(allerdings auch in Geldsachen) - Vorläufig aber leben wir und Dein Gemeinschaftaufsatz istherrlich. Ich habe während des Lesens vor Freude Grimassen gemacht. Er ist unerschütterlich,wahr, durchsichtig, erkenntnisreich, zart und außerdem noch blendend. � Was die organischeGeschlossenheit des Einzelnen in moralischer Hinsicht betrifft, sind ihre Ursachen meinerErfahrung nach noch schlimmer; diese Geschlossenheit nährt sich moralisch zum großen Teil nurvon Mentalreservationen. - Offensichtlich sozial sind doch alle Menschen, ausgenommen vielleichtdie, welche ganz am Rand herumlungern und bald abfallen, und dann diejenigen, welcheübermenschlich imstande sind, die ganze Sozietät in die enge Brust zu fassen. Alle andern sind aberdurchwegs sozial, nur haben sie mit verschiedenartigen Kräften verschiedenartige Schwierigkeitenzu überwinden. Das müßte vielleicht in dem Aufsatz, der zwar nicht Urteil, aber doch Tatbestandeines Urteils zumindest ist, mitwirken.- Auch ist vielleicht das Mißverständnis nicht ganzvermieden, welches aus der Tatsache entstehen kann, daß z.B. (sehr beispielsweise) im Volksvereinviele prachtvoll soziale Leute sitzen, im Mädchenklub aber weniger. - Aber wieder und immerfort,an diesen Aufsatz halte ich mich. Wenn Dein neues Buch ganz so aufgebaut sein sollte!

Franz

An Max Brod(Postkarte. Schelesen, Stempel: 17. XII. 1918)

Lieber Max, Du, unerschütterlich, Lmd auch Dich hat es hingelegt. Nun bist Du ja schon aus demBett. Ich habe gar nichts gewußt, meine Mutter schrieb mir nicht, niemand. Schreib mir noch einpaar Worte über Deinen Zustand. Während meines Fiebers warst Du mir etwas wie die Bürgschaftdes Lebens. Mögest Du wenigstens vor den kleinen Nachleiden bewahrt bleiben, die bei mir hinterder Grippe herkamen. Immerhin scheinst Du ja über eine Woche lang gelegen zu sein. Deine Frauist gesund geblieben? Solltest Du nicht auf das Land fahren, Dich erholen? Leider spricht manchesdagegen Dich hierher einzuladen, aber zur Not ginge es doch und ich würde Dich nicht schlechtpflegen, da ich doch Erfahrungen im Gepflegtwerden habe. Ich überlege, ob ich meine Mutter zuDir schicken soll, ob sie Dich stören oder vielleicht gar nicht mehr zuhause antreffen würde, da Duschon in Jüdischen Nationalrat sein könntest. Vielleicht schicke ich nur das Fräulein.Leb wohl, schreib bald, grüße Felix und Oskar.

Franz

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1919

An Oskar Baum(Schelesen, Anfang 1919)

Lieber Oskar, wie lebst Du weiter diesen Winter? Es ist, wie wenn es ungerecht verteilt wäre; ichschon den zweiten Winter auf dem Land und Du, der Du Dich in Zürau so gefreut hast, in Schneeund Kälte wieder in Prag. Und dabei entwerfe ich kein Trauerspiel überhaupt keines und erst rechtkeines wie das Deine , von dem oder wenigstens von dessen Schicksal ich gerne etwas hörenwollte.Übrigens glaube ich, daß ich bald zurückkommen werde, in zehn Tagen etwa, es wäre denn, daßder hiesige Doktor abrät. Ich will nicht sagen, daß es hier weniger schön ist als in Zürau, aberschwieriger, ich bin jetzt schon zum zweiten Male hier, aber ich müßte vielleicht noch zehnmalimmer mit neuem Anlauf herfahren, ehe ich es bewältige. In Zürau war es so leicht. Allerdings warauch meine Gesundheit etwas besser.An Dich lebt hier noch eine Erinnerung im Haus oder eigentlich an Deinen Jungen. Ein kleinerSpitz des Briefträgers, bei dem ihr gewohnt habt, konnte es unter den Martern des Leo nichtaushalten und ist von Fräulein Stüdl gekauft, d.h, gerettet worden. Der Spitz lebt nun schon langenicht mehr, Du wirst aber als Vater Deines Sohnes nicht vergessen werden. Eben bellen untengroßartig die Hunde, sie rächen den Spitz an mir jede Nacht, aber das macht nicht viel, die innernHunde sind dem Schlaf gefährlicher.Herzliche Grüße Dir und den Deinen.

Franz

An Max Brod(Schelesen, Januar 1919)

Lieber Max, letzthin habe ich von Dir geträumt. es war an und für sich kein besonderer Traum, ichhabe diesen Traum öfters: ich nehme irgendein Stöckchen oder breche auch nur einen Zweig ab,stoße ihn schief gegen den Boden, setze mich auf ihn, wie die Hexen auf den Besen, oder lehnemich auch nur an ihn, wie man sich auf der Gasse an einen Spazierstock lehnt - und das genügt, daßich in langen flachen Sprüngen weithin fliege, bergauf, bergab, wie ich will. Erschöpft sich dieFlugkraft, brauche ich nur einmal wieder gegen den Boden zu stoßen Und es geht wieder weiter.Das träume ich also öfters, diesmal aber warst Du irgendwie dabei, hast zugesehn oder hast aufmich gewartet, es war so, als wäre es manchmal in den Rudolphinumanlagen. Und nun kam es so,daß ich immer wieder Dich irgendwie schädigen oder wenigstens in Anspruch nehmen mußte. Eswaren zwar nur Kleinigkeiten, einmal verlor ich einen kleinen eisernen Stock, der Dir gehörte, undmußte es Dir gestehn, ein andermal ließ ich Dich wegen meines Fliegens lange warten, also dochnur Kleinigkeiten aber wunderbar war es, mit welcher Güte und Geduld und Stille Du das alleshinnahmst. Entweder - mit dieser Überlegung schloß der Traum - warst Du überzeugt, daß ich es,trotzdem ich es scheinbar so leicht hatte, doch schwer hatte, oder Du hieltest wenigstens an diesemGlauben fest als der einzigen Erklärung meines sonst unbegreiflichen Verhaltens. Und so hast Dumir nicht einmal diese nächtlichen Freuden mit dem kleinsten Vorwurf gestört.Im ganzen geht es mir auch bei Tage nicht schlecht, wenigstens was die Lunge betrifft. KeinFieber, keine Atemnot, immer weniger Husten. Dagegen stört mich der Magen.Wann fährst Du in die Schweiz?Herzliche Grüße

FranzGrüße bitte Felix und Oskar.

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An Max Brod(Schelesen, Stempel: 6. II. 1919)

Lieber Max, wie Du mit Deiner Bestimmung kämpfst und dabei spricht diese Bestimmung eine soschöne klare laute und widerhallende Sprache: was sollten erst andere sagen. deren Bestimmunglispelt oder gar stumm ist.Während Du noch im Traum für Deinen Gedanken leidest, fahre ich in einer Troika in Lappland.So war es heute nacht oder vielmehr ich fuhr noch nicht, sondern das Dreigespann wurdeangeschirrt. Die Wagendeichsel war ein riesiger Tierknochen und der Kutscher gab mir einetechnisch ziemlich geistreiche und auch merkwürdige Erklärung des Troika-Anschirrens. Ich willsie nicht in ihrer ganzen Länge hier erzählen. Ein einheimischer Klang kam dann in das Nordischedadurch, daß meine Mutter, deren Person oder vielleicht nur Stimme dabei war, die Nationaltrachtdes Mannes beurteilte und erklärte, die Hose sei Papiergewebe und von einer Firma Bondy. Esleitete das offenbar in Erinnerungen vom Vortage über, denn es gibt hier Jüdisches, auch vomPapiergewebe war gesprochen worden, auch von einem Bondy.Das Jüdische ist ein junges Mädchen, hoffentlich nur wenig krank. Eine gewöhnliche und eineerstaunliche Erscheinung. Nicht Jüdin und nicht Nicht-Jüdin, nicht Deutsche, nicht Nicht-Deutsche,verliebt in das Kino, in Operetten und Lustspiele, in Puder und Schleier, Besitzerin einerunerschöpflichen und unaufhaltbaren Menge der frechsten Jargonausdrücke, im ganzen sehrunwissend, mehr lustig als traurig - so etwa ist sie. Will man ihre Volkszugehörigkeit genauumschreiben, muß man sagen, daß sie zum Volk der Komptoiristinnen gehört. Und dabei ist sie imHerzen tapfer, ehrlich, selbstvergessend, - so große Eigenschaften in einem Geschöpf, daskörperlich gewiß nicht ohne Schönheit, aber so nichtig ist, wie etwa die Mücke, die gegen meinLampenlicht fliegt. Darin und in anderem ähnlich dem Frl. Bl., an das Du Dich vielleicht inAbneigung erinnerst. Könntest Du mir vielleicht für sie »Die dritte Phase des Zionismus« borgenoder etwas anderes, was Du für richtig hältst? Sie wird es nicht verstehn, es wird sie nichtinteressieren, ich werde sie nicht dazu drängen - aber trotzdem.Zeit habe ich nicht viel, das mußt Du mir glauben, der Tag reicht kaum aus, jetzt ist viertel zwölfUhr. Das Liegen im Freien nimmt die meiste Zeit in Anspruch, ich liege allein auf einem Balkon,Waldanhöhen gegenüber.Die Gesundheit ist nicht schlecht, Magen und Darm sind allerdings in Unordnung. Auch dieNerven oder was man so nennt, sollten etwas widerstandsfähiger sein, es geschieht mir hier schongegenüber dem zweiten Menschen. Die Aufnahme eines neuen Menschen in sich, besonders seinerLeiden und vor allem des Kampfes, den er führt und von welchem man mehr zu wissen glaubt, alsder fremde Mensch selbst, - das alles ist ein Gegenbild des Gebärungsaktes geradezu.Leb wohl. Grüße Felix und Oskar

FranzDie Selbstwehr bekomme ich. Was meinst Du eigentlich mit Deiner Bemerkung »Palästinaüberhaupt unklar«?

An Max Brod(Schelesen,) 2. März (1919)

Lieber Max, nun habe ich Dir noch nicht einmal für das schöne Buch gedankt. Es tut wohl, imGeist des Buches eine Zeit zu leben. Ich habe dabei noch den Vorteil oder Nachteil, daß sich mirJugenderinnerungen und Jugendgefühle in alles mischen.Auch das Fräulein läßt Dir sehr danken, sie hat es gründlich gelesen und sogar auffallendverstanden, allerdings mit einer besondern Art mädchenhaften Augenblickverständnisses. Sie istübrigens nicht so beziehungslos gegenüber dem Zionismus, als ich anfangs dachte. Ihr Bräutigam,

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der im Krieg gefallen ist, war Zionist, ihre Schwester geht in jüdische Vorträge, ihre beste Freundinist beim Blau-Weiß und »versäumt keinen Vortrag von Max Brod«.Was mich betrifft: ich verbringe meine Zeit lustig (grob gerechnet habe ich in den letzten fünfJahren nicht so viel gelacht wie in den letzten Wochen), aber es ist auch eine schwere Zeit. Nun,vorläufig trage ich sie, aber es ist nicht ohne Grund, daß es mir gesundheitlich nicht sehr gut geht.Diese Zeit geht übrigens, wenigstens in ihrer Aktualität, in den nächsten Tagen zuende und ichbleibe vielleicht, wenn die Anstalt das Zeugnis des hiesigen Arztes anerkennt, noch ein wenig hier.Die ersten, ich meine die ersten sichtbaren Irrtümer des Lebens sind so merkwürdig, Sie sollen jawahrscheinlich gesondert nicht untersucht werden, da sie ja höhere und weitere Bedeutung haben,aber manchmal muß man es tun; es fällt mir ein Wettrennen ein, bei dem, wie es auch richtig ist,jeder Teilnehmer überzeugt ist, daß er gewinnen wird, und das wäre auch möglich bei demReichtum des Lebens. Warum geschieht es nicht, trotzdem doch scheinbar jeder den Glauben hat?Weil sich der Nichtglauben nicht im »Glauben« äußert, sondern in der angewendeten»Rennmethode«. So wie wenn etwa jemand fest davon überzeugt wäre, daß er gewinnen wird, aberdaß er nur dadurch gewinnen wird, daß er vor der ersten Hürde ausbricht und nicht mehrzurückkehrt. Dem Schiedsrichter ist klar, daß der Mann nicht gewinnen wird, wenigstens auf dieserEbene nicht, und es muß sehr lehrreich sein, zuzusehn, wie der Mann von allem Anfang an allesdarauf anlegt auszubrechen und alles mit tiefem Ernst. - Glück zum Buch! Und viel Zeit!

Franz

An Max Brod(Frühjahr 1919?)

Mein lieber Max, das von der Tarnowska verstehe ich nicht, dagegen das von Wiegler sehr gut,noch wichtiger aber als Wieglers Urteil ist das Handls, denn bei dem fängt schon das Publikum an.Mit der Nachricht, daß zwei Gedichte für mich vorbereitet sind, tröstest Du mich mehr als Duweißt. Trost aber brauch ich. Zu rechter Zeit haben jetzt Magenschmerzen und was Du willstangefangen und so stark, wie es sich bei einem durch Müllern stark gewordenen Menschen paßt.Den Nachmittag über, so lang er war, bin ich auf dem Kanapee gelegen, mit etwas Thee statt desMittagessens in mir und hatte nach einem Viertelstundenschlaf nichts anderes zu tun als mich zuärgern, daß es nicht dunkel werden wollte. So gegen halb fünf bildete sich eine Nuance derHelligkeit, die einfach nicht mehr aufhörte. Aber als es dann dunkel war, war es auch nicht recht.Laß das, Max, über die Mädchen zu klagen, entweder ist der Schmerz, mit dem sie Dichschmerzen, ein guter Schmerz; ist er es nicht, dann wehrst Du Dich, verlierst den Schmerz,bekommst die Kraft. Aber ich? Alles was ich besitze, ist gegen mich gerichtet, was gegen michgerichtet ist, ist nicht mehr mein Besitz. Wenn mich z.B. - es ist nur ein reines Beispiel - wenn michmein Magen schmerzt, so ist es eigentlich nicht mehr mein Magen, sondern etwas, was sich voneinem fremden Menschen, der Lust bekommt, mich zu prügeln, wesentlich nicht unterscheidet. Soaber ist es mit allem, ich bestehe nur aus Spitzen, die in mich hinein gehn, will ich mich da wehrenund Kraft aufwenden, heißt das nur die Spitzen besser hineindrücken. Manchmal möchte ich sagen,Gott weiß, wie ich überhaupt noch Schmerzen spüren kann, da ich vor lauter Dringlichkeit, sie mirzu verursachen, gar nicht dazu komme, sie aufzunehmen. Öfters aber muß ich sagen, ich weiß esauch, ich spüre ja wirklich keine Schmerzen, ich bin ja wirklich der schmerzfreieste Mensch, denman sich denken kann. Ich hatte also keine Schmerzen auf dem Kanapee, ich ärgerte mich nichtüber die Helligkeit, die zu ihrer Zeit aufhörte und mit dem Dunkel war es genau so. Aber lieberMax, das mußt Du mir glauben, wenn Du es auch nicht willst, alles war an diesem Nachmittag soeingerichtet, daß ich, wenn ich ich wäre, alle jene Schmerzen in der genauen Reihenfolge hättespüren müssen. Von heute ab lasse ich es mir mit keiner Unterbrechung mehr ausreden: Ein Schußwäre das Beste.

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Ich schieße mich einfach von dem Platz weg, auf dem ich nicht bin. Gut, es wäre feig; feig bleibtfreilich feig, selbst wenn es in einem Fall nur Feigheit gäbe. Dieser eine Fall ist hier, hier ist eineSituation, die um jeden Preis beseitigt werden muß, aber niemand als Feigheit beseitigt sie, Mutmacht aus ihr nur Krampf. Und beim Krampf bleibt es, mach Dir keine Sorgen.

An Josef Körner(Prag, Poststempel: 3. VI. 1919)

Sehr geehrter Herr Professor!Meinen besten Dank. Solche Untersuchungen sind so friedlich und friedenbringend, ich hätte nochgerne lange weitergelesen, besonders da die Führung sehr zart ist und zum Manne hält. Allerdingsscheint auch Bettina ein verkleideter verwirrter halbjüdischer junger Mann gewesen zu sein und ichverstehe nicht wie sich die glückliche Ehe und die 7 Kinder ergeben haben. Sollte dann auch nochdas Leben der Kinder halbwegs gerade verlaufen sein, wäre es ein Wunder.Übrigens fehlt in dem Sonderdruck der größte Teil des Aufsatzes über Schlegel und die Parallelen-Jagdbeute, schade.Mit besten Grüßen Ihr ergebener

Kafka

An die Eltern von J. W. (?)24. November 19

(Fragment). . . wie zu bekräftigen und zu verbreiten, gleichgültig wie ihr Inhalt ist, also ob sie mich schändlich,lächerlich oder verächtlich macht. Wie die Erklärung auch sein mag, immer wird sie insoferne wahrsein, als ich J., der Unschuldigsten und Gütigsten, soviel Leid verursacht habe, daß damitverglichen jede bloß gesellschaftliche Buße eine Lächerlichkeit ist.Stimmen aber diese zwei Voraussetzungen, wie ich glaube, nicht, dann, bitte, lassen Sie unsbeisammen, so wie wir uns über alle meine Schwäche hinweg, zusammengehörig fühlen. Im Feberwill ich mit einigen Hoffnungen für vielleicht 1/4 Jahr nach München fahren, vielleicht könnte J.,die ja seit jeher auch von Prag fort wollte, auch nach München kommen. Wir würden ein anderesStück Welt sehen, manches würde sich vielleicht ein wenig ändern, manche Schwäche, mancheAngst zumindest ihre Form, ihre Richtung ändern.Mehr will ich nicht sagen, es scheint mir überhaupt, als hätte ich zuletzt schon zuviel Rohes undBöses gesagt. Seien Sie geduldig, nicht etwa nachsichtig, sondern geduldig und aufmerksam, damitSie möglichst nichts weglassen und nichts hineinlesen.Ihr herzlich ergebener

Dr. Franz Kafka

An M.E.Samstag, (Prag, Winter 1919/20)

Liebes Fräulein Minze oder da Fräulein und Minze nicht zusammenpassen: liebe Minze, Sie habenmir eine große Freude gemacht, durch die Bilder natürlich auch, vor allem aber weil Sie das sind,was ich glaubte, nämlich vertrauenswürdig, worthaltend und gut. Das ist die Hauptsache. Unddeshalb kann ich auch über die Bilder die Wahrheit sagen; sie zeigen, wie jedes Abbild einesGuten, manches, wofür man dankbar ist und was man mit eigenen Augen nicht erkannt hätte. Siesind ja eine erstaunliche Schauspielerin oder richtiger Sie haben das erstaunliche Material einerSchauspielerin oder Tänzerin und die (im hohen Sinn) göttliche Frechheit des Angeschaut-werden-könnens und Des-dem-Blicke-standhaltens. Das hätte ich nicht gedacht. Aber, das fürchte ich,

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dieses Material ist bei dem Photographen. ein so ausgezeichneter Mensch er sonst sein mag, inkeiner guten, verständigen Hand. Was daran gut ist, sind deutlich Sie selbst, in I macht er etwasz.B. aus Schnitzler Anatol, in II eine Kameliendame, in III etwas Wedekindsches, in IV endlich dieKleopatra (des ersten Abends), vorausgesetzt, daß es nicht die Fern Andra ist. So mischt er dieDinge und hat ja gewiß überall ein wenig Recht, aber im ganzen meinem Gefühl nach niemals, dasind sie ihm durch die Finger gelaufen. Damit will ich nicht sagen, daß Sie solchemPhotographieren aus dem Weg gehn sollten, ich bin überzeugt, es schadet Ihnen innerlich garnichts, Sie sollten aber solchen Dingen gegenüber immer sich den Zweifel bewahren, so wie Sie ihnbewahren sollten gegenüber den Dahn und Baumbach Ihres Heftes, gegenüber Süßlichkeit,Unwahrheit, Künstlichkeit, da Sie doch in Ihrem Wesen besser sind als alles das und ganz gewißdarüber wegtanzen werden, wie über den gefrorenen Weg zum geweihten Brunnen, wo viele andereentweder dumm gefallen oder süßlich gestolpert wären. Ich bleibe dabei, daß es sehr gut ist, daß Sienach Holzminden kommen, was doch eine Art weite Welt ist und ohne den roten TeplitzerHintergrund.Die Bilder aber darf ich mir behalten, nicht wahr, da kein Gegenbefehl im Brief stand. Undschreiben Sie mir wieder einmal, besonders wenn Sie den Ort wechseln. Es ist doch vielleicht garnicht so schlimm einen guten Freund zu haben.Adieu Minze, grüßen Sie dort alle herzlich und das Fräulein noch ausdrücklich

Ihr Kafka

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1920

An M. E.(Prag, Januar/Februar 1920)

Liebe Minze,Ihren vorigen Briefhabe ich doch bekommen, mich natürlich auch über ihn gefreut, oft an ihn undSie gedacht und - ich weiß nicht genau warum - bis heute nicht geantwortet. Vielleicht deshalb,weil er so selbstständig, so gar nicht hilfs-, ja nicht einmal antwortbedürftig schien.Anders heute. So unsicher? Das wäre schlimm, aber Ihre Unsicherheit hat wie auch übrigens inSchelesen etwas Fröhliches, Sorgenloses, Vertrauensvolles. Man hat Angst um Sie und möchte Siedoch nicht anders haben wollen. Das ist meine Stellung, während die Verwandten, die es jadurchaus nicht leicht haben mögen, begreiflicher Weise nur die Angst haben dürften. Ich erinneremich nicht genau, ob Sie mir erzählt haben, wie der Vater (von Geschäftsführung undKrankenpflege abgesehn) mit Ihnen zufrieden war, ob Sie ihm Sorgen machten, wie er sich IhreZukunft dachte u.dgl. Das würde mich interessieren. Von irgendwelchen Zornesausbrüchen desVaters sprachen Sie aber, glaube ich.Daß der Schulplan aufgegeben ist, ist sehr schade, und nicht ganz verständlich. Sie waren doch inHolzminden schon aufgenommen, wie Sie sagten. Und außerdem kann doch Holzminden nicht dieeinzige Möglichkeit sein. In Nordböhmen allein gibt es doch einige derartige Schulen. Und ernstscheint Ihnen diese Absicht doch noch immer zu sein, da Sie ja unter Umständen auch alsVolontärin auf ein Gut gehn wollen. Ich weiß im Augenblick keine Möglichkeit, aber solche gibt esdoch gewiß, Sie selbst sprachen doch von einer, wenn ich nicht irre, Großpriesener Domäne, woSie aufgenommen werden könnten. - Ist es auch damit nichts? Nun wir werden noch gemeinsamdarüber nachdenken.Wie haben Sie die Zeit in Schelesen und nachher verbracht? Mit Rolf und In-den-Feldern-Herumlaufen? Das wäre ja sehr gut, aber zu wenig oder zu viel. Es ist gut, seinen Träumennachzujagen, aber schlecht, wie es dann meistens auszugeben pflegt, von ihnen gejagt zu werden.Und die Welt ist zwar groß und weit, wie Sie schreiben, aber um keine Haarbreite größer als mansich sie selbst zu machen versteht. In der Unendlichkeit, in der Sie die Welt jetzt sehn, ist dochneben der Wahrheit eines mutigen Herzens auch die Täuschung der 19 Jahre. Sie können das leichtdaran überprüfen, daß Ihnen ebenso unendlich etwa ein Alter von 40 Jahren erscheint, das doch,wie Ihnen Ihre ganze Umgebung zeigen wird, zumindest die Unendlichkeit, von der Sie träumen,nicht enthält.Was machen Sie in Karlsbad? Sind Sie schon gesund? In Karlsbad ist, glaube ich, auch eineVerwandte des Frl. Stüdl, von der sie mir viel Gutes erzählt hat, kennen Sie sie? Nach Meran fahreich vielleicht in einem Monat. Sie sind selbst auch in Meran gewesen?Herzliche Grüße Ihres

F. Kafka

An M. E.(Prag, Februar 1920)

Liebe Minze, nein, das Vertrauen zur Unendlichkeit des Lebens wollte ich Ihnen nicht nehmen (esbesteht auch diese Unendlichkeit, nur nicht im gewöhnlichen Sinn), konnte es Ihnen auch nichtnehmen, da Sie es selbst im Grunde nicht haben, ich meine: es bewußt nicht haben. Wenn ich alsoetwas dazu sagte, so wollte ich nur, daß Sie sich selbst, Ihrem bessern Selbst glauben. Übrigenswäre auch Minze als Trauerweide gelegentlich ganz hübsch, zumindest - rund gerechnet - 10 malhübscher als Minze-Kleopatra.

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Merkwürdig, daß in Ihrem Brief die »schönen Stunden« und die »Dummheiten« so nah beisammenstehn. Das kann doch nicht das Gleiche sein, eher das Entgegengesetzte. »Schön« ist doch wohl dieStunde, in der man besser ist als sonst und »dumm« die, in der man schlechter ist. Die »schönenStunden« erkauft man nicht mit trüben Stimmungen, im Gegenteil, »schöne Stunden« geben nochLicht aller grauen Zukunft. Für »Dummheiten« zahlt man allerdings Lehrgeld, und zwar sofort,selbst wenn mans nicht weiß, mit der linken Hand macht man die »Dummheit« und mit derRechten zahlt man gleichzeitig Lehrgeld unaufhörlich, bis man nicht mehr weiter kann. Und»Dummheiten« allerdings macht jeder Mensch, liebe Minze, wie viel, wie viel! Man ist soüberbeschäftigt damit, daß man kaum Zeit zu etwas anderem hat. Was aber kein Grund ist, sichdamit abzufinden und das tun Sie auch gewiß nicht, sonst wären Sie ja keine liebe Minze.Wer ist der Onkel, der mit Ihnen und mit dem Sie einverstanden scheinen?Warum erwähnen Sie nichts von der Großpriesener Volontärsmöglichkeit?Ich lege hier ein Inserat bei, das ich oft, auch noch im Jahre 18, in einer jüdischen Zeitschriftgefunden habe. Schreiben Sie vielleicht rekommandiert hin: »Immenhof (Henny Rosental),Deutsches Reich, Dessow, Mark«. Ich glaube, es ist nicht weit von Berlin, ich habe es auch privatloben hören.Wie fiel eigentlich Ihre Holzmindner Angelegenheit im Einzelnen aus?Was machen Sie in Karlsbad? Nichtstun ist eine der größten und verhältnismäßig leicht zubeseitigenden »Dummheiten«. Was lesen Sie?Was waren das für Wünsche, die ich vergessen habe. Doch nicht etwa mein Bild. Das habe ichabsichtlich nicht geschickt. Sind meine Augen in Ihrer Erinnerung, Minze, wirklich klar, jung,ruhig, dann mögen sie dort so bleiben, dann sind sie dort besser aufgehoben als bei mir, denn hiersind sie trüb genug und immer unsicherer geworden mit kleinen Schwankungen in 36jährigemOffen-sein. In der Photographie kommt das zwar nicht heraus, aber dann ist sie desto unnötiger.Sollten meine Augen einmal schöner, reiner werden, dann bekommen Sie ein Bild, aber dann wirdes auch wieder nicht nötig sein, denn dann würden sie doch mit der Kraft, die reine Menschenaugenhaben, bis nach Karlsbad Ihnen geradeaus ins Herz sehn, während sie jetzt nur mühsam in Ihremdoch aufrichtigen und deshalb lieben Brief herumirren.Mit herzlichen Grüßen

Ihr Kafka

An Kurt Wolff(Prag, Februar 1920)

Sehr geehrter Herr Wolffvergessen habe ich nichts, aber als ich damals im Dezember den Urlaub schon fast hatte, verkühlteich mich ein wenig, der Arzt sah den Gesamtzustand an und als er von München hörte, riet er sehrab, empfahl dagegen Meran oder dergleichen. Darin mußte ich ihm recht geben, daß meineGesundheit nicht zuverlässig war und ich daher den Urlaub nicht mit der Freiheit und Sicherheithätte verbringen können, wie er allein mir hätte nützen können; da ich aber München und einensolchen Urlaub nicht haben konnte, wollte ich lieber gar nichts haben ~ übrigens wartete die ganzeWage auf dieses Übergewicht - und blieb. Ihnen Herr Kurt Wolff antwortete ich auch lieber nicht,denn was hätten jetzt lange Erklärungen sollen, nachdem ich kurz vorher versucht hatte, Sie sogarfür meine Milch-Bedürfnisse zu interessieren (in Wirklichkeit hatte ich damit nur möglichst vielRealität gleich am Anfang in den Plan hineintreiben wollen).Nun ist es also zu diesem Gesundheitsurlaub, den allein ich haben wollte, nicht gekommen -vielleicht bleibt er mir für später aufgehoben - aber ein Krankheitsurlaub wird jetzt im Vorfrühlingnötig. Da ich schon nach Bayern hin gerichtet war, ließ ich mir einen Prospekt vom SanatoriumKainzenbad bei Partenkirchen schikken, aber gerade heute bekomme ich von der sehr langsam undfast widerwillig Auskunft gebenden Verwaltung die Nachricht, daß erst Ende März ein Zimmer frei

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wird, fast ein wenig zu spät. Nun brauche ich ja im Grunde weder Sanatorium noch ärztlicheBehandlung, im Gegenteil, beides schadet eher, sondern nur Sonne, Luft, Land, vegetarischesEssen, das alles weiß ich mir aber außerhalb Böhmens in dieser Jahreszeit nur in Sanatorien zuverschaffen. Wüßten Sie also, sehr geehrter Herr Wolff in dieser Hinsicht für mich einen Rat,würde ich ihn natürlich dankbar annehmen, sonst würde ich wohl Ende März nach Kainzenbadfahren.Mit bestem Dank und Gruß Ihr herzlich ergebener

F. Kafka

An M. E.(Prag, Februar 1920)

Liebe Minze, zunächst also bin ich glücklich mit Ihnen, daß Sie in eine Schule kommen. DieSchwierigkeiten in einer Schule angenommen zu werden haben Sie übertrieben, ich meine: sichselbst gegenüber auch, aber nun nimmt es doch einen ganz besonders guten Ausgang, wenn Sie indiese Schule kommen. Erstens kommt die Anregung von Ihrem Onkel, also aus der Familie, dasgibt doch gute Stimmung, dann ist die Empfehlung des Dr. Ziegler in der Schule wahrscheinlichnicht ohne Bedeutung und schließlich ist es doch - das nehme ich nämlich an - eine jüdischeSchule, also besonders wohltätig für das im Augenblick ein wenig haltlose Kind (eine Benennungübrigens, die mehr Schmeichelei als sonstiges ist).Also so war es in Karlsbad? Nun freilich. Was aber das »ganz hübsche Gesicht« betrifft, so habeich es kaum gesehn. Jugend ist natürlich immer schön, man träumt von der Zukunft und erregt inden andern die Träume oder vielmehr man ist selbst ein Traum, wie sollte das nicht schön sein.Aber das ist doch eine Schönheit, die aller Jugend gemeinsam ist und die man sich persönlichanzueignen kein Recht hat. Mit dem »ganz hübschen Gesicht« aber meinen Sie etwas anderes unddas habe ich nicht bemerkt. Die Frisur und die Schlangenarmbewegungen sind mir zwaraufgefallen, aber das war doch nur halb putzig, halb komisch, halb (Minze steht nämlich außerhalbder Naturgesetze und hat 3 Hälften) sogar unhübsch, in 2 Tagen wäre es vergessen gewesen. Aberdieses von ihr so verächtlich behandelte »ansonsten« stellte sich allmählich als etwasWesentlicheres heraus.Die mir drohenden Unterstreichungen des Sich-jung-fühlen-sollens treffen mich, Minze, nicht. Ichklage ja nicht darüber, daß ich mich alt fühle, eher über das Gegenteil oder besser überhaupt nicht.Sie wissen doch: alte Augen werden fernsichtig und über Mangel der Fernsicht sprach ich.Nach Meran werde ich doch kaum fahren, es ist ein wenig zu teuer, vielleicht fahre ich in dieBayerischen Alpen. Mein Kopf hat, glaube ich, den Norden lieber, meine Lunge den Süden. Daaber gewöhnlich die Lunge sich opfert, wenn es dem Kopf zu arg wird, so hat allmählich auch derKopf aus einer Art Erkenntlichkeit Verlangen nach Süden bekommen.Was die Bilder betrifft, so lassen wir es bitte, Minze, dabei bleiben, schon deshalb, weil man imDunkel (ich meine: wenn man einander nicht sieht,) einander besser hört. Und wir wollen einandergut hören. Deshalb wird es auch viel besser sein, wenn wir einander jetzt in Prag nicht sehn, wederabsichtlich noch zufällig, das ist mein Ernst.Aber von der Aufnahme in die Schule erfahre ich, nicht wahr, als einer der ersten. Das wird einegroße Ehrung für mich sein.Mit herzlichen Grüßen

Ihr Kafka

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An Kurt Wolff(Prag, Februar 1920)

Sehr geehrter Herr Wolffunvermutet kam jetzt ein Telegramm von Kainzenbad, in welchem man mir in Widerrufungfrüherer Meldungen anzeigt, daß für mich schon anfangs März ein Zimmer reserviert sei; es ist mirlieb wie einer Widerspenstigen Zähmung. Aber auch sonst ist es vielleicht gut, mein Zustand duldeteigentlich nicht viel Verzögerung und vielleicht ist es sogar gut, wenn ich während der ersten nochkalten Zeit in einem Sanatorium bin. Vielleicht findet sich später ein besserer Aufenthaltsort.Jedenfalls bitte ich, sehr geehrter Herr Wolff, sich vorläufig meinetwegen keine Mühe mehr zugeben und meiner herzlichen Dankbarkeit für alle Ihre Freundlichkeit sicher zu sein.Ihr sehr ergebener

F Kafka

An M.E.(Prag, Februar 1920)

Liebe Minze, gewiß darf man solche Briefe schicken und ganz besonders solche. Andere,zusammenhängendere, weniger zerstreute Briefe können oft wider Willen eine Hauptsacheverdecken, ein solcher brüchiger, aus paar Stücken bestehender Brief verdeckt nichts, es liegt dannwirklich nur an der Blickkraft, wie viel man sieht, ein solcher Brief ist so vertraulich, als wäre manin einer gemeinsamen Wohnung. allerdings durch 1000 Zimmer getrennt, deren Türen aber in einerReihe offenstehn, so daß man Sie, wenn auch natürlich nur schon sehr klein und undeutlich, imletzten Zimmer sieht und was man sieht, Minze, scheint weder sehr schön, noch sehr lustig, nochsehr gut.Im übrigen, Minze, sind Sie (oder vielmehr wären es, wenn man es ausnützte) scharfsinnig und mitRecht rechthaberisch wie ein kleiner Rabbiner. Natürlich werden Sie den notwendigen Halt nicht inder Schule eingerammt bekommen, sondern müssen ihn in sich haben, aber vielleicht werden Sieihn dort in sich finden, das wäre ganz gut denkbar. Denn so übersichtlich Minze äußerlich scheint,innerlich ist sie doch, wie eben jeder, unübersehbar unendlich und alles ist dort zu finden, wasehrlich gesucht wird.Vor mir liegt ein Bericht über die »Ahlemer Gartenbauschule« mit Bildern. Nun dort ist esprachtvoll und zu meinem nächsten Geburtstag wünsche ich mir nichts Besseres als 19jährig zuwerden und nach Ahlem - das ist nämlich Ihre Simonsche Schule � zu kommen. DieGartenbauschule für Mädchen ist übrigens erst seit Kriegssende eingerichtet, bis dahin gab es nureine Knabengartenbau- und eine Mädchenhaushaltungsschule. Auch das verstärkt vielleicht dieHoffnung, daß Sie angenommen werden. Möge es bald sein!

Ihr Kafka

An Max Brod(Prag, etwa März 1920)

Lieber Max, ich war gestern zu sehr von der Erzählung befangen und von der Unnachgiebigkeit desDenkens, aus dem sie hervorkommt, ich versäumte es darüber von Ottlas Kölner Sache so zu reden,wie ich sie einschätze. Es liegt mir sehr viel daran, mehr als an Slowakei und Paris, ich würdezufriedener wegfahren, wenn es gelänge, ich weiß nicht, ob und was Du zur Verwirklichung dessenhelfen könntest, jedenfalls wollte ich es Dir noch sagen. Vielleicht würde ein gutes Wort bei Frl.Löwy genügen oder dergl. Ich gelobe im Stillen tausend Kronen dem Nationalfond, was javielleicht keine eigentliche Bestechung des Schicksals wäre, denn ich will ja dafür nur Arbeits- undMühe-Möglichkeit für Ottla. Mehr noch als die Sache selbst freut mich ja, daß die Sache starkeAnziehungskraft für Ottla hat. Wenn es also möglich wäre �

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Franz

An Felix Weltsch(Frühjahr 1920)

Lieber Felix, Dank für Deine Geduld, Aber vorige Woche war ich ganz besonders zerstreut, auchwollte ich es genau machen, also zweimal lesen, so verging die viele Zeit.Die mir zweifellosen Kleinigkeiten habe ich gleich in den Fahnen richtiggestellt, dieseRichtigstellungen mußt Du aber natürlich noch revidieren, dagegen glaube ich kaum einenDruckfehler übersehn zu haben. Andere kleine Fragen und Vorschläge habe ich in den beiliegendenPapieren notiert. Du findest die zugehörigen Stellen in den Fahnen am Rande angestrichen.Es sind aber alles nur Kleinigkeiten, mit größeren Fragen wage ich nicht aufzutreten, nicht Dirgegenüber, nicht der Sache gegenüber. Als Erbauungsbuch? - und das ist es ja viel mehr als ichdachte - bedeutet es mir viel und wird mir viel bedeuten.Vergiß mich bitte nicht, wenn neue Korrekturen kommen.

Dein Franz(es folgt eine Liste von ca. 40 Verbesserungs-Vorschlägen und Fragen)

An M. E.(Prag, März 1920)

Liebe Minze,man liegt krank, hat zartes Fieber nach alter nicht mehr abzugewöhnender Gewohnheit, und dannkommen noch Sie und melden, daß man Sie in Ahlem nicht angenommen hat. Man hätte schonnoch ein Plätzchen für Sie finden können, offenbar weiß man dort nicht, wie klein Sie sichzusammenrollen können. Inzwischen habe ich auch noch von etwas anderem Jüdischen gehört,Opladen bei Köln, aber auch dort ist alles besetzt und nur für das nächste mit April beginnende Jahrundeutliche Aussichten, vielleicht erfahre ich aber darüber noch Bestimmteres. Und Immenhof -oder hieß es anders? - hat gar nicht geantwortet? Und jetzt in Großpriesen praktizieren - vonGroßpriesen schweigen Sie beharrlich - und nächstes Jahr nach Ahlem gehn ist unausführbar?Warum? Inzwischen Gemüse auf Damenhüten pflanzen, ist ein schwacher Ersatz und kein sehrerfreulicher, da es in Teplitz vor sich geht. Ich kann Teplitz, das ich noch nie gesehen habe, nichtleiden. Es ist eben Ihr Heimatort und für einen nur irgendwie beunruhigten Menschen ist derHeimatort, selbst wen n er sich darüber gern täuscht, etwas sehr Unheimatliches, ein Ort derErinnerungen, der Wehmut, der Kleinlichkeit, der Scham, der Verführung, des Mißbrauchs derKräfte.Der Heimatort bringt es auch in seiner gedanklichen Enge mit sich, daß Sie die Menschen und sichoder vielmehr die andern Mädchen und sich in einem solchen Gegensatz sehn. Gegensätze bestehngewiß, weil eben die Welt hinsichtlich des Chaotischen mit Ihrem Kopf verwandt ist, aber soeinfach wie Sie es tun - hier die andern Mädchen, hier ich - ist der Schnitt gewiß nicht zu führen.Böses Teplitz.Mein Kranksein hat den Brief verzögert, es ist übrigens kein eigentliches Kranksein, aber allerdingsauch kein Gesundsein und gehört zu jener Gruppe von Krankheiten, die nicht dort ihren Ursprunghaben, wo sie zu stecken scheinen und vor denen die Ärzte deshalb noch hilfloser sind als sonst.Gewiß, es ist die Lunge, aber es ist auch wieder die Lunge nicht. Vielleicht fahre ich doch nachMeran oder auch nach dem Mond, wo überhaupt keine Luft ist und sich die Lunge deshalb ambesten ausruhn kann.Die Bilder haben mich sehr gefreut, zunächst deshalb, weil es doch ein großes Zeichen desVertrauens ist, daß Sie mir etwas so Kostbares, wie es das Bild des Vaters für Sie ist, borgen.Natürlich ist bei der Reproduktion manches verloren gegangen, es ist doch nur ein Bild aus zweiter

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Hand. Manches aber glaubt man doch zu erkennen, eine schöne Stirn, zarte Schläfen, Energie, einmühseliges Leben. Merkwürdig ist die gezwungene Haltung der Hände.Das Kind ist prachtvoll. Der Körper so schön tierhaft wie ein Seehund auf einer Eisscholle imPolarmeer, das Gesicht so schön menschlich, übrigens eher mädchenhaft, der Ausdruck der Augen,die Fülle des Mundes. Das mag allerdings ein guter Trost sein, gar wenn es das eigene Kind ist undder Neffe ist ja fast das Kind der Tante. Aber in Teplitz sollen Sie sich auch von den schönstenzwei Händchen nicht festhalten lassen.

Ihr Kafka.

An M. E.(Prag, März 1920)

Arme Minze, arme liebe Minze, ich will niemanden beschuldigen, absichtlich hat es wohl niemandgemacht, aber da man Sie offenbar sehr gern zuhause behalten möchte und Sie scheinbar geradediesen Leuten, die die Reise nicht wollen, die Reisevorbereitungen überlassen haben, hat man wohlnicht alles getan, was man hätte tun können. Und warum kann die Schule die Einreisebewilligungnicht verschaffen? Und wenn sie die Einreisebewilligung nicht verschaffen kann (aber dochjedenfalls hofft, Sie, wenn Sie einmal dort sind, dort behalten zu dürfen), warum schreibt sie Ihrendann nicht wenigstens einen Brief, aus welchem dem Konsulat nachgewiesen werden könnte, daßSie dort nur 2, 3 Tage, etwa zwecks einer Vorstellung oder einer Prüfung bleiben wollen, und für 2.3 Tage Aufenthalt bekämen Sie das Visum auch ohne Einreisebewilligung gewiß. Und wenn Sieein paar Schultage versäumt haben, macht es doch nichts. Nur nachgeben würde ich jetzt nichtmehr, d.h. an meiner Stelle würde ich nachgeben oder schon längst nachgegeben haben, einemsolchen schweren Angriff großer alter Verwandter, die von allen Seiten herbeikommen, würde ichnicht widerstehn, aber Sie sind doch kein Hase, Minze.Das andere freilich - sehen Sie, Minze, dieses Leid kenne ich auch und alle kennen es und wiewenigen löst es sich in Gutem, aber wahrscheinlich kenne ich es in einer ganz bestimmten Artweniger als andere Menschen und Sie kennen es wieder viel mehr als andere Menschen und so willich mich darin gar nicht mit Ihnen vergleichen und Ihr Leid tief respektieren wie jedes fremde Leid.Aber etwas verkennen Sie vielleicht. Jeder hat seinen beißenden nächtezerstörenden Teufel in sichund das ist weder gut noch schlecht, sondern es ist Leben: Hätte man den nicht, würde man nichtleben. Was Sie in sich verfluchen, ist also Ihr Leben. Dieser Teufel ist das Material (und im Grundeein wunderbares), das Sie mitbekommen haben und aus dem Sie nun etwas machen sollen. WennSie auf dem Land gearbeitet haben, so war das meines Wissens keine Ausflucht, sondern Sie habenIhren Teufel hingetrieben so wie man ein Vieh, das sich bisher nur in den Gassen von Teplitzgenährt hat, einmal auf eine bessere Weide treibt. Auf der Karlsbrücke in Prag ist unter einerHeiligenstatue ein Relief, das Ihre Geschichte zeigt. Der Heilige pflügt dort ein Feld und hat in denPflug einen Teufel eingespannt. Der ist zwar noch wütend (also Übergangsstadium; solange nichtauch der Teufel zufrieden ist, ist es kein ganzer Sieg), fletscht die Zähne, schaut mit schiefembösem Blick nach seinem Herrn zurück und zieht krampfhaft den Schwanz ein, aber unter das Jochist er doch gebracht. Nun sind Sie ja, Minze, keine Heilige und sollen es auch nicht sein und es istgar nicht nötig und wäre schade und traurig, wenn alle Ihre Teufel den Pflug ziehen sollten, aber füreinen großen Teil von ihnen wäre es gut und es wäre eine große gute Tat, die Sie damit getanhätten. Ich sage das nicht, weil es nur mir so scheint, - Sie selbst streben im innersten danach.Sie schreiben, daß Sie - wenn die zwei Bewerber »nicht gar so unsympathisch« wären - heiratenwürden, um »Ruhe und ein Heim« zu haben und vergleichen sich dann mit Ihrer Mutter. Das istdoch ein Widerspruch, hatte denn Ihre Mutter »Ruhe und Heim«? »Ruhe und Heim« können ebenvielleicht nicht einfach in Müdigkeit als ein Geschenk hingenommen werden, sondern müssenverdient werden, müssen etwas sein, zu dem man sagen kann: Das ist mein Werk. Was für ein

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»Heim«, wenn in all en warmen Zimmerecken Ihre Teufel sitzen, keiner fehlt und alle werdenimmerfort mächtiger gerade um das, um das Sie schwächer werden.Doch bestehe ich auf diesem letzteren nicht unbedingt, vielleicht sind Ihnen die zwei nur deshalbunsympathisch, weil Sie vor der Ehe überhaupt auch aus Trotz zurückschrecken. Und dann glaubeich doch, daß Sie in Einem gewiß anders sind als die Mutter; ein eigenes Kind hätte für Sie eineentscheidende, vielleicht erlösende Bedeutung. Glauben Sie nicht?Übrigens tröstet mich noch eines gegenüber Ihrem Brief: gewiß können Sie - leugnen Sie es nicht,Minze, - noch manchmal so lachen wie damals auf der Veranda (auf dem Balkon klangs nicht mehrso hell)

Ihr Kafka

An Kurt Wolff(Prag, Ende März 1920)

Sehr geehrter Herr Kurt WolffBayern bleibt spröde. Das Zimmer hatte ich, aber das Visum wollte man mir für einen längerenSanatoriumsaufenthalt ohne die Einreisebewilligung der bayerischen Gemeinde nicht geben. Ichtelegraphierte nach Kainzenbad, man möge es mir verschaffen. Statt der Bewilligung telegraphierteman mir aber zurück, daß ab 15. d.M. Fremdensperre ist, ich solle mich an das Bezirksamt wenden,wohl um eine briefliche Eingabe zu machen und nach 4 Wochen eine abweisende Erledigung zubekommen. Das war mir zuviel, ich kehrte alles Geld zusammen und fahre nach Meran, nicht gernim Grunde, denn wenn es auch für meine Lunge vielleicht besser ist, mein Kopf wollte nachBayern und da er meine Lungenkrankheit dirigiert, wäre es auch irgendwie richtig gewesen.Mit herzlichen Grüßen

Ihr KafkaSie erwähnen ein Sanatorium Schönberg in Württemberg, aber das ist wohl nicht die vollständigeAdresse.

An M.E.(Prag, Anfang April 1920)

Liebe Minze,das Bild ist prachtvoll, 500 Kleopatren wert, es hat mir viel Freude gemacht. Die nachdenklichen(übrigens ein wenig ungleichen) Augen, der nachdenkliche Mund, die nachdenklichen Wangen,alles denkt nach, es gibt ja auch so viel nachzudenken in dieser merkwürdigen Welt. Als ich einKind war, hatten wir zuhause eine kleine Sammlung Bildchen Shakespeare'scher Frauen, eine, ichglaube es war Porcia, hat mir immer besonders gut gefallen, das Bild erinnert mich an die längstVergessene, sie hatte auch kurze Haare.Morgen fahre ich nach Meran. Daß ich allein fahre ist entgegen Ihrer Meinung (die eigentlich keineMeinung ist, sondern die Äußerung eines guten Herzens) das Beste daran, allerdings ist hier auchdas Beste noch lange nicht gut.Aus Meran werde ich Ihnen schreiben. Außer dem Bild ist das Schönste in Ihrem Brief dieNachricht, daß Sie auf Ahlem noch nicht verzichtet haben. Vielleicht erklärt sich IhrGesichtsausdruck auf dem Bild auch dadurch, daß die Augen von Teplitz weg in die Böhm.-Sächsische Schweiz gerichtet sind, denn das Bildchen scheint ja für die Reiselegitimation bestimmtgewesen zu sein.Alles Gute

Kafka

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An Max Brod und Felix Weltsch(Meran, 10. April 1920)

Lieber Max, den ersten Abend in meinem neuen Zimmer, es scheint recht gut zu sein, die Qualendes Suchens, Sich-Entscheidens, vor allem des Abschiednehmens vom alten Zimmer (es scheint dereinzige sichere Boden unter den Füßen und man stößt ihn fort wegen ein paar Lire und sonstigerKleinigkeiten, die doch wieder erst bei sicheren Verhältnissen Wert bekommen), alle diese Qualenkann das neue Zimmer natürlich nicht aufwiegen, es ist auch nicht nötig, sie sind vorüber und ihrUrgrund bleibt, treibt tropischer als alle Vegetation hier.Ich schreibe auf dem Balkon, halb acht Uhr abends (Sommerzeit) immerhin ein wenig kühl, derBalkon ist in einen Garten eingesenkt, fast ein wenig zu tief, ich hätte die Höhe lieber (aber findeeinen hohen Balkon, wenn tausend solche Balkone und keiner weniger zu haben sind), aber es hatkeinen sachlichen Nachteil, denn die Sonne scheint mir stark bis sechs Uhr abends her, das Grünherum ist schön, Vögel und Eidechsen kommen zu mir her.Bisher habe ich in einem der ersten Hotels gewohnt oder vielleicht überhaupt in dem ersten, denndie andern gleichrangigen sind geschlossen. Die Gäste waren einige vornehme Italiener, dann nochein paar andere Eindringlinge, der große Rest Juden, zum Tal getauft (aber was für abscheulichejüdische Kräfte können bis ans Bersten in einem getauften Juden leben, erst in den christlichenKindern der christlichen Mutter glättet es sich). Dort war z.B. ein türkisch-jüdischerTeppichhändler, mit dem ich meine paar hebräischen Worte gewechselt habe, ein Türke an Gestalt,Unbeweglichkeit und Frieden, ein Duzfreund des Konstantinopler Großrabbiners, den ermerkwürdiger Weise für einen Zionisten hält. - Dann ein Prager Jude, der bis zum Umsturz (imVertrauen) Mitglied sowohl des Deutschen Hauses als der Mì��anská Beseda gewesen ist, jetzt nurmit großer Protektion die Entlassung aus dem Kasino durchgesetzt hat (Streichung bis zurvollständigsten Unlesbarkeit) und seinen Sohn sofort in die tschechische Realschule hat übertretenlassen »er wird jetzt nicht deutsch, und nicht tschechisch können, wird er bellen«. Gewählt hat er»nach seiner Konfession«, natürlich. Aber das alles charakterisiert ihn gar nicht, berührt seinenLebensnerv nicht von der Ferne, es ist ein guter, lebendiger, witziger, begeisterungsfähiger alterHerr.Die Gesellschaft in meiner jetzigen Pension (ich fand sie zufällig, läutete zufällig an derHausglocke nach langem hilflosem sonstigem Suchen, beachtete, wie mir jetzt einfällt, eine kurzvorher gegebene Warnung nicht, als mich eine aus der Fassung geratene Kirchgängerin, es warOstermontag, auf der Gasse anschrie »Luther ist ein Teufel!«), die Gesellschaft also ist ganzdeutsch-christlich, hervorstechend: ein paar alte Damen, dann ein gewesener oder gegenwärtiger, esist ja das gleiche, General und ein ebensolcher Oberst, beide kluge, angenehme Leute. Ich hattegebeten, mir im gemeinsamen Speisezimmer auf einem separierten Tischchen zu servieren, ich sah,daß auch sonst derartig serviert wurde, auch fällt das Vegetarische so weniger auf und vor allem,man kann besser kauen und es ist überhaupt sicherer. Allerdings auch komisch, besonders als sichherausstellte, daß, genau genommen, ich als einziger separiert saß. Ich machte später die Wirtindarauf aufmerksam, aber sie beruhigte mich, wußte auch etwas vom »Fletschern« und will, daß ichzunehme. Nun nötigte mich aber heute der Oberst, als ich ins Speisezimmer kam (der General warnoch nicht da), so herzlich zum gemeinsamen Tisch, daß ich nachgeben mußte. Nun ging die Sacheihren Gang. Nach den ersten Worten kam hervor, daß ich aus Prag bin; beide, der General (dem ichgegenüber saß) und der Oberst kannten Prag. Ein Tscheche? Nein. Erkläre nun in diese treuendeutschen militärischen Augen, was du eigentlich bist. Irgendwer sagt: »Deutschböhme«, einanderer »Kleinseite«. Dann legt sich das Ganze und man ißt weiter, aber der General mit seinemscharfen, im österreichischen Heer philologisch geschulten Ohr, ist nicht zufrieden, nach demEssen fängt er wieder den Klang meines Deutsch zu bezweifeln an, vielleicht zweifelt übrigensmehr das Auge als das Ohr. Nun kann ich das mit meinem Judentum zu erklären versuchen.Wissenschaftlich ist er jetzt zwar zufriedengestellt, aber menschlich nicht. In demselbenAugenblick, wahrscheinlich zufällig, denn alle können das Gespräch nicht gehört haben, aber

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vielleicht doch in irgendeinem Zusammenhang erhebt sich die ganze Gesellschaft zum Weggehn(gestern waren sie jedenfalls lange beisammen, ich hörte es, da meine Tür an das Speisezimmergrenzt). Auch der General ist sehr unruhig, aus Höflichkeit bringt er aber doch das kleine Gesprächzu einer Art Ende, ehe er mit großen Schritten wegeilt. Menschlich befriedigt mich ja das auchnicht sehr, warum muß ich sie quälen?, sonst ist es eine gute Lösung, ich werde wieder allein seinohne das komische Alleinsitzen, vorausgesetzt, daß man nicht irgendwelche Maßregeln ausdenkenwird. Im übrigen werde ich jetzt Milch trinken und schlafen gehn. Leb wohl!

Dein FranzLieber Felix, meine kleinen Neuigkeiten gehören auch Dir. Was die Sonne betrifft, so habe ich niegeglaubt, im Grunde nie geglaubt, daß hier immerfort klare sonnige Tage sind und es ist auch nichtwahr, bisher, heute ist Donnerstag abend, waren ein-einhalb solche Tage und selbst die waren voneiner allerdings äußerst angenehmen Kühle, sonst aber war Regen und fast Kälte. Wie kann manauch anderes erwarten so nah bei Prag, nur die Vegetation täuscht, bei einem Wetter, bei dem inPrag fast die Pfützen gefrieren, öffnen sich hier vor meinem Balkon langsam die Blüten.Alles Gute! Grüßt bitte auch die Frauen und Oskar

Dein FranzBitte könntest Du mir die Selbstwehr schicken? (Die Nummer mit Deinem Wunder-Aufsatz habeich schon gelesen.)

An M. E.(Ansichtskarte. Meran, April 1920)

Herzliche Grüße aus dem warmen Süden (warm nämlich, wenn der Ofen geheizt ist, an dem ichfast lehne), trotzdem schön, weil es wenigstens zwei Schritte (der Kopf mißt anders als die Füße)von Prag entfernt ist. Für den Fall, daß es Ahlemer Neuigkeiten geben sollte, meine Adresse:Südtirol, Meran-Untermais, Pension Ottoburg.

Herzlich Ihr Kafka

An Max Brod(Meran, Ende April 1920)

Mein lieber Max,nichts von Dir gehört, schon so lange Zeit, allerdings durch meine Schuld, denn ich hätte recht gutdem ersten Brief, der irgendwie verloren gegangen zu sein scheint, einen zweiten nachschickenkönnen. Oder vielmehr, ich hätte es nicht gut können, denn ich lebe hier zwar sehr behaglich, anGewicht zunehmend, nur unter den üblichen Unruhe-Teufeln der Tage und Nächte, aber doch so,daß die präziseste Mitteilung über mein Leben sich nur durch Nichtschreiben erreichen läßt.Während Du wahrscheinlich, was ja nicht durchaus das Gegenteil ist, in der Überfülle der Arbeitdie für das Schreiben nötige Auswahlmöglichkeit nicht hast. Gut siehst Du aber aus, das schreibtmir die Mutter, damit nimmt sie mir einige unbehagliche Gedanken, Gedanken anWahlüberarbeitung, Wahlenttäuschung u. dgl.Übrigens habe ich doch noch ein wenig von Dir gehört, mein Arzt, Dr. Josef Kohn (Prager Zionist),hat Dich auf seiner Herreise in München aussteigen gesehn, was mir besonders mit Rücksicht aufdie Wahlzeit sehr erstaunlich war, bis er mir dann wieder einmal die Nachricht von Theaterlärm inMünchen brachte. Was hat Orosmin schon alles hören müssen!Gestern habe ich rekommandiert den beiliegenden Brief von Janowitz bekommen; scheint Dirmeine beiliegende Antwort halbwegs entsprechend, schick sie weg, sonst ändere ich sie natürlichgern nach Deinem Wunsch. Das Ganze artet aber zu einem Geduldspiel aus, das erst dann zueiniger Lösung kommen kann, wenn er oder wir zu schimpfen anfangen. Wollen wir aber nichtgrob werden, dann ist es besser, wenn wir uns zufrieden geben.

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Grüße bitte herzlich von mir Felix, Oskar und die Frauen, Frau Elsa voran.Dein Franz

An Felix Weltsch(Meran, April/Mai 1920)

Lieber Felix, Dank für Karte und Selbstwehr. Die Selbstwehr entbehrte ich wirklich schon als eineMitteilung von Dir; daß Du mir eigens schreiben solltest, daran dachte ich gar nicht, DeineArbeitsleistung und vor allem der Mut zu ihr und in ihr ist mir ja unbegreiflich. Und mit welcherÜberlegenheit, Ruhe und Treue gegen Dich Du das Ganze führst. Von Deinen persönlichenSchmerzen, die Du in der Karte erwähnst, ist - ich habe zwischen den Zeilen gesucht - nicht dasGeringste zu merken; so die Zeitschrift zu führen, heißt sich schon bei Lebzeiten verklärt sehn. Unddabei kann ich die politische Kunst kaum beurteilen.Letzthin sah ich bei einem hiesigen Bäcker Holzgethan einige Hefte der Selbstwehr auf demLadentisch, ein junger Mann borgte sich sie von der Besitzerin aus, es wurde überhaupt überZeitungen gesprochen, mich einzumischen hatte ich keine Gelegenheit. Jedenfalls war ichhocherstaunt und wollte Dir gleich die interessante Beobachtung über die Verbreitung derSelbstwehr schreiben. Leider habe ich es versäumt und heute ist es zu spät, denn ich habe erfahren,daß das meine Hefte gewesen sind, die ich meinem Arzt, einem Prager Zionisten (vorher hatte ichsie noch einer alten Prager Dame geborgt), geborgt hatte, der sie beim Bäcker liegen ließ und nichtmehr wiederbekam.Letzthin wollte ich Dir eine Nummer des hiesigen katholischen Blattes mit einem Leitartikel überZionismus schicken, es schien mir aber damals zu langweilig. Es war eine Besprechung eines inWien erschienenen Buches von Wichtl über Zionismus und Freimaurerei. Der Zionismus isthienach die von der Freimaurerei geschaffene, im Bolschewismus zum Teil schon aufgegangeneSchöpfung zur Zerstörung alles Bestehenden und Aufrichtung der jüdischen Weltherrschaft.Beschlossen wurde das alles auf dem ersten Basler Kongreß, der zwar nach außen hin verschiedenelächerliche Sachen verhandelte, um äußerliche Billigung der Weltorganisation zu bekommen, imInnern aber nur über die Mittel zur Erreichung der Weltherrschaft beriet. Diese Geheimprotokollesind glücklicherweise in einem Exemplar gestohlen worden und wurden von dem großenrussischen Gelehrten Nilus (von dem merkwürdiger Weise in dem Leitartikel nochmalsausdrücklich bemerkt wird »er hat wirklich gelebt und war ein großer russischer Gelehrter«)veröffentlicht. Stellen aus den Protokollen der »Weisen von Zion«, wie sich die Kongreßmitgliederselbst nennen, werden zitiert, sie sind gleichzeitig dumm und schrecklich wie der Leitartikel.Deine Nachricht von Langer, dem ich vielmals danken lasse, hat mich sehr gefreut, ich weiß, daß eszum größten Teil kindliche Freude ist, aber ich habe sie schamlos. Das Kind ist offenbar nichtbefriedigt worden und klettert die Leiter der Jahre zum Schwindligwerden hinauf.Mir geht es hier gut, wenn ich nicht schlaflos bin, aber ich bin es sehr oft und sehr arg. Vielleicht istdie Bergluft daran schuld, vielleicht anderes. Wahr ist, ich lebe nicht sehr gern weder im Gebirgenoch am Meer, es ist mir zu heroisch. Aber das sind doch nur Späße und die Schlaflosigkeit isternst. Ich bleibe trotzdem noch ein paar Wochen hier oder übersiedle in die Nähe von Bozen.Herzliche Grüße Max, Oskar und den Frauen, auch Deinen Eltern und dem Bruder. Kommt nichtbald die große Zeit? Alles Gute der tapfern Frau.

Dein Franz

An Max Brod(Meran, Anfang Mai 1920)

Liebster Max, vielen Dank, München hatte ich mir ähnlich gedacht, die Details sind merkwürdig.Es ist verständlich, vielleicht verderben die Juden Deutschlands Zukunft nicht, aber Deutschlands

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Gegenwart kann man sich durch sie verdorben denken. Sie haben seit jeher Deutschland Dingeaufgedrängt, zu denen es vielleicht langsam und auf seine Art gekommen wäre, denen gegenüber essich aber in Opposition gestellt hat, weil sie von Fremden kamen. Eine schrecklich unfruchtbareBeschäftigung, der Antisemitismus und was damit zusammenhängt, und den verdankt Deutschlandden Juden.Was meinen kleinen Kreis hier anlangt, so haben sich die Gegensätze längst gelegt, ich habe esdamals übertrieben, die andern aber auch. Der General z.B. ist mir gegenüber freundlicher als zuandern, was mich übrigens nicht wundert, denn ich habe eine zweifellose gute gesellige Eigenschaft(leider nur diese eine auf Kosten aller andern): ich kann ausgezeichnet, aufrichtig und glücklichzuhören. Es muß sich allmählich in der Familie ausgebildet haben, eine alte Tante von mir hat z.B.ohne besondere innere Beteiligung ein außerordentliches Zuhör-Gesicht: offenen Mund, Lächeln,große Augen, fortwährendes Kopfnicken und unnachahmliche Halsstreckung, die nicht nur demütigist, sondern auch das Ablösen der Worte von den Lippen des andern erleichtern will und erleichtert.Ich habe dann, ohne mich zu überheben, dem Ganzen Wahrheit und Leben gegeben, das Gesichtder Tante, es ist sehr groß, umgibt aber noch immer das meine. Der General deutet das aberunrichtig und hält mich deshalb für ein Kind, letzthin z.B. sprach er die Vermutung aus, daß icheine schöne Bibliothek habe, korrigierte sich aber gleich im Hinblick auf meine Jugend und meinte,daß ich wohl anfange, mir schon eine Bibliothek anzulegen. Trotzdem man also nicht vielRücksicht auf mich nehmen mußte, zeigt der Antisemitismus bei Tisch seine typische Unschuld.Ein Oberst verdächtigt bei mir privat den General (dem überhaupt von allen Seiten Unrechtgeschieht) eines »dummen« Antisemitismus, spricht man von jüdischer Lumperei, Frechheit,Feigheit (Kriegsgeschichten geben viel Gelegenheit, auch schreckliche Dinge, z.B. ein krankerOstjude, der am Abend vor dem Abmarsch ins Feld zwölf Juden Trippergift in die Augen spritzt, istdas möglich?), lacht man dabei mit einer gewissen Bewunderung und entschuldigt sich nachherauch noch bei mir, nur den jüdischen Sozialisten und Kommunisten verzeiht man nichts, dieertränkt man in der Suppe und zerschneidet man beim Braten. Aber auch nicht durchwegs, einFabrikant aus Kempten z.B. ist da (auch dort war ein paar Tage lang eine allerdings unblutige undunjüdische Räteregierung), der sehr gut zwischen Landauer, Toller und andern unterscheidet undvon Lewin Imponierendes erzählt.Mir ginge es gesundheitlich gut, wenn ich schlafen könnte, an Gewicht habe ich zwarzugenommen, aber die Schlaflosigkeit fährt mir besonders in der letzten Zeit dazwischen. Sie hatverschiedene Gründe wohl, einer ist vielleicht mein Briefwechsel mit Wien. Sie ist ein lebendigesFeuer, wie ich es noch nie gesehen habe, ein Feuer übrigens, das trotz allem nur für ihn brennt.Dabei äußerst zart, mutig, klug und alles wirft sie in das Opfer hinein oder hat es, wenn man will,durch das Opfer erworben. Was für ein Mann allerdings auch er, der das erregen konnte.Wegen der Schlaflosigkeit werde ich vielleicht früher kommen als ich dürfte. Nach München fahreich kaum, so sehr mich der Verlag interessieren würde, es wäre ein passives Interesse.Herzliche Grüße Dir, Deiner Frau und allen, Oskar besonders, dem ich noch nicht geschriebenhabe, ich entschließe mich, trotzdem kein Hindernis vorliegt, so schwer zu notwendigerweiseöffentlichen Briefen.

Dein F.

An M. E.(Zwei Postkarten. Meran, Frühjahr 1920)

Liebes Fräulein Minze, erst heute bekam ich Ihren Brief nachgeschickt, die Beilage nicht einmal,sie wartet auf mich in Prag, ich werde sie wieder beleben. Für den Fall, daß ich es noch nicht gesagthaben sollte, sage ich es heute : Sie sind lieb und gut. Heute (war) ich auf diesem Schloß oben,(erinnern) die Loggien nicht an den Schelesner Balkon, nur sind sie ein wenig großartiger und inder Ferne sieht man nicht die zwei kleinen Villen, sondern nichts weniger als die Ortlergruppe.

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Immerhin eine Loggia ist es und beim Vollmond mögen dort auch die alten Ritter gesessen haben.Alles Gute! Wozu vor allem Ahlem gehört.

KafkaIch schicke das Bild, weil es offenbar den letzten Wurf der Meta darstellt.

An Max Brod(Meran, Juni 1920)

Danke, Max, Dein Brief hat mir sehr wohl getan. Auch die Geschichte war zu rechter Zeit erzählt,ich habe sie zehnmal gelesen und zehnmal über ihr gezittert, sie auch mit Deinen Wortenwiedererzählt.Aber der Unterschied zwischen uns besteht. Siehst Du, Max, es ist doch etwas ganz anderes, Duhast eine ungeheure Festung, ein Ring ist vom Unglück eingenommen, aber Du bist im Innerstenoder wo Du sonst zu sein Lust hast, und arbeitest, arbeitest gestört, unruhig, aber arbeitest, ich aberbrenne selbst, ich habe plötzlich gar nichts, ein paar Balken, stützte ich sie nicht mit meinem Kopf,würden sie zusammenbrechen und nun brennt diese ganze Armut. Klagte ich? Ich klage nicht. MeinAnblick klagt. Und wessen ich gewürdigt bin, das weiß ich.Die zweite Nachricht freut mich natürlich, zum Teil stammt sie schon aus meiner Zeit. Inzwischenhabe ich diesem Menschen das Schlimmste getan, was ich ihm tun konnte, und vielleicht auf dieschlimmste Weise. So wie ein Waldarbeiter in einen Baum hineinhackt (aber er hat den Befehl). Dusiehst, Max, Scham habe ich noch.Gern wäre ich im Mai bei Dir gewesen und ich freue mich sehr auf Dich.Nur eine Stelle stört Deinen Brief. Wo Du vom Gesund-werden sprichst. Nein, davon ist seit einemMonat keine Rede mehr. Übrigens hast Du ja die »Insel Carina« geschrieben.

Dein FranzGrüße Deine Frau.Weißt Du zufällig etwas von Ottla? Sie schreibt mir wenig. Mitte Juli soll Hochzeit sein.Oskar schreibe ich, aber was soll ich schreiben, da ich nur eines zu schreiben habe.

An Felix Weltsch(Postkarte. Meran, Stempel: 12. VI. 1920)

Lieber Felix, vielen Dank, nein, ich habe die Weltbühne nicht gelesen; wenn Du kannst, so hebe siemir bitte auf. Aber die Selbstwehr kommt wieder nicht, nach der ersten Sendung, für die ich Dir jaschon gedankt habe, ist nichts mehr gekommen. Und gerade jetzt, wo Palästina nach einerZeitungsnachricht von Beduinen überschwemmt ist und vielleicht auch der kleineBuchbinderarbeitstisch in der Ecke zerschlagen.Herzliche Grüße Dir und Deiner Frau.

Dein FranzAuch Oskar, bitte, grüße. Ende des Monats komme ich.

An M. E.(Prag, Sommer 1920)

Liebe Minze, woher hätte ich denn das alles wissen sollen. Jetzt auf einem Gut und im Herbst inAhlem! Wenn Sie scharf nachgedacht hätten, womit Sie mir die größte Freude machen könnten,und zwar eine wirkliche Freude, die einen, wenn man müde, unausgeschlafen, welk geradezu (es istaber nicht ganz so schlimm)ins Bureau kommt, frisch und zuversichtlich machen könnte, so hättees nichts anderes sein können als Ihr Brief und das Bildchen. Man muß es ja natürlich nichtübertreiben, Sie heißen zwar Assistentin (Du schönes Wort! heute ist man noch ein gewöhnlicher

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Mensch und morgen ist man schon Assistentin), aber vielleicht ist es doch nur eine ArtSommerfrische und Sich-nützlich-machen (das ist aber keine Verdächtigung, es ist nur immer nochStaunen darüber, daß Sie etwas so Leichtes und doch gar nicht Leichtes verwirklicht haben sollten).Aber dann lese ich auf dem Bildchen Pfingstmontag und das ist doch schon lange her und nochimmer sind Sie dort, das ist doch schon sehr viel. Und auch ein Schweinchen können Sie schonhalten, würgen es zwar noch ein wenig, aber halten es doch gut und haben dazu auch braune,glänzende, kräftige Arme. Nein, wie viel lieber ist mir Minze auf dem Düngerkarren, als Kleopatraauf ihrem goldenen Thron.Und vor Ahlem müssen Sie sich gewiß nicht fürchten. Wenn es dort auch vielleicht nicht so freisein wird, wie in Ihrem jetzigen Leben (wie verwenden Sie die Freizeit?), so wird es doch fremdesLand sein, fremde Menschen, neue Dinge, neues Ziel, da ist es doch fast gut, zunächst ein weniggebunden zu sein, man ginge doch sonst in Fransen. Und diese angebliche Freiheit in Teplitz wardoch vielleicht eher ein Gebundensein mit den allerkürzesten Hand- und Fußketten, war eherOhnmacht als Freiheit. Es ist ein Wunder, daß Sie dort losgekommen sind.Gewiß sind Sie auch schon gesund und haben keine Rückenschmerzen mehr. Jetzt bei Ihrem Brieffällt mir ein, daß ich letzthin einmal Herrn Stransky und einmal Hr. Kopidlansky gesehn habe, aberganz flüchtig, undeutlich wie im Traum, ich weiß nicht genau, wo; beide sahen nicht sehr gut aus.Mir geht es knapp leidlich, Meran hat mir gesundheitlich nichts geholfen. Es ist eben der »innereFeind«, der zehrt und keine eigentliche Erholung zuläßt. Ja wenn man ihn als lebendesSchweinchen auf den Schoß nehmen könnte, aber wer könnte den aus seiner Tiefe heraufholen.Doch ist das keine Klage; darüber klagen hieße über das Leben klagen und das wäre sehr dumm.Herzliche Grüße und nochmals vielen DankIhr KafkaÜbrigens müssen Sie, Minze, nicht glauben, daß ich mir nach dem Bild Milsau nicht jetzt auchschon ein wenig vorstellen kann. Etwa so: eben, gegen Süden mit sanft aufsteigenden Lehnen.Humusreicher schwarzer Lehmboden mit Kalk und Sand gemischt, Lehmuntergrund.Basaltformation. Nicht sehr groß, kaum 60 ha bebauter Boden. Weizen, Gerste, Zuckerrübe, Korn.Etwa 42 Häuser mit etwa 268 Einwohnern (und Minze). In die Kirche muß man nach Brunnersdorfgehn.Genug erkannt nach einem so kleinen Bild, nicht? Und dabei hat man doch gar nicht recht Zeit sichumzusehn, denn es hält einen Ihr Blick, der kritische Blick der Bäuerin, die nach dem Wetterausschaut.

An Max BrodFreitag (Prag, Stempel: 7. VIII. 1920)Lieber Max, wenn Du, Du so außerordentlich faul bist, dann ist es sicher, gutes Wettervorausgesetzt, ein Glücksfall, bei mir wäre es nichts besonderes, ich bin immer faul, auf dem Land,in Prag, immer und am meisten sogar wenn ich beschäftigt bin, denn diese Beschäftigung ist jakeine, ist nur das dankbare In-der-Sonne-liegen des Hundes.Das »Heidentum« habe ich gleich Montag in einem Zug gelesen, das »Lied der Lieder« noch nicht,denn seitdem war Schwimmschulwetter. Über die selbstverständliche Fülle, dabei Geradlinigkeitund Durchdachtsein des Kapitels war ich immerfort von neuem erstaunt, trotzdem ich es erwartethatte, denn dieses »Heidentum« ist ja zum Teil Deine geistige Heimat, trotzdem Du es nicht immerwillst. Es ist prachtvoll, ich war Deine allerdings unkritischeste galizische Schülerin und habe beimLesen im Geheimen Dir oft die Hand gedrückt und Dich oft beim Arm genommen.Dabei kann ich gar nicht sagen, daß ich mit Dir einverstanden bin oder richtiger gesagt: ich tragevielleicht nur Dein geheimes Einverständnis mit dem »Heidentum« offen. Überhaupt, wo Du ausDir sprichst, bin ich Dir sehr nahe; wo Du zu polemisieren anfängst, bekomme ich oft auch Lust zupolemisieren (so gut ich es kann, natürlich).

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Ich glaube nämlich an kein »Heidentum« in Deinem Sinn. Die Griechen z.B. kannten doch einengewissen Dualismus sehr gut, was hätte sonst die Moira und vieles andere für einen Sinn gehabt?Nur waren es eben ganz besonders demütige Menschen - in religiöser Hinsicht -, eine Artlutheranischer Sekte. Sie konnten das entscheidend Göttliche gar nicht weit genug von sich entferntdenken, die ganze Götterwelt war nur ein Mittel, das Entscheidende sich vom irdischen Leib zuhalten, Luft zum menschlichen Atem zu haben. Ein großes nationales Erziehungsmittel, das dieBlicke der Menschen festhielt, weniger tief war als das jüdische Gesetz, aber vielleichtdemokratischer (hier waren kaum Führer und Religionsbegründer), vielleicht freier (es hielt fest,aber ich weiß nicht, womit es hielt), vielleicht demütiger (denn der Anblick der Götterwelt brachtenur zum Bewußtsein: also nicht einmal, nicht einmal Götter sind wir und wären wir Götter, waswären wir?). Am nächsten kommt man vielleicht Deiner Auffassung, wenn man sagt: Es gibttheoretisch eine vollkommene irdische Glücksmöglichkeit, nämlich an das entscheidend Göttlicheglauben und nicht zu ihn streben. Diese Glücksmöglichkeit ist ebenso Blasphenie wie unerreichbar,aber die Griechen waren ihr vielleicht näher als viele andere. Aber auch das ist noch nichtHeidentum in Deinem Sinn. Und Du hast auch nicht bewiesen, daß die griechische Seeleverzweifelt war, sondern nur, daß Du verzweifelt wärest, wenn Du Grieche sein müßtest. Dasstimmt allerdings für Dich und mich, aber auch hier nicht ganz.Eigentlich erlebt man in dem Kapitel dreierlei: Dein Positives, das hier unerschüttert bleibt und dasich auch im vorigen nicht anrühre, dann Deinen konzentrischen aufregenden Angriff auf dasGriechentum und schließlich seine stille Selbstverteidigung, die im Grunde ja auch Du führst.

Mit Deiner Frau sprach ich vorgestern längere Zeit auf der Sophieninsel und auf dennNachhauseweg. Sie war fröhlich, sehnsüchtig zwar, wie sie sagte, aber fröhlich. EineVerlobungsgeschichte Deines Schwagers regte sie zwar ein wenig auf, regte sie aber unzweifelhaftauch ein wenig an, wie es eben solche Sachen, ich fühlte das an mir auch, immer tun.Von Abeles kam lange nichts, ich fürchtete schon, es sei mißlungen, da kam gestern nachmittagdoch seine Antwort, recht freundlich. Es fällt übrigens doch auf den Verlag Löwit zurück, dennAbeles geht am 2. August auf Urlaub und hat die Sache seinem Freund, einem Dr. Ornstein, Lektordes Verlages Löwit übergeben, sie wird, wie er versichert, »gewissenhaft durchgeführt werden«.Vom Geld schreibt er nichts, holt sichs also doch wohl bei Löwit. Gleichzeitig bittet er mich Dichzu verständigen, daß das Jahrbuch heuer doch nicht erscheint, er kennt eben Deine jetzige Adressenicht und es liegt ihm viel daran, Dich »den Vielbeschäftigten rechtzeitig seines liebenswürdigenVersprechens zu entbinden«. Da wahrscheinlich Deine Frau etwas für das Jahrbuch abzuschreibenhat, war ich heute gegen abend bei ihr, habe sie aber, da sie nicht zuhause war, nur durch einenZettel davon verständigt.

Mir geht es leidlich. Die Antwort nach Wien hat natürlich Zeit. Letzthin war Otto Pick bei mir, ererwähnte einen Engländer, der den »Volkskönig« für Amerikaaufführungen aus denn Deutschen ins

Englische übersetzen will. - Das ist alles und jetzt geh ich ins Bett. Ich höre: Du schläfst so gut,Allen Segen über Deinen Schlaf.

Franz

An Elsa Brod(Prag, 7. August 1920)Liebe Frau Elsa, der Wächter hat Sie leider nicht angetroffen. Wird gemeldet. Sonst wollte ich nursagen, daß der jüdische Nationalkalender nach einem Brief von Otto Abeles heuer doch nichtherausgegeben wird, Sie also nichts abschreiben und hinschicken müssen;

Herzliche GrüßeIhr F

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An M. E.(Prag, November/Dezember 1920)

Liebe Minze, Sie machen mir viel Freude, wirklich, und die Tage, an denen ich Ihre Karte und jetztden Brief bekam, waren ausgezeichnet vor den andern. Diese Freude ist fast unabhängig von Ihnenselbst, zunächst freut mich nur die Tatsache, daß es jemandem gelingt, trotz aller Schwierigkeiten(an sich waren ja Ihre Schwierigkeiten nicht allzugroß, vergleichsweise aber ungemein groß) ausTeplitz, das ich mir für einen Menschen Ihrer Art grauenhaft denke, viel grauenhafter, als Sie selbstes jetzt lassen können, daß es also diesem Menschen gelingt herauszukommen in eine dochzweifellos viel größere Welt. Das macht wirklich Lebensmut weit um diesen Menschen herum. Daßes dann gerade Sie sind, um die es sich handelt, und daß ich von fernster Ferne am alleräußerstenZipfel auch irgendwie daran teilnehme, vergrößert natürlich die Freude noch.Und nun, da Sie einmal dort sind, mögen Sie ruhig (gestrichen: Ahlem beschim) (nein das darf manvielleicht nicht schreiben) mit vielen Dingen in Ahlem auch unzufrieden sein, gewiß haben Sierecht, warum sollte es auch besonders gut sein, es ist eine westjüdische Sache, alle diese Sachenstehn ja meist auf Abbruch da, vielleicht werden Sie selbst noch einmal einen Balken von Ahlemnach Palästina tragen, Nein, das ist kein Scherz, allerdings auch nicht Ernst.Aber wie es auch dort sein mag in Ahlem, jedenfalls fangen Sie dort an zu erkennen - jede SeiteIhres Briefes beweist das - daß die Welt, die geistige vor allem, viel größer ist als das verfluchteDreieck Teplitz-Karlsbad-Prag. Und diese lebendig gewordene Erkenntnis ist ein Gewinn, wert fürihn zu frieren; bekommt man allerdings den Ofen, ist es dann noch viel besser. (DieseOfengeschichte verblüfft mich allerdings wirklich und vielleicht verstehe ich manches aus Ahlemdoch nicht ganz, solange ich im Schlafrock im geheizten Zimmer sitze mit etwa zehnmal mehrEssen, als ich bewältigen kann). (Ein wenig erschwert das schnelle Verständnis auch die Schrift, inAhlem schreibt man so klein. Freilich im Bett, doch kommt das einem nicht immer gleich zuBewußtsein, so bewegt und gesund ist der Brief.)Gogol, Hafis, Li-tai-pe, eine zwar etwas zufällige Auswahl (die zwei letzteren offenbar inÜbersetzungen von Bethge oder Klabund, die nicht allzu gut sind; von chinesischen Gedichten gibtes ein ausgezeichnetes kleines Übersetzungsbuch, ich glaube aber, es ist vergriffen und noch immernicht neu erschienen, von Heilmann, in der Sammlung »Die Fruchtscha1e«, Verlag Piper, ich habees einmal einem Irgendjemand geborgt und nicht mehr bekommen), aber jedenfalls wie viel besserals die Dahn und Baumbach Schelesner Angedenkens. Wenn Sie einmal Zeit zum Lesen haben,borgen Sie sich - in jeder Leihbibliothek ist es zu haben - Lily Braun »Memoiren einer Sozialistin«aus, zwei sehr dicke Bände, die Sie aber durchfliegen werden, man kann nicht anders. In IhremAlter, glaube ich, war sie auch schon nur auf sich gestellt und mit der Moral ihrer Klasse (einesolche Moral ist jedenfalls lügnerisch, darüber hinaus aber fängt das Dunkel des Gewissens an)hatte sie viel Leid, aber sie hat sich durchgekämpft wie ein streitbarer Engel.Freilich lebte sie in ihrem Volk. Was Sie darüber sagen, nehme ich nicht als etwas Endgültiges,auch glaubte ich nicht, bei weitem nicht, daß Sie den einzelnen Juden wegen seines Judentums liebhaben sollen oder daß zwanzig jüdische Mädchen oder auch hundert, um Sie gruppiert, Ihnen denHalt eines Volkstums werden geben können, aber eine Ahnung der Möglichkeiten vielleicht. unddann: vielleicht braucht die Frau wirklich das Volkstum weniger für sich, aber der Mann braucht esund so braucht es auch die Frau für ihn und ihre Söhne. So etwa.Was Sie über Ihre Gärtnerzukunft sagen, verstehe ich noch nicht ganz, darüber würde ich gern nochetwas hören. Was für Siedlungen sind es, von denen Sie schreiben? Sind lauter Jüdinnen in derAnstalt? Und die Lehrer Juden? Von den Jungens schreiben Sie gar nicht. Wie weit ist Hannover?Man kann frei hinfahren? (Dieses Judentum übrigens, das so hochmütig auf die Deutschenhinunterschaut, ist mehr als ich wollte. Auch ist Deutschland mehr als Hannover.)Gern würde ich übrigens einmal ein Weilchen, wenn große Gesellschaft ist (wie alt sind dieMädchen?), in Ihrem Zimmer sitzen (warum erwähnen Sie den Prospekt in Ihrem Brief?),

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womöglich auf dem Ofen, weil mir leicht kalt wird, und zuhören und mitsprechen und mitlachen(so gut ich es kann). Vorläufig allerdings fahre ich in etwa 14 Tagen nach Niederösterreich in einSanatorium, es geht mir aber erträglich. Glücklichen Kampf!

Ihr Kafka

An Max Brod(Prag, Stempel: 13. XII. 1920)

Das war sehr lieb von Dir, Max, ich will Dir gleich dafür danken. Als ich oben bei Deiner Frau warund den kleinen Zettel, die Grimmensteiner Aufenthaltsbewilligung, in der Hand drehte, war es mirwie ein großes Geschenk. Ich möchte es nicht ungeschehn machen, trotzdem ich nicht nachGrimmenstein fahre. Ich fahre nicht hin, weil ich mich nicht überwältigen kann oder vielmehr weiles mich überwältigt. Es war in keiner Hinsicht leicht die Reiserichtung zu ändern, jetzt ist esvorüber. Ich fahre nach Tatranské Matliary (Badedirektion Forberger), wenigstens vorläufig, solltees dort nicht gut sein, übersiedle ich in das etwa eine Stunde davon entfernte SzontaghsSanatorium, Nový Smokovec. Ich fahre am achtzehnten fort, hätte Dich noch gern In Prag gesehn,wollte aber doch nicht länger mehr warten.Deine Frau hat viel und klug und bitter und süß, so wie sie in ihrer besondern, manchmal rührendenArt Bitterkeit und Süße im Urteil zu verteilen pflegt, von der Reise erzählt, ich hatte, auch aus denKritiken, den Eindruck, daß der Erfolg rein war und ohne Störung Deiner Absichten. »Esther«scheint merkwürdig für ihn vorgearbeitet zu haben.Aus der Tatra schreibe ich Dir, Ottla fährt übrigens für ein paar Tage mit.Alles Gute!

FranzHerzliche Grüße Deiner Schwester, Schwager und Thea.

An M. E.(Ansichtskarte, Tatranské Matliarv, Ende Dezember 1920)

Liebe Minze, Ihren Brief bekam ich gerade vor der Abreise. Merkwürdige Dinge! Kaum sind Sieendlich im Schiff geht es unter. Allerdings ist es nicht ganz klar, wenigstens aus Ihren Andeutungenverstehe ich es nicht ganz. Und was sind das für Ostseepläne? Die sind mir gar nicht deutlichgeworden. Aber tapfer sind Sie und das ist schön. Seien Sie auch gut und lassen Sie mich weitervon meinem Liegestuhl aus (Sie) verfolgen. Ich vergaß in letzter Zeit zu fragen: Sie sind doch jetztschon ganz (gesund) ?Herzliche Grüße Ihres

Kafka

An Max Brod(Matliary, Stempel: 31. XII. 1920)

Lieber Max,glaubst Du, daß mir bei Deinem Brief nicht heiß wird? Und die Reiche der Welt und ihreHerrlichkeit würde ich zwar, wenn man mir sie anbieten würde, auch nicht bekommen, aber nichtweil ich nicht nachgeben würde, sondern weil ich vor Gier schon beim Hinunterspringen michtotschlagen würde. Hat mich denn von Berlin etwas anderes abgehalten als große Schwäche undArmut, die das »Angebot« verhinderte, aber niemals mich verhindert hätte, dem »Angebot« zuerliegen. Mit allen Fäusten wäre ich losgegangen, Du kennst meinen Ehrgeiz nicht.Bei Dir ist es anders, Du hattest die Möglichkeit (so wie Du die Lebenskraft Berlins anzusehenvorgibst, sehe ich Deine Kraft wirklich an) und hast ihr mit der für mich überzeugendst sichersten

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Entscheidung nicht nachgegeben. So sicher und überzeugend ist in dieser Richtung für mich DeineEntscheidung, daß ich sie genau so anerkennen würde, wenn sie jetzt anders ausfallen sollte.Übrigens schreibst Du von einer Übersiedlung nach Berlin noch nichts. Und merkwürdig ist auchan der Berliner Lockung» daß Dich die Intensität dort lockt, daß Du aber zu fühlen scheinst, DeinPrager Leben ließe sich nicht berlinisch intensivieren, sondern es müßte ein Berlinerisches Lebenwerden ganz und gar. Aber vielleicht hast Du in Berlin gar nicht den Befehl gehört, nach Berlin zukommen, sondern nur, aus Prag fortzugehn.Die Theatersache verstehe ich ohne nähere Erklärungen nicht, die Kritiken hat Berlin ebenso wieich gelesen; Du hast selbst gesprochen; alles mögliche und unmögliche wird aufgeführt und vor den»Fälschern« schreckt man zurück?F. war nicht bei Deinen Vorlesungen? Wegen ihres Zustandes wohl? In Berlin gewesen sein und F.nicht gesehen haben, kommt mir privat nicht richtig vor, trotzdem es natürlich bei mir auch sowäre. Ich habe für F. die Liebe eines unglücklichen Feldherrn zu der Stadt, die er nicht erobernkonnte, die aber »trotzdem« etwas Großes - glückliche Mutter zweier Kinder - geworden ist. Vondem ersten Kind hattest Du keine Nachricht?Was mich betrifft: ich habe hier einen guten Ort gefunden, gut nämlich, soweit man etwas habenwill, was noch einen Anschein von Sanatorium hat und doch keines ist. Es ist keines, da es auchTuristen, Jäger und überhaupt jeden aufnimmt, keinen überflüssigen Luxus hat, sich nur bezahlenläßt, was wirklich gegessen wird, und ist doch ein Sanatorium, da es einen Arzt hat,Liegekurmöglichkeit, Küche nach Belieben, gute Milch und Sahne. Es liegt zwei km hinter Tatra-Lomnitz, also noch um zwei Kilometer näher an den großen Lomnitzer Spitzen, selbst ist es 900 mhoch. Guter Arzt? Ja, ein Spezialist. Wäre ich doch ein Spezialist geworden. Wie sich ihm die Weltvereinfacht! Die Schwäche meines Magens, die Schlaflosigkeit, die Unruhe, kurz alles, was ich binund habe, geht ihm auf die Lungenerkrankung zurück. Solange sie nicht manifestiert war, hat siesich eben in Schwäche des Magens, der Nerven maskiert. Manche Lungenerkrankungen das glaubeich auch kommen über solche Maskierungen gar nicht hinaus. Und da ihm das Leid der Welt soklar ist, hat er entsprechend in einem kleinen Ledertäschchen, nicht größer als eine Nationalfond-Büchse, immer auch, das Heil der Welt bei sich und spritzt es ihr, wenn sie will, für zwölf Kronenins Blut. Und wirklich ist er auch, damit alles zusammenpaßt, ein hübscher rotbackiger starkerMann mit einer jungen (offenbar jüdischen) Frau, die er liebt, und einem kleinen schönen Mädchen.das so merkwürdig klug ist, daß er davon gar nicht sprechen kann, eben weil es sein eigenes Kindist und er sich nicht überheben will. Er kommt täglich zu mir, es ist sinnlos, aber nichtunangenehm.Im Ganzen läßt sich sagen: wenn ich dieses Regime ein paar Monate körperlich und geistig(besonders am gleichen Ort) aushalte, werde ich der Gesundheit sehr nahekommen. Aberwahrscheinlich ist das ein Fehlschluß und bedeutet nur: wenn ich gesund bin, so werde ich gesundwerden. In der ersten Woche habe ich 1 Kilo 60 zugenommen, was aber nichts beweist, denn in derersten Woche gehe ich die Kur wie ein Löwe an.Es sind an dreißig ständige Gäste hier, ich hielt die meisten für Nichtjuden, solche Vollungarnwaren es, sie sind aber doch in der Mehrzahl Juden, vom Oberkellner angefangen. Ich rede sehrwenig und mit wenigen, zum größten Teil aus Menschenfurcht, aber auch weil ich es für richtighalte (daß einer, der Menschen fürchtet, es zeigt). Nur einer ist da, ein Kaschauer,fünfundzwanzigjährig, mit elenden Zähnen, einem schwachen meist zugekniffenen Auge, ewigverdorbenem Magen, nervös, auch nur Ungar, hat erst hier Deutsch gelernt, von Slowakisch keineSpur - aber ein Junge zum Verlieben. Entzückend im ostjüdischen Sinn. Voll Ironie, Unruhe,Laune, Sicherheit aber auch Bedürftigkeit. Alles ist ihm »interessant, interessant«, aber dasbedeutet nicht das Gewöhnliche, sondern etwa »es brennt. es brennt«. Ist Sozialist, bringt aber ausseiner Kindererinnerung viel Hebräisches herauf, hat Talmud und Schulchan Aruch studiert.»Interessant, interessant« Aber fast alles vergessen. Er läuft in alle Versammlungen, hat Dich

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gehört, erzählt, daß Kaschau von der Rede entzückt war, hat auch Langer die Misrachigruppegründen sehn.

Möge Dir Berlin noch nachträglich alles Gute bringen und schreib mir einmal ein Wort darüber.Oder machst Du nicht einmal eine slowakische Reise? Entsteht der Roman, von dem Du einmalsprachst?Grüß von mir Deine Frau und alle. Für die Grimmensteiner Aufenthaltbewilligung habe ich Dirnoch nach Berlin an die Ewerbuchhandlung gedankt, es schien und scheint mir eine ganz besondereGuttat gewesen zu sein.

Dein Franz

An Leo Baum(Ansichtskarte (Dürers »Eichhörnchen«). 1920)

Lieber Leo, ich war krank und so habe ich erst jetzt von Deinen lieben Eltern Nachrichten überDich sammeln können. Ich bin glücklich, daß es Dir gut geht, allerdings habe ich niemalsgezweifelt, daß es, (von selbstverständlichen, nebensächlichen. mit Mannesmut zu tragendenWidrigkeiten abgesehen) gut ausgehn wird. Schwierigkeiten hat es mir immer nur gemacht, meinenNeid zu bekämpfen, jetzt versuche ich es mit dem Gedanken an den »furchtbaren« Höllenstein,aber es geht nicht. - Bonus unterrichtet auch Dich schon?Vor Jahren habe ich im »Kunstwart« manches von ihm mit großem Respekt gelesen, - Das Bildzeigt Dir, daß es schon zu Dürers Zeiten Waldschulen gegeben hat. Das eine Eichhörnchen hat ebenein Eßpaket von zuhause bekommen, der Kamerad hat sich vornehm umgedreht, schielt aberzurück. Das erste Eichhörnchen beeilt sich entsprechend.Herzlichste Grüße! Alles Gute!

Dein Kafka

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1921

An Max Brod(Matliary, 13. Januar 1921)

Liebster Max, in den letzten 3 Tagen war ich nicht sehr geeignet Matliary zu verteidigen oderüberhaupt nur zu schreiben. Eine Kleinigkeit. Ein Gast, ein junger Mensch, krank aber fröhlich,singt ein wenig unter meinem Balkon oder unterhält sich auf dem Balkon über mir mit einemFreund (dem Kaschauer, der übrigens zu mir rücksichtsvoll ist wie eine Mutter zum Kind) - alsodiese Kleinigkeit geschieht und ich winde mich auf meinem Liegestuhl fast in Krämpfen, das Herzkann es nicht ertragen, in die Schläfen bohrt sich jedes Wort ein, die Folge dieser Nervenzerrüttungist, daß ich auch in der Nacht nicht schlafe. Ich wollte heute wegfahren, nach Smokovec, sehrungern, denn alles hier entspricht mir, auch mein Zimmer ist sehr ruhig, neben mir, unter mir, übermir niemand; was ich von Unbefangenen über Smokovec höre, bestätigt meine Abneigung (keinWald ringsum, hier überaus schöner, vor 2 Jahren alles durch einen Cyklon umgeworfen, die Villenund Balkone liegen an einer städtischen staubigen belebten Straße) trotzdem hätte ich natürlichfahren müssen, aber man hat jetzt eine Einrichtung hier getroffen, welche mir von morgen abvoraussichtlich Ruhe verbürgt: statt der zwei Freunde oben eine stille Dame. Sollte es nicht sein,fahre ich gewiß. Übrigens fahre ich in einiger Zeit gewiß, schon aus meiner »natürlichen« Unruheheraus.Ich erwähne das alles erstens deshalb, weil ich davon so voll bin. Als bestünde die Welt aus nichtsanderem als dem Balkon über mir und seiner Unruhe, zweitens um Dir zu zeigen, wie unberechtigtDeine Vorwürfe gegen Matliary sind, denn Balkonunruhe (der Husten der Schwerkranken, dasLäuten der Zimmerglocken!) ist in gedrängt vollen Sanatorien noch viel stärker und kommt nichtnur von oben, sondern von allen Seiten, einen andern Vorwurf kann ich aber gegen Matliaryüberhaupt nicht anerkennen (es wäre denn die allerdings nicht sehr große Eleganz meines Zimmers,aber das ist doch kein Einwand) und drittens erwähne ich es, um Dir meine augenblickliche innereSituation zu zeigen. Sie erinnert ein wenig an das alte Österreich. Es ging ja manchmal ganz gut,man lag am Abend auf dem Kanapee im schön geheizten Zimmer, das Thermometer im Mund, denMilchtopf neben sich und genoß irgend einen Frieden, aber es war nur irgendeiner, der eigene wares nicht. Eine Kleinigkeit nur, ich weiß nicht, die Frage des Trautenauer Kreisgerichtes war nötigund der Thron in Wien fing zu schwanken an, ein Zahntechniker, das ist er nämlich, studierthalblaut auf dem oberen Balkon und das ganze Reich, aber wirklich das ganze, brennt miteinemmal.Aber genug von diesen endlosen Dingen.

Ich glaube nicht, daß wir in jener Hauptsache wesensverschieden sind, wie Du es darstellst. Ichwürde es so fassen: Du willst das Unmögliche, mir ist das Mögliche unmöglich. Ich bin vielleichtnur eine Stufe unter Dir, aber auf der gleichen Treppe. Dir ist das Mögliche erreichbar; Du hastgeheiratet; hattest keine Kinder, nicht weil es Dir unmöglich war, sondern weil Du nicht wolltest;Du wirst auch Kinder bekommen, hoffe ich; Du hast geliebt und bist geliebt worden, nicht nur inder Ehe, aber es hat Dir nicht genügt, weil Du das Unmögliche wolltest. Vielleicht habe ich ausdem gleichen Grund das Mögliche nicht erreichen können, nur traf mich dieser Blitz einen Schrittfrüher als Dich, noch vor der Erreichung des Möglichen und das ist allerdings ein großerUnterschied, aber ein Wesensunterschied ist es kaum.Das Berliner Erlebnis scheint mir z.B. deutlich unmöglich. Daß es sich um ein Stubenmädchenhandelt, setzt Dich gewiß nicht herab, im Gegenteil es zeigt, wie ernst Du das Verhältnis nimmst.Dieses Mädchen stand doch äußerlich ganz fern dem, was Dich in Berlin bezaubert hat, alles, wasDu sonst erlebtest, mußte eigentlich das Mädchen hinabdrücken und trotzdem konnte sie sichinfolge des Ernstes, mit dem Du das Verhältnis hinnahmst, so stark behaupten. Aber - nun sei mir

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nicht böse wegen dessen, was ich jetzt sage, vielleicht ist es dumm und falsch, vielleicht habe ichdiesen Teil Deines Briefes unrichtig gelesen, vielleicht bin ich auch durch das inzwischenGeschehene widerlegt - nimmst Du so ernst, wie Du Dein Verhältnis zu dem Mädchen nimmst,auch das Mädchen selbst? Und heißt es nicht, etwas, was man nicht ganz ernst nimmt, ganz ernstlieben wollen, eben das Unmögliche wollen, so wie wenn einer, der einen Schritt nach vorn unddann wieder einen Schritt zurückgemacht hat, doch entgegen jedem Wirklichkeitsbeweis 2 Schrittenach vorn gemacht haben will, da er doch eben 2 Schritte und nicht weniger gemacht hat. Ich denkedabei nicht an das, was Du von den Äußerungen des Mädchens sagst, das verträgt sich nochvielleicht sehr gut mit dem Ernst, aber wie kommt es, daß Du gar nicht daran denkst, was Du fürdas Mädchen bedeutest. Ein Fremder, ein Gast, ein Jude sogar, einer von den Hunderten, denen dasschöne Stubenmädchen gefällt, einer dem man den zugreifenden Ernst einer Nacht zutrauen kann(und wenn er nicht einmal diesen Ernst hat), aber was kann denn mehr sein? Eine Liebe überLänder hinweg? Briefeschreiben? Auf einen sagenhaften Februar hoffen? Diese ganzeSelbstauslöschung verlangst Du? Und daß Du Treue (das verstehe ich sehr gut, wirklich tiefeTreue) dem Verhältnis bewahrst, nennst Du auch Treue zum Mädchen? Ist das nicht einUnmögliches über dem andern? Das Unglück, das darin liegt, ist allerdings schrecklich, das kannich von der Ferne sehn, aber die Kräfte, die Dich in das Unmögliche treiben - seien es auch nurKräfte des Verlangens -, sind sehr groß und können nicht verschwunden sein, wenn Du geschlagenzurückkommst, sondern halten Dich aufrecht für jeden neuen Tag.Du sagst, daß Du meine Stellung nicht verstehst. Sie ist, wenigstens von dem Allernächsten aus,sehr einfach. Du verstehst sie nur deshalb nicht, weil Du etwas Gutes oder Zartes in meinemVerhalten voraussetzest, dieses aber allerdings nicht finden kannst. Ich verhalte mich in dieserSache zu Dir etwa wie ein Primaner, der achtmal durchgefallen ist, zu einem Oktavaner, der vordem Unmöglichen, der Matura steht. Ich ahne Deine Kämpfe, Du aber, wenn Du mich, den großenMenschen, über eine kleine Multiplikationsaufgabe gebeugt siehst, kannst das nicht verstehn, »AchtJahre!« denkst Du, »das muß ein äußerst gründlicher Mensch sein. Noch immer multipliziert er.Aber selbst wenn er noch so gründlich ist, jetzt müßte er es schon können. Infolgedessen versteheich ihn nicht«. Aber daß mir der mathematische Verstand überhaupt fehlen könnte oder daß ich nuraus bleicher Angst nicht schwindle oder - das wahrscheinlichste - daß ich aus Angst jenen Verstandverloren haben könnte -, das alles fällt Dir nicht ein. Und doch ist es nichts als gemeinste Angst,Todesangst. So wie wenn einer der Verlockung nicht widerstehen kann, in das Meerhinauszuschwimmen, glückselig ist, so getragen zu sein, »jetzt bist Du Mensch, bist ein großerSchwimmer« und plötzlich richtet er sich auf, ohne besonders viel Anlaß und sieht nur Himmel undMeer und auf den Wellen ist nur sein kleines Köpfchen und er bekommt eine entsetzliche Angst,alles andere ist ihm gleichgültig, er muß zurück und wenn die Lunge reißt. Es ist nicht anders.Nun vergleiche aber noch Deines und Meines - oder vergleiche lieber meines nicht, aus Rücksicht -mit den alten großen Zeiten. Das einzige wirkliche Unglück war Unfruchtbarkeit der Frauen, aberselbst wenn sie unfruchtbar waren, erzwang man noch die Fruchtbarkeit. Unfruchtbarkeit in diesemSinn - notwendiger Weise mich als Mittelpunkt genommen - sehe ich gar nicht mehr. Jeder Schoßist fruchtbar und grinst nutzlos in die Welt. Und wenn man sein Gesicht versteckt, so ist es dochnicht, um vor diesem Grinsen sich zu schützen, sondern um sein eigenes nicht sehn zu lassen.Daneben bedeutet der Kampf mit dem Vater nicht viel, er ist ja nur ein älterer Bruder, auch einmißratener Sohn, der bloß kläglich versucht, seinen jüngeren Bruder eifersüchtig imentscheidenden Kampf zu beirren, mit Erfolg allerdings. - Jetzt aber ist es schon ganz finster, wie essein muß für die letzte Blasphemie.

Franz(Randhinzufügung:) Du hast wohl keine Kopien des Schreiber-Aufsatzes, die Du mir borgenkönntest? Ich würde sie bald zurückschicken.Du mußt doch auch neue Korrekturen der Gedichte haben? vielleicht auch schon des großenBuchs?

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Grüße bitte von mir Felix und Oskar; wenn ich ruhiger werde schreibe ich ihnen. Ich lesenochmals, was Du über Matliary sagst, und sehe, daß ich es doch noch einzelweise beantwortenmuß:(Noch nachträglich hinzugefügt:) Übrigens sind meine Pläne (hinter dem Rücken der Anstalt) vielgroßzügiger als Du denkst: bis März hier, bis Mai Smokovec, über den Sommer Grimmenstein,über den Herbst - ich weiß nicht.

Du kennst die Slowakei, aber nicht die Tatra, hier waren doch die Sommerfrischen der Budapester,sie sind also rein und die Küche ist gut. Ich gebe zu, daß für uns ein deutsches oder österreichischesSanatorium ein wenig behaglicher wäre, aber das sind doch nur Gefühle der ersten Tage, mangewöhnt sich bald ein, einer meiner Vorzüge übrigens, in dem Du mich (auch von zuhause aus tunsie es) also beirren willst.Ich nehme die Sache so ernst, wie Du es, Max, verlangst, ich sehe sogar die Antithese nochschlimmer, es ist nicht Leben oder Tod, sondern Leben oder Viertel-Leben, Atmen oder nach Luftschnappend langsam (nicht viel schneller als ein wirkliches Leben dauert) sich zuendefiebern. Daich das so sehe, kannst Du mir doch glauben, daß ich nichts unterlassen werde, was ich tun kann,um es halbwegs zum Guten zu wenden. Warum soll aber der Arzt -? Ich habe in Deinem Brief denbetreffenden Satz gleich beim ersten Lesen vor Schrecken mit dem Bleistift unleserlich zu machengesucht. Am Ende ist es doch gar nicht so dumm, was er sagt, und gewiß nicht dümmer als was dieandern sagen. Es ist sogar biblisch; wer den schöpferischen Lebensodem nicht voll aufnehmenkann, der muß in allem kranken.Daß ich ohne Fleisch kuriert werden kann, habe ich allerdings bewiesen, in Zürau, wo ich fast keinFleisch gegessen habe, und in Meran, wo man mich wegen meines guten Aussehens nach denersten vierzehn Tagen nicht wiedererkannte. Allerdings fuhr dann der Feind dazwischen, aber denhält Fleischessen nicht ab und zieht Nichtfleischessen nicht an, der kommt jedenfalls.Ich habe mich hier sehr gut erholt und wenn nicht auch hier manches mit M. nichtZusammenhängendes gestört hätte, wäre ich noch weiter.Es tut mir der Eltern wegen, jetzt auch Deinetwegen und schließlich auch meinetwegen (weil wirdann in dieser Hinsicht einig wären) leid, daß ich nicht gleich anfangs nach Smokovec gefahrenbin, da ich aber nun schon hier bin, warum soll ich einen schlechten Tausch riskieren und nachkaum 4 Wochen von hier fort gehn, wo sich alle sehr anständig bemühn, mir alles zu geben, wasich nötig habe.

An Max Brod(Matliary, Ende Januar 1921)

Liebster Max, noch ein Nachtrag, damit Du siehst, wie der »Feind« vorgeht, es sind ja gewiß innereGesetze, aber es sieht fast wie nach äußeren Gesetzen eingerichtet aus. Vielleicht verstehst Du alskörperlich Unbeteiligter es besser.Ich hatte das Balkon-Unglück bei weitem nicht überwunden, der obere Balkon ist zwar jetzt still,aber meine angstgeschärften Ohren hören jetzt alles, hören sogar den Zahntechniker, obwohl erdurch 4 Fenster und 1 Stockwerk von mir getrennt ist.

(folgt schematische Skizze der Zimmeranordnung)und wenn er auch ein Jude ist, bescheiden grüßt und gewiß keine bösen Absichten hat, ist er fürmich durchaus der »fremde Teufel«. Seine Stimme macht mir Herzbeschwerden, sie ist matt,schwer beweglich, eigentlich leise, aber dringt durch Mauern. Wie ich sagte, ich muß mich erstdavon erholen, vorläufig stört mich noch alles, fast scheint es mir manchmal, daß es das Leben ist,das mich stört; wie könnte mich denn sonst alles stören?

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Und nun geschah gestern folgendes: Es ist hier außer einem Kranken, den ich noch nie gesehenhabe, nur ein Bettlägeriger, ein Tscheche, wohnt unter meinem Balkon, hat Lungen- undKehlkopftuberkulose (eine der andern Varianten neben »Leben oder Tod«), fühlt sich durch seineKrankheit und weil außer ihm nur 2 Tschechen hier sind, die sich aber nicht um ihn kümmern,vereinsamt; ich habe ihn nur flüchtig zweimal auf dem Gang gesprochen und er ließ mich durch dasStubenmädchen bitten, ihn einmal zu besuchen, ein freundlicher stiller etwa fünfzigjähriger Mann,Vater zweier erwachsener Jungen. Ich ging knapp vor dem Nachtmahl zu ihm, um es kurz abzutun,und er bat mich, auch nach dem Nachtmahl für ein Weilchen noch zu kommen. Dann erzählte ermir von seiner Krankheit, zeigte mir den kleinen Spiegel, mit dem er, wenn Sonne ist, tief in derKehle hantieren muß, um die Geschwüre zu belichten, dann den großen Spiegel, mit dem er sichselbst in die Kehle schaut, um den kleinen Spiegel richtig stellen zu können, dann zeigte er mir eineZeichnung der Geschwüre, die übrigens zum erstenmal vor 3 Monaten aufgetreten sind, dannerzählte er kurz von seiner Familie, und daß er schon eine Woche ohne Nachricht und deshalbbesorgt sei. Ich hörte zu, fragte hie und da, mußte den Spiegel und die Zeichnung in die Handnehmen, »näher zum Auge« sagte er, als ich den Spiegel weit von mir hielt, und schließlich, es warkein besonderer Übergang, fragte ich mich (ich hatte schon früher manchmal solche Anfälle, immerfängt es mit dieser Frage an) »wie wäre es, wenn Du jetzt ohnmächtig würdest« und schon sah ichdie Ohnmacht wie eine Welle über mich herkommen. Das Bewußtsein hielt ich, so glaube ichwenigstens, noch beim letzten Ende fest, aber wie ich ohne Hilfe aus dem Zimmer kommen sollte,war mir unvorstellbar. Ob er noch etwas gesprochen hat, weiß ich nicht, für mich war es still.Schließlich faßte ich mich, sagte etwas von einem schönen Abend, was eine Erklärung dafür seinsollte, daß ich auf seinen Balkon hinausschwankte und dort in der Kälte auf dem Geländer sitzenblieb. Ich kam dort so weit, daß ich sagen konnte, mir sei ein wenig schlecht, und ohne Gruß ausdem Zimmer gehen konnte. Mit Hilfe der Korridorwände und eines Sessels im Zwischenstock kamich in mein Zimmer.Ich hatte dem Mann etwas Gutes tun wollen und hatte etwas sehr Schlechtes getan; wie ich frühhörte, hat er meinetwegen die ganze Nacht nicht geschlafen. Trotzdem kann ich mir keineVorwürfe machen, vielmehr verstehe ich nicht, warum nicht jeder ohnmächtig wird. Was man dortin dem Bett sieht, ist ja viel schlimmer als eine Hinrichtung, ja selbst als eine Folterung. DieFolterungen haben wir ja nicht selbst erfunden, sondern den Krankheiten abgeschaut, aber so wiesie wagt doch kein Mensch zu foltern, hier wird jahrelang gefoltert, mit Kunstpausen, damit esnicht zu schnell geht und - das Besonderste - der Gefolterte wird selbst gezwungen, aus eigenemWillen, aus seinem armen Innern heraus, die Folterung in die Länge zu ziehn. Dieses ganze elendeLeben im Bett, das Fiebern, die Atemnot, das Medizineinnehmen, das quälende und gefährliche (erkann sich durch eine kleine Ungeschicklichkeit leicht verbrennen) Spiegeln hat keinen andernZweck, als durch Verlangsamung des Wachsens der Geschwüre, an denen er schließlich erstickenmuß, eben dieses elende Leben, das Fiebern u.s.w. möglichst lange fortsetzen zu können. und dieverwandten und die Ärzte und die Besucher haben sich förmlich über diesem nicht brennenden,aber langsam glühenden Scheiterhaufen Gerüste gebaut, um ohne Gefahr der Anstechung denGefolterten besuchen, abkühlen, trösten, zu weiterem Elend aufmuntern zu können. Und in ihremZimmer waschen sie sich dann voll Schrecken, wie ich.Ich habe allerdings auch kaum geschlafen, aber ich hatte zwei Tröster. Erstens starkeHerzschmerzen, wodurch ich an einen andern Folterer erinnert wurde, der aber viel milder, weilviel schneller ist. Und dann hatte ich unter einer Menge Träume zum Schluß diesen: Links von mirsaß ein Kind im Hemdchen (es war, wenigstens nach meiner Traumerinnerung nicht ganz sicher, obes mein eigenes war, aber das störte mich nicht), rechts Milena, beide drückten sich an mich undich erzählte ihnen eine Geschichte von meiner Brieftasche, sie war mir verlorengegangen, ich hattesie wiedergefunden, hatte sie aber noch nicht wieder aufgemacht und wußte also nicht, ob noch dasGeld darin war. Aber selbst .wenn es verloren war, das machte nichts, wenn ich nur die zwei beimir hatte. - Nachfühlen kann ich jetzt das Glück, das ich gegen Morgen hatte, natürlich nicht mehr.

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Das war der Traum, die Wirklichkeit aber ist, daß ich vor 3 Wochen (nach vielen ähnlichenBriefen, dieser aber war entsprechend der äußersten Notwendigkeit, die ein Ende für mich jetzthatte und noch hat und noch haben wird, der entschiedenste) nur um eine Gnade bat: nicht mehr zuschreiben und zu verhindern, daß wir einander jemals sehn.

Übrigens habe ich auch diese Woche an Gewicht zugenommen, im Ganzen in 4 Wochen 3 kg 40.Grüß Felix und Oskar, bitte. Ist etwas aus Oskars sizilianischer Reise geworden? Und was machenbeide? Ruth?

Bei nicht sehr gutem Licht auf dem Balkon am Abend:Der Brief lag ein paar Tage, vielleicht weil ich noch eintragen wollte, was nächstens »geschehen«würde. Es war nichts allzu Schlimmes.Nach Deinem heutigen Brief schäme ich mich sehr wegen dessen, was ich über Dich und dasMädchen gesagt habe. Wäre ich verheiratet und hätte ich meiner Frau etwas Gleichwertiges getan,würde ich, übertrieben ausgedrückt (aber nicht übertriebener als es die Prämisse ist), würde ich inden Winkel gehn und mich umbringen. Du verzeihst mir aber so sehr, daß Du es gar nichterwähnst. Freilich hast Du in dem vorvorigen Brief allzu allgemein geschrieben, aber ich hätte dieAllgemeinheiten anders durchblicken müssen, als ich es getan habe. Trotzdem, mein Grundgefühldemgegenüber ist nicht anders geworden, nur ist es nicht mehr so dumm-leicht beweisbar.Vielleicht komme ich dem näher, wenn ich von mir spreche. Ich habe Deinen Brief nicht bei derHand (und um ihn zu holen, müßte ich aus der schweren Verpackung hinauskriechen), aber ichglaube, Du sagst, wenn mir das Nach-Vollkommenheit-Streben das Erreichen der Frau unmöglichmacht, müßte es mir ebenso auch alles andere unmöglich machen, das Essen, das Bureau u.s.w.Das ist richtig. Zwar ist das Vollkommenheitsstreben nur ein kleiner Teil meines großen gordischenKnotens, aber hier ist jeder Teil auch das Ganze und darum ist es richtig, was Du sagst. Aber dieseUnmöglichkeit besteht auch tatsächlich, diese Unmöglichkeit des Essens u.s.w., nur daß sie nicht sogrob auffallend ist wie die Unmöglichkeit des Heiratens.Vergleichen wir einander in diesem: Beide haben wir ein Hindernis der Körperlichkeit, Du hast esherrlich überwunden. Als ich daran dachte, übten drüben auf dem Abhang Skiläufer, nicht diegewöhnlichen, die man hier sieht, Gäste aus dem Hotel oder Soldaten aus den nahen Baracken, siesind ja schon imponierend genug, dieses ernste glatte Wandern auf der Landstraße, dasHinabgleiten von oben, das Hinaufmarschieren von unten, diesmal aber waren drei Fremde ausLomnitz gekommen, sie sind wahrscheinlich auch noch keine Künstler, aber was konnten die! EinLanger ging voraus, zwei Kleinere folgten. Es gab für sie keine Abhänge, keine Gräben, keineBöschungen, sie strichen über die Gegend, so wie Du über das Papier schreibst. Hinunter ging eszwar viel schneller, das war eben ein Rasen, aber auch den Abhang hinauf war es zumindest einFliegen. Und was sie beim Hinabfahren zeigten, ich weiß nicht, ob es schon wirklich der großeTelemark-Schwung war (nennt man es so?), aber es war traumhaft, so gleitet der gesunde Menschaus Wachen in Schlaf. Eine Viertelstunde etwa ging das so, fast schweigend (daher zum Teil meineLiebe), dann waren sie wieder auf der Landstraße und - man kann es nicht anders ausdrückenstießen gegen Lomnitz hinunter.Ich sah ihnen zu und dachte an Dich, so hast Du das Hindernis Deiner Körperlichkeit überwunden.

Ich dagegen - wollte ich weiter schreiben.Aber nun kamen einige sehr schlechte Nächte, die ersten zwei aus zufälligen, vorübergehendenEin-Nacht-Ursachen, die übrigen durch einen Abszeß, der mir mitten im Kreuz sitzt und mich beiTag nicht liegen, bei Nacht nicht schlafen läßt. Es sind Kleinigkeiten und wenn nicht weitere vonsolcher Art kommen, werde ich den Schaden leicht wieder gut machen, ich erwähne es nur, um zuzeigen, daß, wenn es einen Irgendjemand gibt, der meine Gewichts- und Kraftzunahme verhindern

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will (bisher habe ich übrigens nur Gewichtszunahme bemerkt, 4 kg 20 in 5 Wochen), er fest auf mirim Sattel sitzt.Die weiteren Vergleiche lasse ich heute, Max, ich bin zu müde, es ist auch zu umständlich, dasMaterial ist so ungeheuer groß geworden im Lauf der Zeit und so wenig konzentriert, daß mannotwendigerweise geschwätzig werden müßte, wenn man es wieder vornimmt.

Ob Du kommen sollst? Natürlich sollst Du kommen, wenn es ohne große Mühe möglich ist, aberich sehe dafür keine Möglichkeit, es wäre denn, daß Du eine slowakische Reise machst. AusDeinem Brief scheint hervorzugehn, daß Du es mit der Berliner Reise verbinden willst, überOderberg etwa, nein, das wäre zu viel Mühe, das tue keinesfalls, auch meinetwegen nicht, daswürde mir zuviel Verantwortung auferlegen. Oder könntest Du länger als 3 Tage bleiben, alsErholung für Dich?

Fast möchte ich wieder von dem Vorigen zu reden anfangen, so kocht die Geschwätzigkeit. Duunterstreichst »Angst wovor«. Vor so vielem, aber auf der irdischen Ebene vor allem Angst davor,daß ich nicht hinreiche, körperlich nicht, geistig nicht, die Last eines fremden' Menschen zu tragen;so lange wir fast eins sind, ist es bloß eine suchende Angst »wie? wir sollten wirklich fast einssein?« und dann wenn diese Angst ihre Arbeit getan hat, wird es eine bis in die letzte Tiefeüberzeugte, unwiderlegbare, unerträgliche Angst. Nein, heute nichts mehr davon, es ist zuviel.Du erwähnst Briefe von Dehmel, ich kenne nur die aus dem Dezemberheft, halbmenschhafte,ehemännische.Ich muß noch darauf �zurückkommen. Du schreibst: »Warum vor der Liebe mehr Angst haben alsvor andern Angelegenheiten des Lebens?« und gleich vorher »In der Liebe habe ich dasIntermittierend-Göttliche am ehesten, am häufigsten erlebt«. Diese beiden Sätzezusammengenommen sind so, wie wenn Du sagen wolltest: »Warum nicht vor jedem Dombuschdie gleiche Angst haben wie vor dem brennenden?«Es ist ja so, wie wenn meine Lebensaufgabe darin bestanden hätte, ein Haus in Besitz zu nehmen. -Auch das bleibt ohne Abschluß, ein paar Tage war Pause, Müdigkeit, leichtes Fieber(wahrscheinlich vom Abszeß), rasender Schneesturm draußen, jetzt ist es besser, wiewohl heuteabend eine neue Störung aufgetaucht ist, hoffentlich so unbedeutend, daß ich sie durch bloßesRegistrieren unterdrücke, eine neue Tischnachbarin, ein älteres Fräulein, abscheulich gepudert undparfümiert, wahrscheinlich schwer krank, auch nervös aus den Fugen, gesellschaftlich geschwätzig,als Tschechin zum Teil auf mich angewiesen, auch auf dem mir abgewandten Ohr schwerhörig(jetzt sind noch ein paar Tschechen da, aber sie fahren weg), eine Waffe habe ich, die michhoffentlich schützen wird; sie hat heute, nicht mir gegenüber, den Venkov als ihr liebstes Blattgenannt, besonders wegen der Leitartikel, entzückt denke ich daran den ganzen Abend. (Sie kommtübrigens von Smokovec und war in vielen Sanatorien und lobt nur eines über alle Maßen:Grimmenstein, es ist aber vom März ab an den Staat verkauft.) Die hinterlistigste Methode wärevielleicht mit der Erklärung so lange zu warten, bis sie etwas sagt, was unmöglichzurückgenommen werden kann. Von Grimmenstein sagte sie: má to �id, ale výteènì to vede (derBesitzer ist ein Jude, er führt es aber ausgezeichnet), das hat wohl noch nicht genügt.Du darfst übrigens, Max, nach allem, was ich schreibe, nicht glauben, daß ich an Verfolgungswahnleide. ich weiß es aus Erfahrung, daß kein Platz unbesetzt bleibt, und sitze ich nicht oben inmeinem Sattel, so, nur dann, sitzt eben der Verfolger dort.Aber jetzt schließe ich ab (sonst bekommst Du den Brief vor Deiner Abreise nicht) obwohl ich das,was ich wollte, nicht gesagt habe und erst recht nicht auf dem Umweg über mich den Weg zu Dirgefunden habe, der mir, am Anfang zumindest, dunkel-klar war. Es ist aber eben das Musterbildeines schlechten Schriftstellers, dem das Mitzuteilende wie eine schwere Seeschlange in den Armenliegt, wohin er tastet, nach rechts, nach links nimmt es kein Ende, und selbst was er umfaßt, kann ernicht ertragen. Und wenn es dann überdies noch ein Mensch ist, der vom Abendessen in sein stilles

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Zimmer zurückkommt und unter der peinlichen Nachwirkung einer bloßen Tischnachbarschaft fastkörperlich zittert.

Und dabei denke ich während des ganzen Briefes vor allem an die zwei Varianten. Die erste scheintmir unmöglich, die Zeitung. eine Gazette des Ardennes, unmöglich, die Chefredakteurschaftunmöglich, die Arbeitslast (Du wärst wohl zwar nicht der einzige Musikreferent?) zu groß, diepolitische Stellungnahme (jeder Mitarbeiter einer solchen Zeitung hat Stellung genommen) zustark, das Ganze Deiner unwürdig. Der einzige Vorteil wäre wohl das hohe Einkommen.Aber das zweite, warum sollte das nicht möglich sein? Wofür die Regierung zahlt? Sie ist so sehrimprovisiert und so sehr im Notstand, daß sie gerade deshalb hie und da auch ganzAusgezeichnetes macht. Und dieses wäre etwas derartiges, es wäre nichts als der Dank für das, wasDu getan hast, und für das, was Du vielleicht (bestünde hinsichtlich dessen ein bürokratischerZwang?, es gab ja ganze Jahre, wo es Dich zu nichts derartigem drängte) vielleicht tun wirst.Übrigens kommen ja derartige Dinge nicht nur in der Tschechoslowakei vor, es sind guteNachwirkungen der Kriegspressequartierimprovisationen.Merkwürdig - das muß man hinzufügen und es hat etwas von der Sicherheit Deiner Entscheidunghinsichtlich Berlins, wenn es auch nicht so ohne weiters überzeugend ist - merkwürdig, daß Duzögerst, Deine ganze Berufskraft, ich meine jene Kraft, die Du hier verankern willst, demZionismus zu geben.

Den Aufsatz, ich lege ihn bei, habe ich in einem Zug schnell mehrmals hintereinander gelesen, sorasant ist es geschrieben (bis auf ein paar ausweichende kleine Schnörkel über Geschäftspapiere),aber soll es eine Anklage sein, wohl nicht? Und soll es ganz genau Berlin treffen? Und nicht jedegroße Stadt, des Westens zumindest, wo notwendigerweise die »lebens«erleichterndenKonventionen stärker und zuschnürender werden.

Du erwähnst Deinen Roman im Zusammenhang mit kabbalistischen Studien, besteht einZusammenhang?

Die Gedichte habe ich gestern bekommen, Du denkst an mich.Grüß bitte Felix und Oskar, auch sie sollen mich nicht vergessen, auch wenn ich nicht schreibe.

Übrigens bekam ich von M. vor etwa einer Woche noch einen Brief, einen letzten Brief. Sie iststark und unveränderlich, etwa in Deinem Sinn, Du bist ja auch ein Unveränderlicher, aber nein, sosprechen die Frauen nicht von Dir. Nein doch. Du bist in gewissem Sinn, und das steht mirbesonders hoch, auch den Frauen gegenüber unveränderlich.

An M. E.(Matliary, Januar/Februar 1921)

Liebe Minze, müde vom Tagwerk (es ähnelt der Gewächshausarbeit),das letzte Glas Milch ist nochnicht getrunken, die Temperatur zum letzten Mal noch nicht gemessen, das Thermometer steckt imMund, liege ich auf dem Kanapee. Minze, wo laufen Sie in der weiten Welt herum? Ich glaube,wenn Sie ein Mann wären, wären Sie Robinson geworden oder Sindbad der Seefahrer und dieKinder würden Bücher über Sie lesen.Wie kamen Sie von Ahlem fort? Im Guten oder im Bösen? Und die Gärtnerschule dort bestehtnicht mehr? Und Ihre jetzige Firma nahm Sie als Lehrling ohne Vorbildung an? Auf 2 Jahre (worinbesteht die 2jährige Verpflichtung?) gegen Kost und Wohnung?Das sind noch einige Unklarheiten, aber sonst scheint das, was Sie gemacht haben, ausgezeichnet,tapfer und stolz zu sein. Ihr Brief besteht aus 2 Briefen, einem langen fröhlichen und einem kurzen

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traurigen, schon das zeigt, daß Sie auf eigenen Füßen gehn, denn der allgemeine Lauf der Welt, wieer sich etwa auf den Teplitzer Gassen abrollt, ist weder fröhlich noch traurig, sondern, ob er nunfröhlich oder traurig aussieht, immer nur eine trübe verzweifelte Mischung.Ihr Brief kam gerade am letzten Tag eines verhältnismäßig guten Zeitabschnittes, ich las ihn nochauf dem Balkon, der ganz ähnlich ist dem in Schelesen, nur daß er ganz nahe den Schneebergen istund dafür ein wenig ärmlicher und baufälliger, ich las den Brief also dort, glücklich über Ihr Glück,nicht ganz so unglücklich über Ihr Traurigsein, machte, die Füße allerdings im Fußsack, IhreFußwanderung auf den Brocken mit (einmal vor Jahren war ich wochenlang am Fuß des Brocken,im Sanatorium Jungborn, vielleicht sind Sie daran vorübergekommen, es ist nicht weit vonHarzburg, wochenlang war ich dort und bin, trotzdem ich im Ganzen gesund war, doch nicht aufden Brocken gekommen, ich weiß nicht warum. Einer von dort machte einmal in einer warmenNacht die Besteigung ganz nackt, nur den Mantel hatte er auf den Rücken geschnallt. Ich aberschlief lieber in meiner Lufthütte den damals noch süßen Schlaf und die Wanderin Minze war nochkaum auf der Welt oder doch, sie war schon paar Jahre da und ein mehr minder braves TeplitzerSchulmädchen).Ja das war also der letzte gute Tag, aber dann wurde es schlimmer, allerlei, zuletzt Verkühlung undBettlägerigkeit, drei Wochen eines wenig unterbrochenen Sturmwinds, jetzt ist es schon besser, imHimmel und auf Erden.

Liebe Minze, wieder eine Unterbrechung viele Tage lang, mir war nicht ganz gut, aber auchdurchaus nicht schlecht, nur ein wenig zu müde, um die Hand zum Schreiben zu heben. Vielleichtwar der Sturm daran schuld, immer wieder Sturm, in den Wäldern rauschte es wie wenn es dieOstsee wäre. Jetzt aber ist es paar Tage lang schön , starke Sonne bei Tag und Abend solcher Frost,daß, wenn man ohne Ohrenschutz paar Minuten draußen herumgeht, die Ohren plötzlich so zubrennen anfangen, daß man nicht mehr das Haus erreichen zu können glaubt, auch wenn mau nur200 Schritte davon entfernt ist. Mag es so bleiben.Und Sie, Minze, Sie arbeiten so viel? Werden Sie es aushalten? Im pomologischen Institut in Pragbin ich mit vielen Gärtnern beisammen gewesen, die von ihren Erfahrungen erzählten. Alle warendarin einig, in Handelsgärtnereien sei die größte Arbeit. Dann war ich allerdings in der größtenHandelsgärtnerei von Böhmen (Maschek, Turnau) und dort war es nicht gar so schlimm, es warenhauptsächlich Baumschulen und außerhalb der Expeditionszeit im Frühjahr und Herbst führten dieLeute sogar ein sehr gutes Leben. Allerdings dieser Betrieb war schon ein wenig im Niedergaugund weit entfernt von deutscher Präcisionswirtschaft.Bücher? Haben Sie zum Lesen von Nicht-Gartenbaubüchern Zeit? Ich lasse Ihnen ein kleines Buchschicken, dort haben Sie das Leben dieser kleinen Ostseeorte im vorigen Jahrhundert wunderbar.Und ich schreibe Ihnen wieder bald. Mut, Minze, Mut!

Ihr Kafka(seitliche Randbemerkung:) Was bedeutet das: »wenn die Ärzte recht behalten«.

An Ottla(1921)

Liebe Ottla, heute in der Nacht zwischen dem 31. I. und 1. II. wachte ich etwa um 5 Uhr auf undhörte Dich vor der Zimmertür »Franz« rufen, zart, aber ich hörte es deutlich. Ich antwortete gleich,aber es rührte sich nichts mehr. Was wolltest Du?

Dein Franz

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An Max Brod(Matliary, Anfang Februar 1921)

Lieber Max, ich habe Dir an die Koschel-Adresse einen endlosen Brief geschickt, er dürfte aber erstam 1. Feber angekommen sein. Du wirst ihn ja vielleicht noch bekommen, sollte es aber nicht sein,ist nichts verloren, so wie er kein Ende hatte, hatte er auch keine Mitte, nur Anfang, nur Anfang.Ich könnte gleich wieder von neuem anfangen, aber was finge Berlin damit an.Verzögert wurde der Brief durch die verschiedenen Störungen, die in ihm aufgezählt sind, dieneueste steht noch nicht darin, die ahnte ich erst, als ich ihn wegschickte. Ich habe mich nämlichverkühlt oder vielmehr ich habe mich nicht verkühlt, ich wüßte nicht durch welche Einzelheit ichmich verkühlt haben sollte, das schlechte Wetter, ein schon 14 Tage fast ununterbrochenandauernder Sturmwind hat mich einfach ohne viel Umstände ins Bett geworfen. Ich lag 4 Tage,auch heute noch, erst jetzt abend bin ich für ein Weilchen aufgestanden. Schlimm war es nicht, eswar mehr ein vorsichtsweises zu-Bett-Liegen, ich habe nur gehustet und gespuckt,außerordentliches Fieber hatte ich nicht, der Doktor, der heute die Lunge genau behorchte, sagte, essei nichts Neues dort, sie sei eher besser als vor ein paar Tagen; immerhin bin ich müde davon unddas Gewicht, das Ende der fünften Woche schon 4,20 Zunahme zeigte, wird morgen gewiß, imgünstigsten Fall, nur das gleiche sein. Aber trotz aller genug großen Müdigkeit und aller Störungenwill ich vorläufig nicht klagen, alles was bisher in den 6 Wochen geschehen ist, hättezusammengenommen und fest geknetet noch kaum die Durchschlagskraft von 3 Meraner Tagenund Nächten, allerdings hatte ich damals vielleicht doch noch mehr Widerstandskraft.Mittwoch.Gestern abend wurde ich gestört, aber freundlich, es ist ein 21jähriger Medizinstudent da,Budapester Jude, sehr strebend, klug, auch sehr literarisch, äußerlich übrigens trotz gröberenGesamtbildes Werfel ähnlich, menschenbedürftig in der Art eines geborenen Arztes,antizionistisch, Jesus und Dostojewski sind seine Führer � der kam noch nach 9 Uhr aus derHauptvilla herüber, um mir den (kaum nötigen) Wickel anzulegen, seine besondere Freundlichkeitzu mir kommt offenbar von der Wirkung Deines Namens her, den er sehr gut kennt. Bei ihm unddem Kaschauer hat natürlich die Möglichkeit Deines Herkommens großes Aufsehen gemacht.Zu dieser Möglichkeit schrieb ich in dem Prager Brief, daß ich sehr froh wäre, wenn Du kämest,aber nur unter der Voraussetzung, daß Du sonst eine slowakische Reise machst oder aber daß Dufür Deine Erholung, also für längere Zeit, kommen kannst. Sonst aber als besondere Reise. sei esvon Prag aus oder von Brünn oder (Du schienst anzudeuten, daß Du es mit der Berliner Reiseverbinden würdest) etwa von Oderberg oder sonst einem entfernten Ort fahre bitte nicht, das würdemir zuviel Verantwortung auferlegen.Und sei glücklich und froh in Berlin! Schrieb ich etwas Böses über die Dehmel-Briefe, so hat dasgewiß auf Dich keinen Bezug. Eine Frau lieben und unangefochten von Angst sein oder wenigstensder Angst gewachsen und überdies diese Frau als Ehefrau zu haben, ist ein mir derart unmöglichesGlück, daß ich es - klassenkämpferisch - hasse. Auch kenne ich nur die Briefe im Dezemberheft.Und was sollen überhaupt halbleere Befürchtungen gegen die Fülle des Lebens; sie ist in DeinemBuch, sie ist darin, wie sich die Zeiten und die Frauen darin sondern, und am stärksten allerdings inden ersten Gedichten, so mächtig wie im »Kuß« hast Du kaum noch gesprochen; ich fange dasBuch eigentlich erst zu lesen an, mit klareren Augen, dem ersten schönen Tag seit Wochen unddem ersten Tag außerhalb des Betts, den ich jetzt beginne.Solltest Du kommen, könntest Du nicht eines der kabbalistischen Werke, ich nehme an, daß eshebräisch ist, mitbringen?

Dein F

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An Max Brod(Matliary, Anfang März 1921)

Liebster Max,ich sehe, es wird kein Brief mehr, nun ich komme ja in 2 Wochen, ich kann dann vielleicht an derHand Deines Briefes mündlich antworten. Als ich diesen Brief bekam, der mir in manchem sehr naheging, habe ich ihn in Gedanken förmlichin einem Ausbruch beantwortet, aber zum Schreiben kam es nicht, ein paar Briefe lagen da, die zubeantworten waren (sie sind es noch heute nicht), der Budapester, von dem ich letzthin schrieb,nahm mich eine Zeitlang fast vollständig in Anspruch, vor allem aber steigerte sich die Müdigkeit,ich liege stundenlang im Liegestuhl in einem Dämmerzustand, wie ich ihn als Kind an meinenGroßeltern angestaunt habe. Es geht mir nicht gut, zwar der Arzt behauptet, die Sache in der Lungesei um die Hälfte zurückgegangen, ich würde aber sagen, es sei weit mehr als doppelt so schlecht,niemals noch hatte ich solchen Husten, niemals solche Atemnot, niemals eine solche Schwäche. Ichleugne nicht, daß es in Prag noch viel schlechter geworden wäre; wenn ich aber bedenke, daß dieäußern Umstände, von verschiedenen Störungen abgesehn, diesmal günstig genug waren, so weißich überhaupt nicht, auf welche Weise es irgendwie noch sich bessern könnte.Aber es ist dumm und eitel, so zu reden und es so wichtig zu nehmen. Wenn man mitten in einemkleinen Hustenanfall ist, kann man nicht anders als es äußerst wichtig nennen; wenn er abernachgelassen hat, kann man anders und soll es. Wenn es dunkel wird, wird man noch eine Kerzeanzünden, und wenn sie niedergebrannt ist, wird man still im Finstern sein. Eben weil im Hause desVaters viele Wohnungen sind, soll man keinen Lärm machen.Ich bin schon froh, daß ich von hier fortfahre, vielleicht hätte ich es schon vor einem Monat tunsollen, aber ich bin so schwer beweglich und habe hier von den verschiedensten Leuten so vielunbegreifliche Freundlichkeit erfahren, daß ich, wenn mein Urlaub noch länger dauern würde, nochlänger hier bliebe, gar in dem jetzt endlich schön werdenden Wetter. In der Liegehalle im Waldkonnte ich schon einigemal mit nacktem Oberkörper liegen und auf meinem Balkon einmal schonganz nackt.Durch das Obige könntest Du zu dem Glauben kommen, daß ich die Kur nicht ernst nehme. ImGegenteil, ich nehme sie wütend ernst, ich esse sogar Fleisch, mit noch größerem Widerwillen alsanderes, es war ein Fehler, daß ich bisher nicht unter Lungenkranken gelebt und der Krankheiteigentlich noch nicht in ihre Augen geschaut habe, erst hier habe ich das getan. Aber die letzteGelegenheit, ein wenig gesund zu werden, war wahrscheinlich in Meran gegeben. - Nun aberendgiltig genug davon, ich schreibe es auf, um in Prag nicht mehr davon reden zu müssen.Du schreibst von Salomo Molcho, als hätte ich schon jemals von ihm gehört. Ich habe doch vielversäumt in dem Vierteljahr.Auf Wiedersehn!

FranzDas Wickersdorfer Rundschreiben kommt gut zum Thema. Den Essig-Brief hatte ich schon vorherzufällig in einer Zeitung gelesen und Dir ihn als Beispiel besonderer Abscheulichkeit schickenwollen »die Äugchen, die so lieb im Herzen kitzeln«. Natürlich ist im Grunde nichts abscheulichdaran, als daß der Brief jetzt veröffentlicht wird und weiters, daß den Briefschreiber schon dieWürmer aufgefressen haben.

An Max Brod(Matliary, Anfang März 1921)

Liebster Max,hoffentlich bekommst Du diesen Brief gleichzeitig mit meinem gestrigen. Der gestrige gilt nicht,ich schrieb auch gar nicht, unter was für Voraussetzungen er geschrieben war. Ich lag auf meinemKanapee, hingeschlagen von der Anstrengung des Essens, eine quälende Appetitlosigkeit läßt mir

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den Schweiß im Gesicht ausbrechen, wenn ich den Schrecken des gefüllten Tellers vor mir sehe,dabei esse ich seit 14 Tagen viel Fleisch, weil ein weniger fälliger Koch die mir zugetane Köchinersetzt hat, dieses Fleisch wieder hat die Hämorrhoiden geweckt und ich hatte starke Schmerzen beiTag und Nacht - nun so schrieb ich den Brief. Aber richtig ist er nicht gewesen. Denn wenn mirauch der Husten stärker, die Atemnot manchmal schwerer scheint, so steht doch dem gegenüberauch Positives: der Befund des Arztes, die jetzt allerdings stockende Gewichtszunahme und diegünstige Temperatur. Nun wir werden uns ja bald sehn. Solche Übertreibungen zu schreiben! Werführt einem die Hand?

Dein F

An Max Brod(Matliary, Mitte März 1921)

Liebster Max, eine Bitte um einen sehr großen Dienst, der übrigens gleich getan werden müßte. Ichwill noch hier bleiben, nicht gerade hier, aber in der Tatra, im Sanatorium Dr. Guhr in Poliankawahrscheinlich, das man mir lobt, das allerdings auch viel teuerer ist als Matliary.Ich will bleiben aus folgenden Gründen:1. Zunächst droht mir der Doktor hier mit der Möglichkeit vollständigen Zusammenbruchs, wennich jetzt nach Prag fahre, und verspricht mir, wenn ich bis zum Herbst bleibe, annäherndeGesundung, so daß dann jährlich 6 Wochen See oder Gebirge genügen, um mich zu halten. BeideProphezeiungen, die zweite mehr als die erste, sind übertrieben, immerhin, er quält mich jedenMorgen damit, väterlich, freundschaftlich, auf alle Arten. und wenn ich auch weiß, daß seineProphezeiungen in jeder Hinsicht viel weniger großartig wären, wenn er wüßte, daß ich nachPolianka übersiedeln will, so macht es doch Eindruck auf mich. 2. Von zuhause bitten mich alle zu bleiben, mit mehr Grund, als sie selbst wissen. Ich glaube,seitdem ich hier unter Lungenkranken lebe, fest daran, daß es zwar keine Ansteckungsmöglichkeitfür gesunde Menschen gibt, das sind aber nur etwa Holzhacker im Walde oder die Mädchen in derhiesigen Küche (die mit den blossen Händen die Speisereste von den Tellern solcher Krankerwegessen, denen nur gegenüberzusitzen ich mich scheue), aber wohl kein einziger aus unserenKreisen in der Stadt. Was für eine Widerlichkeit z.B. einem Kehlkopfkranken (Blutsverwandter derLungenkranken, der traurigere Bruder) gegenüberzusitzen, der freundlich-harmlos Dirgegenübersitzt, mit den verklärten Augen der Lungenkranken Dich ansieht und Dir dabei zwischenseinen gespreizten Fingern Eiterteilchen seiner tuberkulösen Geschwüre ins Gesicht hustet. Nichtganz so schlimm, aber ähnlich würde ich zuhause sitzen, als »guter Onkel« zwischen den Kindern.3. Vielleicht würde ich Frühjahr und Sommer in Prag ganz gut überstehn, wenigstens riet mir Dr.Kral brieflich, zu kommen, jetzt scheint er den Eltern gegenüber diesen Rat wiederzurückgenommen zu haben (diese Schwankungen erklären sich durch die Schwankungen meinerSchreibweise), aber richtiger wäre es doch vielleicht, auf einmal etwas halbwegs Entscheidendes zutun, wenn es, wie dieser Doktor behauptet, wirklich sich bessert. Und wo könnte ich in der warmenZeit besser untergebracht sein als im Hochgebirge (Polianka ist über 1100 m hoch). Ich wüßte, woich besser untergebracht wäre; in einem Dorfe mit einer leichten Arbeit, aber das Dorf kenne ichnicht.4. Das Entscheidende ist aber mein subjektiver Zustand, der ist - natürlich gibt es noch unendlichviel Verschlechterungsmöglichkeiten - nicht gut, Husten und Atemnot sind stärker als sie jemalswaren, mitten im Winter - es war ein schwerer Winter, nicht was Kälte anlangt, aber unaufhörlichewilde Schneestürme - war die Atemnot manchmal fast verzweifelt, jetzt bei schönem Wetter ist esnatürlich besser. Ich sage mir nun: entweder hat mein subjektives Befinden Recht, dann ist esgleichgültig, was mit meinem Posten geschieht, - nein hier irre ich ab, dann ist es erst recht nichtgleichgültig, was mit dem Posten geschieht, dann brauche ich ihn ganz besonders, aber wenn ichannähernd gesund werde, brauche ich ihn weniger.

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Mein Urlaub geht am 20ten März zuende, zu lange habe ich überlegt, was ich tun soll, aus lauterÄngstlichkeit und Bedenken habe ich bis jetzt, zu den letzten Tagen gewartet, wo die Bitte umUrlaubsverlängerung fast nur unanständige Erpressung wird. Denn der eigentliche Gang der Sachehätte der sein müssen, daß ich zuerst den Direktor über seine Meinung gefragt, dann entsprechendder Antwort ein Gesuch gemacht hätte, dann dieses Gesuch dem Verwaltungsausschuß vorgelegtworden wäre u.s.f. Zu dem allen ist es nun natürlich viel zu spät, schriftlich kann nichts mehrgemacht werden, das Erpresserische kann nur durch eine mündliche Bitte gemildert werden, ichkönnte also nach Prag fahren, aber soll ich die Zeit verfahren? Dann könnte ich Ottla bittenhinzugehn, aber soll ich sie in ihrem Zustand darum bitten? Auch will ich ihr das ganze nicht soausführlich erklären wie Dir. Bleibst also nur Du, Max, dem ich die Last auflege. Die Bitte ist, daßDu so bald als möglich zu meinem Direktor, Dr. Odstrèil gehst mit dem ärztlichen Zeugnis, das ichbeilege (ich bekomme es erst nachmittag, hoffentlich wird es so, wie wir es besprochen haben), ambesten wird es wohl sein, gegen 11 Uhr vormittag hinzugehn; was zu sagen ist, weißt Du natürlichviel besser als ich, ich will nur sagen, wie ich es mir denke. etwa:Ich bin zweifellos fähig ins Bureau zu gehn (zur Seite gesprochen: auch fähig für die Arbeit (!), dieich dort habe), aber das war ich auch, ehe ich herfuhr, ebenso zweifellos ist aber, daß ich im Herbstwieder wegfahren müßte, und wieder in ein wenig schlechterem Zustand als im letzten Herbst. DerArzt verspricht mir nun dauernde Arbeitsfähigkeit, wenn ich 4-6 Monate bleibe, ich bitte also umeinen weiteren Urlaub, zunächst etwa um 2 Monate, nach denen ich wieder ein detailliertesärztliches Gutachten einschicken werde. Ich bitte um diesen Urlaub, wie er mir auch gegebenwerden mag, mit ganzem, dreiviertel, halbem Gehalt, nur ganz gehaltlos soll man mich nicht lassen,auch mit der Pensionierung noch zuwarten. übrigens kann man dieses 1/2 Jahr auch aus derVorrückung und der Pensionierung streichen. Eine gewisse derartige eingeschränkteUrlaubsbewilligung wäre mir sogar eine Erleichterung, denn ich bin mir übergut dessen bewußt,was ich an Urlauben schon von der Anstalt bekommen habe. Die Art, wie ich jetzt um den Urlaubbitte, ist gewiß unpassend und nur damit zu entschuldigen, daß ich bis jetzt mich mit Bedenkenherumgeschlagen und darum auch erst jetzt ausführlicher mit dem Doktor gesprochen habe. Ichweiß auch, daß zuerst ein Gesuch eingebracht werden muß u.s.w., aber vielleicht wäre es möglich,mich das Gesuch nachträglich einbringen zu lassen und, vorausgesetzt, daß mit einer Bewilligungsicher gerechnet werden kann, mich hier zu lassen, ohne daß ich am 20. den Dienst antreten muß.Ist das aber nicht möglich, könnte ich ja immerhin für einige Zeit nach Prag kommen.Das also wäre etwa zu sagen und dann müßtest Du, Max, mir telegraphieren »Bleib dort« oder»Komm her«.Nun noch einiges über den Direktor. Er ist ein sehr guter freundlicher Mensch, besonders zu mirwar er außerordentlich gut, allerdings haben dabei auch politische Gründe mitgespielt, denn erkonnte den Deutschen gegenüber sagen, er habe einen der ihrigen außerordentlich gut behandelt,aber im Grunde war es doch nur ein Jude.Über die Gehaltsfrage sprich bitte nicht nachlässig, auch Reichtum meines Vaters erwähne nicht,denn erstens besteht er wahrscheinlich nicht und zweitens gewiß nicht für mich.Die Unkorrektheit meines Vorgehens betone, denn an Korrektheit, an Wahrung seiner Autorität istihm viel gelegen.Das Gespräch wird sicher ins Allgemeine abgelenkt werden, und zwar von ihm, gar da Du es bist,der kommt. Da könntest Du vielleicht - nicht um ihn zu bestechen, daran liegt mir nichts - aber umihm eine Freude zu machen, denn ich fühle mich ihm wirklich sehr verpflichtet, flüchtig erwähnen,daß ich öfters von seiner geradezu schöpferischen Sprachkraft gesprochen und erst durch ihn dasgesprochene lebendige Tschechisch bewundern gelernt habe. Vielleicht wirst Du nicht viel davonmerken, es hat sich diese Kraft in seiner Rede, seitdem er Direktor ist, fast verloren, derBureaukratismus läßt sie dort nicht mehr aufkommen, er muß zu viel sprechen. Übrigens ist er

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soziologischer Schriftsteller und Professor, aber davon mußt Du nicht wissen. - Du kannst natürlichsprechen wie Du willst, deutsch oder tschechisch.Das wäre also die Aufgabe. Wenn ich daran denke, daß ich zu Deiner vielen Arbeit noch derartigeshinzufüge, habe ich mich - glaube mir - nicht sehr gern, aber man ist von Bedenken eingekreist,irgendwo muß man durchbrechen und Du, Max, mußt leiden. Verzeih mir

DeinNoch etwas: es wäre nicht unmöglich, daß Ottla aus eigenem etwas ähnliches eingeleitet hat, dannwäre es gut, vorher bei uns nachzufragen.Vielleicht scheint es Dir, daß ich dem Bureau gegenüber zu ängstlich bin. Nein. Bedenke, daß dasBureau an meiner Krankheit ganz unschuldig ist, ferner daß es nicht nur unter meiner Krankheit,sondern schon unter ihrer 5jährigen Entwicklung gelitten hat, ja daß es sogar noch eher mich,aufrechtgehalten hat, als ich bewußtlos durch die Tage nur taumelte.Wenn ich hierbleiben sollte, dann sehe ich Dich also doch vielleicht hier, das wäre schön.Grüße vielmals Deine Frau und Felix und die seine und Oskar und die seine.

An M. E.(Matliary, Ende März 1921)

Liebe Minze,zunächst und allererst, was ist das für ein »zartes Fieber«, mit dem Sie täglich aufwachen? Ist eswirkliches Fieber, mit dem Thermometer gemessen? Und in Ahlem war doch wohl ein Schularzt,haben Sie mit ihm gesprochen? Und mit dem Arzt in Barth? Ich weiß nicht, ohne weiter zu Fragen,hatte ich seit jenem Bildchen mit dem Mistkarren ein großes Vertrauen zu Ihrer Gesundheit, sokräftig waren Sie dort, so viel gesünder als in Schelesen und auch in Schelesen waren Sie doch imGanzen gesund; wie schnaufte ich hinter Ihren langen Schritten her - schienen Sie dort. Und jetztzartes Fieber? Aber es gibt kein zartes Fieber, es gibt nur abscheuliches Fieber. »Je eher undschöner das Leben vergeuden, desto besser« schreiben Sie. Mag es so sein, wenn Sie wollen. Aberglauben Sie mir, mit Fieber wird das Leben nicht »schön« vergeudet, ja nicht einmal »eher«. Ichbin hier nicht in einem eigentlichen Sanatorium, in einem Sanatorium mag der Eindruck noch vielstärker sein, aber auch hier sehe ich, wenn ich mich umschaue, nichts von schöner und schnellerVergeudung, man vergeudet nicht, man wird vergeudet. Und dagegen kann man sich mit Ihrerfrischen Jugend wunderbar wehren und das müssen Sie. Vorausgesetzt, daß überhaupt ein Angriffvorliegt, was ich nicht weiß und gern nicht glauben will. Aber wenn wirkliches Fieber da ist,regelmäßig 37° oder darüber, mit dem Thermometer im Mund gemessen, dann müssen Sie sofortzum Arzt, das ist doch selbstverständlich. Dann fort mit Robinson, vorläufig wenigstens, auchRobinson wurde, als er einmal Fieber hatte, von einem Schiff abgeholt und erst als er wiederzuhause gesund geworden war, durfte er wieder wegfahren und wieder Robinson werden. In seinemBuch hat er dann dieses Kapitel gestrichen, weil er sich geschämt hat, aber um seine Gesundheitwar er jedenfalls sehr besorgt, und was der große Robinson durfte, wird wohl auch die kleineMinze dürfen.Sonst haben Sie, Minze, Recht, daß ich übertreibe, wenn ich Ihr jetziges Leben gar so schön finde,aber es geht nicht anders. Der Philosoph Schopenhauer hat zu dieser Frage irgendwo eineBemerkung gemacht, die ich hier nur sehr beiläufig wiedergeben kann, etwa so: »Diejenigen,welche das Leben schön finden, haben es scheinbar sehr leicht zu beweisen, sie brauchen nichtsweiter zu tun, als die Welt etwa von einem Balkon aus zu zeigen. Wie es auch sein mag, an hellenoder trüben Tagen, immer wird die Welt, das Leben schön sein, die Gegend, ob mannigfaltig odereinförmig, immer wird sie schön sein, das Leben des Volkes. der Familien, des Einzelnen, ob esleicht oder schwer ist, immer wird es merkwürdig und schön sein. Aber was ist damit bewiesen?Doch nichts anderes, als daß die Welt, wenn sie nichts weiter wäre als ein Guckkasten, wirklichunendlich schön wäre, aber leider ist sie das nicht, sondern dieses schöne Leben in der schönen

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Welt will auch wirklich durchgelebt werden in jeder Einzelheit jedes Augenblicks und das ist danngar nicht mehr schön, sondern nichts als Mühsal«. So etwa Schopenhauer. Auf Ihren Fallangewendet, würde das heißen: Es ist zwar schön und merkwürdig und hat einen Schein vonGroßartigkeit, daß Minze dort im kalten Norden ihr Brot selbst verdient und am Abend desschweren Tages in Pferdedecken eingewickelt auf dem Strohsack liegt und Lisl nebenan schläftschon und draußen schneit es und es ist naß und kalt und morgen kommt wieder ein schwerer Tag -das alles ist schön vom Balkon einer Tatra-Villa aus, aber am Abend mit dem Blick in diePetroleumlampe neben sich ist es gar nicht mehr schön und fast ein wenig zum Weinenso ähnlich wollte ich damals weiter schreiben, aber dann wurde ich unterbrochen, nicht durchSturm und Bettlägerigkeit diesmal, im Gegenteil, es waren jetzt 7 vollkommene Tage mitunaufhörlicher Sonne, mit Nacktliegen im Wald knapp neben tiefem Schnee, mit Ohne-Mantel-Gehn und ein wenig freierem Atmen, aber Menschen haben mich unterbrochen mit ihrem Leid, soals wenn ich helfen könnte. Für solche Dinge gilt diese kleine ewige Geschichte: Grillparzer wurdeeinmal in eine Gesellschaft eingeladen, in der er mit Hebbel zusammenkommen sollte. Grillparzerweigerte sich aber hinzugehn, denn »Hebbel fragt mich immer über Gott aus und ich kann ihmnichts sagen und dann ist er böse«.Inzwischen kam Ihr zweiter Brief, ein wenig fröhlicher, wenn ich nicht irre. Trotz der verletztenHand. (Ja mit den Gartenmessern umzugehn ist nicht leicht, ich habe immer lieber die Bäumeverletzt als mich. Wenn ich mich aber doch geschnitten hatte, tröstete man mich: "Das ungeschickteFleisch muß weg«.) und zum Doktor gehn Sie; der sieht doch wohl nicht bloß die Hand an. 51 kg,wenig, wenig.Was die Ostseebäder anlangt, gewiß, sie sind schön, ich kenne flüchtig nur eines im äußerstenWesten: Travemünde, dort bin ich einen heißen Tag lang traurig und unentschlossenherumgewandert in dem Gedränge der Badenden, es war etwa einen Monat vor Kriegsausbruch -aber jetzt hinzufahren, Minze, das wäre doch, von allem andern abgesehn, ganz gegen unsereVerabredung, laut der wir einander doch niemals wiedersehen wollten. Wobei allerdings das»niemals« ebenso übertrieben ist, wie Ihr Robinsontraum. Ich wünsche Ihnen zwar auch einengroßen Garten und blauen Himmel und Süden

Liebe Minze, wieviel Tage sind seit dem Vorigen vergangen, ich kann sie gar nicht zählen, und wasseither geschehen ist, ich kann es gar nicht sagen. Wahrscheinlich gar nichts, ich kann mich z.B.nicht erinnern, in der ganzen Zeit ein eigentliches Buch gelesen zu haben, dagegen dürfte ich oft ineinem vollständigen Dämmerzustand gelegen haben, ähnlich dem, wie ich ihn als Kind an meinenGroßeltern angestaunt habe. Die Tage vergingen dabei, von mir unbeachtet, sehr schnell, zumSchreiben war keine Zeit, die Karte an die Eltern mußte ich mir abzwingen und Ihnen, Minze, zuschreiben, war mir so, wie wenn ich mich anstrengen solle, Ihnen über ganz Deutschland hinwegdie Hand entgegenzustrecken, was doch auch unmöglich ist.Das Ergebnis der Zeit ist übrigens für mich, daß ich, während ich schon am 20. März in Prag seinwollte, noch länger hier bleibe. Der Doktor hier droht mir mit allem Bösen, wenn ich fahre, undverspricht mir alles Gute, wenn ich bleibe, so bleibe ich also noch einige Zeit. Aber lieber als hierauf dem Balkon oder in der Waldliegehalle zu liegen (die Wälder sind noch durch Schneeversperrt), würde ich irgendwo in einem Garten arbeiten »im Schweiße des Angesichtes«, denndazu sind wir bestimmt, das fühlt im Grunde jeder, der es nicht tut. Sie tun es, wohl Ihnen! Es istwahrscheinlich in vielem nicht schön, wie sollte es das auch sein, es ist doch die Erfüllung einesFluches, aber dem Fluch ausweichen ist noch viel schlimmer.Hoffentlich scheint über Ihrer Arbeit die Sonne so wunderbar, wie über meinem Liegen (seit 2Tagen kann ich nachmittag nackt auf meinem Balkon liegen, ganz nackt wie ein Kind unter denAugen einer unsichtbaren großen Mutter) und die Ostseebäder sind schön, gewiß, aber sehen willich Sie erst in Ihrem eigenen Garten (mag er im Süden sein an einem See, ich werde die Reise zumGardasee oder zum Lago maggiore nicht scheuen), mit Ihrem Mann und Kindern, eine ganze Reihe

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lang, um wieviel schöner ist das als die schönsten Wolfshunde. Übrigens, warum muß es eineuropäischer See sein, auch der Kinereth- oder der Tiberias-See sind schön. Die beiliegendenAusschnitte - ihrer Bedeutung entsprechend zerlesen - handeln ein wenig davon.Das kleine Buch von Fontane hat Sie vielleicht hinsichtlich des Ostseelebens enttäuscht, auch mußman vielleicht Fontane auch sonst kennen, um diese Erinnerungen gut zu verstehn, besonders seineBriefe, vor allem aber weiß ich nicht genau, wo ich dieses eigentliche Ostseeleben gefunden habe,in diesen Erinnerungen oder in einem Roman von ihm, überdies weiß ich den Titel dieses Romansnicht bestimmt, »Cecile« oder »Unwiederbringlich« oder anders, ich weiß nicht, ich könnte das erstin Prag feststellen.Im April Geburtstag? Aber Sie sind doch gar nicht wetterwendisch, wie kamen Sie in den Aprilhinein? Den wievielten?Den Vertrag lege ich bei, er klingt klug und nicht so grausam wie ich fürchtete.Und nun will ich bald etwas über das Fieber hören.

Ihr Kafka

An Max Brod(Postkarte. Matliary, Stempel: 31.III.1921)

Lieber Max, mir war nicht ganz gut und ist noch immer nicht gut, die Verdauung. Entweder kommtes vom Fleischessen oder von noch anderem, das wird sich erst in ein paar Tagen zeigen, dannschreibe ich Dir ausführlich. Du hast mir allerdings geschrieben, aber immer nur von mir, nichtsvon Dir, von Deinem Amt, den Reisen, von Leipzig, von Felix und Oskar. In ein paar Tagen alsoschreibe ich. Leb wohl

Dein FranzGrüß bitte Deine Frau von mir; wie lange ich schon von Prag fort bin, fällt mir dabei ein.

An Max Brod(Matliary, Mitte April 1921)

Liebster Max, wie könnte Dir jetzt die Novelle nicht gelingen, da Du die Ruhe hast um dieSpannung zu ertragen und die Novelle geboren werden muß als ein gutes Kind des Lebens selbst.Und wie verständig ordnet sich Dir alles an, auch im Amt. Im früheren Amt warst Du ein faulerBeamter, denn Deine Arbeit außerhalb des Amtes galt nicht, konnte höchstens geduldet undverziehen werden, diesmal aber ist sie die Hauptsache, gibt erst dem, was Du im Amt arbeitest, deneigentlichen, keinem andern Beamten erreichbaren Wert, so daß Du immer auch im Amtssinne sehrfleißig bist, selbst wenn Du dort gar nichts tust. Und schließlich und vor allem, wie Du, wirklichmit mächtiger Hand Deine Ehe führst und Leipzig daneben und hindurch und Dich in beiden,überzeugt durch die Kraft der Wirklichkeit, auch wenn man es nicht begreift. Alles Gute aufDeinen schweren, hohen, stolzen Weg!Ich? Wenn sie so aneinandergereiht sind, die Nachrichten über Dich, Felix und Oskar, und ich michdamit vergleiche, so scheint es mir, daß ich umherirre wie ein Kind in den Wäldern desMannesalters.Wieder sind Tage vergangen in Müdigkeit, im Nichtstun, im Anschauen der Wolken, auch inÄrgerem. Es ist wirklich so, alle seid Ihr in den männlichen Stand aufgerückt. Unmerklich, dieEheschließung entscheidet hier nicht einmal, es gibt vielleicht Lebensschicksale mit historischerEntwicklung und solche ohne sie. Manchmal stelle ich mir zum Spiel einen anonymen Griechenvor, der nach Troja kommt, ohne daß er jemals dorthin wollte. Er hat sich dort noch nichtumgesehn, ist er schon im Getümmel, die Götter selbst wissen noch gar nicht, um was es geht, eraber hängt schon an einem trojanischen Streitwagen und wird um die Stadt geschleift, Homer hatnoch lange nicht zu singen angefangen, er aber liegt schon mit glasigen Augen da, wenn nicht im

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trojanischen Staub so in den Polstern des Liegestuhles. Und warum? Hekuba ist ihm natürlichnichts, aber auch Helena ist nicht entscheidend; so wie die andern Griechen, von Göttern gerufen,ausgefahren sind und, von Göttern beschützt, gekämpft haben, ist er infolge eines väterlichenFußtritts ausgefahren und unter väterlichem Fluch hat er gekämpft; ein Glück, daß es noch andereGriechen gegeben hat, die Weltgeschichte wäre eingeschränkt geblieben auf zwei Zimmer derelterlichen Wohnung und die Türschwelle zwischen ihnen.Die Krankheit, von der ich schrieb, war ein Darmkatarrh, so außerordentlich wie ich ihn noch niegehabt habe, ich war überzeugt, es sei Darmtuberkulose (was Darmtuberkulose ist, weiß ich, ichhabe zugesehn, wie der Cousin von Felix daran gestorben ist); an einem Tage hatte ich an 40°Fieber, es ist aber, glaube ich, ohne Schaden vorübergegangen, auch der Gewichtsverlust wirdgutzumachen sein. Nebenbei: der gefolterte Mann, von dem ich einmal schrieb, hat ein Endegemacht, offenbar halb absichtlich, halb zufällig ist er im fahrenden Schnellzug zwischen 2Waggons hinuntergefallen, zwischen die Puffer. Übrigens ist er schon fast besinnungslos von hierfortgegangen, früh morgens, wie zu einem kleinen Spaziergang, ohne Uhr, Brieftasche und Gepäck,hat dann den Spaziergang bis zur Elektrischen ausgedehnt, weiter bis Poprad, weiter in denSchnellzug, alles in der Richtung nach Prag, zum Osterbesuch seiner Familie, aber dann hat er dieRichtung geändert und ist hinuntergesprungen. Wir alle sind hier mitschuldig, nicht an seinemSelbstmord, aber an seiner Verzweiflung in der letzten Zeit, jeder hat sich vor ihm, einem sehrgeselligen Menschen, gescheut, und in der rücksichtslosesten Weise, lauter Ellbogen-Männer beimSchiffsuntergang. Den Arzt, die Krankenschwester und das Stubenmädchen nehme ich aus, indieser Hinsicht habe ich große Achtung vor ihnen. Übrigens kam später ein ähnlicher Kranker, erist aber schon weggefahren.In einem zufällig mir in die Hand gekommenen Prager Tagblatt (ein Mährisch-Ostrauer Turist warein paar Tage hier und hat mir, ohne daß wir sonst eigentlich mit einander gesprochen hätten, in derfreundlichsten Weise immerfort Haufen von Zeitungen aufgedrängt, gelesen hat er hier, wie manmir sagte, »Im Kampf um das Judentum«") las ich, daß Haas die Jarmila geheiratet hat, michüberrascht es nicht, ich traute Haas immer Großes zu, aber die Welt wird es überraschen. Weißt Duetwas Näheres?Du schreibst von einem Ämtchen, das sich vielleicht für mich finden ließe, das ist lieb von Dir undauch sehr behaglich zu lesen, aber ist doch nicht für mich. Hätte ich 3 Wünsche frei, würde ich mirunter Vernachlässigung der dunklen Begierden wünschen: annähernde Gesundung (die Ärzteversprechen sie, aber ich merke nichts von ihr, wie oft ich auch in den letzten Jahren zur Kurhinausgefahren bin, immer war mir weit besser als jetzt nach mehr als 3 Monaten Kur, und was imLaufe der 3 Monate sich gebessert hat, ist gewiß mehr das Wetter als die Lunge, allerdings, das istnicht zu vergessen, meine früher über den ganzen Körper vagierende Hypochondrie sitzt jetztversammelt in der Lunge), dann ein fremdes südliches Land (es muß nicht Palästina sein, im erstenMonat habe ich viel in der Bibel gelesen, auch damit ist es still geworden) und ein kleinesHandwerk. Das heißt doch nicht viel gewünscht, nicht einmal Frau und Kinder sind darunter.

An Max Brod(Matliary, Mitte April 1921)

Liebster Max, gleich wie ich das Buch bekommen habe, habe ich es an diesem Tag zweimal, fastdreimal gelesen. dann gleich weggeborgt, damit es schnell weiter gelesen werde; nachdem ich esbekommen habe, habe ich es zum viertenmal gelesen und jetzt wieder weggeborgt, solche Eile hatteich. Aber es ist verständlich, denn das Buch ist so lebendig und wenn man einige Zeit im dunklenSchatten gestanden ist und solches Leben sieht, drängt man sich hinein. Es ist kein eigentlicherNachruf, es ist eine Hochzeit zwischen euch beiden, lebendig und traurig und zum Verzweifeln wieeben eine Hochzeit ist für die, welche heiraten, und glücklich und zum Augenaufreißen und zumHerzklopfen für die, welche zusehn, und wer könnte zusehn, ohne selbst dabei zu heiraten, und

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liege er auch im allereinsamsten Zimmer. Und dieses Lebendige steigert sich noch dadurch. daß nurDu davon berichtest, der überlebende Starke, und dies so zart tust, daß Du den Toten nichtübertönst, sondern er mitsprechen und sich hörbar machen kann mit seiner tonlosen Stimme undsogar die Hand Dir auf den Mund legen kann, um Deine Stimme, wo es in seinem Sinne nötig ist,zu dämpfen. Wunderbar ist das, und trotzdem ist, wenn man will - so gibt sich das Buch demWillen des Lesers hin, so sehr gibt es ihm Willensfreiheit bei aller innern Kraft - doch wieder nurder Lebende, der Sprecher in aller Riesenhaftigkeit, die Leben gegenüber dem Tode hat für dieLebenden, es steht da wie ein Grabmal, aber zugleich wie die Säule des Lebens und amunmittelbarsten ergreifen mich Stellen, die wahrscheinlich für Dich unwesentlich sind, etwa wiediese: »War nun ich verrückt oder war er es?« Hier steht der Mann, der Treue, der Unveränderliche,das immer offene Auge, die nicht versiegende Quelle, der Mann, der - ich drücke es paradox aus,meine es aber geradewegs - das Begreifliche nicht begreifen kann.Das war gestern, ich .wollte noch einiges sagen, heute aber kam ein Brief von M. Ich soll Dir nichtsvon ihm sagen, denn sie habe Dir versprochen, mir nicht zu schreiben. Ich schicke das voraus, unddamit ist es ja in Beziehung auf M. so, wie wenn ich Dir nichts gesagt hätte; das weiß ich. Was fürein Glück, Max, Dich zu haben.Ich muß Dir aber von dem Brief schreiben aus folgendem Grunde. M. schreibt, daß sie krank ist,lungenkrank, das war sie ja schon früher, kurz ehe wir zusammenkamen, aber damals war es leicht,ganz unwesentlich, in dieser scheuen Art, mit der die Krankheit manchmal kommt. Jetzt soll esschwerer sein, nun, sie ist stark, ihr Leben ist stark, meine Phantasie reicht nicht aus, M. krank mirvorzustellen. Auch hattest Du ja andere Nachrichten über sie. Immerhin, sie hat ihrem Vatergeschrieben, er war freundlich, sie kommt nach Prag, wird bei ihm wohnen und später nach Italienfahren (einen Vorschlag des Vaters, nach der Tatra zu fahren, hat sie abgelehnt, aber jetzt in derMitte des Frühjahrs nach Italien?). Daß sie bei ihrem Vater wohnen wird, ist sehr merkwürdig;wenn sie so versöhnt sind, wo bleibt ihr Mann?Aber wegen dem allen würde ich Dir davon nicht schreiben, es handelt sich natürlich nur um mich,Es handelt sich darum, daß Du mich von M's Aufenthalt in Prag (von dem Du ja wohl erfahrenwirst) und von seiner Dauer verständigst, damit ich nicht etwa um diese Zeit nach Prag komme,und daß Du mich verständigst, wenn M. doch vielleicht in die Tatra fahren sollte, damit ichrechtzeitig von hier fortfahre. Denn eine Zusammenkunft, das würde nicht mehr bedeuten, daß sichdie Verzweiflung die Haare rauft, sondern daß sie sich Striemen kratzt in Schädel und Gehirn.Du sollst aber, wenn Du mir diese Bitte erfüllst, nicht dabei wieder sagen, daß Du mich nichtverstehst. Schon vor längerer Zeit wollte ich Dir darüber schreiben, war zu müde, habe es wohlauch schon öfters angedeutet, es wird Dir nichts Neues sein, aber grob habe ich es noch nichtherausgesagt. Es ist auch an sich nichts Besonderes, eine Deiner frühesten Geschichten beschäftigtsich damit, allerdings freundlich, es ist eine Erkrankung des Instinkts, eine Blüte der Zeit, es gibt jenach der Lebenskraft Möglichkeiten, sich damit irgendwie abzufinden, ich finde entsprechendmeiner Lebenskraft keine Möglichkeit oder doch die Möglichkeit mich zu flüchten, allerdings ineinem Zustand, der es dem Außenstehenden (übrigens noch mehr mir selbst) unverständlich macht,was hier noch gerettet werden soll, aber man läuft ja nicht immer, um sich zu retten, auch dieAsche, die der Wind aus dem Brandhaufen fortbläst, fliegt nicht weg, um sich zu retten.Ich rede nicht von den glücklichen, in dieser Hinsicht glücklichen Zeiten der Kindheit, als die Türnoch geschlossen war, hinter der das Gericht beriet (der alle Türen füllende Geschworenen-Vaterist seitdem längst hervorgetreten), später aber war es so, daß der Körper jedes zweiten Mädchensmich lockte, der Körper jenes Mädchens, in das ich (deshalb?) meine Hoffnung setzte. gar nicht.Solange sie sich mir entzog (F) oder solange wir eines waren (M), war es nur eine Drohung vonferne und nicht einmal gar so ferne, sobald aber irgendeine Kleinigkeit geschah, brach alleszusammen. Ich kann offenbar, meiner Würde wegen, meines Hochmuts wegen (auch wenn er nochso demütig aussieht, der krumme Westjude!) nur das lieben, was ich so hoch über mich stellenkann, daß es mir unerreichbar wird.

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Das ist wohl der Kern des Ganzen, des allerdings ungeheuer angewachsenen Ganzen bis zu der»Todesangst« hin. Und es ist nicht alles nur Überbau dieses Kernes, sondern auch Unterbau gewiß.In diesem Zusammenbruch war es dann aber schrecklich, davon kann ich nicht reden. Nur eines: imHotel Imperial hast Du Dich getäuscht; was Du für Begeisterung hieltest, war Zähneklappern.Glück waren nur die der Nacht entrissenen Bruchstücke von vier Tagen, die förmlich unangreifbarim Kasten schon eingesperrt waren, Glück war das Stöhnen nach dieser Leistung.

Und nun habe ich hier wieder ihren Brief in dem nichts verlangt wird als eine einmalige Nachricht,auf die keine Antwort erfolgen soll, einen schläfenzermarternden Nachmittag hinter mir, eine Nachtvor mir, mehr aber wird es nicht werden. Sie ist mir unerreichbar, damit muß ich mich abfinden,und meine Kräfte sind in einem solchen Zustand, daß sie es jubelnd tun. So kommt zu dem Leidnoch die Schande, es ist etwa so wie wenn Napoleon zu dem Dämon, der ihn nach Rußland rief,gesagt hätte: »Ich kann jetzt nicht, ich muß noch die Abendmilch trinken« und wenn er dann, alsder Dämon noch fragte. »Wird denn das lange dauern?« gesagt hätte: »Ja, ich muß sie fletschern.«Jetzt also verstehst Du es?

An Max Brod(Matliary, April 1921)

Lieber Max, solltest Du meinen letzten Brief (über Schreiber und über M.) nicht bekommen haben?Es wäre möglich, daß er falsch adressiert war. Leid täte es mir, wenn ihn ein Fremder in die Handbekommen hätte.Vielen Dank für das Feuilleton, das Pariser Tagebuchblatt. Du weißt nicht was für Freude Du mirdamit machst, sonst würdest Du mir alles schicken, was von Dir erscheint. Nicht einmal was in derSelbstwehr erscheint, erfahre ich vollständig, von dem Kuh-Aufsatz z.B. (ein wenig wild, ein wenigin hohen Tönen, ein wenig eilig, aber eine solche Freude zu lesen) kenne ich nur den zweiten Teil.Und solche Kritiken wie über Racine schreibst Du öfters? (Hübsch übrigens, wie Du in der erstenSpalte einschläfst und in der letzten beim Aufwachen Dich ärgerst, daß so wenig Publikum da ist.Merkwürdig auch, wie Du mit einer Art Verzweiflung, aber glücklich darüber, daß Du lebst, aufdiesem alten Grab den Zweck von Racine suchst, was doch unmöglich ist, denn damit gerät man inalle Windrichtungen zugleich, wenn man nicht eben zur Seite tritt und so schön phantasiert, wie Dudort.)Dank auch dafür, was Du über den Mediziner sagst, er verdient es, allerdings vielleicht wird erdoch noch länger außerhalb der Stadt bleiben müssen, als bis zum Herbst, dabei sieht man ihm vonseiner Krankheit gar nichts an, ein großer, starker, breiter, rotwangiger, blonder Mensch, im Kleidist er fast zu stark, hat gar keine Beschwerden, hustet nicht, hat nur manchmal erhöhte Temperatur.Nachdem ich ihn äußerlich ein wenig vorgestellt habe (im Bett, im Hemd, mit zerrauftem Haar, miteinem Jungengesicht wie aus Hoffmanns Kindererzählungs-Kupferstichen und dabei ernst undangespannt und doch auch in Träumen so ist er geradezu schön), ihn also vorgestellt habe, bitte ichfür ihn um zweierlei. Das erste kannst Du wohl ohne viel Mühe aus Deiner Erfahrung beantworten.Auf was kann er in Prag, was Unterstützung oder Lebenserleichterung anlangt, hoffen? Er hat zweiEmpfehlungen, eine verschlossene von einem Budapester Rabbiner an den Rabbiner Schwarzgerichtete und eine sehr gute von der Budapester Kultusgemeinde an die Prager, mit dem Anhangeiner besonders herzlichen eines Rabbiners Edelstein, dessen Schüler er war. Nur fürchte ichfreilich, solche Empfehlungen hat jeder Ausländer, der nach Prag kommt. Dann: Würde es für seineZulassung zur Universität und sein sonstiges Leben eine wesentliche Erleichterung bedeuten, wenner die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft erwerben würde? (Das könnte er vielleicht, er hateinen unverfänglichen Namen: Klopstock und sein - längst gestorbener - Vater stammte aus derSlowakei.)�

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Du fragst nach meiner Gesundheit. Die Temperaturen sind günstig, Fieber ist äußerst selten, selbst36,9 ist bei weitem nicht täglich, und das alles im Mund gemessen, wo es zwei bis drei Zehntelwärmer ist als in der Achselhöhle; wären nicht zu viel Schwankungen, könnte man sie fast normalnennen, freilich liege ich ja meistens. Husten, Auswurf, Atemnot sind schwächer geworden. aberschwächer genau seitdem das Wetter besser geworden ist, also eher eine Wetter- alsLungenverbesserung. Zugenommen habe ich etwa 6 1/2 kg. Ärgerlich ist, daß ich nicht zwei Tagehinterteinander, selbst abgesehen von der Lunge und der Hypochondrie, vollständig gesund bin.Deine Ratschläge mißachte ich durchaus nicht. Aber die Lokopansalbe ist hier unbekannt, diehübsche, zarte, hohe, blonde, blauäugige Apothekerin in Lomnitz sah mich prüfend an, ob ich sienicht zum Narren halte, es kann sich ja auch wirklich jeder zum Zeitvertreib einen komischenNamen erfinden und fragen, ob diese Salbe zu haben ist. Die Injektionen - nun, Dr. Kral ist dafür,mein Onkel dagegen, der hiesige Doktor dafür, Dr. Szontagh in Smokovec dagegen und ichallerdings dirimiere in diesem Konsilium dagegen, daran kannst Du doch, Max, nichts aussetzen,besonders da Du in Deinem Buch doch auch warnst. Den Aufsatz über Impfungen habe ich schonvorher gelesen, die Ostrauer Morgenzeitung ist die einzige, die ich fast täglich jetzt bekomme, auchdiese medizinische, übrigens zum Teil deutlich von einem Humoristen geschriebene Beilage leseich. (Sie dürfte übrigens auch die einzige fachwissenschaftliche Lektüre des hiesigen, mir aber sehrlieben Arztes sein.) In dem Aufsatz stehn die üblichen künstlichen Statistiken, die gegenüber denEinwänden der Naturheilkunde (»Kein Geimpfter ist vor dem Tode glücklich zu preisen«)belanglos sind, die Medizin untersucht die schädlichen Folgen in ganz beschränkter Zeit, dafür hatdie Naturheilkunde nur Verachtung. Es ist auch glaubwürdig, daß die Tuberkulose eingeschränktwird, jede Krankheit wird schließlich eingeschränkt. Es ist damit so wie mit den Kriegen, jederwird beendet und keiner hört auf. Die Tuberkulose hat ihren Sitz ebensowenig in der Lunge, wiez.B. der Weltkrieg seine Ursache im Ultimatum. Es gibt nur eine Krankheit, nicht mehr, und dieseeine Krankheit wird von der Medizin blindlings gejagt wie ein Tier durch endlose Wälder. - Abervernachlässigt habe ich Deine Ratschläge nicht. Wie konntest Du das denken.

Franz

An Oskar Baum(Matliary, Frühjahr 1921)

Lieber Oskar, Du hast mich also nicht vergessen. Fast möchte ich Dir Vorwürfe machen, daß ichDir nicht geschrieben habe. Aber Schreiben ist hier in dieser großen Untätigkeit für mich fast eineTat, fast ein neues Geborenwerden, ein neues Herumarbeiten in der Welt, dem doch unwiderruflichwieder der Liegestuhl folgen muß und - man schreckt zurück. Womit ich aber nicht den Eindruckerwecken will, daß ich mir darin Recht gebe, nein, gar nicht.Von Dir habe ich fast gar nichts gehört, nur von Deinem Weininger-Vortrag gelesen (gibt es nochimmer kein freies Manuskript, keine Korrektur dieses Aufsatzes?), Gerüchte über Kritikerstellen,sonst nichts. Ich erzähle Max immer nur mit vollem Mund von mir, gebe ihm fast keineGelegenheit, von anderem zu schreiben. Und was mag alles in diesen Jahren der Zwischenzeitgeschehen sein, einige sizilianische Reisen könntest Du gemacht haben, und wie viel gearbeitet,und Leo könnte schon fast an der Universität sein. Im Liegestuhl ist es schwer, die Zeit zubestimmen, man glaubt, daß es vier Monate gewesen sind, aber mit dem Verstand erkennt man gut,daß viele Jahre vergangen sind.Man wird zum Trost auch entsprechend alt. Jetzt ist z.B. eine kleine Budapesterin weggefahren(Aranka hat sie geheißen; jede dritte heißt so, und jede zweite Ilonka, schöne Namen sind es, auchClarika heißt manche, und alle werden nur mit dem Vornamen angesprochen: »Wie geht es,Aranka?«). Diese Budapesterin ist also weggefahren, sehr hübsch war sie nicht, ein wenig schiefaufgesetzte Wangen, nicht fehlerlos eingefaßte Augen, dicke Nase, aber jung war sie, eine solcheJugend!, und alles hat diesem schönen Körper gepaßt, und fröhlich und herzlich war sie, alle waren

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in sie verliebt, ich habe mich absichtlich von ihr zurückgehalten, mich ihr nicht vorgestellt, sie waretwa drei Monate hier, ich habe kein direktes Wort mit ihr gesprochen, was in einem so kleinenKreis nicht ganz einfach ist. Und jetzt am letzten Tag beim Frühstück (Mittagmahl und Nachtmahlesse ich allein in meinem Zimmer) kommt sie zu mir und fängt in ihrem umständlichen Ungarisch- Deutsch eine längere Rede an: »Ich erlaube mir, Herr Doktor, mich von Ihnen zu verabschieden«u.s.w., nun, wie man eben errötend und unsicher zu einem alten Würdenträger spricht. Und dieKnie haben mir ja auch wirklich dabei geschlottert.Das Buch freue ich mich wieder zu lesen, es ist aus Gründen, die in einem gewissen Sinnunkontrollierbar sind, eines meiner Lieblinge unter Deinen Büchern, es ist so gut darin zu leben,warm, wie in der Ecke eines Zimmers, wo man vergessen ist und um so stärker alles miterlebenkann, was geschieht. Leider mußte ich es verborgen, aber morgen bekomme ich es wieder. MeineTischnachbarin, diesmal Ilonka, hat es gesehn und mich so darum gebeten, daß ich es ihr borgenmußte, um so lieber, als sie offenbar in ihrem ganzen Leben noch kein gutes Buch, gelesen hat. IhrHübsches ist eine zarte, fast durchscheinende Haut, da wollte ich sehn, wie sie aussehn wird, wennsie von der Freude über Dein Euch illuminiert ist.Herzlichste Grüße Dir, Frau, Kind und Schwester.

Dein Franz

An Max Brod(Matliary, Anfang Mai 1921)

Lieber Max, noch immer nicht verständlich? Das ist merkwürdig, aber desto besser, denn es warunrichtig, unrichtig als Einzelfall, unrichtig wenn man es nicht auf das ganze Leben ausdehnt.(Ausdehnt? Also verwischt? Ich weiß nicht.) Du wirst mit M. sprechen, ich werde dieses Glück niemehr haben. Wenn Du zu ihr über mich sprichst, sprich wie über einen Toten, ich meine, was mein»Außerhalb«, meine »Exterritorialität« betrifft. Als Ehrenstein letzthin bei mir war, sagte er etwa,in M. reiche mir das Leben die Hand und ich hätte die Wahl zwischen Leben und Tod; das waretwas zu großartig (nicht hinsichtlich M's, aber hinsichtlich meiner) gesagt, aber im Wesen wahr,dumm war nur, daß er an eine Wahl-Möglichkeit für mich zu glauben schien. Gäbe es noch einDelphisches Orakel, hätte ich es befragt und es hätte geantwortet : »Die Wahl zwischen Tod undLeben? Wie kannst Du zögern?«

Du schreibst immer vom Gesundwerden. Das ist ja für mich ausgeschlossen (nicht nur hinsichtlichder Lunge, auch hinsichtlich alles andern, in der letzten Zeit geht z.B. wieder eine Unruhe-Welleüber mich, Schlaflosigkeit, Leiden unter dem kleinsten Geräusch und sie entstehen förmlich in derleeren Luft, davon könnte ich lange Geschichten erzählen,. und wenn schon alle Tages- undAbendmöglichkeiten erschöpft sind, schließt sich dann wie heute in der Nacht eine kleine Gruppevon Teufeln zusammen und unterhält sich fröhlich um Mitternacht vor meinem Haus. Früh sind esdann die Angestellten, welche abend von einer christlich-sozialen Versammlung nachhause kamen,gute, unschuldige Leute. So wie der Teufel kann sich niemand maskieren) das also istausgeschlossen, sieh nur diesen widerwillig lebenden Körper an, den das Gehirn, erschrecktdarüber, was es angerichtet hat, nun wieder gegen sich zum Leben zwingen will, widerwilliglebend, er kann nicht essen und eine Abszeßwunde, gestern wurde der verband abgenommen,braucht einen Monat lang große Verbände, ehe sie unschlüssig heilt (der fröhlicher Doktor hatallerdings Hilfe bei der Hand: Arseninjektionen, ich danke) das also ist ausgeschlossen, aber istauch nicht das Höchst-Wünschbare.

Du schreibst von Mädchen, kein Mädchen hält mich hier (besonders nicht die auf dem Bild, auchsind sie schon seit Monaten fort) und nirgends wird mich eines halten. Merkwürdig wie wenig

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Scharfblick Frauen haben, sie merken nur, ob sie gefallen, dann ob man Mitleid mit ihnen hat undschließlich ob man Erbarmen bei ihnen sucht, das ist alles, nun es ist ja im allgemeinen auch genug.Ich verkehre eigentlich nur mit dem Mediziner, alles andere ist nur nebenbei, will jemand etwasvon mir, sagt er es dem Mediziner, will ich etwas von jemandem, sage ich es ihm auch. Trotzdem,Einsamkeit ist das nicht, gar keine Einsamkeit, ein halb-behagliches Leben, äußerlich halbbehaglich in einem wechselnden Kreis äußerst freundlicher Leute, freilich, ich ertrinke nicht voraller Augen und niemand muß mich retten und auch sie sind so freundlich, nicht zu ertrinken, auchhat manche Freundlichkeit ganz deutliche Gründe, so z.B. gebe ich viel Trinkgeld (verhältnismäßigviel, es ist alles billig genug), was notwendig ist, denn der Oberkellner hat letzthin an seine Fraunach Budapest einen öffentlich bekanntgewordenen Brief geschrieben, in dem er zwischen denGästen je nach ihren Trinkgeldern so etwa unterscheidet: »zwölf Gäste können bleiben, die andernaber kann der Teufel holen« und nun fangt er an, die andern namentlich mit Anmerkungenlitaneiartig aufzuzählen: »die liebe Frau G. (übrigens wirklich eine liebe junge kindlicheBauernfrau aus der Zips) kann der Teufel holen u.s.w.« Ich war nicht darunter: werde ich geholt,wird es ganz gewiß nicht wegen zu kleinen Trinkgeldes sein.

Oskar ist also doch bei der »Presse«, nicht beim »Abendblatt«? Ist das Blatt also doch so, daß manihm dazu raten konnte? Die Stunden hat er aufgegeben? Könntest Du mir einmal eine Nummer miteinem Aufsatz Oskars schicken? Ich habe das Blatt noch nicht gesehn. Paul Adler ist auch dabei?Und Felix? Solche Dinge gab es doch irgendwie schon. Es steigert sich? Es greift ihn im Kern an?Das tat es doch bisher nicht eigentlich, im Grunde lebte er immerhin noch in Rom und nur an denasiatischen Grenzen wurde mit den Barbaren gekämpft. Ist es schlimmer geworden? Das Kind?Jetzt wird doch Sommerwohnung sein? Lebe wohl

Franz

An Ottla Davidová(Matliary, Anfang Mai 1921)

Liebste Ottla und Vìru�ka (? die Mutter schrieb den Namen so, was ist das für ein Name? Vìraetwa oder Vjera so wie Frau Kopals Tochter heißt? Was für Überlegungen gingen derNamensgebung vor?) also ein Weg bitte! Frau Forberger braucht für ihren Bruder, denMarkensammler,

100 Stück 2 Heller Eilmarken 100 Stück 80 Heller Marken mit dem Bild 100 Stück 90 Heller Marken von Hus

Laß Dir bitte das Geld von meinem Geld geben, man wird es nur hier bezahlen. Diese Markenwerden Ende Mai außer Geltung gesetzt, müssen also sofort gekauft werden und sind angeblich nurin Prag zu haben.Ist der Weg für Euch zwei zu schwer (wie soll man auch mit dem Kinderwagen in dieHauptposthalle hinauffahren? Hast Du einen schönen Wagen? Ist Frau W. ein wenig neidisch?),dann könnte vielleicht Pepa so gut sein (ja fährt er denn nicht nach Paris?). Ihm kannst Du dannauch das beiliegende Feuilleton der Brünner Lidové Noviny zur Beurteilung vorlegen; hält er dieSache für gut, natürlich müßte man auch noch mit Dr. Kral sprechen, könnte er sich vielleicht auchnoch erkundigen, wo man Plätze für die Sanatoriumsschiffe bekommen kann und wie teuer dasGanze ist. Mußt ihm nicht gleich sagen, daß es leider in der Nummer vom erstem April stand, esstand ganz ernst drin, ein armer Kranker hier hat es voll Hoffnungen dem Doktor zur Beurteilunggegeben, der brachte es mir, ich solle es durchlesen, weil er tschechisch nicht versteht, und ich wardamals von dem Darmkatarrh so geschwächt, daß ich wirklich ein, zwei Stunden daran glaubte.Das sind die äußern Anlässe, im übrigen wollte ich Dir schon längst schreiben, aber ich war zumüde oder zu faul oder nur zu schwer, das ist ja kaum zu unterscheiden, auch habe ich immer

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irgendeine Kleinigkeit, jetzt z.B. wieder einen wilden Abszeß, mit dem ich kämpfe. Daß Ihr zweiso flink seid, freut mich, aber Ihr sollt nicht zu flink sein, hier ist eine junge Bauersfrau,mittelkrank, übrigens lustig und lieb und hübsch in ihrer dunklen Tracht mit dem hin und herwehenden Ballerinenrock, die ist von ihrer Schwiegermutter immer zu sehr zur Arbeit angehaltenworden. trotzdem der Arzt dort immer gewarnt und gesagt hat:

Junge Frauen muß man schonenso wie goldene Zitronen

was zwar nicht ganz verständlich, aber doch sehr einleuchtend ist, weshalb ich mich auchzurückhalte, neue Wege zu erfinden.Immerhin, ein Weg wird notwendig werden, zum Direktor, es ist, um sich die Lippen zu zerbeißen.Am 20. Mai läuft der Urlaub ab (er hat Dich wirklich von der Urlaubsbewilligung verständigt?) wasdann? Wohin ich dann fahre oder ob ich etwa noch bis Ende Juli hier bleibe, ist einenebensächlichere Überlegung. (Seit dem Darmkatarrh, der meiner Meinung nach vom Fleisch kam,ist es so eingerichtet, daß ein Fräulein in der Küche ich glaube einen großen Teil ihrer Zeit damitverbringt, nachzudenken, was man mir kochen könnte. Beim Frühstück macht man mir Vorschlägein betreff des Mittagessens, bei der Jause in betreff des Nachtmahls. Letzthin träumte das Fräuleinaus dem Fenster hinaus, ich dachte, sie träume von ihrer Heimat Budapest, bis sie dann plötzlichsagte: »Ich bin aber wirklich gespannt, ob Ihnen abend das Salatgemüse schmecken wird.«)Wie soll ich aber wieder den Urlaub verlangen? Und wo ist ein Ende abzusehn? Es ist sehr schwer.Vielleicht einen Urlaub mit halbem Gehalt verlangen? Ist es leichter, um einen solchen Urlaub zubitten? Es wäre leicht um Urlaub zu bitten, wenn ich mir und andern sagen könnte, daß dieKrankheit etwa durch das Bureau verschuldet oder verschlimmert worden ist, aber es ist ja dasGegenteil wahr, das Bureau hat die Krankheit aufgehalten, Es ist schwer und doch werde ich umUrlaub bitten müssen. Ein Zeugnis werde ich natürlich vorlegen können, das ist sehr einfach. Nun,was meinst Du?Doch darfst Du nicht glauben, daß man sich hier immerfort mit solchen Gedanken abgibt, gesternhabe ich z.B. gewiß den halben Nachmittag mit Lachen verbracht, und zwar nicht mit Auslachen,sondern mit einem gerührten, liebenden Lachen. Leider ist die Sache nur anzudeuten, unmöglich inihrer ganzen Großartigkeit zu vermitteln.Es ist hier ein Generalstabshauptmann, er ist dem Barackenspital zugeteilt, wohnt aber wie mancheOffiziere hier unten, weil es oben in den Baracken zu schmutzig ist, das Essen läßt er sich von obenholen. Solange viel Schnee war, hat er ungeheuere Skitouren gemacht, bis nahe an die Spitzen, oftallein, was fast tollkühn ist, jetzt hat er nur 2 Beschäftigungen, Zeichnen und Aquarellmalen ist dieeine, Flötenspiel die andere. Jeden Tag zu bestimmten Stunden malt und zeichnet er im Freien. zubestimmten Stunden bläst er Flöte in seinem Zimmerchen. Er will offenbar immer allein sein (nurwenn er zeichnet, scheint er es gern zu dulden, wenn man zusieht), ich respektiere das natürlichsehr, ich habe bisher kaum fünfmal mit ihm gesprochen, nur wenn er mich etwa von der Ferne ruftoder wenn ich unerwartet irgendwo auf ihn stoße. Treffe ich ihn beim Zeichnen, mache ich ihm einpaar Komplimente, die Sachen sind auch wirklich nicht schlimm, gute oder sehr gute dilettantischeArbeit. Das wäre alles, wie ich sehe, noch immer nichts Besonderes, ich sage ja und weiß es: es istunmöglich, das Wesen des Ganzen mitzuteilen. Vielleicht wenn ich versuche zu beschreiben, wieer aussieht: Wenn er auf der Landstraße spazieren geht, immer hoch aufgerichtet, langsam bequemausschreitend, immer die Augen zu den Lomnitzer Spitzen erhoben, den Mantel im Wind, schaut eretwa wie Schiller aus. Wenn man in seiner Nähe ist und das magere faltige (zum Teil vomFlötenblasen faltige) Gesicht ansieht, mit seiner blassen Holzfärbung, auch der Hals und der ganzeKörper ist so trocken hölzern, dann erinnert er an die Toten auf dem Bild von Signorelli ich glaubees ist unter den Meisterbildern), wie sie dort aus den Gräbern steigen. Und dann hat er noch einedritte Ähnlichkeit. Er kam auf die phantastische Idee, mit seinen Bildern in der Haupteingang.Nein, es ist zu groß, ich meine innerlich. Kurz, er veranstaltete also eine Ausstellung, der Medizinerschrieb eine Besprechung in eine ungarische Zeitung, ich in eine deutsche, alles im Geheimen. Er

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kam mit der ungarischen Zeitung zum Oberkellner, damit er es ihm übersetze; diesem war es zukompliziert, er führte daher in aller Unschuld den Hauptmann zu dem Mediziner, er werde es ambesten übersetzen. Der Mediziner lag gerade mit ein wenig Fieber im Bett, ich war bei ihm zuBesuch, so fing es an, aber genug davon; wozu erzähle ich es, wenn ich es nicht erzähle.Übrigens, um wieder an das Vorige anzuknüpfen. Du darfst auch nicht glauben, daß man immerfortlacht, wirklich nicht.Die Rechnung von Taussig lege ich jetzt bei, ferner einen Ausschnitt für Elli, Felix betreffend, auchfür die Deine kann es in Betracht kommen nach zehn Jahren,. das ist nicht sehr lang, man dreht sichauf dem Liegestuhle einmal von links nach rechts, schaut auf die Uhr und die zehn Jahre sindvorüber, nur wenn man in Bewegung ist, dauert es länger.Elli und Valli lasse ich natürlich wieder ganz besonders grüßen. Wie meinst Du es? Ich lasse siegrüßen, weil grüßen leicht ist und schreibe ihnen nicht, weil schreiben schwer ist? Gar nicht. Ichlasse sie grüßen, weil sie meine lieben Schwestern sind, und schreibe ihnen nicht besonders, weilich Dir schreibe. Am Ende wirst Du sagen, daß ich auch Deine Tochter nur grüßen lasse, weilSchreiben schwer ist. Und auch ist schreiben nicht schwerer als alles andere, eher ein wenigleichter.Leb wohl mit den Deinen

FBitte grüße das Fräulein von mir

An Dr. Josef David(Matliary, etwa Mai 1921)

Lieber Pepa,schön, schön hast Du das gemacht, jetzt setze ich nur noch ein paar kleine Fehler hinein, nicht etwadamit überhaupt irgendwelche Fehler darinstehn, denn, verzeih, Fehler wird mein Direktor auch inDeinem Brief finden und würde sie in jedem finden, ich tue es nur, damit eine angemessene Zahlvon Fehlern darin steht.Hier bemühe ich mich, ruhig zu leben, kaum bekomme ich mal eine Zeitung in die Hand. nichteinmal die »Tribuna« lese ich, ich weiß auch weder, was die Kommunisten machen, noch was dieDeutschen sagen, nur was die Magyaren sagen, höre ich, aber ich verstehe es nicht; leider sagen siesehr viel und ich wäre glücklich, wenn es weniger wäre. Wozu ein Gedicht, Pepa, strenge Dichnicht an, wozu ein neues Gedicht? Es hat doch schon Horaz viele schöne Gedichte geschrieben undwir haben erst eineinhalb gelesen. Übrigens ein Gedicht von Dir, das habe ich schon. Es ist hier inder Nähe eine kleine Militär-Kranken-Abteilung und Abend zieht das die Straße entlang und nichtsals diese »Panther« und immer »drehen sie sich«. Die tschechischen Soldaten sind übrigens nichtdie ärgsten, sie laufen Ski und lachen und schreien wie Kinder, allerdings wie Kinder mitSoldatenstimmen, aber da sind auch ein paar ungarische Soldaten dabei und einer von ihnen hatfünf Worte von diesen Panthern gelernt und offenbar hat er darüber den Verstand verloren; woimmer er auftaucht, brüllt er das Lied. Und die schönen Berge und Wälder im Umkreis schauen alldem so ernsthaft zu, als ob es ihnen gefiele.Das alles ist aber nicht schlimm, es dauert täglich nur ein Weilchen, viel ärger sind in dieserHinsicht die teuflischen Lärmstimmen im Hause, aber auch das läßt sich überwinden, ich will nichtklagen, es ist die Tatra hier und die Berge des Sabinerlands sind anderswo und vielleicht nirgends.Bitte grüße Deine Eltern und Schwestern von mir. Wie ist das mit dem Nationaltheater ausgefallen?

Dein F(Dieser Brief ist in tschechischer Sprache geschrieben und wurde vom Herausgeber übersetzt.)

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An Max Brod(Matliary, Ende Mai/Anfang Juni 1921)

Liebster Max - meine Schuld ist schon so groß, so viel habe ich von Dir bekommen, so viel hast Dufür mich getan und ich liege da steif und still, gequält bis ins Innerste von dem Mann, der in denNebenzimmern Öfen aufstellt und dabei jeden Tag, auch an Feiertagen, um 5 Uhr früh mitHämmern, Gesang und Pfeifen anfängt und es bis 7 Uhr abends ununterbrochen fortsetzt, dann einwenig ausgeht und vor 9 Uhr sich schlafen legt, was ich zwar auch tue, aber ohne einschlafen zukönnen, weil die andern Leute eine andere Zeiteinteilung haben und ich wie der Vater von Matliarybin, der erst einschlafen kann, wenn auch das letzte quietschende Stubenmädchen im Bett ist. Undnatürlich, es ist nicht gerade dieser Mann, der mich stört (das Stubenmädchen hat ihm heute mittag,trotzdem ich sie mit Gewalt zurückgehalten habe - was will ich im Liegestuhl Faulender einemausgezeichneten Arbeiter verbieten? - das Pfeifen verboten und nun hämmert er bis auf einzelneVergessenheits-unterbrechungen ganz ohne Pfeifen und versucht mich wahrscheinlich, aber, um dieWahrheit zu sagen, angenehmer ist es mir doch), wenn er aufhören wird, ist jedes lebende Wesenhier bereit und fähig, ihn abzulösen und wird es tun und tut es. Aber es ist auch nicht der Lärm hier,um den es sich handelt, sondern der Lärm der Welt und nicht einmal dieser Lärm, sondern meineigenes Nichtlärmen.Doch auch abgesehn von der schon lange dauernden Unausgeschlafenheit wollte ich Dir auch vorder Begegnung mit M. nicht mehr schreiben, ich verstricke mich immer ohnmächtig in Lügen wennich über sie schreibe und ich wollte Dich - nicht so sehr Deinetwegen, als meinetwegen - nichtmehr beeinflussen. Nun hast Du sie also gesehn. Auf welche Weise sie mit ihrem Vater versöhntist, kann ich nicht verstehn, darüber weißt Du wohl auch nichts. Daß sie nicht schlecht aussieht,glaubte ich zu wissen. Strba liegt etwa am entgegengesetzten Ende der Tatra (der höchste Ort, aberkein eigentliches Sanatorium). Verzeih mir, was ich Dir hier auferlegt habe, es geschah in derersten besinnungslosen Aufregung über ihren damaligen Brief, allerdings, ich hätte Dich auch nachÜberlegung darum gebeten. Daß sie Dir gleich von ihrem Brief erzählen würde, daran zweifelte ichnicht, sie hatte aber ein Recht, von mir zu verlangen, über den Brief zu schweigen. Was Du überden »überflüssigen« Brief schreibst und darüber, »daß es auf diese Art nicht mehr weitergehe«,scheint doch darauf hinzudeuten, daß sie von mir nichts mehr wissen will. (Ich verstricke mich inLügen. wie ich sagte,) »Die Urteile ins Gesicht«, ja, das ist das Wesentliche, über das man sich, alsAußenstehender natürlich, gegenüber einem Mädchen von ihrer Art, zuerst klar sein muß. Duschmeckst das Falsche heraus, ich konnte es nicht, trotzdem ich lauerte. Dabei übertreibe ich denWahrheitsgehalt solcher Urteile nicht, sie sind nicht fest, ein Wort beschwichtigt sie, ein Schiffunter einem solchen Steuermann wollte ich nicht sein, aber mutig sind sie, groß, und führen zu denGöttern, wenigstens den olympischen.Ich glaube auch nicht, daß ich Dir von M's Verhältnis zu Deiner Frau etwas Ausdrückliches gesagthabe. Auch dieses Urteil M's ist öfters begrenzt und fast widerrufen worden. An einenZusammenhang mit Lisl Beer kann ich mich nicht erinnern, wohl aber an eine Bemerkung M's,wonach sie einmal mit Haas und Deiner Frau beisammen war, Deine Frau von Dir erzählte unddiese bestimmte Art demütiger Bewunderung M. so hassenswert erschien. Sei hier nicht so strengzu M., Max. Es ist ja hier ein schwieriger Fall, den ich oft durchdacht habe. Versuche dieFreundinnen Deiner Frau zusammenzuzählen, die Du für zweifellose Freundinnen hältst, und Duwirst vielleicht nur solche Freundinnen finden, welche Deine Frau im Grunde mißachtet. Ich kanndarüber freier sprechen als irgendjemand. In einem gewissen gesellschaftlichen, sozialen Sinn(gerade in jenem Sinn, welcher für die Vereinsamung Deiner Frau entscheidend ist) bin ich DeinerFrau ungemein ähnlich (was aber nicht Nähe bedeutet), so ähnlich, daß man bei flüchtigemHinsehn sagen könnte, daß wir gleich sind. Und diese Ähnlichkeit beschränkt sich, wie ich glaube,nicht einmal nur auf das heutige Ergebnis, sondern umfaßt auch die ursprüngliche Anlage, dieAnlage guter, strebender, aber irgendwie befleckter Kinder. Nun besteht aber zwischen uns dochein mit meinem bloßen wissenschaftlichen Auge zwar nicht wahrnehmbarer, aber jedenfalls

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tatsächlicher Unterschied, eine Kleinigkeit, ein wertloses Nichts, das aber doch hinreicht, um mich,ohne daß ein anderes soziales Material vorliegen würde, jemandem, der wie z.B. M. Deine Frau zuhassen behauptet, liebenswürdig zu machen. Freilich hat sich auch Deine Frau infolge der Eheweiter ins Leben vorgewagt als ich, niemandem wird es einfallen, meinen Wert an meinerLebensstellung zu messen, und wem es einfallen wird, wird es nicht glauben.Mit Sta�a mag M. wieder ausgesöhnt sein, das hat sich im Laufe des Halbjahres auch ein oderzweimal wiederholt, übrigens hat Sta�a mir gegenüber einen scharfen Blick gehabt, gleich bei derersten Begegnung hat sie erkannt, daß ich nicht verläßlich bin. Doch haben solcheFrauengeschichten niemals großen Eindruck auf mich gemacht oder vielmehr allzugroßen. Wennich solche Geschichten höre, wie: sie ist prachtvoll, er ist nicht prachtvoll, er liebt sie, sie liebt ihn,sie ist untreu, er müßte sich vergiften - das alles in einem einheitlichen, tief überzeugten,leidenschaftlichen Geiste vorgetragen, dann kommt in mir unwiderstehlich ein gefährliches, nurscheinbar knabenhaftes, in Wirklichkeit lebenzerstörendes Gefühl herauf.

Ich wollte sagen: alles das kommt mir (bricht ab)

Der erste ruhigere Tag nach einer wohl 14tägigen Marterzeit. Dieses einigermaßen Außerhalb-der-Welt-Leben, das ich hier führe, ist an sich nicht schlechter als ein anderes,. es liegt kein Grund vor,sich zu beklagen; schreit mir aber in dieses Außerhalb-der-Welt die Welt grabschänderisch herein,komme ich außer Rand und Band, dann schlage ich mit der Stirn wirklich an die doch immer nurangelehnte Tür des Wahnsinns. Eine Kleinigkeit genügt, um mich in diesen Zustand zu bringen, esgenügt, daß unter meinem Balkon mit dem mir zugekehrten Gesicht ein junger halbfrommerungarischer Jude im Liegestuhl liegt, recht bequem gestreckt, die eine Hand über dem Kopf, dieandere tief im Hosenschlitz und immer fröhlich den ganzen Tag Tempelmelodien brummt. (Wasfür ein Volk!) Es genügt irgendetwas derartiges, anderes kommt eiligst dazu, ich liege auf meinemBalkon wie in einer Trommel, auf die man oben und unten, aber auch von allen Seiten losschlägt,ich verliere den Glauben daran, daß es noch irgendwo auf der Oberfläche der Erde Ruhe gibt, ichkann nicht wachen, nicht schlafen, selbst wenn einmal ausnahmsweise Ruhe ist, kann ich nichtmehr schlafen, weil ich zu sehr zerrüttet bin. Ich kann auch nicht schreiben und Du machst mirVorwürfe, aber ich kann ja nicht einmal lesen. Da habe ich vor 3 Tagen (mit Hilfe des Mediziners)eine schöne, nicht allzuentfernte Waldwiese gefunden, es ist eigentlich eine Insel zwischen 2Bächen, dort ist es still, dort bin ich in 3 Nachmittagen (vormittag sind dort freilich Soldaten)soweit gesundet, daß ich heute dort sogar flüchtig eingeschlafen bin; das feiere ich heute durcheinen Brief an Dich.Du fährst an die Ostsee, wohin? Letzthin las ich von vielen schönen billigen Ostseebädern,Thiessow, Scharbeutz, Nest, Haftkrug, Timmendorfer Strand, Niendorf waren empfohlen, keinesteuerer als 30-40 M täglich. Mit wem fährst Du? Mit der Frau, allein oder mit der andern? Ichdenke auch manchmal an die Ostsee, aber es ist mehr Träumen als Denken.Deine Schwester hat mir freundlich geschrieben und die Salbe habe ich bekommen. Ich freue michsehr sie zu haben, im Winter war die Plage arg (jetzt schützen mich die Luftbäder), doch kann dieSalbe. Wenn sie wirklich so kräftig wirkt und Furunkel verhindert, leicht das werden, was man eineGeißel der Menschheit nennt, denn dem Höllenhund kann man durch Salben die Zahl der Köpfenicht vermindern, nur vermehren.Zu dem vorigen wollte ich noch sagen, daß mir alle diese Frauengeschichten komisch, anmaßend,wichtigtuerisch vorkommen, erbarmungslos lächerlich, verglichen mit der kläglichenKörperlichkeit, die da spricht. Sie spielen ihre Spiele, aber was kümmert es mich.Dabei habe ich auch hier ein, zwei kleine Spaziergänge mit meinem Mädchen am Morgen im Waldgemacht, von denen immerhin gilt, was man von den Tafeln der Könige sagt: sie bogen sich unterder Fülle. Und es geschah gar nichts, kaum ein Blick, das Mädchen merkte vielleicht gar nichts,und es ist auch nichts und schon lange vorüber und wird auch, ganz abgesehn davon, daß die

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Konstellation sehr günstig ist, nichts im Gefolge haben. Im Übrigen ist es kein besonderes Wunder,wenn

(2 Randbemerkungen:)Ich schicke vorläufig dieses, morgen die Fortsetzung.Ich schreibe Dir so bruchstückweise, die Schlaflosigkeit - ohne aktuelle Ursache, nur Erbe frühererZeiten - läßt es nicht anders zu.Dank für das Telegramm.

An Felix Weltsch(Matliary, Stempel: 5.VI. 1921)

Lieber Felix, bitte keine »Mauern des Nichtschreibens«, nichts dergleichen, ich schreibe Max, alsoauch Dir und Max schreibt mir und die Selbstwehr schickst Du mir, also schreibst auch Du. DaßDir . . . ist - ich kann das Wort unmöglich aufschreiben - tut mir sehr leid, in Deinen Aufsätzen istdavon freilich keine Spur, also auch in Deinem Denken nicht.Die Selbstwehr hat sich hier einen neuen Abonnenten erworben, den ich hiermit anmelde: derhiesige Arzt Dr. Leopold Strelinger, Tatranské Matliary P. Tatranská Lomnica. Vom nächsten Heftan lass sie ihm bitte schicken. Ich habe nichts dazu getan als ihm ein paar Hefte geborgt. Er warentzückt, zu meinem Erstaunen, denn er schien mir sonst mit ganz anderen Dingen beschäftigt.Herzliche Grüße Dir, Frau und Kind

Dein F

An Robert Klopstock(Matliary, Juni 1921)

Mein lieber Klopstock,Liegehalle, in der alten Schlaflosigkeit, mit der alten Hitze in den Augen, der Spannung in denSchläfen: . . . ungläubig in dieser Hinsicht war ich nie, aber erstaunt, ängstlich, den Kopf voll so vielerFragen als es Mücken auf dieser Wiese gibt. In der Lage etwa dieser Blume neben mir, die nichtganz gesund ist, den Kopf zwar zur sonne hebt, wer täte das nicht? aber voll geheimer Sorgen istwegen der quälenden Vorgänge in ihrer Wurzel und in ihren Säften, etwas ist dort geschehn,geschieht noch immer dort, aber sie hat nur sehr undeutliche, quälend undeutliche Nachrichtdarüber und kann doch nicht jetzt sich niederbeugen, den Boden aufkratzen und nachsehn, sondernmuß es den Brüdern nachtun und sich hoch halten, nun sie tut es auch, aber müde.Ich könnte mir einen andern Abraham denken, der - freilich würde er es nicht bis zum Erzvaterbringen, nicht einmal bis zum Altkleiderhändler - der die Forderung des Opfers sofort, bereitwilligwie ein Kellner zu erfüllen bereit wäre, der das Opfer aber doch nicht zustandebrächte, weil er vonzuhause nicht fort kann, er ist unentbehrlich, die Wirtschaft benötigt ihn, immerfort ist noch etwasanzuordnen, das Haus ist nicht fertig, aber ohne daß sein Haus fertig ist, ohne diesen Rückhalt kanner nicht fort, das sieht auch die Bibel ein, denn sie sagt: »er bestellte sein Haus« und Abraham hattewirklich alles in Fülle schon vorher ; wenn er nicht das Haus gehabt hätte, wo hätte er denn sonstden Sohn aufgezogen, in welchem Balken das Opfermesser stecken gehabt?

am andern Tag: noch viel über diesen Abraham nachgedacht, aber es sind alte Geschichten, nichtmehr der Rede wert, besonders der wirkliche Abraham nicht, er hat schon vorher alles gehabt,wurde von der Kindheit an dazu geführt, ich kann den Sprung nicht sehn. Wenn er schon alles hatteund doch noch höher geführt werden sollte, mußte ihm nun, wenigstens scheinbar, etwasfortgenommen werden, das ist folgerichtig und kein Sprung. Anders die oberen Abrahame, die

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stehn auf ihrem Bauplatz und sollen nun plötzlich auf den Berg Morija; womöglich haben sie nochnicht einmal einen Sohn und sollen ihn schon opfern. Das sind Unmöglichkeiten und Sarah hatRecht, wenn sie lacht. Bleibt also nur der Verdacht, daß diese Männer absichtlich mit ihrem Hausnicht fertig werden und - um ein sehr großes Beispiel zu nennen - das Gesicht in magischenTrilogien verstecken, um es nicht heben zu müssen und den Berg zu sehn, der in der Ferne steht.Aber ein anderer Abraham. Einer, der durchaus richtig opfern will und überhaupt die richtigeWitterung für die ganze Sache hat, aber nicht glauben kann, daß er gemeint ist, er, der widerlichealte Mann und sein Kind, der schmutzige Junge. Ihm fehlt nicht der wahre Glaube, diesen Glaubenhat er, er würde in der richtigen Verfassung opfern, wenn er nur glauben könnte, daß er gemeint ist.Er fürchtet, er werde zwar als Abraham mit dem Sohne ausreiten, aber auf dem Weg sich in DonQuixote verwandeln. über Abraham wäre die Welt damals entsetzt gewesen, wenn sie zugesehenhätte, dieser aber fürchtet, die Welt werde sich bei dem Anblick totlachen. Es ist aber nicht dieLächerlichkeit an sich, die er fürchtet - allerdings fürchtet er auch sie, vor allem sein Mitlachen -hauptsächlich aber fürchtet er, daß diese Lächerlichkeit ihn noch älter und widerlicher, seinen Sohnnoch schmutziger machen wird, noch unwürdiger, wirklich gerufen zu werden. Ein Abraham, derungerufen kommt! Es ist so wie wenn der beste Schüler feierlich am Schluß des Jahres eine Prämiebekommen soll und in der erwartungsvollen Stille der schlechteste Schüler infolge eines Hörfehlersaus seiner schmutzigen letzten Bank hervorkommt und die ganze Klasse losplatzt. Und es istvielleicht gar kein Hörfehler, sein Name wurde wirklich genannt, die Belohnung des Besten sollnach der Absicht des Lehrers gleich zeitig eine Bestrafung des Schlechtesten sein.Schreckliche Dinge - genug.Sie klagen über das einsame Glück und wie ist es mit dem einsamen Unglück? - wirklich, es ist fastein Paar.

Von Hellerau kommt nichts, es macht mich trübsinnig. Wenn Hegner nachdenkt, so hätte er dochgleich eine Karte schicken können mit der Mitteilung, daß er nachdenkt. Unser Interesse anHellerau ist unlöslich eines.

Ihr K

An Max Brod(Matliary, Juni 1921)

Liebster Max, den Fortsetzungszettel habe ich vor ein paar Tagen weggelegt, plötzlich fiel mirnämlich ein, ob Du nicht mir böse bist; damals als ich den Brief schrieb, hatte ich nicht imentferntesten daran gedacht, auch war es ja in der Theorie eine viel tiefere Verbeugung vor DeinerFrau, als ich sie im Leben wagen würde; dann aber fiel mir die Möglichkeit ein, nun ist es alsoglücklicherweise nicht so. Allerdings, mein Beispiel war falsch, M. haßt ja fast alle Jüdinnen, undLiteratur mag auch mitgewirkt haben, aber auch Dein Gegenbeispiel ist schwach, diese»christlichen« Freundschaften schöpfen kaum den ethnographischen Reiz aus, wie sollten sie tiefergehn, vor allem aber habe ich ja nicht so sehr das Negativum, das Fehlen der Freundschaften,betonen wollen; die Theorie also bleibt, bleibt so fest wie der Pfahl in meinem Fleisch.So weit schon das Buch? Und so glücklich? Und ich weiß gar nichts davon, so fern, so fern. Undauch an der Ostsee werde ich nichts davon erfahren. Jetzt darf ich es offen sagen, ich hätte mirnichts besseres gewußt, als mit Dir zu fahren. Ganz verschweigen konnte ich es nicht, offen sagenauch nicht, denn eine Art Krankentransport wäre es immerhin gewesen. Wenn ich mich z.B. indieser Hinsicht an Deine Stelle zu versetzen suche, sehe ich, daß mich die Lungenkrankheit, wennich gesund wäre, beim Nächsten sehr stören würde, nicht nur wegen der immerhin bestehendenAnsteckungsmöglichkeit, sondern vor allem, weil dieses fortwährende Kranksein schmutzig ist,schmutzig dieser Widerspruch zwischen dem Aussehn des Gesichtes und der Lunge, schmutzigalles. Dem Spucken anderer kann ich nur mit Ekel zusehn und habe selbst doch auch keinSpuckfläschchen, wie ich es haben sollte. Nun aber, alle diese Bedenken entfallen hier, der Arzt

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verbietet mir unbedingt an ein nördliches Meer zu fahren, ein Interesse, mich während desSommers hier zu halten hat er nicht, im Gegenteil, er erlaubt mir auch wegzufahren, in Wälder,wohin ich will, aber an das Meer nicht; auch an das Meer darf ich übrigens fahren und soll es sogar,aber nach Nervi, im Winter. So ist es. Und ich habe mich schon sehr gefreut, auf Dich, die Fahrt,die Welt, das Meeresrauschen. Auch die Bäche um die Wiese rauschen, auch die Bäume, und esberuhigt auch, aber es ist nicht verläßlich, kommen Soldaten � und jetzt sind sie immerfort dort undmachen aus der Waldwiese ein Wirtshaus - dann lärmt Bach und Wald mit ihnen, es ist ein Geist,ein Teufel in ihnen allen. Ich versuche von hier fortzukommen, wie Du rätst, aber gibt esRuhemöglichkeit irgendwo anders als im Herzen? Gestern war ich z.B. in Taraika, einem Wirtshausin den Bergen, über 1300 m hoch, wild und schön, ich hatte große Protektion, man wollte allesmögliche für mich tun, trotzdem eine Überfülle von Gästen kommen wird, man wollte mirvegetarisch kochen, viel besser als hier, wollte mir das Essen aus dem hochgelegenen.

Das sind schon alte Geschichten, es war dort mehr Lärm von Touristen und Zigeunermusik als hier,so bin ich also wieder hier geblieben, unbeweglich, wie wenn ich Wurzeln geschlagen hätte, wasdoch gewiß nicht geschehen ist. Vor allem freilich, ohne im allgemeinen viel daran zu denken,fürchte ich mich vor der Anstalt, so lange war ich noch nicht von ihr fort - außer Zürau, aber dortwar es anders, dort war ich anders, auch hielt mich noch ein wenig der alte Oberinspektor - meineSchuld ihr gegenüber ist so ungeheuerlich, so unbezahlbar, daß sie sich nur noch weiter vergrößernkann, eine andere Veränderungs-möglichkeit gibt es für sie nicht. Nun, ich pflege Fragen dadurchzu lösen, daß ich mich von ihnen auffressen lasse, vielleicht tue ich es hier auch.Für die Ausschnitte habe ich Dir noch gar nicht gedankt, in allen ist Glück und Zuversicht und dievon ihnen leicht geführte Hand. Um wie viel trüber sind Oskars Arbeiten, gewunden, oft mühselig,besonders m einem gewissen gesellschaftlichen Sinn mangelhaft, im Ganzen freilich kann er auchdas, der unbeugsame Mensch. Felix vernachlässigt mich, die Selbstwehr läßt er mir seit einigenNummern nicht mehr schicken und auch der hiesige Arzt, Dr. Leopold Strelinger, den ich ihm alsneuen Abonnenten gemeldet habe, hat sie noch nicht bekommen.Vor längerer Zeit habe ich »Literatur« von Kraus gelesen, Du kennst es wohl? Nach dem damaligenEindruck, der sich seither natürlich schon sehr abgeschwächt hat, schien es mir außerordentlichtreffend, ins Herz treffend zu sein. In dieser kleinen Welt der deutsch-jüdischen Literatur herrschter wirklich oder vielmehr das von ihm vertretene Prinzip, dem er sich so bewunderungswürdiguntergeordnet hat, daß er sich sogar mit dem Prinzip verwechselt und andere diese Verwechslungmitmachen läßt. Ich glaube, ich sondere ziemlich gut, das, was in dem Buch nur Witz ist, allerdingsprachtvoller, dann was erbarmungswürdige Kläglichkeit ist, und schließlich was Wahrheit ist,zumindest so viel Wahrheit, als es meine schreibende Hand ist, auch so deutlich und beängstigendkörperlich. Der Witz ist hauptsächlich das Mauscheln, so mauscheln wie Kraus kann niemand,trotzdem doch in dieser deutsch-jüdischen Welt kaum jemand etwas anderes als mauscheln kann,das Mauscheln im weitesten Sinn genommen, in dem allein es genommen werden muß, nämlich alsdie laute oder stillschweigende oder auch selbstquälerische Anmaßung eines fremden Besitzes, denman nicht erworben, sondern durch einen (verhältnismäßig) flüchtigen Griff gestohlen hat und derfremder Besitz bleibt, auch wenn nicht der einzigste Sprachfehler nachgewiesen werden könnte,denn hier kann ja alles nachgewiesen werden durch den leisesten Anruf des Gewissens in einerreuigen Stunde. Ich sage damit nichts gegen das Mauscheln, das Mauscheln an sich ist sogar schön,es ist eine organische Verbindung von Papierdeutsch und Gebärdensprache (wie plastisch istdieses: Worauf herauf hat er Talent? oder dieses den Oberarm ausrenkende und das Kinnhinaufreißende: Glauben Sie! oder dieses die Knie an einander zerreibende: »er schreibt. Überwem?«) und ein Ergebnis zarten Sprachgefühls, welches erkannt hat, daß im Deutschen nur dieDialekte und außer ihnen nur das allerpersönlichste Hochdeutschwirklich lebt, während das übrige,der sprachliche Mittelstand, nichts als Asche ist, die zu einem Scheinleben nur dadurch gebrachtwerden kann, daß überlebendige Judenhände sie durchwühlen. Das ist eine Tatsache, lustig oder

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schrecklich, wie man will; aber warum lockt es die Juden so unwiderstehlich dorthin? Die deutscheLiteratur hat auch vor dem Freiwerden der Juden gelebt und in großer Herrlichkeit, vor allem warsie, soviel ich sehe, im Durchschnitt niemals etwa weniger mannigfaltig als heute, vielleicht hat siesogar heute an Mannigfaltigkeit verloren. Und daß dies beides mit dem Judentum als solchemzusammenhängt, genauer mit dem Verhältnis der jungen Juden zu ihrem Judentum, mit derschrecklichen inneren Lage dieser Generationen, das hat doch besonders Kraus erkannt oderrichtiger, an ihm gemessen ist es sichtbar geworden. Er ist etwas wie der Großvater in der Operette,von dem er sich nur dadurch unterscheidet, daß er statt bloß oi zu sagen, auch noch langweiligeGedichte macht. (Mit einem gewissen Recht übrigens, mit dem gleichen Recht, mit demSchopenhauer in dem fortwährenden von ihm erkannten Höllensturz leidlich fröhlich lebte.)Besser als die Psychoanalyse gefällt mir in diesem Fall die Erkenntnis, daß dieser Vaterkomplex,von dem sich mancher geistig nährt, nicht den unschuldigen Vater, sondern das Judentum desVaters betrifft. Weg vom Judentum, meist mit unklarer Zustimmung der Väter (diese Unklarheitwar das Empörende), wollten die meisten, die deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es, abermit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchenfanden sie keinen neuen Boden. Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration.Eine Inspiration, ehrenwert wie irgendeine andere, aber bei näherem Zusehn doch mit einigentraurigen Besonderheiten. Zunächst konnte das, worin sich ihre Verzweiflung entlud, nicht deutscheLiteratur sein, die es äußerlich zu sein schien. Sie lebten zwischen drei Unmöglichkeiten, (die ichnur zufällig sprachliche Unmöglichkeiten nenne, es ist das Einfachste, sie so zu nennen, sie könntenaber auch ganz anders genannt werden): der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit,deutsch zu schreiben, der Unmöglichkeit, anders zu schreiben, fast könnte man eine vierteUnmöglichkeit hinzufügen, die Unmöglichkeit zu schreiben (denn die Verzweiflung war ja nichtetwas durch Schreiben zu Beruhigendes, war ein Feind des Lebens und des Schreibens, dasSchreiben war hier nur ein Provisorium, wie für einen, der sein Testament schreibt, knapp bevor ersich erhängt, - ein Provisorium, das ja recht gut ein Leben lang dauern kann), also war es eine vonallen Seiten unmögliche Literatur, eine Zigeunerliteratur, die das deutsche Kind aus der Wiegegestohlen und in großer Eile irgendwie zugerichtet hatte, weil doch irgendjemand auf dem Seiltanzen muß. (Aber es war ja nicht einmal das deutsche Kind, es war nichts, man sagte bloß, estanze jemand) (bricht ab.)

(Ein dem vorigen Brief Max Brods beigelegter Fragebogen, von Franz Kafka ausgefüllt undretourniert.)

FragebogenGewichtszunahme? 8kgTotalgewicht? über 65 kgobjektiver Lungenbefund? Geheimnis des Arztes, angeblich günstigTemperaturen? im allgemeinen fieberfreiAtmung? nicht gut, an kalten Abenden fast wie im WinterUnterschrift: Die einzige Frage die mich in Verlegenheit bringt

An Ottla Davidová(Postkarte. Matliary, Stempel: 8.VIII. 21)

Mein erster Ausflug;Vìra habe ich gleich erkannt, Dich mit Mühe, nur Deinen Stolz habe ich gleich erkannt, meinerwäre noch größer, er ginge gar nicht auf die Karte. Ein offenes ehrliches Gesicht scheint sie zuhaben und es gibt glaube ich nichts Besseres auf der Welt als Offenheit, Ehrlichkeit undVerläßlichkeit.

Dein

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An Max Brod(Postkarte. Matliary, Stempel: 23. VIII. 21)

Lieber Max, ja, ich lag jetzt eine Woche fast, mit Fieber im Bett, keine Verkühlung, einer jenerLungenzufälle, gegen die man sich nicht schützen kann. Es ist schon bis auf den Husten vorüber,auch habe ich dadurch noch einige letzte Sonnentage gewonnen, auch reiße ich mich so nicht ineinem von Matliary los (wobei nicht Matliary das Wichtige ist, sondern die Bewegung), sondernstückweise, wie es mir entspricht. Ende der Woche bin ich wahrscheinlich in Prag, dann bin ichgleich bei Dir, hoffentlich bist Du nicht schon in Karlsbad.

Dein

An Elli Hermann(Herbst 1921)

Liebe Elli, eigentlich hätte ich einen weniger ablehnenden Brief erwartet, wenigstens einenfröhlicher entschiedenen. Siehst Du denn das Glück nicht ein? Oder kennst Du eine bessereErziehunggsmöglichkeit? Es gibt radikalere, persönlicher geführte, vielleicht bedeutendere Schulenz.B. Wickersdorf, es gibt glattere, fremdartigere, von hier aus nicht zu beurteilende Schulen imweiteren Ausland, es gibt blutsnähere und vielleicht wich tigere Schulen in Palästina, aber in derNähe und weniger riskant wohl keine außer Hellerau. Zu jung, weil ihm ein paar Monate zumzehnten Jahr fehlen? Es werden Siebenjährige aufgenommen, es gibt ja drei Vorschuljahrgänge.Man kann zu jung sein für das Erwerbsleben, für das Heiraten, für das Sterben, aber zu jung füreine zarte, zwanglose, alles Gute entfaltende Erziehung? Zehn Jahre sind wenig, aber unterUmständen ein hohes Alter, zehn Jahre ohne Körperübung, ohne Körperpflege, in Wohlleben, vorallem in Wohlleben ohne Übung der Augen und und Ohren und Hände (außer beim Ordnen desLiftgeldes), im Käfig der Erwachsenen, die sich doch im Grunde, es geht nicht anders imgewöhnlichen Leben, an den Kindern nur austoben - solche zehn Jahre sind nicht wenig. Freilichbei Felix können sie nicht so schlimm wirken, er ist kräftig, ruhig, klug, fröhlich, aber diese zehnJahre sind überdies in Prag verbracht, in dem von Kindern nicht abzuhaltenden besondern Geist,der gerade in Prager wohlhabenden Juden wirkt, ich meine natürlich nicht einzelne Menschen,sondern diesen fast mit Händen zu greifenden allgemeinen Geist, der sich in jedem je nach Anlagenverschieden äußert, der in Dir ist, so wie in mir, diesen kleinen, schmutzigen, lauwarmen,blinzelnden Geist. Vor dem das eigene Kind retten können, was für ein Glück!

F.

An Elli Hermann(Herbst 1921)

Liebe Elli, nein, Energie ist das nicht, laß Dich dadurch weder erschrecken (so als ob ich Dir durchEnergie etwas gegen Deinen willen abzwingen könnte), noch ermutigen (so als ob ich den Dirfehlenden Willen, Felix wegzuschicken, den Willen, den Du gern hättest und der Dir fehlt, als obich durch Energie diesen willen ersetzen könnte), es ist keine Energie, höchstens Energie in Wortenund auch diese wird aufhören, hört sogar schon auf, Energie ist es nicht, eher ist es das, was Duerstaunlich gut Fühlst, aber unrichtig deutest, wenn Du schreibst, daß auch Du aus »unseremMilieu« heraus willst und deshalb (deshalb!) Felix nicht wegschicken kannst. Du willst ausunserem Milieu hinaus und dies mit Hilfe des Felix, beides ist gut und möglich, Kinder sind zurRettung der Eltern da, theoretisch verstehe ich gar nicht, wie es Menschen ohne Kinder geben kann,aber wie willst Du dieses »Hinauskommen« erreichen? Eben durch eine typische Tat gerade diesesMilieus, durch Geiz (ich gebe ihn nicht fort!), durch Verzweiflung (was wäre ich ohne ihn!), durchHoffnungslosigkeit (er wird nicht mehr mein Sohn sein!), durch Sich-selbst-Belügen, durchScheingründe, durch Verschönerung der Schwäche, durch Verschönerung des »Milieus« (»Leben

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erträglich machen«, »Verantwortung tragen«, »selbst aus der Entfernung kann das Beispiel solcherMütter« u.s.f.) Das alles täte ich an Deiner Stelle natürlich auch und noch viel »großartiger«.Aus der Geschichte der »Aufklärung« lese ich außer dem Schönen und Rührenden, das in ihr ist,noch Folgendes heraus: Erstens: Du bist zu spät gekommen, 2. Felix ist mit der Geschichte desPrager Jungen nicht zu Dir gekommen, 3. Auch über Vìra hat er Dich nicht ausgefragt, sondernverhört, denn die Erklärung des Jungen besaß er ja. 4. Du konntest als Erklärung natürlich nur einAbstraktum verwenden, die Liebe. Schon das ist schlimm (der Vorteil der Storchgeschichte ist jaihre, überdies nicht nachzuprüfende und ziemlich ferne Realität), noch schlimmer ist, daß diesesAbstraktum neben die für den Jungen fürchterlich überraschende Realität der Schwangerschaftgestellt ist. Gut, Du lügst nicht, nur verschweigt er außerdem auch nichts. 5. Sehr gut war DeineBemerkung, alles könne man, wenn man wolle, lächerlich und schlecht machen. Leider kann mandas aber nicht nur durch Worte machen, sondern auch durch Taten und das schlecht gemachte Guteschaut dem Allerschlechtesten dann zum Verwechseln ähnlich. Was bleibt dann von DeinerBemerkung? Und hat der Brüxer Junge in seinem Umkreis nicht Recht? 6. Du hast dann einenZusammenhang hergestellt zwischen Deiner Erklärung und jener der Jungen, es würde michinteressieren, wie Du das gemacht hast, aber an und für sich kann das ja nicht schwer sein, jedermacht das notgedrungen in seinem Leben irgendwie. Ich rede nicht von den Frauen, aber in allenMännern ringsherum steckt doch der Brüxer Junge, nur daß die Gemeinschaft bei dem Jungen, aufwelche Art sie sich auch zeigen mag, immerhin geheiligt ist durch die Scheu vor den ihmübergeordneten Dingen und durch den Erkenntnisdrang. Darum bin ich auf Seite des Jungengegenüber den Männern und in gewissem Sinn auch gegenüber Deiner Aufklärung, denn nur derJunge ist der unbestechliche Wahrheitssucher und der rücksichtslose Vermittler und hinsichtlichdessen, was ihm noch an Wissen und Erfahrung fehlt, kann man zu ihm das Vertrauen haben, daßer das Fehlende kraft der ihm innewohnenden Gemeinheit, denn er ist ja Blut vom Blute derandern, annähernd richtig erfühlt.Sieh z.B. die zwei Jungen, die mich belehrt haben, sie wissen heute gewiß nicht mehr als damals,allerdings waren es, wie sich gezeigt hat, besonders einheitliche konsequente Charaktere. Siebelehrten mich gleichzeitig, der eine von rechts, der andere von links, der rechte lustig, väterlich,weltmännisch, mit einem Lachen, das ich später bei Männern aller Lebensalter, auch bei mir, genauso gehört habe (es gibt gewiß auch ein freies, ein anderes Lachen über den Dingen, von einemLebenden habe ich es aber noch nicht gehört), der linke sachlich, theoretisch, das war vielabscheulicher. Beide haben längst geheiratet und sind in Prag geblieben, der rechte ist schon vieleJahre von Syphilis bis zur Unkenntlichkeit zerstört, ich weiß nicht, ob er noch lebt, der linke istProfessor für Geschlechtskrankheiten und Gründer und Vorsitzender eines Vereines zurBekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Gegeneinander abschätzen will ich sie nicht, übrigenswaren sie nicht etwa Freunde, damals sind sie nur zufällig zwecks meiner Belehrungzusammengekommen.Aber verhältnismäßig ist ja das alles ziemlich unwesentlich, Deine Aufklärung und die des Jungen.Es kommt nur darauf an, wie er selbst, wenn sein Körper sich zu rühren anfängt, sich entscheidenwird. Ich denke dabei nicht an bestimmte Taten oder Unterlassungen, sondern an den Geist, der ihnführen wird. Und er wird sich im allgemeinen, wenn nicht übermenschlich starke Anlageneingreifen, so entscheiden, wie sein Leben bis dahin gewesen ist. Ist sein Leben übersättigt, geistigund körperlich weich gebettet, großstädtisch überreizt, glaubenslos Lmd gelangweilt gewesen, dannwird er sich entsprechend entscheiden, und wenn Du die ganze Zeit über jeden Augenblick, was jazeitlich und geistig unmöglich ist, mit liebenden Ermahnungen hinter ihm her bist. Du kannst jaz.B. nicht einmal das scheinbar Leichteste tun, nämlich die Langweile, diese Einbruchsstelle allerbösen Geister, verhindern. Das hast Du selbst zugestanden und ich habe ihn ja auch in Zuständengesehn, die in dieser Hinsicht trostlos waren. Diese Zustände müssen aber von Jahr zu Jahrschlimmer und gefährlicher werden, weil sie für ihn und Dich unkenntlicher werden. In derKinderzeit waren sie undeutlich und man konnte zur Not etwas dagegen tun, allmählich aber

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schauen gerade die Zustände (im geistigen Sinn) schlimmster Langweile wie allerbesteUnterhaltung aus, er liest, er lernt Musik, er spielt Fußball, alles das muß nicht, aber kannentsetzliche Langweile und Führungslosigkeit enthalten, an sich weder ihm noch andern, aber inden Folgen erkennbar.

An Elli Hermann(Herbst 1921)

. . . Ich habe für mich (unter vielen andern) einen großen Zeugen, den ich hier aber nur zitiere,eben weil er groß ist, und dann, weil ich es gestern gerade gelesen habe, nicht weil ich die gleicheMeinung zu haben wagte. In der Beschreibung zu Gullivers Reise in Liliput (dessen Einrichtungensehr gelobt werden) sagt Swift: »Die Begriffe von den gegenseitigen Pflichten der Eltern undKinder sind gänzlich von den unsrigen verschieden. Da nämlich die Verbindung der Männer undWeiber, wie bei allen Tiergeschlechtern, auf Naturgesetzen beruht, behaupten sie durchaus, daßMänner und Frauen nur deshalb sich vereinigen; die Zärtlichkeit gegen die Jungen folge ausdemselben Grundsatz; deshalb wollen sie nicht zugestehn, ein Kind sei für sein Dasein den Elternverpflichtet, welches ohnedies wegen des menschlichen Elends keine Wohltat sei; auch bezwecktendie Eltern keine Wohltat, sondern dächten an ganz andere Dinge bei ihren verliebtenZusammenkünften. Wegen dieser und anderer Schlußfolgen sind sie der Meinung, Eltern dürfe manam wenigsten unter allen Menschen die Erziehung der Kinder anvertrauen.« Er meint damitoffenbar, ganz entsprechend Deiner Unterscheidung zwischen »Mensch« und »Sohn«, daß dasKind, wenn es Mensch werden soll, möglichst bald, wie er sich ausdrückt, der Tierheit, dem bloßtierischen Zusammenhang entzogen werden muß.Du gibst selbst zu, daß bei Deinem Zögern Eigennutz mitwirkt. Ist aber dieser Eigennutz nichtsogar als Eigennutz etwas verkehrt? Wenn Du z.B. die Wintersachen über den Sommer nicht zumKürschner geben willst, weil Deinem Gefühl nach die Sachen, wenn Du sie im Herbstzurückbekommst, Dir innerlich fremd wären, und wenn Du daher die Sachen selbst aufbewahrst, sowerden sie Dir allerdings im Herbst vollständig, innerlich und äußerlich gehören, werden aber vonMotten zerfressen sein. (Das ist keine Bosheit, wirklich nicht, nur ein Beispiel, einnaheliegendes.)�So sehe ich also Deine Bedenken, vollständig könnte ich überhaupt nur ein Gegenargumentanerkennen, das Du aber nicht erwähnst. Vielleicht denkst Du es aber. Es ist dieses: Wie kann meinRat hinsichtlich der Erziehung von Kindern anderer etwas wert sein, wenn ich nicht einmalimstande war, mir einen Rat dafür zu geben, wie man eigene Kinder bekommt. - Dieses Argumentist unwiderleglich und trifft mich vollständig, aber so ausgezeichnet es auch ist, so glaube ich doch,daß es mehr mich trifft, als diesen meinen Rat. Laß es meinen Rat nicht entgelten, daß er von mirkommt.

An Elli Hermann(Herbst 1921)

...Nicht das, was Du hervorhebst (Kinder müssen für ihr Dasein den Eltern nicht dankbar sein), istdie Hauptsache bei Swift. In dieser Knappheit behauptet das ja im Grunde auch niemand. DasHauptgewicht liegt auf dem Schlußsatz: »Eltern darf man am wenigsten unter allen Menschen dieErziehung der Kinder anvertrauen.« Allerdings ist das, wie auch die zu diesem Satz führendeBeweisführung, viel zu gedrängt gesagt und ich werde es Dir deshalb ausführlicher zu erklärensuchen, doch wiederhole ich, daß das alles nur Swifts Meinung ist (der übrigens Familienvaterwar), meine Meinung geht zwar auch in der Richtung, nur wage ich nicht, so entschieden zu sein.Swift meint also:

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Jede typische Familie stellt zunächst nur einen tierischen Zusammenhang dar, gewissermaßen eineneinzigen Organismus, einen einzigen Blutkreislauf. Sie kann daher, auf sich allein angewiesen,nicht über sich hinaus, sie kann aus sich allein keinen neuen Menschen schaffen, versucht sie esdurch Familienerziehung, ist es eine Art geistiger Blutschande.Die Familie ist also ein Organismus, aber ein äußerst komplizierter und unausgeglichener, wie jederOrganismus strebt auch sie fortwährend nach Ausgleichung. Soweit dieses Streben nachAusgleichung zwischen Eltern und Kindern vor sich geht (die Ausgleichung zwischen den Elterngehört nicht hierher), wird sie Erziehung genannt. Warum das so genannt wird, ist unverständlich,denn von wirklicher Erziehung, also dem ruhigen, uneigennützig liebenden Entfalten derFähigkeiten eines werdenden Menschen oder auch nur dem ruhigen Dulden einer selbständigenEntfaltung ist hier keine Spur. Vielmehr ist es eben .nur der meist unter Krämpfen vorsichgehendeVersuch der Ausgleichung eines zumindest während vieler Jahre zur schärfsten Unausgeglichenheitverurteilten tierischen Organismus, den man zum Unterschied vom einzelnen Menschentier dasFamilientier nennen kann.Der Grund der unbedingten Unmöglichkeit einer sofortigen gerechten Ausgleichung (und nur einegerechte Ausgleichung ist wirkliche Ausgleichung, nur sie hat Bestand) innerhalb diesesFamilientieres ist die Unebenbürtigkeit seiner Teile, nämlich die ungeheuerliche Übermacht desElternpaares gegenüber den Kindern während vieler Jahre. Infolgedessen maßen sich die Elternwährend der Kinderzeit der Kinder das Alleinrecht an, die Familie zu repräsentieren, nicht nur nachaußen, sondern auch in der inneren geistigen Organisation, nehmen also dadurch den Kindern dasPersönlichkeitsrecht Schritt für Schritt und können sie von da aus unfähig machen, jemals diesesRecht in guter Art geltend zu machen, ein Unglück, das die Eltern später nicht viel weniger schwertreffen kann als die Kinder.Der wesentliche Unterschied zwischen wirklicher Erziehung und Familienerziehung ist: die erstereist eine menschliche Angelegenheit, die zweite eine Familienangelegenheit. In der Menschheit hatjeder Mensch Platz oder zumindest die Möglichkeit auf seine Art zugrundezugehn, in der von denEltern umklammerten Familie aber haben nur ganz bestimmte Menschen Platz, die ganzbestimmten Forderungen und überdies noch den von den Eltern diktierten Terminen entsprechen.Entsprechen sie nicht, werden sie nicht etwa ausgestoßen - das wäre sehr schön, ist aber unmöglich,denn es handelt sich ja um einen Organismus -, sondern verflucht oder verzehrt oder beides. DiesesVerzehren geschieht nicht körperlich wie bei dem alten Elternvorbild in der griechischenMythologie (Kronos, der seine Söhne auffraß, - der ehrlichste Vater), aber vielleicht hat Kronosseine Methode der sonst üblichen gerade aus Mitleid mit seinen Kindern vorgezogen.Der Eigennutz der Eltern - das eigentliche Elterngefühl - kennt ja keine Grenzen. Noch die größteLiebe der Eltern ist im Erziehungssinn eigennütziger als die kleinste Liebe des bezahlten Erziehers.Es ist nicht anders möglich. Die Eltern stehn ja ihren Kindern nicht frei gegenüber, wie sonst einErwachsener dem Kind gegenübersteht, es ist doch das eigene Blut - noch eine schwereKomplikation: das Blut beider Elternteile. Wenn der Vater (bei der Mutter ist es entsprechend)»erzieht«,findet er z.B. in dem Kind Dinge, die er schon in sich gehaßt hat und nicht überwindenkonnte und die er jetzt bestimmt zu überwinden hofft, denn das schwache Kind scheint ja mehr inseiner Macht als er selbst, und so greift er blindwütend, ohne die Entwicklung abzuwarten, in denwerdenden Menschen, oder er erkennt z.B. mit Schrecken, daß etwas, was er als eigeneAuszeichnung ansieht und was daher (daher!) in der Familie (in der Familie!) nicht fehlen darf, indem Kinde fehlt, und so fängt er an, es ihm einzuhämmern, was ihm auch gelingt, aber gleichzeitigmißlingt, denn er zerhämmert dabei das Kind, oder er findet z.B. in dem Kind Dinge, die er in derEhefrau geliebt hat, aber in dem Kinde (das er unaufhörlich mit sich selbst verwechselt, alle Elterntun das) haßt, so wie man z.B. die himmelblauen Augen seiner Ehefrau sehr lieben kann, aber aufshöchste angewidert wäre, wenn man plötzlich selbst solche Augen bekäme, oder er findet z.B. indem Kind Dinge, die er in sich liebt oder ersehnt und für familien-notwendig hält, dann ist ihm

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alles andere an dem Kinde gleichgültig, er sieht in dem Kind nur das Geliebte, er hängt sich an dasGeliebte, er erniedrigt sich zu seinem Sklaven, er verzehrt es aus Liebe.Das sind, aus Eigennutz geboren, die zwei Erziehungsmittel der Eltern: Tyrannei und Sklaverei inallen Abstufungen, wobei sich die Tyrannei sehr zart äußern kann (»Du mußt mir glauben, denn ichbin deine Mutter!«) und die Sklaverei sehr stolz (»Du bist mein Sohn, deshalb werde ich dich zumeinem Retter machen«), aber es sind zwei schreckliche Erziehungsmittel, zweiAntierziehungsmittel, geeignet, das Kind in den Boden, aus dem es kam, zurückzustampfen.Die Eltern haben eben für die Kinder nur die tierische, sinnlose, sich mit dem Kinde immerfortverwechselnde Liebe, der Erzieher hat für das Kind Achtung, und das ist im Erziehungssinnunvergleichbar mehr, selbst wenn keine Liebe mitsprechen sollte. Ich wiederhole: imErziehungssinn; denn wenn ich die Elternliebe eine tierisch sinnlose nenne, so ist das an sich keineMinderbewertung, sie ist ein ebenso unerforschliches Geheimnis wie die sinnvoll schöpferischeLiebe des Erziehers, nur in Hinsicht der Erziehung allerdings kann diese Minderbewertung garnicht groß genug sein. Wenn sich N. eine Henne nennt, so hat sie ganz recht, jede Mutter ist es imGrunde, und die, welche es nicht ist, ist entweder eine Göttin oder aber wahrscheinlich ein krankesTier. Nun will aber diese Henne N. nicht Hühnchen, sondern Menschen zu Kindern haben, darfalso ihre Kinder nicht allein erziehn.Ich wiederhole: Swift will die Elternliebe nicht entwürdigen, er hält sie sogar unter Umständen fürstark genug, um die Kinder vor eben dieser Elternliebe zu schützen. Eine Mutter, die inirgendeinem Gedicht ihr Kind aus den Pranken des Löwen rettet, sollte dieses Kind nicht vor ihreneigenen Händen schützen können? Und tut sie es denn ohne Lohn oder, was richtiger ist, ohne dieMöglichkeit eines Lohnes? In einem andern Schullesebuchgedicht, das Du gewiß kennst, heißt esvon dem Wanderer, der nach vielen Jahren in das Heimatdorf zurückkommt und den niemand mehrerkennt außer der Mutter: »das Mutteraug hat ihn doch erkannt«. Das ist das wirkliche Wunder derMutterliebe und eine große Weisheit ist hier ausgedrückt, aber nur eine halbe, denn es fehlt dieHinzufügung, daß, wenn der Sohn zu Hause geblieben wäre, sie ihn niemals erkannt hätte, daß dastägliche Zusammensitzen mit dem Sohn ihr ihn völlig unkenntlich gemacht hätte und daß dann dasGegenteil des Gedichts geschehen wäre und jeder andere ihn besser erkannt hätte als sie. (Freilichhätte sie ihn dann auch gar nicht erkennen brauchen, denn er wäre niemals zu ihrzurückgekommen.) Du wirst vielleicht sagen, daß der Wanderer erst nach dem elften Lebensjahr indie Welt gegangen ist, ich aber weiß ganz bestimmt, daß ihm noch ein paar Monate zum zehntenJahr gefehlt haben, oder anders ausgedrückt, daß es keine Mutter war, die habsüchtig dieVerantwortung tragen wollte, habsüchtig die Freuden und, was vielleicht noch schlimmer ist, dieSchmerzen teilen wollte (nichts soll er ganz haben!), keine Mutter, die Veranstaltungen getroffenhatte, um von ihrem Sohn gerettet zu werden, die also zu ihm Vertrauen hatte (Mißtrauen istpragerisch, übrigens ist Vertrauen und Mißtrauen gleicher Weise in den Folgen riskant, Mißtrauenaber überdies in sich selbst), und die gerade deshalb gerettet wurde durch die Heimkehr ihresSohnes. (Dabei war ja vielleicht von allem Anfang an ihre Gefahr nicht so unmäßig groß, denn eswar keine Prager Judenfrau, sondern irgendeine fromme Katholikin aus der Steiermark.)Was ist also zu tun? Nach Swift sind die Kinder den Eltern fortzunehmen, d.h. der Ausgleich, denjenes »Familientier« braucht, soll zunächst provisorisch dadurch erreicht werden, daß man durchWegnahme der Kinder die endgültige Ausgleichung auf eine Zeit verschiebt, bis die Kinder, vonden Eltern unabhängig, an Körper und Geisteskraft ihnen ebenbürtig sind und dann die Zeit für denwirklichen, für den liebenden Ausgleich gekommen ist, nämlich das, was Du »Rettung« nennst undwas andere »Dankbarkeit der Kinder« nennen und so selten finden.Übrigens versteht Swift einzuschränken und hält die Wegnahme der Kinder armer Leute nicht fürunbedingt notwendig. Bei armen Leuten dringt nämlich gewissermaßen die Welt, das Arbeitslebenvon selbst unhinderbar in die Hütte (so wie z. B. bei der Geburt Christi in der halboffenen Hüttegleich die ganze Welt dabei war, die Hirten und die Weisen aus dem Morgenlande) und läßt nichtdie dumpfe, giftreiche, kinderauszehrende Luft des schön eingerichteten Familienzimmers entstehn.

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Auch leugnet natürlich Swift nicht, daß Eltern unter Umständen eine ausgezeichneteErziehungsgemeinschaft darstellen können, aber nur für fremde Kinder. So also etwa lese ich dieSwiftsche Stelle.

An Robert Klopstock(Prag, 2. September 1921)

Lieber Robert, die Fahrt war sehr bequem, ich erwähne es nur wegen der Menge traumhaftineinander spielender Zufälle, die mir einen guten Platz verschafften. Der Zug war ganz überfüllt,zuerst konnte man noch hie und da auf einem Koffer sitzen, später konnte man kaum mehr stehn. InVrutky sollten zwei leere Waggons angeschlossen werden, dort würde also Platz sein. In Vrutkysteige ich aus, laufe zu den Waggons, alles überfüllt, außerdem alte schmutzige Wagen, laufewieder zu meinem Waggon zurück, finde ihn nicht gleich, steige in einen andern ein, es ist jagleichgültig, alles ist voll. In diesem Waggon drücken sich unter andern drei Frauen an denWänden herum, sie fahren aus Lomnitz nach Prag, eine von ihnen, eine alte Lehrerin, kenne ichSüchtig aus Matlar, wo sie einmal Ing. G., da anderswo kein Platz war, zu meinem Tisch geführthat. Jetzt im Waggon mache ich ihnen einige kleine Dienste. Die Lehrerin, mit der vereinigtenwütenden Alte-Frauen- und Lehrerinnen-Energie beschließt von Abteilung zu Abteilung zu gehnund sich doch einen Platz zu erzwingen. Tatsächlich findet sie in einer entfernten 1. KlasseAbteilung einen Platz, durch irgend einen Zufall wird dort auch noch ein zweiter Platz frei, jetztsind also zwei Frauen untergebracht, die dritte zieht auch mit ihnen. Gleich darauf geschieht injenem Coupé folgendes: von den übrigen vier Reisenden sind zwei Eisenbahnunterbeamte oderdergl., sie überreden mit großer Mühe den Kondukteur (da sie selbst nur Anspruch auf zweiteKlasse haben),das Coupé für ein solches zweiter Klasse zu erklären, dieses Verwandlungsrecht hatder Kondukteur in Ausnahmefällen. Endlich stimmt er zu, dadurch sind aber die andern Passagiere,da sie auf erste Klasse Anspruch haben, gekränkt und verlangen ein leeres Coupé erster Klasse, derKondukteur verschafft es ihnen, dadurch sind wieder zwei Plätze frei, einer für die dritte Frau undeiner - da sich die Frauen für die Dienste dankbar zeigen wollen - für mich, sie rufen mich durchden überfüllten Gang, ich weiß gar nicht wie, denn sie kennen nicht nur meinen Namen nicht,sondern die Lehrerin kann sich, wie sich später herausstellt, gar nicht erinnern, wann sie zuerst mitmir gesprochen hat. Jedenfalls höre ich, wie sie mich rufen und übersiedle hin, gerade klebt derKondukteur eine große 2 an die Glastür.Von der Reisenahrung waren das Beste die Pflaumen, ausgezeichnete Pflaumen.Einige Veränderungen in Prag, z.B. der Tod eines alten merkwürdigen Onkels. Er ist vor ein paarMonaten gestorben, vor ein paar Tagen habe ich ihm die erste Karte aus Matlar geschickt:»Herzliche Grüße vor baldigem Wiedersehn«.Auf den ersten Anhieb hat sich herausgestellt, daß ich durch Verwandte eine sehr gute Verbindungmit Prof. Münzer habe. Wenn überhaupt die Möglichkeit einer derartigen Anstellung besteht, wirdsie für Sie zu erreichen sein, gar wenn man es rechtzeitig - also z.B. jetzt für Feber - vorzubereitenanfängt. Schicken Sie mir nur irgendwelche Dokumente, den Brief des Professors udgl.Vielleicht fahre ich noch für drei Monate in ein deutsches Sanatorium.Alles Gute und Dank für alles Gute!

Ihr K

An M. E.(Prag, Anfang September 1921)Liebe Minze, nur gleich in Eile; ich bekam Ihre 2 Briefe erst jetzt, da ich bis jetzt in Matliary warund Post mir nicht nachgeschickt wurde. Wann kommen Sie? Ich werde mich inzwischenverschiedentlich zu erkundigen suchen. Aber bitte Minze, wenn Sie kommen, überraschen Sie mich

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nicht, ich ertrage Überraschungen so schlecht, das lange Kranksein zehrt an den Nerven, die kleineSpinne, die jetzt an der Wand hinläuft, erschreckt mich, wie erst die große Minze, die Arbeiterin,wenn sie plötzlich hereinkäme. Also bitte, Minze, vorher schreiben, wo und wann wir uns sehenkönnen.Auf baldiges Wiedersehn!

Ihr Kafka

An M. E.(Prag, Anfang September 1921)

Liebe Minze, Sie kommen also Mitte September, das ist sehr gut (Ende September oder AnfangOktober werde ich wohl von Prag wieder fortfahren), vielleicht könnten Sie es vermeiden, am 13.oder 14. zu kommen, da ist meines Vaters Geburtstag, läßt es sich aber nicht vermeiden, könnenSie auch an diesen Tagen kommen. Sie sind jeden Tag willkommen. Wenn Sie an einemWochentag vormittag kommen, werde ich kaum auf dem Bahnhof sein können (ich muß für dievielen Almosen meiner Anstalt wenigstens paar Wochen beim Schreibtisch sitzen), dann kommenSie eben vom Bahnhof zu mir ins Bureau (Poøiè 7) »sich vorstellen«, ich bin dort bis 2 Uhr; derPortier ruft mich hinunter. Schade, daß Sie nicht diese Woche gekommen sind, Sie hätten beimeiner jüngsten Schwester (deren Mann diese Woche verreist ist und die im gleichen Hause wieich wohnt) schlafen können, um sich nicht allzu sehr zu ermüden durch das fortwährende Reisen,auch hätten Sie den Kongreß in Karlsbad sehn können.Jedenfalls aber schreiben Sie mir bitte vorher, wann Sie kommen, auf welchem Bahnhof, welcheStunde. (Sie hatten einmal eine befreundete Familie in Prag, die haben Sie nicht mehr?)Alles Gute

Ihr K

An Robert Klopstock(Prag, Anfang September 1921)

Lieber Robert, nicht einmal Ihren rekommandierten Briefhabe ich noch bestätigt...Mit Pick habe ich gesprochen, er weiß sogar von meinem Brief an Hegner. Hegner hat - was mannicht voraussehn konnte - die gute, den andern allerdings etwas nervös machende Gewohnheit,wenn er nicht »Ja« sagen kann, überhaupt zu schweigen. Nebenbei hat er einmal zu Pick gesagt:»Kafka schreibt mir, ich soll einen Freund von ihm ein Jahr lang in der Druckerei anstellen. Wassoll ich auf so etwas antworten?« Mit dieser rhetorischen Frage war unsere Angelegenheit erledigt.Holzmann hat aber - wie Pick sagt - gar nichts zu fürchten, wird sogar herzlich empfangen werden.Vielleicht haben Sie schon Nachricht darüber.Mir geht es gesundheitlich nicht sehr gut ; wenn ich nicht gleich nach der Rückkehr aus demBureau mich ins Bett legen würde und dort schon bliebe, könnte ich nicht bestehn. Die ersten Tagehabe ich es nicht getan und es hat sich gerächt. Dabei ist ja noch sehr schönes Wetter. Auch müdebin ich, nicht einmal die Hand kann ich heben, um Ansichtskarten nach Matlar zu schicken. GrüßenSie bitte alle.In Flauberts Tagebüchern lese ich diese schöne Anekdote: Eines Tages besuchte Chateaubriand miteinigen Freunden den See von Gaube (einen einsamen Bergsee in den Pyrenäen); alle saßen beimEssen auf derselben Bank, wo wir (Flaubert) gefrühstückt haben. Die Schönheit des Sees versetztealle in Entzücken. »Ich möchte hier immer leben« sagte Chateaubriand. »Oh, Sie würden sich hierzum Sterben langweilen« erwiderte eine Dame aus der Gesellschaft. »Was heißt das«, erwiderte derDichter lachend, »ich langweile mich immer.« Nicht das Geistreiche der Geschichte freut micheigentlich, es ist ja auch nicht außerordentlich, aber die Fröhlichkeit, das geradezu majestätischeGlück des Mannes. Alles Gute Ihr Kafka

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An Robert Klopstock(Postkarte. Prag, Stempel: 7. IX. 1921)

Lieber Robett, wie ist denn das: ich hätte gar nicht geschrieben? Zwei Briefe und eine Karte, eskann doch nicht alles verloren sein... - Ich bin müde und schwach und alle sind hier stark undfrisch. Eben ist Ernst Weiß hier gewesen, gar nicht böse, freundlich, und auch im Ganzen sanfterals sonst. Er erhält sich sichtbar nur durch seinen Willen gesund und sehr gesund. Wenn er wollte,könnte er ebenso krank sein, wie nur irgend jemand sonst.Viele Grüße

K

An Robert Klopstock(Prag, Mitte September 1921)

Lieber Robert, ich antworte nur vorläufig, Montag dann ausführlicher, zunächst bin ich noch einwenig taumelig von dem Brief, dann will ich es auch noch überlegen und schließlich mich mit Max(der schon längst in Prag ist, - der Kongreß ist schon vor ein paar Tagen geschlossen worden und erwar nicht einmal bis zum Schluß dort) und Ottla...beraten. Heute - das ist aber wie gesagt nochnicht endgültig - würde ich aus Angst vor der Stadt raten, jedenfalls die Berlangligeter Möglichkeitzu ergreifen und wenn sie nicht da ist, sie möglich zu machen suchen, allerdings für den Winter, diepaar Tage bis Mitte Oktober sind natürlich wertlos. Sollte B. oder Smokovec nicht möglich sein(der englische Fabrikant?), dann bleibt vielleicht nur Prag meines Wissens, denn Norddach, selbstwenn es möglich wäre, könnte doch nicht in ein paar Tagen erzielt werden und wenn es erzieltwerden kann, dann wohl leichter von Prag...Das also vorläufig, mir geht es ja ganz gut, eben messe ich 36,8 um sechs Uhr abends.

Ihr K

An Robert Klopstock(Prag, Mitte September 1921)

Lieber Robert, es ist ja nicht so schlimm, es ist bloß nicht gut und ich fahre gewiß, wahrscheinlichnach Görbersdorf, es scheint dort nicht teurer zu sein als in Matlar, freilich wäre ich lieberirgendwohin weiter gefahren, an den Rhein oder nach Hamburg, ich habe aber keine richtigenAntworten von dort bekommen. Über 37,3 geht die Temperatur nicht, aber über 37 ist sie täglich.Warum schreiben Sie nichts von sich? Gesundheit, Smokovec, Empfehlungsbrief, Aussee udgl.Ilonka hat Chokolade geschickt, das ist sehr lieb von ihr; wie eine kleine Vasallin schickt sie denTribut und wagt gar nichts dazu zu sagen. Wie still sie war und in der Erinnerung ist sie noch stillergeworden�..Letzthin war Janouch hier, nur für einen Tag vom Land, er hat sich brieflich angezeigt, er ist garnicht böse und besonders Ihr Brief hat ihm viel Freude gemacht. Er kam zu mir ins Bureau,weinend, lachend, schreiend, brachte mir einen Haufen Bücher, die ich lesen soll, dann Äpfel undschließlich seine Geliebte, eine kleine freundliche Försterstochter, er wohnt draußen bei ihrenEltern. Er nennt sich glücklich, mach t aber zeitweise einen beängstigend verwirrten Eindruck, siehtauch schlecht aus, will einen Maturakurs machen und dann Medizin (»weil es eine stille,bescheidene Arbeit ist«) oder Jus (»weil es zur Politik führt«) studieren. Welcher Teufel heiztdieses Feuer?Holzmann wird in Heidelberg studieren? Bei Hegner war er also nicht? Schade. Dann gehört erschon zum Teil Stefan George, es ist kein schlechter, aber ein strenger Herr.Was machen die Matlarer, Glauber vor allem, seine Poprader Pläne, wie hat die MünchnerAkademie geantwortet? Ist Szinay schon dort?Viele Grüße Ihres

K

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An Robert Klopstock(Ansichtskarte (Matlar). Prag, Stempel: 16. IX. 1921)

Da ich in Gedanken in Matlar bin (und keine andere Karte habe)schicke ich eine aus Matlar.Telegraphiert habe ich nicht, weil ich niemanden habe, der hinuntergeht und der Aufzug verdorbenist, dann weil mein Brief schon angekommen sein muß, dann weil ich mich schäme über meineGesundheit gar zu telegraphieren, dann weil es teuer ist, dann weil es doch erlaubt sein muß ohneStrafe dem eigensten Arzt gegenüber ein wenig übertrieben zu klagen: wem gegenüber dürfte manes dann? und schließlich weil schon ein Brief da liegt, der aber erst weggeschickt werden kann, bisdie Stellen, die von der Gesundheit handeln, unleserlich gemacht sind.

K.

An Robert Klopstock(Postkarte. Prag, Stempel: 23. IX. 1921)

Lieber Robert,... aus dem Schnupfen ist ein starker Husten geworden, heute war ich nicht imBureau, morgen gehe ich zwar hoffentlich wieder, aber jetzt gerade ist ein Telegramm derGärtnerin aus Pommern (die auch gar nicht böse ist) angekommen, in dem sie sich für morgenanzeigt, sie bleibt nur einen Tag, immerhin werde ich alle Kräfte zusammennehmen müssen unddabei ist sie freundlich und lieb und geduldig. Sie will einen Rat, aber die guten Ratschläge hängenzwischen den Sternen - darum ist dort so dunkel - wie soll man sie herunterholen.Es freut mich, daß Barl. vielleicht doch gelingen wird. Von Max werde ich in dieser Hinsicht jetztkaum etwas erreichen können, er ist sehr beschäftigt und gequält...An das Meer kann ich nicht, woher sollte ich das Geld nehmen? Auch wenn ich es »nehmen«wollte, könnte ich nicht. Auch ist es mir zu weit, aus Gesundheit will ich bis ans Ende der Weltfahren, aus Krankheit höchstens zehn Stunden.

KWie geht es Szinay? Grüßen Sie Glauber!

An Robert Klopstock(Prag, Ende September 1921)

Lieber Robert, gut, daß ich noch ein paar Tage Zeit habe, zum Professor zu gehn. Der PommerscheBesuch ist recht gut abgelaufen, war auch ganz kurz, nun aber ist etwas Größeres geschehn, dieBriefschreiberin, deren scharfe regelmäßige Schrift Sie kennen, ist in Prag und es beginnen dieschlaflosen Nächte.

Wenn Frl. Irene es so auffaßt, wie Sie im letzten Brief, dann ist es ja gut, bleibt nur die Trauer umden Zipser Ehemann, aber sie wäre wohl für ihn zu zart gewesen. Ich freue mich ja sehr, daß siehinauskommt. Es war wie ein Würfelspiel, zuerst schien es, daß Ihr Schüler Hellerau gewinnenwerde, dann hatte mein Neffe Aussichten, dann Sie (mit mir als Anhang), dann Holzmann undschließlich gewinnt es Frl. Irene, von der wir gar nicht wußten, daß sie mitspiele.Ist ein Telegramm von Dresden schon gekommen!

Ihre Cousine bleibt längere Zeit in Berlin? Malt dort?Nach Barl. komme ich nicht, Robert. Ich hätte noch lange in der Tatra bleiben können, aber wiederzurückzukommen, das wäre mir so, wie wenn ich mich mit meiner eigenen Krankheit, die dortgeblieben ist (ohne daß ich deshalb weniger hätte), wieder anstekken wollte. Ich will die Krankheitwieder anderswo tragen. Auch wollen die Ärzte ein regelrechtes Sanatorium mit Abreibungen,Packungen, Quarzlampe und besserer Kost, dabei ist es in Görbersdorf nicht teuerer als in Matlar,

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freilich auch nach Görbersdorf zu fahren, freut mich nicht. Unser Genferseeplan war doch derbeste.

Wunderbar ist es wie der Wille mit der Krankheit spielt, freilich auch wie schrecklich mit demWillen gespielt wird. Seit zwei Tagen huste ich kaum, das wäre nicht so merkwürdig, aber ichspucke auch kaum und habe in Mengen gespuckt. Aber mir wäre lieber, ich hustete ehrlich, stattdiesen »Pneumothorax« zu tragen.

Mit der Selbstwehr und der Kongreßzeitung geht es mir so wie Ihnen, ich bekomme sie auch nicht.Kommen Sie nicht nach Matlar!

Ist denn Szinay lungenkrank! Wohin geht er, nach Unterschmecks? (Ach so, Unterschmecks, das istja kein Lungenkurort?) Und Frau G.? Fährt Frl. Ilonka irgendwohin?Leben Sie wohl

Ihr K

An Robert Klopstock(Prag, September/Oktober 1921)

Lieber Robert, heute nur Frl. Irenens Sache. Ich war also bei Pick, er wußte nichts..., aber PaulAdler war dort, sehr bereitwillig, hat mir dann in einer Gesellschaft, in die ich allerdings gehnmußte, die beiliegenden zwei Briefe geschrieben; er ist ein ausgezeichneter Mensch; daß er es auchin dieser Hinsicht ist, hätte ich nicht erwartet. Der eine Brief ist an Prof. Dreher gerichtet, er ist einKunst-Akademieprofessor, etwa 45 Jahre alt, sehr freundlich, ebenso wie seine Frau, er ist einFreund des in beiden Briefen erwähnten Gross, welcher Direktor der Kunstgewerbeakademie ist.Sollte die Adresse Dresden A Waisenhausgasse 7 nicht genau stimmen, ist sie jedenfalls in derKunstakademie genau zu erfragen. Er könnte zwar auch in der Kunstakademie selbst aufgesuchtwerden, zuhause ist es aber vorteilhafter, weil Frl. Irene dann gleich mit der Frau bekannt wird undunter weiblichen Schutz kommt. Georg von Mendelssohn kenne ich flüchtig, er erinnert sichmeiner gewiß nicht, ihn aber kann man nicht vergessen, ein riesiger langer nordländischaussehender Mensch mit einem kleinen, entsetzlich energischen Vogelgesicht, man erschrickt vorseinem Wesen, seiner kurz abgehackten Rede, seiner scheinbar für jeden möglichen Fallablehnenden Haltung, aber man muß nicht erschrecken, er meint es nicht böse, zumindest nicht imDurchschnitt seines Verhaltens und ist unbedingt zuverlässig. Er steht im Mittelpunkt desdeutschen Kunstgewerbes, hat in Hellerau eine Kunstschmiede und gehört wohl in jeder Hinsichtzu den »Wissenden« des Kunstgewerbes.Da ich diese zwei Briefe bekommen hatte (in denen natürlich abgesehn von ihrerLiebenswürdigkeit aller möglicher Unsinn steht, über den des guten Zwecks wegen Frl. Irene wohlhinwegsehn wird, wie auch ich es tue) halte ich es für das Richtigste, sich jetzt nur auf Dresden zubeschränken. Frl. Irene wird dort, je nachdem sich ihr die Dinge zeigen, Gelegenheit haben, in einerkleineren persönlicher geleiteten Schule oder in der Kunstgewerbeschule selbst zu lernen,außerdem ist es eine schöne, angenehme und vor allem verhältnismäßig sehr gesunde Stadt (vielgesünder, gartenstadtmäßiger als München) und doch auch am nächsten zur Heimat.Ich habe deshalb das Gesuch nur dorthin geschickt; kommt keine Antwort oder eine ablehnendemacht es nichts, die Empfehlungsbriefe werden es wieder gutmachen und kommt eine günstigeAntwort, kann man sich den neuen Freunden in Dresden schon mit etwas ausweisen. Das Geld unddie Marken der andern Gesuche schicke ich deshalb in der Beilage vorläufig zurück. Dem Gesuchnach Dresden habe ich 20 Kronen beigelegt, 10 Kronen schien mir zu wenig.

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Ich schreibe Ihnen, weil mir Hunsdorf postalisch irgendwie unzuverlässig vorkommt, vielleicht istdas Frl. auch schon in Matlar.Herzliche Grüße dem Frl. und Ihnen

K

Damit Frl. Irene den Briefschreiber ein wenig kennen lernt, lege ich eine Kritik von ihm bei. Istdenn Hunsdorf Post? Das Telegramm soll ja hinkommen.

(auf separatem Bogen:)Und jetzt noch ein paar Worte im Vertraum zu Ihnen: Solange es sich nur um das hoffnungsloseExperiment einer Gesuchseinsendung handelte, hat es mich interessiert, aber doch nur von derFerne, so wie es z.B. bei Jules Verne interessiert, wenn man die leichtsinnigen Kinder auf demSchiff spielen sieht; das Schiff wird sich doch nicht zufällig losreißen, sagt man sich, und etwa insWeltmeer hinaustreiben, aber die entfernteste Möglichkeit dessen besteht doch und das ist ebeninteressant. Jetzt aber da es ernst wird und ich selbst mit hinein verflochten bin, ist es nicht mehrinteressant. Ihr Urteil in dem Brief halte ich nicht für richtig, wohl aber jenes des MünchnerRektors. Aber auch das ist nicht das Entscheidende, selbst wenn gar kein lebendiges Talent hieraufzufinden wäre - und das scheint, nicht so sehr für meine unwissenden Augen als für meineMenschenkenntnis tatsächlich der Fall zu sein - wäre es an sich nicht so schlimm, die Zucht derSchule, der Einfluß des Lehrers, die Verzweiflung des eigenen Herzens könnten doch etwasBrauchbares erreichen, das alles aber nur in früher Jugend, im Alter Frl. Irenes nicht mehr. Gewiß,sie lebte ihr Leben lang dort in dem Zipser Urwald (so erscheint es ja von der Geistesbeweglichkeitder Dresdner Herren aus gesehen) und diese zarte Ungeschicklichkeit, Scheu, menschliche,künstlerische, allseitigste Unerfahrenheit hat einen gewissen Materialwert, die radikale Änderungder Lebensweise wird stark wirken, eine gewisse immerhin bestehende Robustheit wird dieseWirkung ohne Schaden ertragen wissen, aber leider, wegen des Alters, auch ohne Nutzen. Undwelche Verantwortung trägt man, wenn man sie so hinaustreibt. Gerade jetzt in den Jahren, indenen sie sich noch durch eine Heirat retten könnte, wird sie im Ausland sein, erkennen, daß dieseHoffnung auch vergeblich war, beschämt zurückkommen und erst jetzt sehn, daß wirklich allesverloren ist. Ich bin unglücklich bei der Vorstellung, daß sie auf der Reise nach Dresden hierdurchkommen wird, ich sie sehen werde (zum Zeigen der Stadt bin ich übrigens zu schwach) undso werde tun müssen, als hätte ich Zuversicht. Und wenn ich mir vorstelle, wie derKunstakademieprofessor, der gute Sachse, sagt: »Nun also liebes Fräulein, zeigen Sie uns IhreArbeiten« und die Frau Kunstakademieprofessor steht auch dabei, möchte ich mich schon jetzt,trotzdem ich auch dann örtlich weit von der Szene entfernt sein werde, vor den Schrecken der Weltin ein Erdloch verkriechen. Die Empfehlungsbriefe sind schön, noch schöner wäre es, sie zuzerreißen.

Ich war gestern noch in einer Gesellschaft, die zusammengekommen war, um eine neue jungeRezitatorin zu hören (deren künstlerische Zukunft - sie lernt bei Reinhardt - mir übrigens nicht vielweniger verzweifelt vorkommt als die Frl. Irenens) -, dann war ich aus Schwäche noch imKaffeehaus, kam nervenzitternd nachhause, ich ertrage jetzt nicht einmal die Blicke der Menschenmehr (nicht aus Menschenfeindschaft, aber die Blicke der Menschen, ihre Anwesenheit, ihrDasitzen und Herüberschauen, das alles ist mir zu stark) hustete mich stundenlang* in einenMorgenschlaf hinüber und wäre am liebsten aus dem Leben hinausgeschwommen, was mir wegender scheinbaren Kürze der Wegstrecke leicht schien.

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Zu Münzer gehe ich erst in ein, zwei Tagen.

Warum geht das Fräulein nicht lieber in eine Gartenbauschule?Übrigens, vielleicht gäbe es etwas derartiges auch in Dresden.Eben sehe ich, daß Frl. Irene nicht 28 Jahre alt ist, wie ich dachte, sondern 26, diese Kleinigkeitgibt doch vielleicht ein wenig Hoffnung.

* nicht telegraphieren! Ich habe nicht stundenlang gehustet, sondern stundenlang nicht geschlafenund dabei auch ein wenig gehustet.

An Robert Klopstock(Zwei Postkarten. Prag, Stempel: 3. X. 1921) Sonntag

Lieber Robert.ich verstehe nicht die Nachrichtenlosigkeit, eine Karte und ein Brief müssen doch angekommensein. Bis Donnerstag bin ich ganz in Anspruch genommen, in Wirklichkeit weniger als inGedanken, dann kommt wieder die Ruhe. Es geht mir besser, als ich im ersten großen Schreckenbefürchtete, aber Gefahren bleiben und steigen...Herzliche Grüße

K(Randbemerkung:) Wo bleibt Frl. Irene?(Einen mitgesandten Fragebogen mit den von Klopstock vorgeschriebenen Rubriken »Temperatur,Husten etc.« hat Kafka unausgefüllt gelassen.)

An Ludwig Hardt(Prag, Anfang Oktober 1921)

Verehrter Herr Hardt,ich bin nachmittag um 6 Uhr unten im Blauen Stern. Ich komme so spät und gehe bald wieder, weilich meine wenigen Kräfte sparen will, um bestimmt Mittwoch abend kommen zu können. Natürlichkann ich nicht voraussetzen, daß Sie gerade in dieser zufälligen Stunde Zeit haben werden; habenSie keine Zeit, dann schicken Sie mich brieflich fort, ich werde beim Portier nach, fragen. Sollte ichSie auf diese Weise Dienstag nicht mehr sehen können, dann bitte ich Sie nur um eines: Wäre esmöglich und wären Sie so freundlich, Mittwoch die Kleistsche Anekdote in das Programmaufzunehmen?Ihr herzlich ergebener

Kafka(Nachschrift mit Bleistift:)Verehrter Herr Hardt, eben kam Ihr Brief, gewiß wäre der Abend das Beste, aber ich getraue michnicht, an zwei Abenden gleich nacheinander bei diesem regnerischen Wetter auszugehen. Ich werdedeshalb doch versuchen Sie um 6 Uhr zu treffen. Gelingt es nicht, werde ich versuchen um halbneun zu kommen, doch werde ich hinsichtlich dessen um sechs Uhr noch einen Zettel beim Portierlassen. Was für Kompliziertheiten! Nehmen Sie es mir, bitte, nicht übel.

An Robert Klopstock(Postkarte. Prag, Stempel: 4. X. 1921)

Lieber Robert, bitte nicht böse sein oder, was dasselbe ist, nicht so unruhig. Unruhig bin ich auch,aber anders. Die Lage ist klar, mit uns beiden spielen die Götter, aber es sind andere bei Ihnen,andere bei mir, das müssen wir mit Menschenanstrengung auszugleichen suchen. Ich kann nicht

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viel über die Hauptsache sagen, sie ist, auch für mich selbst, eingesperrt in das Dunkel der Brust,sie liegt dort wohl neben der Krankheit auf gemeinsamem Lager. Donnerstag oder Freitag werdeich wieder allein sein, dann schreibe ich Ihnen darüber vielleicht, ausführlich allerdings auch dannnicht, es gibt, mich eingeschlossen, keinen Menschen, der etwas Ausführliches darüber erfahrenkönnte. - Ein wenig, und wenig ist bei mir leider viel, bin ich noch von einem (allerdings, aber hiergibt es kein allerdings, bewundernswerten) Rezitator in Anspruch genommen, der für ein paar Tagehier ist.

Ihr K

An Robert Klopstock(Prag, Anfang Oktober 1921)

Lieber Robert, es geht nicht, meine Schwester war dort. Ein neuer Paß würde 191 KC kosten,abgesehen davon aber, daß dies, für ein Nichts gezahlt, ein ungeheuerer Preis wäre, wollten sienicht einen neuen Paß ausstellen, der alte sei noch sehr gut, sie hätten schon viel schlechtere Pässegehabt u.s.f. Allerdings es sei nicht richtig gewesen, die Blätter einzunähn, aber auch das machenichts, übrigens haben sie jetzt zur Sicherheit alle Blätter mit Stampiglien versehn, mehr war nichtzu erreichen. Man hätte höchstens die Wahrheit sagen können, aber dann hätte man eben dengroßen Preis zahlen müssen.Gestern war Frl. Irene hier, mein Verdacht gegen die Angelegenheit ist nicht beseitigt, es ist einwahnwitziges Unternehmen, so wahnwitzig, daß es nicht einmal schön ist zuzuschauen. Ich werdeentzückt sein, wenn es halbwegs gut ausgeht, ich werde nicht nur im Einzelfall widerlegt sein, meinganzes Weltbild wird beeinflußt sein. Heute mittag ist sie weggefahren, vielleicht war sie vormittagnoch mit Hardt zusammen und hat von ihm eine Empfehlung bekommen. - Ich denke ja bei demGanzen sehr an mich, es ist so, wie wenn ich etwa heute meinem Traum nachgeben und mich beieiner Skautstruppe zehnjähriger Jungen anmelden wollte.Von Ihnen wußte Frl. Irene kaum etwas zu erzählen, nichts von Barl., nichts von Matlar, nichts vonFrau G. - Aber lieb und zart ist sie natürlich, daran will ich mit meinem groben Urteil nicht rühren.Ein wenig Ruhe habe ich schon, bin aber jetzt sehr müde von den Anstrengungen der letzten Tage,Gesamtzustand nicht zu schlecht.Alles Gute!

Ihr K

An Robert Klopstock(Postkarte. Prag, Stempel: 8. X. 1921)

Lieber Robert, um einen Tag wurde es verlängert, nun ist es vorüber. Jetzt ist noch Hardt da,bewunderungswürdig in vielem, sehr liebenswert in manchem. Dienstag fährt er weg, dann wird esstill sein, ich bin in diesen Tagen während des Tages kaum gelegen, bin aber nicht sehr müde, imHusten sogar sehr kräftig. Morgen fahre ich ein tschechisches Sanatorium mir ansehn, inGörbersdorf wird erst Ende November ein Zimmer frei, auch sind sie antivegetarianisch. Nun mußes ja hinsichtlich Barl. endlich entschieden sein? Und Frl. Irene?Sie mögen Leid haben, Robert, natürlich, aber dann können Sie andern die Schuld geben und wennSie wollen, müssen Sie niemandem die Schuld geben, desto besser, was für ein freies, schönesLeben.

Ihr K

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An M. E.(Ansichtskarte. Prag, Stempel: 11. X. 1921)

Der Faulenzer und die ArbeiterinLiebe Minze, lange war ich untergetaucht, habe einfach Ihr schönes Bildchen mit Freudeeingesteckt, zwei Karten und den Brief gelesen, als säßen Sie vor dem Kanapee und erzählten mir,und im übrigen habe ich mich mit einigen aufregenden, erschöpfenden Besuchen beschäftigt, warhie und da auch im Bett, hatte keinen Augenblick Zeit, sei es infolge von Beschäftigung, sei esinfolge Müdigkeit, und wußte allerdings auch, daß es zwischen uns nicht entscheidet, ob ich heuteoder morgen schreibe, denn wir. werden nicht nervös, wenn einer einmal nicht schreibt, jeder weißdoch vom andern, ein wie eisern fester Mensch er ist. - Aus der holländischen Reise wird nichts?Schade, schade. - Ich bleibe noch ein wenig in Prag. Herzlichste Grüße auch den Freundinnen

Ihr KMeiner Schwester (die Sie herzlich grüßen läßt) Adresse:Ottilie David Prag Altstädter Ring 6

An Robert Klopstock(Prag, Mitte Oktober 1921)

Lieber Robert, immerfort sind Sie mit mir unzufrieden. Das kann mir unmöglich gesund sein. Ichbin genau der Gleiche, der ich in Matlar war und doch waren Sie dort nicht immerfort mit mirunzufrieden, freilich das Beisammenleben verwischt wohltätig die Linien. Man könnte aus demGanzen schließen, daß, wenn Sie mir vollständig auf die Schliche kämen, Sie überhaupt nichtsmehr von mir wissen wollten.Der Vergleich mit Ihrer Cousine droht mir immer wie eine Rute. Und doch habe ich gewiß mitIhrer Cousine nichts Entscheidendes gemeinsam außer Sie selbst. In früheren Jahren pflegte meinVater, wenn ich irgendeine scheinbare Dummheit, in Wirklichkeit aber die Folgerung aus einemGrundfehler machte, zu sagen: »Der ganze Rudolf!«, womit er mich mit einem für ihn äußerstlächerlichen Stiefbruder meiner Mutter verglich, einem unenträtselbaren, überfreundlichen,überbescheidenen, einsamen und dabei fast geschwätzigen Menschen. Im Grunde hatte ich kaumetwas Gemeinsames mit ihm, außer dem Beurteiler. Aber die quälende Wiederholung desVergleiches, die fast körperliche Schwierigkeit, einem Weg, an den man früher gar nicht dachte,nun um jeden Preis auszuweichen, und schließlich des Vaters Überzeugungskraft oder, wenn manwill, seine Verfluchung, brachten es doch zustande, daß ich mich dem Onkel wenigstens näherte.Die ganze Pneumothoraxgeschichte war doch nur Scherz, ich war mit andern Dingen als mit meinerLunge beschäftigt, die Lunge hat die Berechtigung dessen eingesehn und war ein Weilchen langstiller, sie hat sich seitdem dafür schon wieder entschädigt.Daß Sie allein sind, ist freilich nicht gut, trotzdem man auch das nicht mit Bestimmtheit sagenkann. Sie studieren? Wie sind die Temperaturen?Wissen Sie nichts von Ilonka, Frau Galgon? Szinay ist also lungenkrank, ist das möglich?Alles Gute!

Ihr K(Randnotiz:) Von was für einem Buch sprachen Sie, das ich Ihnen versprochen hätte?

An Robert Klopstock(Prag, Oktober 1921)

Lieber Robert, hier ist der Paß, ich war auch wieder krank, darum ist auch das wieder verspätet.Hoffentlich können Sie ihn schon bald gebrauchen. Das Schlimmste ist ja in Ihrem Fall nicht dieKrankheit, so traurig und unbegreiflich das Fieber auch ist, sondern daß sie zusammentrifft mitjenen manchmal Sie überkommenden Verzweiflungsanfällen, die wiederum herkommen aus dem

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Nichts, aus der Jugend, aus dem Judentum und aus dem allgemeinen Leid der Welt. Trost gibt imgewöhnlichen Tagesleben eigentlich nur die Erfahrung, daß man, so unglaublich es ist, doch wiederhinauskommt aus den bodenlosen Abgründen manchen Augenblicks.

Ihr K

An Robert Klopstock(Prag, November 1921)

Lieber Robert, ich verstehe den Brief vielleicht nicht ganz; heißt es, daß die Engländer auch zueiner Kur in der Tatra kein Geld geben, trotzdem doch der Professor, soweit ich mich erinnere,Ihnen fast die Zusage machte, daß Sie in der Tatra bleiben können? Und wollen Sie nun sofort nachPrag, in die Stadt? An einem warmen Nachmittag durch die innere Stadt zu gehn und sei es noch solangsam, ist für mich so, wie wenn ich in einem lange nicht gelüfteten Zimmer wäre und nichteinmal mehr die Kraft hätte, das Fenster aufzustoßen, um endlich Luft zu bekommen. Und hierständig sein? Im Seziersaal? Im Winter, in geheizten, ungelüfteten Zimmern? Und dies ohneÜbergang, gleich aus der reinen Bergluft? Meinen Sie es so, daß Sie gleich kommen wollen?...Des Mädchens Brief ist schön, ebenso schön wie abscheulich, das sind die verführerischenNachtstimmen, die Sirenen haben auch so gesungen, man tut ihnen unrecht, wenn man glaubt, daßsie verführen wollten, sie wußten, daß sie Krallen hatten und keinen fruchtbaren Schoß, darüberklagten sie laut, sie konnten nicht dafür, daß die Klage so schön klang.Mit Mädchenbriefen sind Sie also gut versehn. Wer Heddy ist, weiß ich gar nicht. Armer Glauber.Aber vielleicht beschleunigt es eine günstige Entwicklung, das Mädchen muß sich doch eigentlichseiner annehmen, sich also gegen den Vater stellen, dabei ihre eigenen Bedenken gegen dieHauptsache zurückstellen u.s.f.Die Selbstwehr ist seitdem noch nicht erschienen, die Kongreßzeitung geht manchmal zu mir,manchmal nach Matlar, sie war bis auf die letzte Nummer (aber auch die würde Sie kauminteressieren, es handelt sich um Vorschläge für intensive Bodenbearbeitung) nicht lesenswert,trockene Auszüge der Reden.Die Kinder machen mir Freude. Gestern z.B. saß die vorletzte Nichte (ihr Bild habe ich Ihneneinmal gezeigt) auf dem Fußboden, ich stand vor ihr. Plötzlich bekam sie aus äußerlichunerkennbarem Grund große Angst vor mir und lief zu meinem Vater, der sie aufs Knie nehmenmußte. Die Augen hatte sie voll Tränen und zitterte. Da sie aber sehr sanft und zart und freundlichist, beantwortete sie doch, durch des Großvaters Arm allerdings auch schon ein wenig gesichert,alle Fragen, also z.B., daß ich der Onkel Franz bin, daß ich brav bin, daß sie mich sehr gern hatudgl., aber immerfort zitterte sie dabei noch, vor Angst.Herzliche Grüße

Ihr K

An Robert Klopstock(Prag, November 1921)

Lieber Robert,nun hört die Furcht allmählich schon auf, es war aber doch arg.Ärgerlich sind die Temperaturen. Und ohne besonderen Grund? Liegen Sie zumindest so viel wieim Sommer? Und wie ist Ihre Stellung in Matlar?...Von Frl. Irene hatte ich einen Brief, geschrieben vor Beginn der Probezeit. Offenbar ist man dortsehr freundlich zu ihr, auch die beiden von Hardt ihr genannten Mädchen scheinen sich ihranzuschließen, trotzdem in dieser Hinsicht Hardt, wie er mir privat sagte, von diesen ganz andersgearteten feurig geistigen russischen Jüdinnen nicht viel erhoffte. Hoffentlich geschieht es nichtnach dem alten Gesetz: Wem nicht zu helfen ist, dem wollen alle helfen (Sie kennen die »Räuber«?

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Dem Mann, welchem geholfen werden kann, hilft nur der große Held, die Menge wirft sich auf dieUnrettbaren).Wenn es Frl. Irene nur gut ginge! Ihr Brief war aufregend.Lesen Sie »Bocksgesang« in der Prager Presse? Äußerst interessant ist es. Dieser Kampf mit denWellen und immer wieder kommt er hervor, der große Schwimmer. Morgen sollte ich ihn sehn, ichgehe aber nicht hin.Die Selbstwehr schicke ich Ihnen Montag, es tut nichts, wenn Sie ein wenig nach ihr hungern,nachdem Sie sie früher oft mißachtet haben. Auch das Lehrbuch schicke ich.Von der neuen Kur ist noch nichts zu sagen. Der Arzt erhaben kindlich lächerlich wie die meisten.Nachher habe ich sie dann sehr gern. Es kommt doch nur darauf an, daß sie das Beste tun, was siekönnen, und je weniger das ist, desto rührender ist es. Und manchmal überraschen sie ja doch.

Ihr KAlles Gute!Grüßen Sie Glauber und Szinay.

An Robert Klopstock(Prag, Anfang Dezember 1921)

Lieber Robert, was sind Sie doch für ein Mensch! Fräulein Irene ist aufgenommen. Ein Mädchen,das in 26 Jahren (offenbar entsprechend ihren Anlagen) keine andere Kunstarbeit gemacht hat, alsdie schlechte Kopie einer schlechten Ansichtskarte, keine andere Ausstellung gesehn hat als dievon Hauptmann Holub, keinen Vortrag gehört hat außer den von Saphir, keine Zeitung gelesen hataußer die Karpathenpost - dieses Mädchen ist aufgenommen, schreibt halbglückliche Briefe nichtohne Feinheit, ist die Freundin eines offenbar bedeutenden Mädchens. Wunder über Wunder undvon Ihnen heraufgezaubert. Ich wärme mich daran in diesem traurigen Winter.

Ihr K

An Robert Klopstock(Prag, Anfang Dezember 1921)

Lieber Robert, merkwürdig die Geschichte Ihres Onkels, wie von Pallenberg gespielt. Die Luft desZimmers spürt man in Ihrem Brief. Was aber nachher kam, haben Sie mir nicht geschrieben, nurwas die Staatsbürgerschaft betrifft.Die Berufswahl- nun, daß Sie etwas anderes als Arzt werden sollten, daran habe ich nie gedacht,seitdem ich Sie nur ein wenig kenne. Daß das eine Beschäftigung nur für Wohlhabende sei, stimmtwahrscheinlich für Mitteleuropa, für die übrige Welt und besonders für Palästina, das sich soerfreulich in Ihren Gesichtskreis zu schieben beginnt, nicht. Und eine physische Beschäftigung istes doch auch. Und dann Halb- und Halb-Berufe, d.h. Berufe ohne Ernst sind abscheulich, ob siephysisch oder geistig sind, und werden, wenn sie menscherfassend sind, herrlich, ob physisch odergeistig. Das ist schrecklich einfach zu erkennen und es ist schrecklich schwer , den lebendigen Weghindurch zu finden. Für Sie übrigens nicht einmal so schwer, denn Sie sind Arzt. Hauptsächlich giltes ja nur für die Durchschnittsmasse der Juristen, daß sie erst zu Staub zerrieben werden müssen,ehe sie nach Palästina dürfen, denn Erde braucht Palästina, aber Juristen nicht. Ich kenne flüchtigeinen Prager, der nach ein paar Jahren Jusstudium es gelassen hat und Schlosserlehrling gewordenist (gleichzeitig mit dem Berufswechsel hat er geheiratet, hat auch schon einen kleinen Jungen), istjetzt fast ausgelernt und fährt im Frühjahr nach Palästina. Freilich gilt bei solchem Berufswechselgewöhnlich, daß die Lehrzeit Unstudierter drei Jahre, die Lehrzeit Studierter Sechs und mehr Jahrebeträgt. Übrigens war ich letzthin einer Ausstellung von Lehrlingsarbeiten, wo aus allenHandwerken nach ein- bis zweijähriger Lehrzeit schon erstaunliche Leistungen (allerdingsUnstudierter) zu sehen waren.

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Daß Ihre Cousine nicht in Berlin bleibt, ist merkwürdig; es bedeutet doch etwas, als halbwegs freierMensch Berlin zu verkosten. Es spricht sehr für die Kunst Ihrer Cousine oder sehr gegen sie, daßsie so leicht Berlin verläßt. Das andere aber, daß sie nicht über die Tatra fährt und nicht mit mirsprechen will, das ist nicht merkwürdig und wundert mich nicht.Wenn Sie »Jawne und Jerusalem« von Bergmann nicht haben, werde ich es Ihnen schicken.Wie leben Sie jetzt? Was arbeiten Sie? Bei meinem Cousin war ich noch nicht wieder. Ich fangeauch an zu den Leuten zu gehören, die keine Zeit haben. Der Tag ist genau eingeteilt zwischenLiegen, Spazierengehn und dgl., nicht einmal zum Lesen habe ich Zeit und Kraft. Nach ein paarfieberfreien Tagen jetzt wieder Fieber. Der Arzt hat mir nur einen Tee verschrieben, der, wenn ichden Arzt richtig verstanden habe, kieselsäurehaltig ist und Kieselsäure soll, wie er irgendwo(hoffentlich in keiner humoristischen Zeitschrift) gelesen hat, die Vernarbung befördern. Vielleichtversuchen Sie ihn auch. Ich schreibe Ihnen das Rezept ab, wenn ich hinauf in meine Wohnungkomme, ich schreibe jetzt in der Wohnung meiner Schwester, mein Zimmer, die kalte Hölle, istungeheizt.Herzliche Grüße, auch Glauber und Steinberg.

Ihr KSchreiben Sie mir von Ilonka und Frau Galgon.Einen Brief und das Lehrbuch müssen Sie von mir bekommen haben.

An Robert Klopstock(Prag, Dezember 1921)

Lieber Robert, übertreiben Sie nicht ein wenig im Urteil über Ilonka? Sie ist ängstlich, von derWelt bedrückt, traut ihrem Urteil nicht, hat aber genug gute Nerven, um sich nach fremdem Urteilzu verhalten, hoffentlich hat sie diese Nerven. Und ist freilich zart genug, daraus keine Heldentat zumachen, sondern den Jammer sich und andern einzugestehn, leider hat sie diese Zartheit, halte iches nicht durchaus für ein Unglück, daß sie dem Vater gefolgt hat; wer seinem Urteil traut, mußnicht immer recht haben, wer aber seinem Urteil nicht traut, hat wohl immer recht. Und außerdemist die Ehe, meistens wenigstens, ein verhältnismäßiges Glück, nur den Brautstand muß manüberstehn. Darin habe ich Ilonka in meinem Brief zu bestärken gesucht. Wissen Sie etwas Neuesvon ihr? Und warum schreiben Sie kein Wort von Frau Galgon?Sie übertreiben hinsichtlich Ilonkas, ich hinsichtlich Irenens. Ich übertreibe vor Glück, daß einsolcher Kindertraum irgendwo in meiner Nähe wenigstens der Form nach gelebt wird, daß es sovielNaivität, infolgedessen soviel Mut, infolgedessen soviel Möglichkeiten auf der Welt gibt. BeidenEinzelheiten müßte man sich aber nicht so aufhalten, trotzdem gerade sie es sind, die michglücklich machen. Was ist denn hier Kraus, Kokoschka u.s.w.? Diese Namen nennt man in diesenKreisen Dresdens täglich so oft wie in Matlar die Lomnitzer Spitzen und bestenfalls im gleichenSinn: die ewige Monotonie der Berge müßte einen verzweifeln lassen, wenn man sich nichtmanchmal zwingen könnte, sie schön zu finden. Die »wundertätigen« Briefe (Robert!) waren dreiBleistiftzettel, in denen ich ihr und mir gratulierte.

Mein Zustand ist nicht schlechter als in Matlar im Winter. Temperatur und Gewicht sind nicht ganzso gut wie in Matlar, sonst aber ist keine Verschlechterung, gewiß nicht. Als Werfel hier war, warmir wohl etwas schlechter als jetzt, das war aber nicht der Grund des Verbotes. Der Arzt istüberhaupt gegen den Semmering, weil er zu rauh ist, überhaupt gegen jeden dauerndengewaltsamen Wechsel, außerdem gegen eine Unterbrechung seiner Behandlung. In gewissemWiderspruch dazu steht allerdings, daß er Ende Jänner mit seiner Familie nach Spindelmühle fährt(Riesengebirge) und mich mitnehmen will, allerdings nur für vierzehn Tage.

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Haben Sie in der Prager Presse den Artikel von Upton Sinclair über Dr. Abram gelesen, ich hielt esfür einen Spaß, aber man leugnet es. . . .In Ihrer Sache ist teils durch meine Nachlässigkeit, teils ohne meine Schuld, noch nichts geschehn.Zuerst hat es mein Cousin übernommen, der mit Münzer durch seine Frau verwandt ist, aber derCousin kränkelte immerfort und ist jetzt ernstlich krank. Ich nahm also die Papiere von dort undgab sie Felix Weltsch, vielleicht höre ich Sonntag etwas darüber.

Ihr KGrüßen Sie Glauber, Szinay, Steinberg. Und Holzmann? Er hat Ihnen George geschickt?

Unter den Zeitungen, die ich Ihnen schicke, ist ein »Reformblatt« mit einem Aufsatz überRöntgenbehandlung. Sollte etwas Bemerkenswertes darin sein, schreiben Sie mir bitte gelegentlichein paar Worte darüber, die Zeitungen sind schon eingepackt, ich will sie nicht auseinandernehmen.

An Robert Klopstock(Prag, Dezember 1921 / l. Januar 1922)

Lieber Robert, so sehr sicher ist die Bestätigung der Abramschen Dinge, die ich habe, nicht. MeineSchwester hat nur mit Rudolf Fuchs darüber gesprochen, welcher ihr sagte, das wären bekannteDinge, der sogenannte Abramismus, auch Bücher wären schon darüber geschrieben. Daß er Spaßgemacht hat, glaube ich nicht; wo er vom Abramismus gehört hat, ob etwa in der Redaktion, weißich nicht. Ich selbst spreche mit niemandem außer mit Max (manchmal mit Oskar und Felix) undmeinem Arzt, die beiden wissen nichts davon, allerdings haben sie auch den Aufsatz nicht gelesen.(Können Sie mir die Nummer des Blattes sagen?) Mein Arzt (der übrigens daran schuld ist, daß ichden ersten Anfang dieses Briefes, in dem ich mich über den Arzt ausgeschwätzt habe, wegwerfenmußte) ist jünger als ich, leidenschaftlicher Arzt, interessiert sich auch besonders für Krebs, hat mirauf meine Erzählung hin ein Buch über Radioaktivität gezeigt, das er gerade studiert hat, vonAbram weiß er aber nichts.Ihre Selbstvorwürfe wegen Abram! Solche Dinge, solche Bekenntnisse sind es, die mir die Weltseit jeher fern halten. Wenn wirklich das Auftreten einer solchen Sünde etwas Außerordentliches,Vereinzeltes, besonders Schreckliches ist, dann verstehe ich nicht nur nicht die Welt, das istselbstverständlich, dann aber ist sie aus anderem Stoff als ich. Für mich wäre eine solche Sündenichts als ein Tropfen in dem Lebensstrom, auf dem ich fahre, glücklich, wenn ich nicht ertrinke.Eine solche Sünde hervorheben scheint mir das Gleiche, wie wenn jemand die Abfallwässer vonLondon untersuchen und eine einzige tote Ratte in ihnen finden würde und auf Grund dessen zudem Schlusse käme: »London muß eine äußerst widerliche Stadt sein« .Die Angst wegen des Arbeitsstoffes ist immer wohl nur ein Stocken des Lebens selbst. Man ersticktim allgemeinen nicht, weil es an Luft, sondern weil es an Lungenkraft mangelt.Ihre Erklärung der Abramschen Dinge ist sehr gut, nur die Elektronen verstehe ich nicht, nichteinmal den Namen.Das Reformblatt ist gewiß ein sehr lächerliches Blatt, aber die Lächerlichkeit entwertet es nicht,sondern ist nur eine Hinzugabe. Die Bestrebungen dieses Blattes und anderer ähnlicher sindvielleicht lebendiger als ihre Träger und warten nur in diesem Halbdunkel auf ihre Zeit...Alles Gute

Ihr KWie ist die Gesundheit und die Arbeit? Und warum noch immer nichts über Frau Galgon?

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An M. E.(Ansichtskarte (Spitzwegs »Hochzeiter«).

Prag, Winter 1921/22)Sehr lieb ist es, Minze, daß Sie mich nicht vergessen haben, wobei ich allerdings Ihre Karte nichtals ein Verzeihen meines langen Schweigens auffasse - verzeihen ist leicht - sondern als einVerstehen meines besonderen Falles oder richtiger: kein deutliches Verstehn, sondern einverständiges Dulden. Und das ist doch wirklich sehr lieb. Sind Sie ein wenig froher als damals, daSie mir zum letztenmal schrieben und ich wahrhaftig nichts zu antworten wußte? Ich pflege mit derStirn oft an eine solche Grenze zu schlagen.Herzliche Grüße

Ihres K

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1922

An Robert Klopstock(Prag, Ende Januar 1922)

Lieber Robert, wieder ein Tadelbrief, soweit ich ihn verstehe (das Deutsch - nicht dieses ist aberder Grund des Nichtverstehns - ist ein wenig sonderbarer als früher, nicht etwa falsch, gar nicht,aber sonderbarer, so als wären Sie wenig mit Deutschsprechenden beisammen), müssen Sie michimmerfort tadeln? Tue ich das nicht selbst genug? Brauche ich darin Hilfe? Aber gewiß brauche ichdarin Hilfe. Und Sie haben auch an sich recht, aber ich bin so sehr damit beschäftigt, einemimaginären Balken nachzujagen, in dem fortwährenden realen Schiffbruch, daß ich gegen allesandere wahrscheinlich nicht anders als böse sein kann. Besonders was Briefe anlangt, Briefe vonMann wie von Frau. Briefe können mich freuen, mich rühren, mir bewunderungswürdig scheinen,aber sie waren mir früher viel mehr, zu viel, als daß sie jetzt eine wesentliche Form des Lebens fürmich sein könnten. Ich bin nicht von Briefen getäuscht worden, aber mich habe ich mit Briefengetäuscht, mich förmlich jahrelang im voraus gewärmt an der Wärme, die schließlich erzeugtwurde, als der ganze Haufen Briefe ins Feuer kam...Maxens Roman hat für mich große Bedeutung gehabt. Schade, daß ich nicht imstande bin einiges(z.B. die Spionagegeschichte, die Jugendtagebuchgeschichte) vor Ihren Augen wegzuziehn, damitSie in die Tiefe des Buches sehen können. Wenigstens meiner Meinung nach hindern das jeneGeschichten, aber für den Roman, das ist eben seine Schwäche, sind sie doch nötig. Geben Sie sichMühe hindurchzusehn, es steht dafür.Über Bocksgesang sagten Sie nichts.Die Münzermitteilungen haben Sie wohl bekommen.Einige Zeitschriften schicke ich morgen, vom Feuerreiter bekam ich nur das erste Heft.Freitag fahre ich nach Spindelmühle, für vierzehn Tage. Mögen diese besser sein als die letztenschlaflosen drei Wochen, das ging an Grenzen, die ich in Matlar noch nicht berührt habe.Wie richten Sie Ihre Zukunft ein? Wohnung habe ich noch nicht, aber bei der Ymca sind, wie mirMax (der dort vor ein paar Tagen einen Vortrag gehalten hat) erzählte, schöne stille angenehmeTag- und Studierräume für Studenten, Liegeräume, Badezimmer u.s.w., aber kein Nachtlager.Leben Sie wohl und grüßen Sie schön Glauber.

Ihr K

An Robert Klopstock(Postkarte. Spindelmühle, Ende Januar 1922)

Lieber Robert, in Spindelmühle, unter äußerlich ausgezeichneten Verhältnissen, in den erstenTagen auch sonst gut, jetzt schlaflos, schlaflos bis zur Verzweiflung. Sonst aber kann ich rodelnund bergsteigen, hoch genug und steil, ohne besondern Schaden, das Thermometer wird nichtbeachtet. Ottla hat Ihnen wohl schon geschrieben, wann das Semester beginnt. Leben Sie wohl undauf Wiedersehn! Wie Sie jetzt nach eineinhalb Jahren Bergleben und wüstem Bergleben sich in dieStadt werfen werden!

Ihr K

An Max Brod(Ansichtskarte. Spindelmühle, Stempel: 31. I. 1922)

Lieber Max, der erste Eindruck war sehr gut, viel besser als in Matlar, im zweiten Eindruckerwachen dann die Geister des Ortes, doch bin ich sehr zufrieden, es könnte gar nicht besser sein;wenn es so bleibt, werde ich mich erholen. Bin schon gerodelt, werde es vielleicht sogar mit den

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Skiern versuchen. Leb wohl. Du hast mir in den letzten Tagen viel geholfen. Ich erwarte dieSchandauer Nachricht.

Dein

An Max Brod(Postkarte. Spindelmühle, Ankunftstempel: 8. II. 1922)

Liebster Max, schade, schade, daß Du nicht für ein paar Tage kommen kannst, wir würden, wenndas Glück es wollte, den ganzen Tag bergsteigen, rodeln, (Skilaufen auch? Bisher habe ich fünfSchritte gemacht) und schreiben und besonders durch das letztere das Ende, das wartende Ende, einfriedliches Ende herbeirufen, beschleunigen, oder willst Du das nicht? Mir geht es wie imGymnasium, der Lehrer geht auf und ab, die ganze Klasse ist mit der Schularbeit fertig und schonnachhause gegangen, nur ich mühe mich noch damit ab, die Grundfehler meiner mathematischenSchularbeit weiter auszubauen und lasse den guten Lehrer warten. Natürlich rächt sich das wie allean Lehrern begangene Sünden.Bis jetzt habe ich fünf gute, die sechste und siebente Nacht aber schon schlecht verbracht, meinInkognito ist gelüftet.

Dein

An Johannes Urzidil(Spindelmühle, Stempel: 17. II. 1922)

Sehr geehrter Herr Urzidil,Meinen herzlichen Dank für das Buch. Es hat mich im Wesen, aber auch im Aufbau sehr an IwanIljitsch erinnert. Zuerst Werfels sehr einfache und schreckliche Wahrheit (wahr auch derunheimliche »freudig Lug-Gewillte«), dann das Sterben dieses jungen Menschen, der drei Tage-und Nächte-Schrei, man hat in Wirklichkeit keinen Laut davon gehört, und wenn es hörbar gewesenwäre, wäre man ein paar Zimmer weiter gegangen, es gibt keinen anderen »Ausweg« als diesen undschließlich Ihr männliches und deshalb trostreiches Nachwort, zu dem man sich natürlich amliebsten schlagen würde, wenn es nur nicht, wie es in der Natur des Trostes liegt, zu spät käme,nach der Hinrichtung. Es ist bei Iwan Iljitsch nicht anders, nur ist es hier im »Vermächtnis« nochdeutlicher, weil jedes Stadium sich besonders personifiziert.Mit herzlichen Grüßen

Ihr Kafka

An M. E.(Ansichtskarte »Winter Im Riesengebirge«. Wien, Stempel: 22. II. 1922)

Herzliche Grüße aus einem SonnenbadKafka

Liebe Minze, aus Prag schreibe ich Ihnen, ich hatte schlechte Zeiten, nicht von der Lunge her, vonden Nerven. Ihre Briefe bekam ich erst in allerletzter Zeit, da sie ins Bureau adressiert waren, in dasich schon lange nicht gehe. Alles Gute!

Ihr Kafka

An Robert Klopstock(Prag, Stempel: 23. II. 1922)

Lieber Robert, ich war eben einige Tage länger in Spindelmühle, wollte von dort nicht mehrschreiben, müde Tage, kurz nach meiner Ankunft kam das Telegramm, die Mutter beantwortete es,daher der sonderbare Wortlaut, dann kam das Telegramm von Pick (mit dem ich böse bin oder er

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mit mir, er weiß von mir nichts, als daß wir vorgestern auf der Gasse an einander vorübergegangensind), dann die Briefe, alles eine quälende Beschämung für mich, verzeihen Sie. Heute vormittagkam der Paß, ich ging gleich hin, es ist nicht so einfach, nichts ist so einfach, man sagte mir, dieserPaß sei bis zur Höchstdauer der Geltung eines Passes verlängert, es müsse daher ein neuer Paßausgestellt werden und für den sei eine neue Photographie nötig. Ich behaupte nicht, daß einbefehlshaberischer oder ein diplomatischer Mensch die Verlängerung dieses Passes nicht docherreicht hätte, meine Klage wegen Ihrer Budapester Reise, des direkten Zuges, Ihrer Armut wurdenur freundlich, aber ohne sonstige Wirkung angehört. Sie müssen also, Robert, die Photographieschicken, Armutszeugnis haben Sie nicht? Was steht auf der Note des Sanatoriums? Warum habenSie das beigelegt?Herzliche Grüße

Ihres K

An Robert Klopstock(Postkarte. Prag, Stempel: 1. III. 1922)

Lieber Robert, es ist ja gar nichts, es ist ja, wenn nur ein wenig Einsicht in die wahren Verhältnissein Ihren Briefen sich zeigt, alles sofort gut. Sie müssen eben nur wissen, daß Sie an einen armenkleinen von allen möglichen bösen Geistern besessenen Menschen schreiben (ein unzweifelhaftesVerdienst der Medizin ist es, daß sie statt des Begriffes der Besessenheit den tröstenden Begriff derNeurasthenie eingeführt hat, wodurch sie allerdings die Heilung erschwert, und außerdem die Frageoffen gelassen hat, ob Schwäche und Krankheit die Besessenheit herbeiführen oder ob nichtvielmehr Schwäche und Krankheit ein Besessenheitsstadium schon sind, die Präparierung desMenschen zum Ruhe- und Lust-Lager der unsaubern Geister) und den man quält, wenn man dasnicht anerkennt, mit dem sich aber doch sonst erträglich auskommen läßt. � Beim Paßamt ist es mirheute ganz mißlungen, trotzdem ich dort heute früher war als voriges Mal, ist es so sehr überfülltgewesen, daß man mich weggeschickt hat. Ich werde morgen früher hingehen. Für dieGebührenbefreiung ist wenig Hoffnung, meine Schwester hat ja, wie sie mir jetzt sagt, schonvorigesmal es vergebens versucht. Und nun schicken Sie mir statt des Armutszeugnisses einePhotographie, auf der Sie aussehn wie ein junger Adeliger, irgendein Sohn Ludendorffs.Herzlichst

K

An Robert Klopstock(Prag, Frühjahr 1922)

Lieber Robert, lange nicht geschrieben, ich weiß, aber ich muß erst der Beschämung, die Sie mirmanchmal, lieb und böse, in Ihren Briefen auflegen, Zeit geben, zu vergehn.Am merkwürdigsten war mir immer, daß Sie hie und da - im letzten Brief nimmt es aber ein zugroßes Ausmaß an, - über Ihre Stellung zu den Menschen »den lieben guten« wie Sie schreiben,klagten. Ich fühle übrigens für mich dieses »lieb und gut« sehr ähnlich wie Sie, lese ich es abergeschrieben und nicht von mir geschrieben, kommt es mir mehr lächerlich als wahr vor, ein derMenschheit dargebrachter Geburtstagswunsch mit allen zugehörigen, die Worte überwältigendenHintergedanken.

Nun ist schon Ihr dritter Brief da, so vieles unbeantwortet und ich weiß nichts und bin nur müde.Ich kann nur sagen, kommen Sie, treten Sie aus dem Sie ausdörrenden Matlar unter Menschen,unter Menschen, die Sie ja, weit über Ihre eigenen Feststellungen hinaus, wunderbar zu behandeln,zu beleben, zu führen wissen und Sie werden leicht erkennen, daß dieses Phantom, das sich erst inIhren Briefen gebildet hat, in Ihren Briefen unter Ihrer Hand, das noch in Matlar nicht bestand, das

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ich sein soll und vor dem ich zum Davonlaufen, zum ewigen Schweigen erschrecke (nicht etwa,weil es schrecklich an sich wäre, aber in Bezug auf mich), Sie werden ganz ohne Leid erkennen,daß es nicht existiert, sondern nur ein schwer erträglicher, in sich vergrabener, mit fremdemSchlüssel in sich versperrter Mensch, der aber Augen hat, zu sehn und sich über jeden Schrittvorwärts, den Sie machen werden, sehr freuen wird und über Ihre große Auseinandersetzung mitder auf Sie einströmenden Welt. Sonst? Ich habe, um mich vor dem, was man Nerven nennt, zuretten, seit einiger Zeit ein wenig zu schreiben angefangen, sitze von sieben Uhr abends etwa beimTisch, es ist aber nichts, eine mit Nägeln aufgekratzte Deckung im Weltkrieg und nächsten Monathört auch das auf und das Bureau fängt an.Frohe Tage in Budapest!Und Grüße für Ilonka! Traurig ist es trotz allem. Diese negativen Heldentaten: entloben, verzichten,den Eltern trotzen - es ist so wenig und versperrt so viel.

Ihr K

Ich habe einige Bücher, die ich Ihnen gern zu lesen geben würde, aber es ist so umständlich undriskant sie zu schicken, da sie nicht mir gehören.

An Robert Klopstock(Prag, Mai/Juni 1922)

Lieber Robert, die Übersetzung habe ich Felix gegeben, er weiß aber nicht, ob er sie bringen wird,es stand angeblich etwas ähnliches schon, allerdings ohne so viel interessante Einzelheiten, imPrager Tagblatt, jedenfalls läßt er danken.Eben habe ich einen Brief an ein Fräulein geschrieben, den ersten seit langer Zeit, es handelt sichfreilich nur um eine demütige Bitte wegen ihres Klavierspiels, das mich verzweifelt macht. So vielRuhe wie ich brauche gibt es nicht oberhalb des Erdbodens. Wenigstens für ein Jahr wollte ichmich mit meinem Heft verstecken und mit niemandem sprechen. Die kleinste Belanglosigkeitzerrüttet mich.Das Bureau soll erst Ende des Monats beginnen. Aber der Arzt macht jetzt Einwendungen, ich weißnicht wie es werden wird, freilich, die Lunge hat den Frühling meinem Gefühl nach nicht so gutüberstanden wie den Herbst und Winter.Fräulein Irene, deutlich verjüngt, verschönt (bis auf eine häßliche Tatramütze, mit der sie ihrschönes Haar verdeckt, auch in Matlar trug sie immer eine häßliche ich glaube weiße Mütze,diesmal eine graue, ich wagte es ihr aber nicht zu sagen) war hier und mag von meiner manchmalbesinnungslosen Müdigkeit wenig Freude gehabt haben. Ich hatte aber Freude von Fräulein Ireneund gratulierte Ihnen im Stillen zu Ihrer Tat.Wie soll man es mit Ihrer Wohnung hier machen? Ich habe noch immer keinen Ausweg gefunden;hoffentlich gelingt es noch.

Ihr KVielleicht interessiert Sie die beiliegende Besprechung. Freilich wenn sie Lust zum Lesen desBuches machen will, verfehlt sie den Zweck, wenigstens bei mir:

An Max Brod(Zwei Postkarten.Planá nad Lu�nicí, Ankunftstempel: 26. VI. 1922)

Lieber Max, ich bin gut untergebracht, allerdings mit unglaublichen Bequemlichkeitsopfern Ottlas,aber auch ohne diese Opfer wäre es gut hier, »soweit ich bisher sehe« (weil man sich nicht»versprechen« darf), mehr Ruhe als auf irgendeiner Sommerfrische bisher, »soweit u.s.w.« Zuerst,auf der Fahrt hatte ich Angst vor dem Land. In der Stadt soll nichts zu sehen sein, nach Blüher? Nurin der Stadt ist etwas zu sehn, denn alles, was an dem Waggonfenster vorbeidrängte, war Friedhof

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oder hätte es sein können, lauter Dinge die über den Leichen wachsen, während sich doch, die Stadtsehr stark und lebendig davon unterscheidet. Hier aber, am zweiten Tag, ist es doch recht gut; mitdem Land zu verkehren ist merkwürdig, der Lärm ist da, nicht am ersten Tag, erst am zweiten, ichbin mit dem Schnellzug gekommen, er wahrscheinlich mit dem Lastzug. Ich verbringe die Zeit desverhinderten Nachmittagsschlafes damit, daran zu denken, wie Du Franzi neben dem Neubauschriebst. Viel Glück zu Deiner Arbeit, laß den Strom strömen. - Im Bureau fand ich eineneineinhalb Monate alten, sehr freundlichen, sehr beschämenden Brief. Meine Selbstverurteilung hatzwei Ansichten, einmal ist sie Wahrheit, als solche würde sie mich glücklich machen, wenn ich diewiderliche kleine Geschichte aus Wolffs Schublade nehmen und aus seinem Gedächtnis wischenkönnte, sein Brief ist mir unlesbar, dann aber ist die Selbstverurteilung unvermeidlich auchMethode und macht es z. B. Wolff unmöglich, in sie einzustimmen, und zwar nicht aus Heuchelei,die er ja mir gegenüber gewiß nicht anzuwenden nötig hat, sondern kraft der Methode. Und ichstaune immer darüber, daß z. B. Schreiber, dessen Selbstverurteilung doch auch beides war,Wahrheit und unvermeidlich auch Methode, nicht mit der Wahrheit (Wahrheit bringt keine Erfolge,Wahrheit zerstört nur das Zerstörte), mit der Methode keine Erfolge gehabt hat. Vielleicht deshalb,weil ihm wirkliche Notlage in die Quere kam, welche derartige Spinnweberfolge nicht entstehenläßt.Was für Untersuchungen! Es gibt Dinge, über die nur der Revisor meditieren darf, mit demSchlußwort : »Was habe ich denn erzählt?«

Dein

An Robert Klopstock(Postkarte. Planá, Stempel: 26. VI. 1922)

Lieber Robert, die Fahrt dank Ihrer Hilfe war sehr gut, nur daß das Fräulein im Coupeé mir dieEnttäuschung darüber nicht verziehen hat, daß Sie nicht mitgefahren sind, wie es anfangs scheinenwollte. Hier bin ich sehr gut aufgenommen worden, Ottla, die Sie herzlich grüßen läßt, sorgt fürmich nicht weniger als für Vìra und das ist doch sehr viel, aber da es in plana lebendige Menschenund Tiere gibt, ist auch hier Lärm, der aus dem Schlaf schreckt und den Kopf verwüstet, sonst aberist es außerordentlich schön mit Wald und Fluß und Gärten. Auch mit Ohropax, dessen Besitzzumindest ein wenig tröstet, und das, ins Ohr gesteckt, heute morgen das sonntäglicheWaldhornblasen eines Bauernjungen zwar nicht unhörbar gemacht hat, ihn aber veranlaßt hat,endlich aufzuhören. Warum stört jede Freude des einen die Freude des andern. Auch mein Beim-Tisch-Sitzen hat Ottla aus ihrem bisherigen großen zweifenstrigen warmen Zimmer in ein kleineskühles mit Kind und Mädchen getrieben, während ich im großen Zimmer throne und unter demGlück einer vielköpfigen Familie leide, die mit unschuldigem Lärm fast unter meinem Fenster Heuwendet.Wie leben Sie?

Ihr K

An Felix Weltsch(Postkarte. Planá, Ende Juni 1922)

Lieber Felix, irre ich nicht, bist Du schon in Schelesen? Einmal nanntest Du, glaube ich, den Julials Arbeitsmonat. Möge er es großartig werden! Ich konnte mich gar nicht mehr von Dirverabschieden, zudem hatte ich damals im Theater die Dummheit gemacht, Dir das Textbuch zuborgen, wodurch ich zweierlei erreichte: daß Du Dich gar nicht mehr um mich kümmertest undaußerdem, daß ich das Textbuch nicht mehr bekam. Aber der Abend war schön, nicht? Schließlichdas Stück doch noch schöner als die Aufführung? Diese Szene z.B. draußen klingelt der Schlitten,Chlastakoff, der schnell noch zwei Geliebte gewonnen und darüber die Abfahrt fast vergessen hat,

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erinnert sich und eilt mit den zwei Frauen aus der Tür. Die Szene ist wie ein Lockmittel,hingeworfen den Juden. Es ist nämlich den Juden unmöglich, diese Szene sich ohne Sentimentalitätvorzustellen, ja sogar unmöglich, sie ohne Sentimentalität nachzuerzählen. Wenn ich sage:»draußen klingelt der Schlitten« so ist das sentimental, auch Maxens Kritik war sentimental, dasStück aber hat keine Spur davon. - Mir geht es hier leidlich, wäre nur nicht, hoffentlich merkst Dues in Schelesen nicht, so viel Lärm auf der Welt. - Alles Gute Dir und Frau und Kind

Dein F.

An Oskar Baum(Planá, Ende Juni 1922)

Lieber Oskar, also ich melde mich bereit, um den 20. Juli herum wegzufahren, wenn Du mirschreibst. Den Paß habe ich, wunderbar ist die neue Paßausgabereform, unerreichbar sind für diesich nachtastende Deutung die Steigerungen, deren die Bureaukratie fähig ist, und zwarnotwendige, unvermeidliche Steigerungen, hervorgehend aus dem Ursprung der Menschennatur,dem ja, an mir gemessen, die Bureaukratie näher ist als irgendeine soziale Einrichtung, sonst dieEinzelheiten zu beschreiben ist zu langwierig, für Dich nämlich, der nicht zwei Stunden imGedränge auf einer Bureautreppe glücklich war über einen neuen Einblick ins Getriebe und der beider Übernahme des Passes bei Beantwortung einer belanglosen Frage gezittert hat in wirklichemtiefem Respekt (auch in gewöhnlicher Angst, allerdings aber auch in jenem tiefen Respekt).Also vergiß mich nicht in Georgental, aber überanstrengt Euch auch nicht beim Wohnungsuchen.Findet sich nichts, wird es für mich traurig sein, aber kein Unglück, einem pensionierten Beamtensteht ja die Welt offen, soweit sie nicht mehr als tausend Kronen monatlich verlangt.

An Max Brod(Planá, Ankunftstempel: 30. VI. 22)

Lieber Max, es ist nicht leicht, aus Deinem Brief den Kern der trüben Stimmung herauszufinden,die mitgeteilten Einzelheiten genügen kaum. Vor allem: die Novelle lebt, genügt das nicht, daseigene Leben zu beweisen? (Nein, dafür genügt es nicht.) Aber genügt es nicht, um davon zuleben? Dazu genügt es, genügt, um in Freuden und sechsspännig zu leben. Das andere? E. schreibtunregelmäßig, aber wenn es nichts weiter ist, wenn der Inhalt untadelig ist? Rosenheims Brief, eindiplomatischer Fehler des Dreimaskenverlags, nicht? Also auch diplomatisch gutzumachen. DieSchrekkensnachrichten? Meinst Du etwas anderes als Rathenaus Ermordung? Unbegreiflich, daßman ihn so lange leben ließ, schon vor zwei Monaten war das Gerücht von seiner Ermordung inPrag, Prof. Münzer verbreitete es, es war so sehr glaubwürdig, gehörte so sehr zum jüdischen undzum deutschen Schicksal und steht in Deinem Buch genau beschrieben. Aber das ist schon zu vielgesagt, die Sache geht über meinen Gesichtskreis weit hinaus, schon der Gesichtskreis hier ummein Fenster ist mir zu groß.Politische Nachrichten erreichen mich jetzt - wenn mir nicht ärgerlicherweise doch eine andereZeitung geschickt wird, die ich verschlinge - nur in der ernstlich ausgezeichneten Form des PragerAbendblatt. Liest man nur dieses Blatt, so ist man über die Weltlage so unterrichtet, wie man etwaüber die Kriegslage durch die Neue Freie Presse unterrichtet war. So friedlich wie damals derKrieg, ist jetzt nach dem Abendblatt die ganze Welt, es streichelt einem die Sorgen weg, ehe mansie hat. Jetzt erst sehe ich die wirkliche Stellung Deiner Artikel innerhalb des Blattes.Vorausgesetzt, daß man Dich liest, kannst Du Dir keine bessere Umgebung wünschen, von denSeiten her mischt sich nichts Verwirrendes m Deine Worte, es ist völlig still um Dich. Und es isteine so schöne Art des Verkehrs mit Dir, die Aufsätze hier zu lesen. Ich lese sie auch auf dieStimmung hin, Smetana und Strindberg schienen mir gedämpft, aber »Philosophie« klar und gut.Das Problematische der »Philosophie« scheint mir übrigens deutlich jüdische Problematik zu sein,

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entstanden aus dem Wirrwarr, daß die Eingeborenen einem, entgegen der Wirklichkeit, zu fremd,die Juden einem, entgegen der Wirklichkeit, zu nah sind und man daher weder diese noch jene inrichtigem Gleichgewicht behandeln kann. Und wie sich dieses Problem erst auf dem Landverschärft, wo auch die ganz Fremden grüßen, aber nur manche, und wo man keine Möglichkeitmehr hat, etwa einen alten ehrwürdigen Mann, der mit einer Axt über der Schulter auf derLandstraße vorübermarschiert, nachträglich, so sehr man sich anstrengt, mit dem Gegengruß zuüberholen.Es wäre schön hier, wenn Ruhe wäre, es ist doch ein paar Stunden Ruhe, aber bei weitem nichtgenug. Keine Komponierhütte. Ottla ist aber wunderbar fürsorglich (läßt Dich grüßen, Dein Grußhat sie in ihrer Trauer über einen etwas mißlungenen Kuchen sehr getröstet). Heute z.B. einunglücklicher Tag, ein Holzhacker hackt der Hausfrau schon den ganzen Tag Holz. was erunbegreiflicherweise den ganzen Tag mit den Armen und mit dem Gehirn aushält, kann ich mit denOhren gar nicht aushalten, nicht einmal mit Ohropax (das nicht ganz schlecht ist; wenn man es insOhr steckt, hört man zwar genau so viel wie früher, aber mit der Zeit wird doch eine leichteKopfbetäubung erzielt und ein schwaches Gefühl des Geschütztseins, nun, viel ist es nicht). AuchKinderlärm und sonstiger. Auch mußte ich heute für ein paar Tage das Zimmer wechseln, diesesZimmer, das ich bisher hatte, war sehr schön, groß, hell, zweifenstrig, mit weiter Aussicht und eshatte in seiner vollständig armen, aber unhotelmäßigen Einrichtung etwas, was man »heiligeNüchternheit« nennt.An einem solchen lärmvollen Tag, und es werden mir jetzt einige bevorstehn, einige gewiß undviele wahrscheinlich, komme ich mir wie aus der Welt ausgewiesen vor, nicht einen Schritt wiesonst, sondern hunderttausend Schritte. - Kaysers Brief (ich habe ihm nicht geantwortet, es ist zukleinlich wegen der doch hoffnungslosen außerdeutschen Veröffentlichungen zu schreiben) hatmich natürlich gefreut (wie leckt Not und Eitelkeit solche Dinge auf!), aber unberührt von meinerMethode ist er nicht, auch ist die Geschichte erträglich, ich sprach von der an Wolff geschicktenGeschichte, der gegenüber ein unbefangener Mensch nicht im Zweifel sein kann. �Grüße an Dich und die zwei Frauen. An Felix auch, von dem ich mich leider gar nichtverabschieden konnte.

Dein[Randbemerkungen:)Frau Preissová wohnt angeblich hier. Ich hätte große Lust, einmal mit ihr zusprechen, ebenso groß ist allerdings die Angst und das Unbehagen vor einer solchenUntemehmung. Vielleicht ist sie sehr hochmütig, vielleicht genau so verzweifelt über jede Störungwie ich. Nein, ich will nicht mit ihr sprechen.Was wirst Du Kayser antworten? Hauptmann ist Dir doch so nah, Du wirst es Dir nicht verweigernkönnen, über ihn zu schreiben.

An Robert Klopstock(Planá, Stempel: 30. VI. 1922)

Lieber Robert, besten Dank für die Zeitungen, es ist aber nicht nötig, sie zu schicken, dasAbendblatt bekomme ich täglich, eine ausreichende Zeitung und durch Maxens Aufsätze überreichund auch die Ausschnitte des Romans bekomme ich wenigstens manchmal. Dagegen würde ich Siewohl bitten, wenn eine neue Fackel erscheinen sollte � sehr lange ist sie schon ausgeblieben - undsie nicht zu teuer ist, nach dem Durchlesen sie mir zu schicken, diese süße Speise aller guten undbösen Triebe will ich mir nicht versagen.- Secessio Judaica, schreiben Sie nicht darüber? Ich wäresehr froh, wenn Sie es täten, wenn nicht deutsch, dann ungarisch. Ich kann es nicht; versuche iches, gleich sinkt mir die Hand, trotzdem natürlich ich, wie jeder, manches dazu zu sagen hätte,irgendwo in meiner Geschlechterfolge wird doch hoffentlich auch ein Talmudist sitzen, aber ermuntert mich nicht genug auf: so tue ich es bei Ihnen. Es muß sich ja nicht um eine Widerlegung

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handeln, nur um eine Antwort auf den es muß doch sehr locken und es lockt, einmal auf dieserdeutschen und doch nicht ganz fremden Weide seine Tiere weiden zu lassen, nach Judenart.

Ihr K.

An Robert Klopstock(Planá, Anfang Juli 1922)

Lieber Robert, darin haben Sie natürlich völlig Recht, beschäftigt Sie anderen in dieseralleinherrschenden Weise, dann hat nichts anderes daneben Platz und Sie und alle andern haben zufolgen. Mit meinem Vorschlag wollte ich auch nicht zu einem in jedem Fall entscheidendenWettkampf auffordern, etwa zum Kampf zwischen Goliath und David, sondern nur zur seitlichenBeobachtung des Goliath, zur beiläufigen Feststellung der Kräfteverhältnisse, zur Revidierung dereigenen Bestände, also zu einer Arbeit des Ausruhns, zu einer. Arbeit, die immer gemacht werdenkann und für die gar keine Zeit ist in dem glückselig-verzweifelten, morgendlichen Zustand, in demSie sich befinden und in dem alles notwendigerweise aufs Repräsentative geht. Auch dieKritikerstellung wäre dafür wahrscheinlich nicht geeignet. Außerdem bei einem christlich-sozialenBlatt? Haben Sie wegen der Übersetzung von Maxens Büchern schon eine Antwort?Sonderbar, dieser große Brief des so verschlossenen Mädchens. Ich kann mir keine Vorstellung vonihm machen.Für die Prager Presse danke ich, den Abendblattroman brauche ich nicht, lesen Sie ihn?Die Schwester hält sich jedenfalls in Hellerau auf, vielleicht ist sie heute dort, Frau Neustädter hatihr geantwortet.Von Oskar kommt kein Wort, er hat mich in seinem Thüringer Glück vergessen.

Ihr K.

An Oskar Baum(Planá, 4. Juli 1922)

Lieber Oskar, seid Ihr aber gute, präzise und einfühlsame Menschen. Alles was Du mir vorbereitethast und was Du mir rätst, ist nötig und ist ausgezeichnet. Ich werde also kommen, vielleicht nichtgerade am Fünfzehnten, aber wohl vor dem Zwanzigsten, es ist mir sogar willkommen, früherkommen zu können, denn mein Madrider Onkel ist für den August angesagt, ohne daß noch dasDatum feststünde, und so könnte es geschehen, daß ich etwa am 20. August (er bleibt gewöhnlichvierzehn Tage) in Prag wieder sein müßte, um ihn zu sehen. Den genauen Tag meiner Ankunftzwischen 15. und 20. Juli werde ich Euch noch telegraphieren, wenn Ihr so gut seid, zu allemandern auch noch die Vermittlung mit der Wirtin zu übernehmen. Auch noch aus andern Gründenist mir das Datum sehr angenehm, denn hierher, wo es übrigens recht schön bei Ottla ist, kommenum diese Zeit Gäste, der Platz würde vielleicht etwas beengt, dagegen kann ich dann noch EndeAugust herkommen; Ottla bleibt wahrscheinlich bis Ende September. Du merkst vielleicht, daß ich Nötiges und Unnötiges durcheinanderschreibe, und das hat seinenguten oder schlechten Grund. Von allem andern abgesehn, was mich nach Georgental treibt (dieFreude, mit Dir, mit Euch ein wenig zusammenzuleben; in der Nähe Deiner Arbeit zu sein; einwenig Zürauer Zeit zu verkosten, die mir, mit allem was ich damals war, weit verschwunden ist; einwenig die Welt zu sehn und mich davon zu überzeugen, daß es auch noch anderswo atembare Luftgibt - selbst für meine Lungen - eine Erkenntnis, durch die zwar die Welt nicht weiter wird, aberirgendein nagendes Verlangen beruhigt), abgesehen von dem allen habe ich einen äußerst wichtigenGrund, zu fahren - meine Angst. Du kannst Dir diese Angst gewiß irgendwie vorstellen, aber bis inihre Tiefe kannst Du nicht kommen, dafür bist Du zu mutig. Ich habe, aufrichtig gesagt, einefürchterliche Angst vor der Reise, natürlich nicht gerade vor dieser Reise und überhaupt nicht nurvor der Reise, sondern vor jeder Veränderung; je größer die Veränderung ist, desto größer zwar die

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Angst, aber das ist nur verhältnismäßig, würde ich mich nur auf allerkleinste Veränderungenbeschränken - das Leben erlaubt es allerdings nicht -, würde schließlich die Umstellung einesTisches in meinem Zimmer nicht weniger schrecklich sein als die Reise nach Georgental. Übrigensnicht nur die Reise nach Georgental ist schrecklich, auch die Abreise von dort wird es sein. Imletzten oder vorletzten Grunde ist es ja nur Todesangst. Zum Teil auch die Angst, die Götter aufmich aufmerksam zu machen; lebe ich hier in meinem Zimmer weiter, vergeht ein Tag regelmäßigwie der andere, muß natürlich auch für mich gesorgt werden, aber die Sache ist schon im Gang, dieHand der Götter führt nur mechanisch die Zügel, so schön, so schön ist es, unbeachtet zu sein,wenn bei meiner Wiege eine Fee stand, war es die Fee »Pension«. Nun aber diesen schönen Gangder Dinge verlassen, frei unter dem großen Himmel mit dem Gepäck zum Bahnhof gehn, die Weltin Aufruhr bringen, wovon man freilich nichts merkt als den Aufruhr im eigenen Innern, das istschrecklich. Und doch muß es geschehn, ich würde - es müßte nicht allzulange dauern - das Lebenüberhaupt verlernen. - Also zwischen dem Fünfzehnten und Zwanzigsten. Grüße alle. Dank auchDeiner Frau Sekretärin. - Daß ich noch am gleichen Abend in Georgental sein werde, istausgezeichnet. Das ist wohl Georgental-Ort?

Dein Franz

An Max Brod(Planá, Stempel: 5. VII. 1922)

Lieber Max, nach einer schlaflosen Nacht, der ersten in Planá, bin ich zwar zu allem andernunfähig, aber Deinen Brief kann ich vielleicht besser verstehn als sonst, besser als Du, vielleichtaber überspitze ich es und verstehe ihn zu gut, denn Dein Fall ist doch insofern von meinemverschieden, als er zwar auch nicht wirklich, aber wirklichkeitsnäher ist als der meine. Mir istfolgendes geschehn: Ich sollte, wie Du weißt, nach Georgental fahren, ich hatte niemals einenEinwand dagegen; wenn ich einmal sagte, es würden dort zu viel Schriftsteller sein, so war dasvielleicht eine Vorahnung des Kommenden, aber als Einwand war es nicht ernstlich, war es nurKoketterie, im Gegenteil, in der Nähe bewundere ich jeden Schriftsteller, (darum wollte ich auchzur Preissová, von der mir auch Deine Frau abgeraten hat), ich bewundere zwar jeden Menschen,aber den Schriftsteller besonders, vor allem den mir sonst persönlich unbekannten Schriftsteller,unvorstellbar ist mir, wie er sich in diesem luftigen und schrecklichen Reich so behaglicheingerichtet hat und wie er dort so geordnete Wirtschaft führt; die meisten Schriftsteller, die ichkenne, kommen mir, wenigstens in Person, behaglich vor, auch Winder z.B. Und zudritt wäre es fürmeine Verhältnisse sogar besonders angenehm, es würde gar nicht auf mich ankommen, ich könntemich zur Seite halten und wäre doch nicht allein, wovor ich mich fürchte. Und hätte auch sonst inOskar, den ich lieb habe und der gut zu mir ist, einen Rückhalt. Und ich würde wieder ein neuesStück Welt sehn, zum ersten Mal seit acht Jahren wieder Deutschland. Und billig ist es und gesund.Und hier ist es zwar schön bei Ottla und besonders jetzt, da ich mein altes Zimmer wieder habe,aber gerade gegen Ende des Monats und im nächsten Monat kommen Gäste aus des SchwagersFamilie, der Platz wird wieder ein wenig beengt sein, es wäre sehr gut, wenn ich wegfahre, undzurückkommen kann ich ja wieder, denn Ottla bleibt bis Ende September. Hier ist also keineVerstandes- und Gefühlslücke, die Reise ist unbedingt zu empfehlen. Und nun ist gestern ein sehrlieber, ausführlicher Brief Oskars gekommen, ein schönes stilles Zimmer mit Balkon, Liegestuhl,guter Ernährung, Gartenaussicht für 150 M täglich ist gefunden, ich brauche nur anzunehmen odervielmehr ich habe schon im voraus angenommen, denn ich hatte ja gesagt, daß ich, wenn etwasderartiges gefunden wird, bestimmt komme.Und was geschieht nun? Ich habe, um es zuerst ganz allgemein zu sagen, Angst vor der Reise, ichahnte es schon, als in den letzten Tagen das Ausbleiben des Oskarschen Briefes mir Freude machte.Aber es ist nicht Angst vor dem Reisen selbst, ich bin doch auch, allerdings nur 2 Stunden und dortsind es zwölf, hierher gefahren und das Fahren selbst war mir langweilig aber sonst gleichgültig. Es

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ist nicht Reiseangst, wie man es letzthin z.B. von Myslbeck las, der nach Italien fahren wollte undschon bei Beneschau umkehren mußte. Es ist nicht Angst vor Georgental, wo ich mich, wenn ichdoch hinkommen sollte, gewiß sofort, noch am gleichen Abend eingewöhnt haben werde. Es istauch nicht Willensschwäche, bei welcher der Entschluß erst dann eintreten will, wenn der Verstandalles genau ausgerechnet hat, was meist unmöglich ist. Hier ist ein Grenzfall, wo der Verstandwirklich rechnen kann und immer wieder zu dem Resultat kommt, daß ich fahren soll. Eher ist esAngst vor der Veränderung, Angst davor, die Aufmerksamkeit der Götter durch eine für meineVerhältnisse große Tat auf mich zu lenken.Als ich heute in der schlaflosen Nacht alles immer wieder hin- und hergehn ließ zwischen denschmerzenden Schläfen, wurde mir wieder, was ich in der letzten genug ruhigen Zeit fast vergessenhatte, bewußt, auf was für einem schwachen oder gar nicht vorhandenen Boden ich lebe, übereinem Dunkel, aus dem die dunkle Gewalt nach ihrem Willen hervorkommt und, ohne sich an meinStottern zu kehren, mein Leben zerstört. Das Schreiben erhält mich, aber ist es nicht richtiger zusagen, daß es diese Art Leben erhält? Damit meine ich natürlich nicht, daß mein Leben besser ist,wenn ich nicht schreibe. Vielmehr ist es dann viel schlimmer und gänzlich unerträglich und mußmit dem Irrsinn enden. Aber das freilich nur unter der Bedingung, daß ich, wie es tatsächlich derFall ist, auch wenn ich nicht schreibe, Schriftsteller bin und ein nicht schreibender Schriftsteller istallerdings ein den Irrsinn herausforderndes Unding. Aber wie ist es mit dem Schriftstellerseinselbst? Das Schreiben ist ein süßer wunderbarer Lohn, aber wofür? In der Nacht war es mir mit derDeutlichkeit kindlichen Anschauungsunterrichtes klar, daß es der Lohn für Teufelsdienst ist. DiesesHinabgehen zu den dunklen Mächten, diese Entfesselung von Natur aus gebundener Geister,fragwürdige Umarmungen und was alles noch unten vor sich gehen mag, von dem man oben nichtsmehr weiß, wenn man im Sonnenlicht Geschichten schreibt. Vielleicht gibt es auch anderesSchreiben, ich kenne nur dieses; in der Nacht, wenn mich die Angst nicht schlafen läßt, kenne ichnur dieses. Und das Teuflische daran scheint mir sehr klar. Es ist die Eitelkeit und Genußsucht, dieimmerfort um die eigene oder auch um eine fremde Gestalt - die Bewegung vervielfältigt sich dann,es wird ein Sonnensystem der Eitelkeit - schwirrt und sie genießt. Was der naive Mensch sichmanchmal wünscht : »Ich wollte sterben und sehn, wie man mich beweint«, das verwirklicht einsolcher Schriftsteller fortwährend, er stirbt (oder er lebt nicht) und beweint sich fortwährend. Daherkommt eine schreckliche Todesangst, die sich nicht als Todesangst äußern muß, sondern auchauftreten kann als Angst vor Veränderung, als Angst vor Georgental. Die Gründe für dieTodesangst lassen sich in zwei Hauptgruppen teilen. Erstens hat er schreckliche Angst zu sterben,weil er noch nicht gelebt hat. Damit meine ich nicht, daß Zum Leben Weib und Kind und Feld undVieh nötig ist. Nötig zum Leben ist nur, auf Selbstgenuß zu verzichten; einziehn in das Haus, stattes zu bewundern und zu bekränzen. Dagegen könnte man sagen, daß das Schicksal ist und inniemandes Hand gegeben. Aber warum hat man dann Reue, warum hört die Reue nicht auf? Umsich schöner und schmackhafter zu machen? Auch das. Aber warum bleibt darüber hinaus dasSchlußwort in solchen Nächten immer. Ich könnte leben und lebe nicht. Der zweite Hauptgrund -vielleicht ist es auch nur einer, jetzt wollen sich mir die zwei nicht recht sondern - ist dieÜberlegung: »Was ich gespielt habe, wird wirklich geschehn. Ich habe mich durch das Schreibennicht losgekauft. Mein Leben lang bin ich gestorben und nun werde ich wirklich sterben. MeinLeben war süßer als das der andern, mein Tod wird um so schrecklicher sein. Der Schriftsteller inmir wird natürlich sofort sterben, denn eine solche Figur hat keinen Boden, hat keinen Bestand, istnicht einmal aus Staub; ist nur im tollsten irdischen Leben ein wenig möglich, ist nur eineKonstruktion der Genußsucht. Dies ist der Schriftsteller. Ich selbst aber kann nicht weiterleben, daich ja nicht gelebt habe, ich bin Lehm geblieben, den Funken habe ich nicht zum Feuer gemacht,sondern nur zur Illuminierung meines Leichnams benützt.« Es wird ein eigentümliches Begräbniswerden, der Schriftsteller, also etwas nicht Bestehendes, übergibt den alten Leichnam, denLeichnam seit jeher, dem Grab. Ich bin genug Schriftsteller, um das in völliger Selbstvergessenheit- nicht Wachheit, Selbstvergessenheit ist erste Voraussetzung des Schriftstellertums - mit allen

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Sinnen genießen oder, was dasselbe ist, erzählen zu wollen, aber das wird nicht mehr geschehn.Aber warum rede ich nur vom wirklichen Sterben. Im Leben ist es ja das Gleiche. Ich sitze hier inder bequemen Haltung des Schriftstellers, bereit zu allem Schönen, und muß untätig zusehn - dennwas kann ich anderes als schreiben -, wie mein wirkliches Ich, dieses arme, wehrlose (das Daseindes Schriftstellers ist ein Argument gegen die Seele, denn die Seele hat doch offenbar das wirklicheIch verlassen, ist aber nur Schriftsteller geworden, hat es nicht weiter gebracht; sollte die Trennungvom Ich die Seele so sehr schwächen können?) aus einem beliebigen Anlaß, einer kleinen Reisenach Georgental, (ich wage es nicht stehn zu lassen, es ist auch in dieser Weise nicht richtig) vomTeufel gezwickt, geprügelt und fast zermahlen wird. Mit welchem Recht erschrecke ich, der ichnicht zuhause war, daß das Haus plötzlich zusammenbricht; weiß ich denn, was demZusammenbruch vorhergegangen ist, bin ich nicht ausgewandert und habe das Haus allen bösenMächten überlassen?Ich habe gestern Oskar geschrieben, zwar meine Angst erwähnt, aber meine Ankunft zugesagt, derBrief ist noch nicht weggeschickt, inzwischen war die Nacht. Vielleicht warte ich noch eine Nachtab; überstehe ich es nicht, müßte ich doch abschreiben. Damit ist dann entschieden, daß ich ausBöhmen nicht mehr hinausfahren darf, nächstens werde ich dann auf Prag eingeschränkt, dann aufmein Zimmer, dann auf mein Bett, dann auf eine bestimmte Körperlage, dann auf nichts mehr.Vielleicht werde ich dann auf das Glück des Schreibens freiwillig - auf die Freiwilligkeit undFreudigkeit kommt es an, - verzichten können.Um diese ganze Geschichte schriftstellerisch zu pointieren - nicht ich pointiere, die Sache tut es -muß ich hinzufügen, daß in meiner Angst vor der Reise sogar die Überlegung eine Rolle spielt, ichwürde zumindest durch einige Tage vom Schreibtisch abgehalten sein. Und diese lächerlicheÜberlegung ist in Wirklichkeit die einzige berechtigte, denn das Dasein des Schriftstellers istwirklich vom Schreibtisch abhängig, er darf sich eigentlich, wenn er dem Irrsinn entgehen will,niemals vom Schreibtisch entfernen, mit den Zähnen muß er sich festhalten.Die Definition des Schriftstellers, eines solchen Schriftstellers, und die Erklärung seiner Wirkung,wenn es eine Wirkung überhaupt gibt: Er ist der Sündenbock der Menschheit, er erlaubt denMenschen, eine Sünde schuldlos zu genießen, fast schuldlos.Vorgestern war ich zufällig auf dem Bahnhof (mein Schwager wollte wegfahren, fuhr dann abernicht), zufällig wurde hier der Wiener Schnellzug angehalten, weil er auf den nach Prag fahrendenSchnellzug warten sollte, zufällig war Deine Frau dort, eine angenehme Überraschung, wirsprachen ein paar Minuten miteinander, sie erzählte von dem Abschluß der Novelle.

Fahre ich nach Georgental, bin ich in zehn Tagen in Prag, liege glücklich auf Deinem Kanapee undDu liest vor. Fahre ich aber nicht -Ich habe Oskar abtelegraphiert, es ging nicht anders, der Aufregung war nicht andersbeizukommen. Schon der gestrige erste Brief an ihn kam mir sehr bekannt vor, so pflegte ich an F.zu schreiben.

An Oskar Baum(Planá, 5. Juli 1922)

Lieber Oskar, der inliegende Brief ist gestern am 4. Juli gleich nach Erhalt Deines Briefesgeschrieben worden. Er war in beider Hinsicht gegenüber der Wirklichkeit gedämpft, sowohlhinsichtlich der Freude nach Georgental zu kommen, als auch hinsichtlich der Angst, die zweiDinge widersprechen einander zu sehr, wollte man sie in einen Brief bringen, mußte man siedämpfen. Ich traf dann Ottla, als ich mit dem Brief zur Post ging. Sie riet mir, das Datum derAnkunft lieber bestimmt festzusetzen, das leuchtete mir ein; da ich keinen Bleistift mithatte, nahmich wieder den Brief nach Hause mit. Aufgeregt war ich allerdings immerfort, dann kam die Nacht,wie ich gefürchtet hatte, gänzlich schlaflos, die erste in Planá. Bis zum Fünfzehnten sind noch etwa

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zehn Nächte, und selbst wenn ich gleich fahren wollte, wären es doch drei oder vier, das könnte ichnicht aushalten, ich kann also nicht fahren. So wie es da steht, ist es freilich gänzlichunverständlich. Ich habe heute Max schon eine Abhandlung darüber geschrieben - noch ehe ichwußte, ob ich Dir telegraphiere -, damit will ich Dich verschonen, nicht zu alledem, was ich DirLeids antue, auch noch dies, es geht auch nicht gut, es hier auszubreiten. Qualitativ ähnliches habeich ja schon an mir erlebt, quantitativ noch nicht, es ist auch für mich eine schreckliche Steigerungund bedeutet zum Beispiel, daß ich aus Böhmen nicht mehr hinausfahren darf morgen kann eineneue, übermorgen eine weitere, in einer Woche eine letzte Einschränkung kommen. Denkt daranund Ihr werdet mir vielleicht verzeihen können. Es wäre mir eine Beruhigung, wenn Frau Horn mirein Strafgeld festsetzen würde, das ich sogleich schicken würde.Lebt wohl!

Euer F

Ich telegraphiere Euch heute: Kann leider überhaupt nicht kommen, Brief folgt.Ottla sucht die Angst zum Teil (mehr wagt auch sie nicht) durch körperliche Schwäche zu erklären,eine sehr milde Erklärung, wenn man bedenkt, daß ich voriges Jahr vielleicht noch schwächer warund doch in die häßliche Tatra fuhr (aus der ich mich dann allerdings auch nicht losmachen konnte)und daß auch die körperliche Schwäche, die ja vorhanden ist, auf eine geistige zurückgeht.

An Felix Weltsch(Planá, Anfang Juli 1922)

Lieber Felix, was Du über meinen Lärm sagst, ist fast richtig, allerdings habe ich die Meinung vollDir übernommen und sie ist eine meiner paar Hilfskonstruktionen geworden, eines jenerverhältnismäßig ungeheueren Gerüste, mit welchen ich an meinem elenden Verschlag arbeite, daßinfolge der Dichte der Welt jeder überwundene Lärm von einem neuen erst zu überwindenden inunendlicher Reihe abgelöst wird. Nun ist das aber nur fast richtig und damit auf das was Duaufführst, antworten zu wollen, wäre Unsinn oder Gemeinheit, vielmehr ist dieser Lärm - nicht inder Art der Beschreibung liegt das, sondern in der Tatsache - gleichzeitig ein schreiender Vorwurffür alle, denen an Dir gelegen ist, die sich hier schwach und hilflos zeigen und sehenden Auges eineVerantwortung scheuen, dafür aber und dadurch eine noch schwerere auf sich nehmen. Der Lärmhat auch etwas Fascinierend-Betäubendes; wenn ich - ich habe glücklicherweise manchmal zweiZimmer zur Auswahl - in dem einen Zimmer sitze und, so wie Du es auch beklagst, einer Sägegegenüber sitze, die zeitweise erträglich ist, dann aber, wenn sie die Kreissäge arbeiten läßt, in derletzten Zeit geschieht das fortwährend, einen das Leben zu verfluchen zwingt, wenn ich dann indiesem Unglückszimmer sitze, kann ich nicht fort, ich kann zwar ins Nebenzimmer gehn und mußes auch, denn es ist nicht auszuhalten, aber übersiedeln kann ich nicht, nur hin und her gehn undetwa in dem zweiten Zimmer feststellen, daß auch dort Unruhe ist und vor dem Fenster Kinderspielen. So ist die Lage. Immerfort hoffe ich, daß, wie es einmal schon geschehen ist, die Kreissägeplötzlich zu arbeiten aufhören wird, ich kenne flüchtig den dortigen Buchhalter, sogar das gibt mireinige Hoffnung, er weiß zwar nicht, daß mich seine Kreissäge stört und kümmert sich auch sonstnicht um mich und ist überhaupt ein verschlossener Mensch und wenn er auch der offenste Menschwäre, er könnte die Kreissäge nicht einstellen, wenn Arbeit für sie ist, aber ich schaue verzweifeltaus dem Fenster und denke doch an ihn. Oder ich denke an Mahler, dessen Sommerleben irgendwobeschrieben war, wie er täglich um halb sechs, er war damals sehr gesund und schliefausgezeichnet, im Freien badete und dann in den Wald lief, wo er eine »Komponier-Hütte« hatte(das Frühstück war dort schon vorbereitet) und bis ein Uhr mittag dort arbeitete und die Bäume, diespäter in der Säge so viel Lärm machen, in Menschen still und lärmabwehrend um ihn standen.(Nachmittag schlief er dann und erst von vier Uhr ab lebte er mit seiner Familie und nur selten hatteseine Frau das Glück, daß er abend etwas von seiner Morgenarbeit verriet.) Aber ich wollte von der

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Säge erzählen. Ich allein komme von ihr nicht los, es muß die Schwester kommen und unterunglaublichen Bequemlichkeitsopfern ihrerseits das andere Zimmer mir einräumen (das allerdingsauch keine Komponierhütte ist, aber davon will ich jetzt nicht sprechen), nun bin ich für eine Zeitdie Säge los. So müßte man Dich auch einmal in ein stilles Zimmer hinüberführen.Der erste Eindruck Deines Briefes war prachtvoll, ich drehte ihn zuerst in der Hand, froh ihn zuhaben und im flüchtigen Darüberhinschauen sah ich nur zwei Stellen, mit der einen Stelle standetwas von Ethik, an der andern »Ruthchen ist wunderbar«, da war ich natürlich sehr zufrieden.Freilich habe ich auch noch andere Briefe von Dir, etwa den über den Elternabend (besondersschön) oder den über Rathenau (hast Du das Feuilleton von H. über Rathenau gelesen?, eineerstaunliche Geschmacklosigkeit des sonst so Unfehlbaren, diese Ironie, mit der ein Gesuchstellerseinen ermordeten Wohltäter behandelt, unwillkürlich hat man den Eindruck, dieserBerichterstatter, der über einen Toten so ebenbürtig ironisch spricht, müsse wenigstens zum Teilselbst tot sein. Dabei zur Krönung des Ganzen ist es ja Selbstironie, denn wenn H. erwartet hat, daßRathenau sagen wird: »Wir Rathenaus sind Arbeitspferde«, so habe ich ebenso fest vertraut, daß H.noch irgendwo schreiben wird: »Ich armer Hund von Subredakteur.« Dabei will ich H. nicht wehtun, ich hätte es gewiß in gleichem Sinn und viel schlechter geschrieben, ich hätte es nur nichtveröffentlicht, vielleicht aber nur deshalb, weil es eben viel schlechter geschrieben gewesen wäre).Ich hätte noch einiges zu sagen und zu fragen im Zusammenhang damit, daß ich - denke! - aus»Angst« nicht nach Deutschland fahre, trotzdem ich Oskar gebeten habe, mir ein Zimmer dort zubesorgen und er das lieb und vorzüglich gemacht hat. Es ist nicht Angst vor der Reise, schlimmer,es ist allgemeine Angst.Herzliche Grüße, ohnmächtige Wunsche, Grüße für Frau und Kind.

Dein F(Grüße von Ottla)

An Max Brod(Planá, Stempel: 12. VII. 1922)

Liebster Max, eben laufe ich herum oder sitze versteinert, so wie es ein verzweifeltes Tier inseinem Bau tun müßte, überall Feinde, vor diesem Zimmer Kinder und vor dem zweiten auch,gerade wollte ich schon weggehn, da ist, wohl nur augenblicksweise, Ruhe und ich kann Dirschreiben. Du darfst nicht glauben, daß es in Planá vollkommen oder annähernd vollkommen schönist und daß dies der Hauptgrund meines Bleibens ist. Zwar die Wohnung selbst ist, was häuslichenFrieden betrifft, fast ingeniös eingerichtet, die Einrichtung mußte nur benützt werden und Ottla, dieallersorgsamste, tut es auch, von ihr, dem Kind und dem Mädchen habe ich, obwohl wir dochWand an Wand wohnen, nicht die leiseste Störung Tag und Nacht, aber gestern z.B. nachmittagspielen Kinder vor meinem Fenster, knapp unter mir eine böse Gruppe, weiter links eine artige, liebanzusehende, aber der Lärm beider ist gleichwertig, treibt mich aus dem Bett, verzweifelt aus demHaus, mit schmerzenden Schläfen durch Feld und Wald, ganz hoffnungslos, nachteulenartig. Undlege ich mich abend in Frieden und Hoffnung nieder, werde ich um 1/2 4 geweckt und schlafe nichtwieder ein. Auf dem nahen Bahnhof, der aber nicht sehr störend ist, werden fortwährend Stämmeverladen, dabei wird immer gehämmert, aber milde und pausenweise, diesen Morgen aber, ich weißnicht, ob das nicht jetzt immer so sein wird, wurde schon so frühzeitig angefangen und durch denstillen Morgen und das schlafdurstige Hirn klang das ganz anders als bei Tag. Es war sehr schlimm.Und dann stehe ich morgens auf es ist gar keine Ursache aufzustehn mit diesem Zustand derSchläfen. Dabei aber habe ich noch großes Glück. Es sind seit ein paar Tagen etwa zweihundertPrager Schulkinder hier untergebracht. Ein höllenmäßiger Lärm, eine Geißel der Menschheit. Ichbegreife nicht, wie es kommt, daß die Leute in dem davon betroffenen Ortsteil - und es ist dergrößte und vornehmste Teil des Ortes - nicht irrsinnig geworden aus ihren Häusern in die Wälderflüchten, und zwar müßten sie recht weit flüchten, denn der ganze Rand dieser schönen Wälder ist

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verseucht. Ich bin im Ganzen noch davon verschont geblieben, aber jeder Augenblick kannÜberraschungen bringen, wie es schon manche kleinere gab, und manchmal schaue ich suchendund erwartungsvoll aus dem Fenster als der arme Sünder, der ich bin. Ich verliere jeden Sinn auchfür guten Lärm, und wie man etwa in Theatern nur des Lärmes halber zusammenkommt, wird mirbald unbegreiflich werden. Nur die Kritiken, die besonders schönen, die Du jetzt schreibst oder diebesonders schön hier zu lesen sind, werde ich hoffentlich immer verstehn. Wüßte man nichts alsdas Gedruckte, müßte man glauben, daß hier einer aus der tiefen Ruhe der Nacht und desArbeitstages am Abend auftaucht und allein, innerlich fröhlich, beglückt mit den allerbesten Augenund Ohren, durch die Theater irrt, dabei immerfort in strengem Bezug zu einem fortwährend Lebenspendenden Geheimnis. Die schöne Untersuchung über Jirásek, oder auch nur eine solcheglückselige Kleinigkeit wie die über Pottasch und Perlmutter (war an jenem Abend alles inOrdnung?). Oder über die Arena, trotzdem hier der kleine Absatz über die Bänke mich etwas stört,nicht zufällig, sondern grundsätzlich. Ich weiß nicht worin wir hier ein wenig auseinandergehn.Fehlt mir hier irgendein Blick oder Beurteilungsvermögen?Was Du über meinen Fall sagst, ist richtig, nach außen präsentiert es sich so, das ist ein Trost undzu gelegener Stunde auch eine Verzweiflung, denn es zeigt, daß von den Schrecknissen nichtsdurchdringt und alles mir aufbewahrt bleibt. Diese Finsternis, die nur ich sehn muß, aber auch ichbei weitem nicht immer, schon am nächsten Tage nach jenem Tag nicht mehr. Aber ich weiß, daßsie da ist und auf mich wartet, wenn - nun, wenn ich nicht mit mir ein Einsehn habe. Wie schön undauch richtig Du alles erklärst und wenn Du mich so nach Berlin einladest, fahre ich gewiß und wäreja möglicherweise auch mit Baum gefahren, wenn wir gleich von Prag zusammen weggefahrenwären. Und meine körperliche Schwäche ist ja auch noch, wie Ottla es tut, in Rechnung zu stellenund die Häßlichkeit des Valutareisenden, der ohne andern Grund als nur, weil es billig ist, hinfährtund die nicht unberechtigte Angst vor Unruhen - viele Ursachen und doch nur eine, eine die icheinmal als Kind irgendwo in Stecknadelgröße zu sehn glaubte und von der ich jetzt weiß, daß esnichts gibt als sie.Und das Schreiben? (Das übrigens hier unter-mittel-mäßig weitergeht, sonst nichts, und immerfortvon Lärm gefährdet.) Möglich, daß meine Erklärung für Dich gar nicht stimmt und nur daherkommt, daß ich Dein Schreiben möglichst nahe an dem meinen haben will. Und dieser Unterschiedbesteht gewiß, daß ich, wenn ich einmal, außer durch Schreiben und was mit ihm zusammenhing,glücklich gewesen sein sollte (ich weiß nicht genau, ob ich es war), ich dann gerade des Schreibensgar nicht fähig war, wodurch dann alles, es war noch kaum in der Fahrt, sofort umkippte, denn dieSehnsucht zu schreiben hat überall das Übergewicht. Woraus aber nicht auf grundlegendeeingeborene ehrenhafte Schriftstellereigenschaft zu schließen ist. Ich bin von zuhause fort und mußimmerfort nachhause schreiben, auch wenn alles Zuhause längst fortgeschwommen sein sollte indie Ewigkeit. Dieses ganze Schreiben ist nichts als die Fahne des Robinson auf dem höchsten Punktder Insel.

Um mich noch ein wenig durch Klagen zu erleichtern: heute von 1/2 4 an wieder die Verladerampe,Hämmern, Rollen der Stämme, Rufe der Verlader, gestern um 8 Uhr früh war es endgültig dann zuEnde, heute aber brachte der Lastzug eine neue Ladung, so daß es wahrscheinlich auch amVormittag, der bisher meist schön war, so weitergehen wird. Um die Pause auszuführen, wurdeeben jetzt etwa hundert Schritte von mir ein Göpel in Gang gebracht, meist liegt er still oder wirdvon vernünftigen Pferden bedient, die keine Zusprache brauchen, heute aber wurden Ochseneingespannt und denen muß man jeden Schritt mit Hott und Hüöh und sakramenská paká�*(»Verdammtes Gesindel!«) erklären. Was soll das Leben noch?Die Wannseevilla, Max! Und mir bitte ein stilles Dachzimmer (weit vom Musikzimmer), aus demich mich gar nicht fortrühren will; man wird gar nicht merken, daß ich dort bin.Aber vorläufig sind nur diese Leiden, immer wieder; was war dieser Anlaß? Es ist nichtauszudenken, aber wenn man es erfährt, stimmt es immer, über alle Trostmöglichkeiten hinweg.

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Aber wie ist es möglich, daß Du leidest und gleichzeitig über den Schwanenteich träumst.(Zauberhaft ist es, ich habe es jetzt wieder gelesen - das Hinweggleiten über die gesamteMelancholie - die Schwermut über die Kanapees hingelagert - das alte russische Schloß - dieTänzerin - das Ertrinken im See - alles.) - Es muß sich in den letzten Tagen doch wieder wesentlichgebessert haben. (Juchhu! schreit eben ein Junge unter meinem Fenster, die Ketten am Bahnhofrasseln, nur die Ochsen machen eine Pause, es wird ein harter Vormittag werden, es ist nämlichkühl, sonst schützt mich die Sonne vor den Kindern. Heute hätte ich vielleicht die Kraft, nachGeorgental zu fahren.) Freilich so körperlich gelitten wie diesmal hast Du nie, wenn Du es auchleugnest. Diese körperlichen Leiden kann ich E. nicht verzeihen, auch wenn sie an ihnenunschuldig sein sollte ; schon wegen des von Dir hergestellten Zusammenhanges nicht.Auch ich bekam einen Klagebrief von Felix. Ich glaube, ihm wäre am leichtesten von uns allen zuhelfen, und niemand hilft ihm.Hast Du meine Karte bekommen? Kannst Du die Novelle noch in Prag lassen? Hast Du überHauptmann geschrieben?Alles Gute, mehr als bisher!

F(Nachschrift:) Weißt Du etwas von Klopstock? er hat mir seit einiger Zeit nicht geschrieben; sehrverständlich angesichts meiner unbefriedigenden Antworten.

Wie war (in intimer Hinsicht) der Elternabend? Wie hat meine Schwester gesprochen? Hat manSchüler für nächstes Jahr? - Eben bringt mir Ottla die Nachricht, daß sie (unaufgefordert, von mirgar nicht aufmerksam gemacht, unten in der Küche auf dem Hof kann sie überdies die Kinder kaumhören) die Kinder weggeschickt hat und daß sie - es ist die artige Gruppe - bereitwilligst gegangensind. Bleibt die Verladerampe und der unausgeschlafene Kopf und die verhältnismäßig späteStunde, ein verlorener Tag, durch Ottlas Sorgfalt erträglicher gemacht. - Nein, eben ist die unartige,unbeherrschbare, weil der Hausfrau als Tante gehörige Gruppe vor meinem Fenster. Du fragst nachdem Wald, der Wald ist schön, dort kann man Ruhe finden, aber keine »Komponierhütte«. EinGang durch den (übrigens sehr mannigfaltigen) Wald am Abend, wenn der Lärm der Vögel sichdämpft (an Mahlers Stelle hätten mich vielleicht die Vögel gestört) und es nur noch hie und daängstlich zwitschert (man könnte glauben, es sei Angst vor mir, aber es ist Angst vor dem Abend)und das Sitzen auf einer bestimmten Bank am Waldrand vor einer großen Aussicht (hier herrschenaber schon meistens die entsetzlichen Stimmen der Prager Kinder), das ist sehr schön, aber nurwenn eine ruhige Nacht und ein ruhiger Tag vorherging.

An Robert Klopstock(Postkarte. Planá, Mitte Juli 1922)

Lieber Robert, das ist es ja eben, ich bin noch in Planá und bleibe hier, trotzdem Oskar inwunderbarer Fürsorglichkeit ein offenbar sehr schönes Zimmer dort in Georgental gefunden hat.Aus Angst, nicht aus Reiseangst, aus allgemeiner Angst kann ich nicht fahren, habe abtelegraphiertund bleibe. Bleibe, trotzdem es bei sonstiger großer Schönheit für meine Verhältnissekopfschwirrend unruhig hier ist. Nun es gibt kein Ausweichen, in die Fläche nicht.Wie ging es Ihnen? Kolloquium? Abschied von Hermann? (Halbjahrsrechnung 2700 K, für denVater 1900 K. Was man auch gegen meine Lunge sagen mag, unergiebig ist sie nicht.)Herzliche Grüße von mir und Ottla

Ihr K.

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An Oskar Baum(Prag, 16. Juli 1922)

Lieber Oskar, nur ein paar Worte heute. äußerlich bin ich wegen meines Nichtfahrensgerechtfertigt, ich hätte, wie sich jetzt herausstellt, auf keinen Fall zu Euch fahren können. - AmFünfzehnten hätte ich nach dem ersten Plan fahren sollen, aber am Vierzehnten nachmittag bekamich in Planá ein Telegramm, daß mein Vater, in Franzensbad schwer erkrankt, nach Pragtransportiert worden ist. Ich fuhr gleich nach Prag, noch am Vierzehnten abends wurde der Vateroperiert, es ist wahrscheinlich nichts Bösartiges, nichts Organisches; Klemmung des Darms infolgeNabelbruchs oder etwas derartiges (ich wage Ärzte nicht zu fragen, und wenn sie trotzdemantworten, verstehe ich sie nicht), aber immerhin, eine sehr schwere Operation, ein Siebzigjähriger,geschwächt durch knapp vorhergehende, vielleicht mit dem Leiden zusammenhängendeKränklichkeit, ein krankes Herz überdies; bis heute, zwei Tage nach der Operation, geht esallerdings bezaubernd gut.Aber ich will noch von meinem Nichtfahren sprechen. Ich hatte mir Deine Karte genau zuuntersuchen vorgenommen, auf jedes Wort hin und auf alle Hintergedanken jedes Wortes hin. Zumersten und auch noch zum zweiten Male gelesen, war ja die Karte äußerst lieb und beruhigend.Später aber - ich kam mit der Untersuchung nicht zu Ende, weil ich nach Prag fahren mußte -stockte ich doch hie und da, besonders bei der »Fürsorgeattacke«. Wie wagst Du, Oskar, einsolches Wort hinzuschreiben? Eine Fürsorgeattacke (ich kann das Wort nicht einmal schreiben, mitqu soll es wohl geschrieben werden?), bei der ich Tag für Tag zu Dir hinaufkomme, Dich bei derArbeit störe und die günstigsten Eisenbahnverbindungen Dir abzubetteln suche, in der geheimenHoffnung, daß man, wenn ich nur oft genug frage, vielleicht auch nur mit der ElektrischenGeorgental erreichen kann. Also nichts von Fürsorgeangriff bitte! Und mißverstehe mein Leid nichtdamit, daß Du glaubst, nur die Schönheit von Planá habe mich gehindert zu kommen. Planá ist jaschön, aber ich suche Ruhe vor der Schönheit und ich habe dort schon vor und nach der imaginärenGeorgentaler Reise Lärmtage erlebt, daß ich mein Leben verflucht habe und viele Tage brauchte,um die Lärmangst, das niemals erfolglose Lauern auf den Lärm, die Verwirrung im Kopf., dieSchmerzen in den Schläfen loszuwerden, worauf dann allerdings die Wirkung der MaßnahmenOttlas, der Allersorgsamsten, sich wieder abgeschwächt hatte und neuer schrecklicher Lärm bereitwar. - Genug für heute und alles Gute Dir und Euch.

Dein FWarum schweigt Frau Horn?

An Max Brod(Planá, Stempel: 20. VII. 1922)

Liebster Max, ich hatte gestern vormittag keine Zeit mehr zu Dir zu kommen und es war schonnotwendig für mich wegzukommen, des unregelmäßigen Lebens war übergenug (für dasregelmäßige Leben ist allerdings Planá weniger geeignet als Prag, aber nur wegen des Lärms, sonstkeineswegs, ich muß das immer wiederholen, damit es mir »oben« nicht abgestritten wird),trotzdem wäre ich vielleicht doch geblieben, wenn ich gesehen hätte, daß der Vater mich irgendwienur benötigt. Das war aber gestern gar nicht der Fall. Seine Zuneigung zu mir hat Tag für Tag (nein,am zweiten Tag war sie am größten, dann hat sie immerfort) abgenommen und gestern konnte ermich nicht schnell genug aus dem Zimmer bekommen, während er die Mutter zum Dableibenzwang. Für die Mutter beginnt jetzt übrigens eine besondere, neue, aufreibende Leidenszeit, auchwenn sich alles so schön weiterentwickelt wie bisher. Denn während der Vater bisher, unter demDruck der schrecklichen Erinnerungen, das Daliegen im Bett immerhin noch als Wohltat empfand,fängt für ihn die große Qual des Liegens (jetzt an) (er hat eine Narbe auf dem Rücken, die ihm seitjener langes Liegen Fast unmöglich gemacht hat, dazu kommt die Schwierigkeit jederLageveränderung des schweren Körpers, das unruhige Herz, der große Verband, die

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Wundschmerzen beim Husten, vor allem aber sein unruhiger, aus sich selbst hilfloser, verfinsterterGeist), eine Qual, die meiner Meinung nach alles Vorhergehende übertrifft, diese Qual schlägt nunschon bei gebessertem Gesamtbefinden nach außen, gestern machte er schon hinter derhinausgehenden, wie ich glaube, wunderbaren Schwester eine Handbewegung, die in seinerSprache nur »Vieh!« bedeuten konnte. Und diese seine Lage, die in ihrer ganzen kahlenSchrecklichkeit vielleicht nur mir ganz verständlich ist, wird nun günstigstenfalls noch zehn Tagedauern, und was davon auf die Mutter abwälzbar ist, wird voll und reichlich abgewälzt werden.Zehn solche Tag- und Nachtwachen, wie sie jetzt der Mutter bevorstehn!Ich hatte also keine Zeit zu Dir zu kommen, aber ich wäre wahrscheinlich auch nicht gekommen,wenn ich Zeit gehabt hätte, allzusehr hätte ich mich geschämt für den Fall, daß Du mein Heft schongelesen haben solltest, dieses Heft, das ich Dir nach Deiner Novelle zu geben gewagt hatte, obwohlich weiß, daß es doch nur da ist zum Geschrieben-, nicht zum Gelesenwerden. Nach dieser Novelle,die so vollkommen, so rein, so geradegewachsen, so jung ist, ein Opfer, dessen Rauch obenwohlgefällig sein muß. Nur weil sie mir so teuer ist, bitte ich Dich, den Anfang, nicht nur denallerersten, sondern bis zur Professorsfamilie und dann den allerletzten Schluß noch einmaldurchzusehn. Der Anfang irrt, wenigstens für den, der das Ganze nicht kennt, ein wenig umher, soals suchte er die zur Erholung angenehmen, das Ganze aber schädigenden Nebenerfindungen, die jawirklich im Ganzen völlig abgewehrt sind, in jenem Anfang aber ein wenig wetterleuchten. DerSchluß aber atmet zu lange aus, während der Leser, der noch mit dem Atem kämpft, dadurchverwirrt die Blickrichtung ein wenig verliert. Mit dem sage ich aber nichts gegen die Briefform, diemich schon überzeugt hat. Ich weiß ganz und gar nicht, wie sich diese Novelle in meine Ansichtvom »Schriftsteller« einfügt, mache mir darüber keine Sorgen und bin glücklich darüber, daß dieNovelle vorhanden ist. Aber gute Nahrung hat gestern meine Ansicht bekommen, als ich auf derFahrt ein Reclambändchen »Storm: Erinnerungen« las. Ein Besuch bei Mörike. Diese beiden gutenDeutschen sitzen im Frieden dort beisammen in Stuttgart, unterhalten sich über deutsche Literatur,Mörike liest »Mozart auf der Reise nach Prag« vor (Hartlaub, Mörikes Freund, der die Novelleschon sehr gut kennt, »folgte der Vorlesung mit einer verehrenden Begeisterung, die eraugenscheinlich kaum zurückzuhalten vermochte. Als eine Pause eintrat, rief er mir zu: >Aber, ibitt Sie, ist das nun zum Aushalte<. - Es ist 1855, es sind schon alternde Männer, Hartlaub istPfarrer), und dann sprechen sie auch über Heine. Über Heine ist schon in diesen Erinnerungengesagt, daß für Storm die Pforten der deutschen Literatur durch Goethes Faust und Heines Buch derLieder, diese beiden Zauberbücher, aufgesprungen sind. Und auch für Mörike hat Heine großeBedeutung, denn unter den wenigen, ihm sehr teueren Autogrammen, die Mörike besitzt und Stormzeigt, ist auch »ein sehr durchkorrigiertes Gedicht von Heine«. Trotzdem sagt Mörike über Heineund es ist, obwohl es hier wohl nur Wiedergabe einer landläufigen Ansicht ist, zumindest von einerSeite her eine blendende und noch immer geheimnisvolle Zusammenfassung dessen, was ich vomSchriftsteller denke und auch was ich denke, ist in einem andern Sinn landläufige Ansicht: »Er istein Dichter ganz und gar« sagte Mörike »aber nit eine Viertelstund' könnt' ich mit ihm leben, wegender Lüge seines ganzen Wesens.« Den Talmudkommentar dazu her!

Dein(Nachschrift:) Du sagtest, Du wärest in Not wegen des Materials für das Abendblatt. Ich wüßteetwas, was sich hoch lohnen würde: Für den Bildhauer Bilek schreiben. Darüber nächstens. DasHusdenkmal in Kolin kennst Du doch? Hat es auf- Dich auch einen so ausschließlichen großenEindruck gemacht?

An Robert Klopstock(Planá, Stempel: 24. VII. 1922)

Lieber Robert, Sie müssen nicht so verzweifelt sein wegen dieses scheinbaren Mißlingens, das ichallerdings nicht durchschauen, aber auf meine Art doch nachfühlen kann. Wenn wir auf dem

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richtigen Wege wären, wäre auch ein solches Versagen grenzenlos verzweifelt, aber da wir dochnur auf einem Weg sind, welcher erst zu einem zweiten führt und dieser zu einem dritten u.s.f., unddann noch lange nicht der richtige kommt und vielleicht gar nicht, wir also ganz der Unsicherheit,aber auch der unbegreiflich schönen Mannigfaltigkeit ausgeliefert sind, ist die Erfüllung derHoffnungen und insbesondere solcher Hoffnungen das immer unerwartete, aber dafür immermögliche Wunder.Was mich betrifft, Stille, Stille würde ich brauchen, kann leider auch der Ihrigen dort nicht glaubenund würde zumindest den Springbrunnen abdrehn. Und die Angst, die mich nicht fahren läßt, ichkenne sie schon lange, sie ist lebendiger als ich und wird es beweisen. - Fahren hätte ich übrigensgar nicht können, mein Vater ist operiert worden (Nabelbruch mit Darmklemmung), vor neunTagen, es nimmt einen wunderbar guten Verlauf. - Max hat von Ihrem letzten Besuch nochherzlicher und vorbehaltloser gesprochen als früher.

Ihr K.Ohne Ohropax bei Tag und Nacht ginge es gar nicht.

An Max Brod(Planá, Ende Juli 1922)

Liebster Max, schon viertel zehn abend, fast zu spät zum Schreiben, aber der Tag ist zum Teilinfolge der Kinder, weil nur die von ihnen gelassenen Pausen brauchbarer Tag sind, zum Teilinfolge der Schwäche und Nachlässigkeit oft zu kurz, Ottla sagt mit Bezug darauf, daß ich michnoch zum zweitenmal werde pensionieren lassen müssen.Aber das sind Kleinigkeiten. Wie bist Du aber geplagt. Was für eine große, durch nichts zuverwirrende, nicht einmal durch die Novelle zu besänftigende Phantasie arbeitet gegen Dich. Den»Familienrat«, den Du ja auch widerrufst, verstehe ich allerdings nicht ganz. E´s Verhältnis zu Dirist doch keine Neuigkeit in der Familie, die drei Schwestern Und der Schwager sind doch mit odergegen ihren Willen gewonnen, es bliebe also nur der Vater und wohl Bruder, von der Ferne sieht esallerdings, soweit Deine Erzählungen mich belehrt haben, nur wie eine kleine, kaum sehrerfolgreiche Intrigue der Leipziger Schwester aus, die ich mir in dieser Hinsicht sehr tätig vorstelle.Den Brief der Berlinerin hätte ich gern gelesen, nun siehst Du, sie hat doch geantwortet. Wieder sogesprächig und vertrauend und zu weiterem Schreiben verlockend wie letzthin? Der »echte korrekteMensch« ist einerseits ein vorahnendes Zitat aus der Novelle, andererseits aber eine Einladung, sichihn wirklich anzusehn; eine Spur Selbstquälerei, abgesehn natürlich von verständlicher Angst Duhast Dir ihn so hoch aufgebaut, höher als den Bergmenschen der Novelle - hindert Dich daran.Ich weiß nicht genau, ob Du meinen letzten Brief bekommen hast. Du erwähnst die Novelle garnicht - für deren Bruchstück in der Zeitung ich Dir sehr danke, auch für die Paraphrasen, es würdemich, ohne daß ich jetzt eine genaue Vorstellung davon hätte, wie dies zu tun wäre, locken, einenKommentar zur Novelle einmal zu schreiben. - Mörike nicht - letzthin blätterte ich bei Andre ineiner Literaturgeschichte der letzten Zeit Verlag Diederichs, (von Otto von der Leyen oder ähnlich),gemäßigte deutsche Stellung, der Hochmutston darin scheint persönliches Eigentum des Verfasserszu sein, nicht seiner Stellung anzugehören.3/4 8 früh, die Kinder, ([Nachtrag:] die dann von Ottla doch vertrieben wurden), sind schon da,nach einem erstaunlich guten Tag, dem gestrigen, sind sie schon so bald hier, nur zwei erst und einKinderleiterwagen, aber es ist genug. Sie sind mein »Familienrat«; wenn ich - schon aus der Mittedes Zimmers sehe ich sie feststelle, daß sie da sind, ist mir, als hebe ich einen Stein und sehe dortdas Selbstverständliche, Erwartete und doch Gefürchtete, die Asseln und das ganze Volk der Nacht,es ist aber sichtlich eine Übertragung, nicht die Kinder sind die Nächtlichen, vielmehr heben sie inihrem Spiel den Stein von meinem Kopf und »gönnen« auch mir einen Blick hinein. Wie überhauptweder sie noch der Familienrat das Schlimmste sind, beide sind wohl eingespannt ins Dasein; dasSchlimme, woran sie unschuldig sind und was sie eher geliebt als gefürchtet machen sollte, ist, daß

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sie die letzte Station des Daseins sind. Hinter ihnen beginnt, ob sie nun durch ihren Lärm scheinbarschrecken oder durch ihre Stille scheinbar beglücken, das von Othello angekündigte Chaos. Hiersind wir von einer andern Seite her bei der Schriftsteller frage. Es ist vielleicht möglich, ich weiß esnicht, daß ein das Chaos beherrschender Mann zu schreiben beginnt; das werden heilige Büchersein; oder daß er liebt; das wird Liebe sein, nicht Angst vor dem Chaos. Lieschen ist im Irrtum,allerdings nur im terminologischen: erst in der geordneten Welt beginnt der Dichter. Deutet dasLesen der »Anna«, die zu lesen ich mich übrigens schon lange freue, daraufhin, daß Du doch etwasüber Hauptmann geschrieben hast? - Nun solltest Du aber auch die »Osterfeier« lesen, vielleicht aufder Reise?Zu der Literaturgeschichte: ich hatte nur eine Minute Zeit in ihr zu blättern, es wäre interessant, siegenauer zu lesen, sie scheint eine Begleitmusik zur Secessio Judaica und es ist erstaunlich, wieinnerhalb einer Minute einem allerdings sehr günstig voreingenommenem Leser mit Hilfe desBuches die Dinge schön sich ordnen, etwa die Menge halb bekannter, gewiß ehrlicher, dichterischerMänner, die in einem Kapitel »Unser Land« auftauchen, nach Landschaften geordnet, deutschesGut, jedem jüdischen Zugriff unzugänglich, und wenn Wassermann Tag für Tag um 4 Uhr morgensaufsteht und sein Leben lang die Nürnberger Gegend von einem Ende zum andern durchpflügt, siewird ihm nicht antworten, schöne Zuflüsterungen aus der Luft wird er für ihre Antwort nehmenmüssen. Es ist kein Namensverzeichnis in dem Buch, deshalb wohl habe ich Dich nur einmal, nichtunfreundlich, erwähnt gefunden; ich glaube, es war ein Vergleich eines Romanes von Löns und desTycho; Tycho wurde mit aller Achtung verdächtig dialektisch gefunden. Ich bin sogar gelobt,allerdings nur halb, als Franz Koffka (offenbar Friedrich Koffka), der ein schönes Dramageschrieben haben soll.Auch Bílek erwähnst Du nicht, gern würde ich ihn in Deinen Arm betten. Ich denke seit jeher anihn mit großer Bewunderung. Zuletzt hat mich freilich, wie ich gestehen muß, erst wieder eineBemerkung in einem mit andern Dingen sich beschäftigenden Feuilleton in der »Tribuna« (vonChalupný glaube ich) an ihn erinnert. Wenn es möglich wäre, diese Schande und mutwillig-sinnlose Verarmung Prags und Böhmens zu beseitigen, daß mittelmäßige Arbeiten wie der Hus von�aloun oder miserable wie der Palacký von Sucharda ehrenvoll aufgestellt werden, dagegenzweifellos unvergleichliche Entwürfe Bíleks zu einem �i�ka- oder Komenskýdenkmalunausgeführt bleiben, wäre viel getan und ein Regierungsblatt wäre der richtige Ansatzpunkt. Obfreilich jüdische Hände die richtigen sind, das auszuführen, das weiß ich nicht, aber ich weiß keineandern Hände, die das könnten, und Deinen traue ich alles zu. Deine Bemerkungen zum Romanbeschämen und freuen mich, so wie ich etwa Vìra erfreue und beschäme, wenn sie, was häufiggenug geschieht, in ihrem torkelnden Gang sich unversehens auf ihren kleinen Hintern setzt und ichsage: »Je ta Vìra ale �ikovná« (Ist die Vìra aber geschickt.) Nun weiß sie zwar unwiderleglich,denn sie spürt es hinten, daß sie sich unglücklich gesetzt hat, aber mein Zuruf hat solche Gewaltüber sie, daß sie glücklich zu lachen anfängt und überzeugt ist, das Kunststück wahren Sich-Setzenssoeben ausgeführt zu haben.Die Mitteilung des Herrn Weltsch dagegen ist wenig zwingend, er ist eben a priori überzeugt, daßman den eigenen Sohn nicht anders als loben und lieben kann. In diesem Fall aber: was wären hierfür Begründungen des Augenleuchtens. Ein heiratsunfälliger, keine Träger des Namensbeibringender Sohn; pensioniert mit 39 Jahren; nur mit dem exzentrischen, auf nichts anderes alsdas eigene Seelenheil oder Unheil abzielenden Schreiben beschäftigt; lieblos; fremd dem Glauben,nicht einmal das Gebet für das Seelenheil ist von ihm zu erwarten; lungenkrank, hat sich dieKrankheit überdies nach des Vaters äußerlich ganz richtiger Ansicht geholt, als er zum erstenmalfür einige Zeit aus der Kinderstube entlassen, sich, zu jeder Selbständigkeit unfähig, das ungesundeSchönbornzimmer ausgesucht hatte. Das ist der Sohn zum Schwärmen.

FWas macht Felix? Mir hat er nicht mehr geantwortet.

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An Robert Klopstock(Planá, Ende Juli 1922)

Lieber Robert, nun dann ist es also gut. Ich wäre gar nicht zu meinen Befürchtungen gekommen(denn Nichtschreiben an sich ist nichts Schlimmes, ich kann freilich auch nicht sagen: etwas Gutes,denn meine Lust zum Nichtschreiben war kaum jemals durch eine bessere Lust hervorgerufen, wiees bei Ihnen zu sein scheint und sein möge) hätte nicht immerfort die Zeitungsnachricht in mirgebohrt, daß unter den Studenten, die bei der Ymca gegessen haben, zum Ende des Schuljahreseine Typhusepidemie ausgebrochen ist und manche Studenten den (angeblich vier Wochen zurEntwicklung benötigenden) Keim mit in die Ferien genommen haben. Nun also, davor sind wirbewahrt worden. Dafür aufbewahrt für Kämpfe, wie Sie sie andeuten. Viel Glück dazu und Ruheund Wald und Menschenleere! Mir geht es - mit Unterbrechungen - leidlich. Meine Karte, in derich Ihnen von der Operation meines Vaters schrieb, haben Sie wohl bekommen?

Ihr K

An Max Brod(Planá, Ankunftstempel: 31. VII. 22)

Liebster Max, noch schnell einen Gruß vor der Reise (soweit es unten Hausfrau, Neffen und Nichte- der Hausfrau nämlich - erlauben).In Deiner Reihenfolge:Bílek: daß Du das wirklich versuchen willst, was ich nur als eigentlich phantastischen Wunschauszusprechen wagte, zu mehr reicht die Kraft nicht, freut mich ungemein. Es wäre meinerMeinung nach ein Kampf von dem Rang des Kampfes für Janáèek, soweit ich das verstehe (fasthätte ich geschrieben: des Kampfes für Dreyfus) wobei nicht Bílek der Janáèek oder Dreyfus desKampfes wäre (denn ihm geht es angeblich und wahrscheinlich erträglich, in jenem Aufsatz stand,daß er Arbeit hat, schon die siebente Kopie einer Statuette »Der Blinde« ist bestellt worden,unbekannt ist er ja auch nicht, in jenem Aufsatz - der sich im allgemeinen mit den staatlichenAufwendungen für Kunst beschäftigte - war er sogar »velikán« (großer Mann) genannt, Originalitätwurde nicht den Wert des Kampfes für ihn ausmachen, wurde nicht den Wert des Kampfeshinunterdrücken), sondern die plastische Kunst selbst und das Augenglück der Menschen. Wobeiich freilich immer nur an den Koliner Hus denke (nicht eigentlich so sehr an die Statue in derModernen Galerie und das Grabmal auf dem Vy�ehrader Friedhof und immerhin noch mehr andiese als an die in der Erinnerung mir verschwimmende Menge nicht leicht zugänglicherKleinarbeit in Holz und Graphik, die man früher von ihn sah), wie man aus der Seitengassehervorkommt und den großen Platz mit den kleinen Randhäuschen vor sich liegen sieht und in derMitte den Hus, alles, immer, im Schnee und im Sommer, von einer atemraubenden,unbegreiflichen, daher willkürlich scheinenden und in jedem Augenblick wieder von diesermächtigen Hand neu erzwungenen, den Beschauer selbst einschließen den Einheit. Etwas ähnlicheserreicht vielleicht durch den Segen des Zeitablaufs das Weimarer Goethehaus, aber für denSchöpfer dessen kann man nur schwer kämpfen und die Tür seines Hauses ist immer geschlossen.Sehr interessant müßte aber sein zu erfahren, wie es zu der Aufstellung des Husdenkmals kam;soweit ich mich aus den Erzählungen meines verstorbenen Cousins erinnere, war die ganzeStadtvertretung schon vor der Aufstellung dagegen und nachher noch viel mehr und wohl bis heute.Die Novelle: schade, daß ich die endgiltige Fassung nicht erfahren kann.Lieschen ist freilich viel verständlicher als M. Daß so etwa die Mädchen sind, haben wir in derSchule gelernt, freilich haben wir auch nicht gelernt, daß sie zu lieben und auf diese Weiseunverständlich zu machen sind.Felix: unwahrscheinlich der Zauber-Psychiater, aber F. würde freilich das Unwahrscheinlich-Schönste verdienen. - Warum sollte er den »Juden« nicht übernehmen können, das wäre dochaußerordentlich schön, und wenns nicht ginge, außerordentlich traurig. Freilich trägt es

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augenblicklich weniger als die »Selbstwehr«, aber doch so viel, daß er vielleicht auskommenkönnte (wobei ich voraussetze, daß der Jude, wenn er von Heppenheim redigiert werden konnte,auch von Prag redigiert werden kann) und die Stellung wäre repräsentativ und würde ihm doch vielweniger Arbeit geben als die Selbstwehr. Freilich, die schöne Selbstwehr wäre in Gefahr, das merktman an der Epsteinschen Zwischenzeit, aus der man nur etwa solche Dinge in Erinnerung behaltenwird: »Der russische Chaluz tritt auf den Plan«, die Selbstwehr kann nicht nebenbei, muß soaufopfernd gemacht werden, wie Felix es tut. - Was mich betrifft, ist es leider nur Spaß oderHalbschlaf-Einfall, bei der Vakanz des »Juden« an mich zu denken. Wie dürfte ich bei meinergrenzenlosen Unkenntnis der Dinge, völligen Beziehungslosigkeit zu Menschen, bei dem Mangeljedes festen jüdischen Bodens unter den Füßen an etwas derartiges denken? Nein, nein.Hauptmann: Der Aufsatz im Abendblatt war ungemein schön und auf den Rundschauaufsatz freueich mich sehr. Nur weiß ich nicht, wie Du, außer mit dem unkontrollierbaren Recht der Liebe,Jorinde und Anna (nach Deiner Nacherzählung) in Beziehung setzen kannst. Jorinde ist ganzanders, gleichzeitig verständlicher und geheimnisvoller als Anna. Anna hat den eindeutigen Fallgetan, die Beweggründe sind rätselhaft, der Fall ist unzweifelhaft. Ihr größtes Geheimnis ist dasSelbstgericht und die Selbstbestrafung, ein Geheimnis, das sie mir gewissermaßen verständlichermacht als Jorinde, nicht etwa kraft meiner Fähigkeiten, aber kraft meiner Forderung. Jorindedagegen hat ja gar nichts Böses getan, hätte sie es getan, würde sie es ja ihrer Art nach ebensogestehn wie Anna, aber da sie nichts zu gestehn hat, kann sie nichts gestehn, wobei freilich ihremWesen nach - was man aber vielleicht bei Anna vor dem Fall auch hätte sagen können - esunmöglich scheint, daß sie mit Überzeugung von sich sagt: »Ich habe Unrecht getan.« Darin liegtvielleicht ihr Rätsel, das aber gewissermaßen sich nicht entfalten kann, denn sie hat ja nichts Bösesgetan. Fast kommt man auf diesem Wege dazu, aktuell rätselhaft nur ihren Geliebten zu finden, derseine Schwäche - die unleugbar da ist und darin besteht, daß er den Verkehr mit dem Mechanikernicht beenden kann, was nicht nur eine augenblickliche Schwäche ist, sondern Voraussicht weitererSchwäche, daß er nämlich, wenn er diesen Verkehr doch beenden könnte, für einen neuen, ihnebenso störenden, Platz schaffen würde bis zur Verfinsterung der ganzen Welt übertreibt. Ihn störtfast ebenso wie der Mechaniker die Unschuld Jorindes und Unschuld heißt hier Unzugänglichkeit.Er ist, wie Du es übrigens gewiß auch gesagt hast, förmlich auf der Jagd nach etwas, was Jorindenicht besitzt, zu dem sie vielmehr nur die versperrte Tür darstellt, und wenn er an ihr rüttelt, so tuter ihr auch sehr weh, denn sie kann doch nicht geben, was sie nicht besitzt, er aber freilich kannnicht nachlassen, denn er will das, was sie versperrt und von dem sie selbst gar nichts weiß undauch von niemandem, auch von ihm nicht, bei größter Anstrengung und Belehrung etwas erfahrenkönnte.Nach Misdroy werde ich Dir wohl schreiben, aber an E. nicht, es wäre Komödie und würde auchvon ihr so angesehen werden. Dagegen werde ich, wenn ich schreibe, Dir schreiben, so daß Du denBrief zeigen kannst, und das wird gar keine Komödie sein. Übrigens geht jetzt die Post nachDeutschland sehr langsam.Leb wohl!

FSchreib mir bitte von Berlin und auch von Misdroy je eine Karte.

(Nachschrift:) Der Fall Bílek ist merkwürdiger als der Fall Janáèek, erstens war damals nochÖsterreich, die böhmischen Verhältnisse gedrückt, und zweitens war ja Janáèek wirklich,wenigstens in Böhmen, gänzlich unbekannt, Bílek aber ist sehr bekannt, sehr geschätzt undhunderttausende sehn ihn, wie er zwischen den zehn Bäumen seines verstaubten Villengartensabends spazieren geht.

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An Max Brod(Planá, Anfang August 1922)

Liebster Max, ich war jetzt fast 4 Tage in Prag und bin wieder hierher in den verhältnismäßigenFrieden zurückgekommen. Diese Einteilung, ein paar Tage in der Stadt, ein paar Monate auf demLande, wäre die für mich vielleicht richtige. Vier Tage im Sommer in der Stadt sind freilich schonsehr viel, länger könnte man sich z.B. gegen die halbnackten Frauen dort kaum wehren, erst imSommer sieht man dort eigentlich in Mengen ihre merkwürdige Art Fleisch. Es ist leichtes, viel-Wasser-haltiges zart aufgedunsenes, nur ein paar Tage lang frisches Fleisch; in Wirklichkeit hält esfreilich doch lange aus, aber das ist nur ein Beweis für die Kürze des Menschenenlebens; wie kurzmuß das Menschenleben sein, wenn solches Fleisch, das man sich wegen seiner Hinfälligkeit,wegen seiner nur für den Augenblick modellierten Rundung (die allerdings, wie Gulliver entdeckthat - ich kann es aber meistens nicht glauben, - durch Schweiß, Fett, Poren und Härchen entstelltist) kaum anzurühren getraut, wie kurz muß das Menchenleben sein, wenn solches Fleisch einengroßen Teil des Lebens überdauert.Hier im Ort sind die Frauen ganz anders, es gibt zwar auch viele Sommerfrischler hier, z.B. eineungemein schöne, ungemein dicke blonde Frau, die, so wie etwa ein Mann an seiner Weste rückt,alle paar Schritte sich strecken muß, und Bauch und Brüste in Ordnung zu bringen, angezogen istsie wie ein schöner Giftschwamm und riecht - die Menschen haben keinen Halt - wie der besteeßbare Pilz (ich kenne sie natürlich gar nicht, kenne fast niemanden hier) -, aber über dieSommerfrischler sieht man hinweg, sie sind entweder komisch oder gleichgültig, aber von deneinheimischen Frauen bewundere ich die meisten. Sie sind niemals halbnackt, und trotzdem siekaum mehr als ein Kleid haben, sind sie immer vollständig angezogen. Dick werden sie erst imspätesten Alter und üppig ist nur hie und da ein junges Mädchen (eine Stallmagd etwa in einemhalbverfallenen Hof, an dem ich abends öfters vorübergehe, sie steht dann manchmal in der Stalltürund kämpft förmlich mit ihren Brüsten), die Frauen aber sind trocken. eine Trockenheit, in die mansich wahrscheinlich nur von der Ferne verlieben kann, Frauen, die gar nicht gefährlich scheinenund doch prachtvoll sind. Es ist ja eine besondere Trockenheit, die von Wind, Wetter, Arbeit,Sorgen und Gebären herkommt, aber doch gar nicht städtisches Elend ist, sondern ruhige aufrechteFröhlichkeit. Neben uns wohnt eine Familie, sie müßte gar nicht Veselý (das ist »fröhlich«) heißen;die Frau ist 32 Jahre alt und hat sieben Kinder, darunter fünf Jungen, der Vater ist Mühlenarbeiter,hat meistens Nachtarbeit. Dieses Ehepaar verehre ich. Er sieht, wie Ottla sagt, wie einpalästinensischer Bauer aus, nun, es ist möglich: mittelgroß, etwas bleich, die Bleichheit ist aberbeeinflußt von dem schwarzen Schnauzbart (einer von den Bärten, von denen Du einmalgeschrieben hast, daß sie die Energie aufsaugen), still, zögernde Bewegungen, wäre nicht seineRuhe, könnte man sagen, daß er schüchtern ist. Die Frau, eine jener Trockenen, immer jung, immeralt, blauäugig, fröhlich, faltenreiches Lachen, trägt auf unbegreifliche Weise diesen Haufen Kinderdurchs Leben (ein Junge geht in die Realschule in Tábor) und leidet natürlich ununterbrochen,einmal als ich mit ihr sprach, kam ich mir mit ihr fast verheiratet vor, denn auch mir machen dieKinder vor dem Fenster Leid, aber nun beschützt mich auch sie. Freilich, es ist schwer, der Vatermuß oft bei Tag schlafen, dann müssen die Kinder aus dem Haus und dann bleibt für sie kaumetwas anderes übrig als der Platz vor meinem Fenster, ein Stück grasbewachsener Straße und einStück eingezäunter Wiese mit ein paar Bäumen, die der Mann wegen seiner Ziegen gekauft hat.Einmal an einem Vormittag versuchte er dort zu schlafen, er lag dort zuerst auf dem Rücken, dieArme unter dem Kopf. Ich saß beim Tisch und sah immerfort nach ihn hin, konnte kaum von ihmfortsehn, konnte nichts anderes machen Wir brauchten beide Stille. das war eine Gemeinsamkeit,aber die einzige. Wenn ich meinen Anteil an der Stille ihn hätte opfern können, hätte ich es gerngetan, Es war übrigens nicht still genug, andere Kinder, nicht die seinen, lärmten, er drehte sich umund versuchte mit dem Gesicht in den Händen einzuschlafen, es war aber nicht möglich, er standdann auf und ging nachhause.

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Ich erzähle Dir da aber, Max, wie ich allmählich merke, Geschichten, die Dich gar nichtinteressieren können, und erzähle sie nur deshalb, um überhaupt etwas zu erzählen und mit Dir inirgendeiner Verbindung zu sein, denn ich bin sehr trübselig, lustlos aus Prag zurückgekommen,Ursprünglich wollte ich Dir gar nicht schreiben, für den Lärm und das Unglück der Stadt, so wieDu dort gelebt hast, mögen Briefe passen, aber dort oben in der Meeresstille wollte ich Dich nichtstören, die Karte, die Du mir zuletzt aus Prag schicktest, bestärkte mich auch darin. Nun aber, daich aus Prag zurückgekommen bin. ein wenig traurig wegen des immerfort leidenden Vaters(vielleicht wird es doch gut ausgehn, schon seit einer Woche geht er täglich spazieren, Schmerzen,Unbehagen, Unruhe, Angst hat er aber immerfort), traurig wegen der großartig tapferen, geistigsehr starken, aber in seiner Pflege sich immer mehr zerstörenden Mutter, traurig noch wegeneiniger anderer, viel weniger wichtigen, aber fast noch mehr bedrängenden Dinge, denke ich, weilich nun schon bei der Selbstzerstörung halte, auch an Dich, habe heute von Dir geträumt, vielerlei,von dem ich aber nur behalten habe, daß Du aus einem Fenster geschaut hast, entsetzlich mager,das Gesicht ein genaues Dreieck -, und da das alles so ist (und ich auch durch das»widernatürliche« Leben der letzten Tage aus dem verhältnismäßigen Gleichmaß gerüttelt bin undsofort den Weg, wenn es bisher einer war, knapp vor meinen Füßen abbrechen sehe) schreibe ichDir doch, trotz der äußeren Bedenken und der innern Schwierigkeiten. Es könnte nämlich nach derArt, wie Du die letzte Zeit in Prag verbracht hast, immer auf der Lauer nach Leipziger Briefen (undmanchmal nach dem Kommen eines Briefes mehr leidend als vorher) wohl sein, daß Du ähnlichaussiehst wie in meinem Traum, es wäre denn, daß Du - was ich von Herzen Dir wünsche auf demUrlaub Dich schon ein wenig erholt hast. Möglich wäre es ja, da Du doch jetzt statt der fortwährenden Qual der Briefe das Glück fortwährender lebendiger Mitteilung hast. Fräulein S. wollte ich gerngrüßen, aber ich kann nicht, ich kenne sie immer weniger. Ich kenne sie als die wunderbareFreundin nach dem, was Du von ihr erzählst, ferner kenne ich sie als die zwar unverständliche, aberniemals anzuklagende Göttin der Novelle, schließlich aber auch als die Briefschreiberin, die anDeiner Zerstörung arbeitet und dabei leugnet, es tun zu wollen. Das sind zu viel Widersprüche,daraus ergibt sieh kein Mensch, ich weiß nicht, wer an Deiner Seite geht, und ich kann sie nichtgrüßen. Du aber leb wohl und komm gesund zurück.

F

An Max Brod(Planá, Stempel: 16. VIII. 1922)

Lieber Max, ich werde zusammenstellen, was ich besser zu verstehn glaube als Du, und dann das,was ich nicht verstehe. Vielleicht wird sich dann herausstellen, daß ich gar nichts verstehe, wasleicht möglich wäre, denn die Fülle ist groß, die Ferne auch, dazu kommt die Sorge um Dich, demes ja vielleicht noch schlechter geht, als Du zugestehst, aus dem allen kann sich nur ein nebelhaftesBild ergeben.Zunächst und vor allem verstehe ich nicht, warum Du die Vorzüge W's so hervorhebst, etwa um(mit dem ruhigen Schreiben ist es zuende, es ist Gewitter, mein Schwager, ein wenig verlassen, istgekommen und sitzt bei meinem Tisch, meinem Tisch? es ist ja seiner, und daß das schöne Zimmermir überlassen ist und die dreigliedrige Familie in einem kleinen Zimmerchen - abgesehen von dergroßen Küche allerdings - beisammenschläft, ist eine unbegreifliche Wohltat, besonders wenn ichdaran denke, wie an den ersten Tagen, als die Einteilung noch anders war, mein Schwager amMorgen fröhlich sich in seinem Bette streckte und als das Schönste an der Sommerwohnung esbezeichnete, daß man gleich beim Aufwachen vom Bett aus eine so große Aussicht hat, die Wälderin der Ferne u.s.w. und schon ein paar Tage später schlief er im kleinen Zimmer mit dem Hof desNachbars als Aussicht und dem Kamin der Säge - ich erwähne das alles, um - nein, der Zweckbleibe unausgesprochen) - nun aber was Dich betrifft. W. hat nach allem durchaus keineÜbermacht, aber die Wage scheint, wenigstens im Augenblick, so sorgfältig austariert, als es nötig

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ist, um alle entsetzlich zu quälen. W. hat keine Übermacht, er kann nicht heiraten, er kann nichthelfen, er kann nicht E. zur Mutter machen oder : wenn er es könnte, hätte er es schon getan und eshätte sich Dir gegenüber viel gewalttätiger angekündigt. Also nichts von den anständigen Motivendort und von den bösen hier. Er liebt E. und Du liebst sie; wer will hier entscheiden, da nichteinmal E. völlig es kann. Er hat für sich die Gestalt und Lockung der Jugend, gar für eine ältereFrau, das ist sehr viel, besonders wenn auch das Judentum nicht so sehr Dich belastet, als ihnverklärt. Aber Du hast doch offenbar viel mehr und Dauernderes, hast männliche Liebe, männlicheHilfe und gibst unaufhörlich bald Traum bald Wirklichkeit des Künstlertums. Was kann Dich alsoin dieser Hinsicht verzweifelt machen? Offenbar nicht die Aussichten Deines Kampfes, sondern derKampf selbst und seine Zwischenfälle. Darin hast Du freilich Recht; das könnte ich gar nicht, nichtdie leichteste Andeutung dessen könnte ich ertragen, aber wie vieles erträgst Du, wovor ichdavonlaufe oder das vor mir davonläuft. Hier bin ich wahrscheinlich dazu gekommen, Dich zuüberschätzen, hier habe ich kein auch nur halbwegs verständiges Urteil über Deine Kraft.Dann das zweite: E. lügt, und lügt grenzenlos, etwas was freilich mehr ein Beweis für ihre Not istals für ihre Lügenhaftigkeit. Und es scheint auch, daß es eine Art nachträgliche Lügenhaftigkeit ist,so etwa, daß sie behauptet, sie sage ihm nicht Du, was wahr ist, aber gleich darauf sagt sie es ihmwirklich, teilweise auch durch jene Behauptung verführt und unfähig jetzt die Behauptungzurückzunehmen. Immerhin, das hätte ich nicht erwartet und verstehe es noch immer nicht,verstehe dabei auch nicht, wie Du von Selbstdemütigung sprechen kannst, da es doch eigentlich derZusammenbruch ihres Gebäudes ist und Bitte an Dich, als Mann und Helfer es irgendwiegutzumachen. Sie flüchtet ja ganz zu Dir, wenigstens wenn Du bei ihr bist, der Brief, den sie trotzDeiner Bitten geschrieben hat, war ja, wenn ich es recht verstehe, nur allzusehr in Deinem Sinngeschrieben, ähnlich wie die gequälte und doch auch wahre Karte an mich.Lasse ich alle erschwerenden Nebenumstände weg, deren allerdings der Fall übergenug hat, seheich das Grundschema so: Du willst das Unmögliche aus einer nicht nachlassenden Bedürftigkeit,das wäre noch nichts Großes, das wollen viele, aber Du dringst weiter vor als irgendjemand, denich kenne, kommst bis knapp ans Ziel, nur knapp heran, nicht ganz ans Ziel, denn das ist ja dasUnmögliche, und an dieser »Knappheit« leidest Du und mußt Du leiden. Es gibt Steigerungen desUnmöglichen, auch Graf von Gleichen hat etwas Unmögliches versucht - auf die Frage nach demGelingen antworten wahrscheinlich nicht einmal Gräber -, aber so unmöglich wie Deines war esnicht, er hat sie nicht im Morgenland gelassen und mit ihr eine Ehe über das Mittelländische Meerhinweg geführt. Aber auch dieses Letztere wäre möglich, wenn er wider Willen an seine ersteEhefrau gebunden wäre, so daß, was bei ihr Sehnsucht oder Leere oder Zufluchtsbedürftigkeit oderder Teufel Mieze ist, bei ihm, zum Dank und Trost, Verzweiflung üb er seine erste Ehe wäre, aberdas ist doch hier nicht der Fall, Du bist nicht verzweifelt und Deine Frau erleichtert Dir sogar dasschwere Leben. Dann aber bleibt meiner Meinung nach, wenn Du Dich vor Selbstzerstörungbewahren willst (ich erschauere, wenn ich daran denke, daß Du auch nachhause schreiben mußt),nichts anderes übrig, als das Ungeheuerliche (aber gegenüber dem, was Du in den letzten Jahrengelitten hast, zunächst nur äußerlich Ungeheuerliche) zu versuchen und wirklich E. nach Prag zunehmen oder wenn dies aus verschiedenen Rücksichten zu peinlich wäre, Deine Frau nach Berlinzu nehmen, also nach Berlin zu übersiedeln und offen, zumindest offen für Euch drei, zu dritt zuleben. Dann entfällt fast alles bisherige Böse (mag auch neues unbekanntes Böse herankommen):die Angst vor W., die Angst vor der Zukunft (die jetzt nach Überwindung des W. doch bliebe), dieSorge um Deine Frau, die Angst wegen der Nachkommenschaft und sogar wirtschaftlich wird DeinLeben leichter sein (denn die Kosten der Erhaltung E's in Berlin würden ja jetzt die bisherige Lastwohl verzehnfachen). Nur ich würde Dich aus Prag verlieren. Aber warum sollte nicht, wo für zweiFrauen um Dich Platz ist, auch noch irgendwo ein Platz für mich sein.Vorläufig würde ich Dich schon sehr gern heil aus diesen Höllenferien zurückgekommen sehn.

F.

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(Nachschrift:) Deine Frau: vielleicht wäre es gar nicht so verzweifelt schwer, sie für den Plan zugewinnen. Ich sprach jetzt in Prag mit Felix, er glaubt, daß es unmöglich sei, daß sie nichts wisse(d.h. daß sie verhältnismäßig fröhlich dulde). Es fällt mir auch der Brief Storms ein, den sie einmalmit Vorliebe zeigte.

An E. S.(Entwurf eines Briefes. Planá, August 1922)

Herzlichen Dank für Karte und Brief, sie haben mich gar nicht überrascht, es war mir als wäre esgar nicht der erste Brief so viel habe ich schon von Ihnen gehört und so vertraut ist mir Ihr Name.Nur daß ich Sie noch nicht gesehn und gehört habe ist ein Mangel, aber auch der ist nicht immerfühlbar, so sehr leben Sie in Maxens Erzählungen. Und ich werde mich auch weiterhin damitbegnügen müssen, denn an die Ostsee zu fahren, erlaubt mir der Arzt nicht.Sehr gerne aber wurde ich mit Ihnen zusammenkommen, weil in einer so beziehungsreichen unddoch schweigsamen Entfernung leicht Mißverständnisse entstehen und selbst Briefe können hiereher schaden als helfen. So droht schon aus Ihrem lieben Brief ein solches, an sich unvermeidlichesMißverständnis. Gesichter in der Ferne, gar solche, die man nur aus Photographien kennt, formensich in der Vorstellung ohne Schwierigkeit böse und feindselig, Franz heiße ich auch, da scheint dieKanaille nicht weit, im Augenblick überzeugt es fast mich selbst. In Wirklichkeit aber - wie kannIhnen jemand böse sein, dem an Maxens Leben und Arbeit gelegen ist, wie könnte es dieser jemandanstellen, zu Ihnen in ein anderes Verhältnis zu kommen als das der tiefen Dankbarkeit. MaxensLeben und Arbeit beruht auf der Freude darüber, daß Sie leben und blühen, ihm von Ihnenabdrängen zu wollen, hieße ihn aus der Arbeit und aus dem Leben treiben wollen; muß nicht dieEinigkeit, die sich daraus zwischen Ihnen und Max und mir ergibt eine vollkommene sein? Freiliches kommen Tage, wie jene vor der letzten Reise, da verkehrt sich das Bild, eben das, was ihmLeben gibt, scheint es ihm dann nehmen zu wollen, ich wage mich nicht in die unmittelbarenAnlässe einzumischen, sehe natürlich auch, daß viel sinnlose Selbstquälerei vorliegt, erklärlich nurdurch die Not des in seinem Teuersten bedrohten Menschen - aber wie es auch sein mag, wenn Sie,verehrtes Fräulein, ihn damals oder bei ähnlichen Gelegenheiten gesehen hätten - diesen Anblickkönnen Sie nie haben, der ist mir vorbehalten, bei Ihnen ist Max immer schon getröstet - zerrüttet,in zwei drei Tagen erschreckend abgemagert, mit schlaflosen Augen, gegen alles gleichgültig, nurfür das eine nicht, was ihm Schmerz bereitet, dennoch mit seiner auch dann ihn nicht verlassendenEnergie weiterarbeitend und sich so auch weiter zerstörend, wenn Sie das sehen würden, verehrtesFräulein, dann würden Sie gewiß, soviel glaube ich von Ihnen zu wissen, sich nicht damitbegnügen, was ich tue, nämlich still und hilflos und bestenfalls fast unter den gleichen Schmerzmich drückend bei ihm zu sitzen, sondern Sie wären noch viel mehr und hilf- und trostreicher alsich an Maxens Seite. Schade, schade, daß Sie in solchen Augenblicken nicht da sind und gewißwürden Sie mir dann nicht schreiben.Dies zu Ihrem lieben Brief. Darüber hinaus habe ich wie ich höre die Aufgabe, über dieKaffeehauszusammenkunft mit Frl. F. zu berichten und wie ich gleichzeitig höre, nicht zuberichten, sondern den Bericht von Max listiger Weise mir diktieren zu lassen. Da sich diese zweiAufgaben nicht verbinden lassen, müssen Sie sich, verehrtes Fräulein, mit der Bemerkungbegnügen, daß diese Zusammenkunft eine der bedeutungslosesten Angelegenheiten meines Lebensgewesen ist.

An Robert Klopstock(Planá, Stempel: 5. IX. 1922)

Lieber Robert, ich war ein paar Tage in Prag und finde jetzt Ihre Karte hier. Ich bleibe in Planáwohl noch einen Monat, man muß von Zeit zu Zeit nach Prag um den Wert von Planá zu erkennen

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oder vielmehr man erkennt ihn immer, nur hat man nicht immer die Kraft ihn zu würdigen. Sieschwanken, ob Sie nach Prag kommen sollen? Nun jedenfalls sollen Sie in eine Stadt, das ist ganzgewiß, ich fliehe sie ja nur, weil ich ihr nicht gewachsen bin, weil mich die paar winzigenZusammenkünfte, Gespräche, Anblicke, die ich dort habe, fast ohnmächtig machen. Trotzdemwerde ich Oktober und November wohl in Prag bleiben, dann aber wollte ich gern zu einem Onkelaufs Land, wenn es sich ermöglichen ließe. Um zu Ihrer Zukunft etwas zu sagen, müßte ich wissen,was es für Angebote sind, die man Ihnen macht. Nicht unter .allen Umständen, nur unter vielen istPrag der beste Ort für Sie. - Max ist schon in Prag, seine Adresse Bøehová u1. 8. - Schreiben Siemir über die Angebote.

Ihr K

An Max Brod(Planá, Ankunftstempel: 11. IX. 22)

Lieber Max - rede nicht von »richtigem Instinkt«, der mich geführt hat, etwa wenn ich nicht nachDeutschland fuhr. Es war etwas anderes. Jetzt bin ich etwa eine Woche wieder hier, diese Wochehabe ich nicht sehr lustig verbracht (denn ich habe die Schloßgeschichte offenbar für immer liegenlassen müssen, konnte sie seit dem »Zusammenbruch«, der eine Woche vor der Reise nach Pragbegann, nicht wieder anknüpfen, obwohl das in Planá Geschriebene nicht ganz so schlecht ist wiedas, was Du kennst), nicht sehr lustig, aber sehr ruhig, ich wurde fast dick, wie ich überhaupt amruhigsten bin, wenn ich mit Ottla allein bin, ohne Schwager und Gäste. Gestern nachmittag, wiedersehr ruhig, gehe ich an der Küche der Hausfrau vorüber, wir kommen in ein kleines Gespräch, sieist (eine komplizierte Erscheinung), nachdem sie bisher formell freundlich, aber kalt, böse,hinterlistig gegen uns gewesen ist, in den letzten Tagen, vollständig unerklärbar, offen, herzlich,Freundlich zu uns geworden, wir kommen also in ein kleines Gespräch, über den Hund, über dasWetter, über mein Aussehn (jak jste pøi�el, mìl jste smrtelnou barvu � Als Sie kamen, hatten sie dieFarbe des Todes) und irgendein Teufel bläst mir ein, damit zu protzen, daß es mir sehr gut hiergefällt und daß ich am liebsten überhaupt hier bliebe und daß mich nur die Rücksicht auf das Essenim Gasthaus davon abhält, ihre Bemerkung, daß mir vielleicht bange wäre, lehne ich als lächerlichab, und nun geschieht etwas, was völlig unvorsehbar war, nach unserem ganzen Verhältnis (auch istsie eine reiche Frau): sie bietet sich an, mir das Essen zu geben, so lange ich will, bespricht auchschon Details, das Abendessen u. dergleichen. Ich danke hocherfreut für das Angebot, alles istentschieden; ich werde gewiß den ganzen Winter hierbleiben, nochmals danke ich und gehe. Sofort,noch während ich die Treppe in mein Zimmer hinaufgehe, erfolgt der »Zusammenbruch«, es ist dervierte hier in Planá. (Der erste war an einem Lärmtag der Kinder, der zweite, als Oskars Brief kam,der dritte, als es sich darum handelte, daß Ottla schon am 1. September nach Prag übersiedeln undich noch einen Monat bleiben und im Gasthaus essen soll). Das Äußere eines solchen Zustandesmuß ich nicht beschreiben, das kennst Du auch, doch mußt Du an das Höchstgesteigerte denken,was Du in Deiner Erfahrung hast, dort wo es sich schon danach umsieht, wie es umklappen könnte.Vor allem weiß ich, daß ich nicht werde schlafen können, der Schlafkraft wird das Herzherausgebissen, ja ich bin schon jetzt schlaflos, ich nehme die Schlaflosigkeit förmlich vorweg, ichleide, wie wenn ich schon die letzte Nacht schlaflos gewesen wäre. Ich gehe dann aus, kann annichts anderes denken, nichts als eine ungeheuere Angst beschäftigt mich und in hellerenAugenblicken noch die Angst vor dieser Angst. An einem Kreuzweg treffe ich zufällig Ottla, es istzufällig die gleiche Stelle, wo ich sie mit meinem Antwortbrief für Oskar getroffen habe. Diesmalverläuft es ein wenig besser als damals. Es ist jetzt nämlich sehr wichtig, was Ottla sagen wird. Sagtsie nur das kleinste Wort der Zustimmung zu dem Plan, dann bin ich ohne Erbarmen zumindest füreinige Tage verloren. Denn ich selbst, was mich selbst betrifft, habe ja aus mir heraus nicht dengeringsten Einwand gegen den Plan, es ist vielmehr die Erfüllung eines großen Wunsches, allein,ruhig, gut versorgt, nicht teuer, den Herbst und Winter in dieser mir ungemein angenehmen Gegend

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zu verbringen. Was ist denn einzuwenden? Nichts als die Angst und die ist doch kein Einwand.Infolgedessen bin ich, wenn Ottla nichts einwendet, gezwungen, mit mir darum zu kämpfen, einVernichtungskampf, der überdies gewiß nicht damit enden wird, daß ich bleibe. Nun also zumGlück sagt Ottla sofort, daß ich nicht bleiben darf, die Luft ist zu rauh, die Nebel u.a. Damit ist dieSpannung gelöst und ich kann das Geständnis machen. Es bleibt zwar noch die Schwierigkeitwegen der Annahme des Angebotes, aber die ist nach Meinung der Ottla gering, mir scheint sieallerdings ungeheuer, weil mir die Maße der ganzen Sache ins Ungeheure gehn. Vorläufig bin ichjedenfalls ein wenig beruhigt oder vielmehr nur der Verstand, soweit er an der Sache beteiligt ist,ich selbst bin nicht beruhigt, zuviel ist heraufbeschworen, das jetzt aus Eigenem schon lebt undnicht mehr mit einem Wort zu beruhigen ist, sondern schon einen gewissen Zeitablauf benötigt. Ichgehe dann allein in den Wald, wie jeden Abend; im dunklen Wald ist meine liebste Zeit; diesmalaber weiß ich von nichts anderem als dem Schrecken; den ganzen Abend hält es an und in derNacht kann ich nicht schlafen. Erst am Morgen im Garten, im Sonnenschein löst es sich ein wenig,als vor mir Ottla mit der Hausfrau gelegentlich darüber spricht, ich mich ein wenig einmische undzu meinem großen Staunen (das völlig außerhalb des Verstandes stattfindet) diese anderswoweltbewegende Angelegenheit hier durch ein paar flüchtig gewechselte Sätze ins Reine gebrachtwird. Ich stehe da wie Gulliver, wenn die Riesenfrauen sich unterhalten. Es scheint sich sogarherauszustellen, daß die Hausfrau das Angebot nicht allzu ernst genommen hat. Ich aber behaltehohle Augen noch den ganzen Tag.Was ist das nun? Soweit ich es durchdenken kann, ist es nur eines. Du sagst, ich solle mich anGrößerem zu erproben suchen. Das ist in gewissem Sinne richtig, andererseits aber entscheidendoch die Verhältniszahlen nicht, ich könnte mich auch in meinem Mauseloch erproben. Und dieseseine ist: Furcht vor völliger Einsamkeit. Bliebe ich hier allein, wäre ich völlig einsam. Ich kannnicht mit den Leuten hier sprechen, und täte ich es, wäre es Erhöhung der Einsamkeit. Und ichkenne andeutungsweise die Schrecken der Einsamkeit, nicht so sehr der einsamen Einsamkeit, alsder Einsamkeit unter Menschen, etwa in der ersten Zeit in Matliary oder an ein paar Tagen inSpindlermühle, doch davon will ich nicht reden. Wie ist es aber mit der Einsamkeit? Im Grunde istdoch die Einsamkeit mein einziges Ziel, meine größte Lockung, meine Möglichkeit und,vorausgesetzt, daß man überhaupt davon reden kann, daß ich mein Leben »eingerichtet« habe, sodoch immer im Hinblick darauf, daß sich die Einsamkeit darin wohlfühle. Und trotzdem die Angstvor dem, das ich so liebe. Viel verständlicher ist die Angst um Erhaltung der Einsamkeit, diegleichwertig an Stärke ist und auf Anruf sofort bei der Hand (»Zusammenbruch« als die Kinderschrien, als Oskars Brief kam) und verständlicher sogar noch die Angst vor dem gewundenenMittelweg und diese Angst ist noch die schwächste der drei. Zwischen diesen zwei Ängsten werdeich zerrieben - die dritte hilft nur nach, wenn man merkt, daß ich flüchten will - und schließlichwird noch irgendein großer Müller hinter mir herzanken, daß sich bei der vielen Arbeit nichtsNahrhaftes ergeben hat. Jedenfalls, ein Leben wie es etwa mein getaufter Onkel geführt hat, wäremir ein Grauen, obwohl es auf meinem Weg liegt, allerdings nicht als Ziel, aber das war es auchihm nicht, erst in der letzten Verfallszeit. Bezeichnend ist es übrigens, daß mir in leerenWohnungen so wohl ist, aber doch nicht in ganz leeren, sondern in solchen, welche vollErinnerungen all Menschen sind und vorbereitet für weiteres Leben, Wohnungen mit eingerichtetenehelichen Schlafzimmern, Kinderzimmern, Küchen, Wohnungen, in die früh Post für andereeingeworfen, Zeitung für andere eingesteckt wird. Nur darf niemals der wirkliche Bewohnerkommen, wie es mir letzthin geschehen ist, denn dann bin ich schwer gestört. Nun, das ist dieGeschichte der »Zusammenbrüche«.

Deine guten Nachrichten freuen mich, vorvorgestern, als der Brief kam, konnte ich mich nochfreuen, heute auch wieder langsam. Nach Berlin fahre ich jetzt noch nicht mit. Ottla ist ja fast nurmeinetwegen noch für einen Monat hiergeblieben, da sollte ich jetzt wegfahren? (warum fährst Duam 30. Oktober?) Auch will ich doch zu der Uraufführung fahren und zweimal zu fahren scheint

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mir zu großartig. und was E. betrifft, so haßt sie mich doch und ich fürchte fast ihr zu begegnen,und was Dich betrifft, so ist doch mein Einfluß, wenn es einen gibt, aus dem Verborgenenjedenfalls stärker, als wenn ich hervortrete.Was mir an Speyer nicht gefallen hat, sagst Du selbst. Das Schulgut, die anfängliche Christine undBlanche ist ungemein schön, löst den verhärtesten Sinn, aber dann sinkt seine Hand, man kommtmit dem Lesen diesem Sinken kaum nach. Es gibt dann freilich auch noch genug ehrenwerteStellen, aber nicht mehr, andererseits kündigt sich der späte Niedergang doch auch in der erstenHälfte schon an, etwa die bequeme Charakterisierung der Mitschüler oder das Einleitungskapitel.Wenn einer in der Novembernacht zum Zweck von Vergleichen zwischen tibetanischer unddeutscher Stille das Fenster aufmacht, möchte man es ihm am liebsten wieder zuschlagen. Hier sindÜbertreibungen Storm'scher Stimmung.Auch »Anna« hat mich ein wenig bedrückt und jedenfalls mir wenig Freude gemacht. Überdieshabe ich es fast zweimal gelesen, einmal für mich, und dann noch an sechzehn Gesänge für Ottla.Ich erkenne ja das Meisterliche im Bau, in den geistreichen und lebendigen Gesprächen, in vielenStellen, aber was für ein Schwall ist das Ganze! Und keiner der Menschen, außer Just, lebt fürmich. Dabei denke ich gar nicht an das vollkommen Lächerliche, unwürdige Komödie, an Erwinz.B. der nie gelebt hat, nie gestorben ist und immerfort aus seiner Grabattrappe gezerrt wird (wirkönnen nur noch mit Lachen von ihm lesen), oder an Thea oder an die Großmutter. Aber fast alleandern auch, man wird seines armen Lebens gewiß piesen Nichtlebenden gegenüber. Du liebstnicht Anna, sondern E., und liebst nicht Anna E's wegen, sondern liebst E's wegen wie der nur E.und selbst Anna kann Dich daran nicht hindern. Am liebsten sind mir die Herrnhuter und sounbedingt, wie Du es dargestellt hast, ist nicht Partei gegen sie genommen: »und sie hatten im Augeunleugbar ein seltsames Glänzen, tief und gut«.Viel Glück in Berlin!

F

An Robert Klopstock(Planá, September 1922)

Lieber Robert, die Fe der ist mir fast ungewohnt in der Hand, so lange habe ich schon nichtgeschrieben. Diesmal ist aber der Anlaß wichtig genug, um es doch zu versuchen. Ohne jedenZweifel rate ich Ihnen, das Wintersemester in Berlin zu verbringen, und zwar aus folgendenÜberlegungen:Eine solche Gelegenheit, sorgenlos in Berlin zu leben und nach Willkür zu arbeiten, ist völligeinmalig und deshalb auf keinen Fall zu verwerfen. (Wofür zahlt Ihnen Dr. Steinfest? Es ist einGeschenk?)Das »Abenteuer« zu bestehn, das darin liegt, den Studienort wieder zu wechseln, fällt Ihnen leicht;nützen Sie auch diese große innere Möglichkeit aus!Der Wert von Prag ist fragwürdig. Abgesehn von allem deutlich Persönlichen hat Prag auch nochetwas besonders Verlockendes, das kann ich verstehn, ich glaube, es ist eine Spur von Kindlichkeitin den Geistern. Diese Kindlichkeit ist aber so sehr gemischt mit Kindischem, Kleinlichem,Ahnungslosem, daß es für den Fremden zwar keine erstrangige, aber doch eine Gefahr bedeutet.Prag ist nützlicher, wenn man von Berlin kommt, was übrigens meines Wissens noch niemand ingroßem Stil gemacht hat. Jedenfalls ist Prag eine Medizin gegen Berlin, Berlin eine Medizin gegenPrag, und da der Westjude krank ist und sich von Medizinen nährt, darf er, wenn er sich in diesemKreis bewegt, an Berlin nicht vorübergehn. Das habe ich mir immer gesagt, ich hatte aber nicht dieKraft, die Hand aus dem Bett nach dieser Medizin zu strecken, auch suchte ich sie mir, zu Unrecht,mit dem Gedanken zu entwerten, daß es ja nur eine Medizin sei. Heute ist Berlin übrigens mehr, esgibt, glaube ich, auch einen stärkeren Ausblick nach Palästina als Prag.

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Was Max betrifft, so wird die Verbindung mit ihm in diesem Winter fast besser in Berlin als inPrag aufrechtzuhalten sein, denn aus einem bestimmten Grunde wird Berlin jetzt seine zweiteHeimatsstadt sein. Auch könnten Sie ihm dort vielleicht Dienste leisten, die für ihn unschätzbarwären. (Übrigens wird er dort auch eine Uraufführung haben, zu der ich wahrscheinlich kommenwerde.)Ich, nun ich werde zwar, bis auf ein paar Wochen, die ich bei meinem Onkel sein werde (inMähren, es ist fast weiter von Prag entfernt, als Berlin), in Prag bleiben, da ich geistig nichttransportabel bin. Es wird mir aber ein sehr lieber Gedanke sein, Sie irgendwo als meinenQuartiermacher zu haben. - Das alles gilt nur für den Winter. Vielleicht genügt ein Winter in Berlin(wollte nicht auch Ihre Cousine im Winter in Berlin sein?), dann kommen Sie als ein gereisterMann, der vergleichen kann, nach Prag zurück (wenn Sie dann noch dazu Lust haben und nichteine süddeutsche Universität vorziehn), dazu wird es auch passen, daß Ihr Gönner vom Mai ab inPrag ist. - Als Voraussetzung des Ganzen nehme ich auch an, daß Sie sich gesundheitlichwohlfühlen, sonst würden Sie ja nicht mit solchen Plänen spielen. - An Empfehlungen für Berlinwird es Ihnen von Seiten des Max und Felix nicht fehlen, von mir an Ernst Weiß, wenn Sie wollen.Die Hilfe des reichen Herrn werden Sie allerdings trotz des Geldes des Dr. Steinfest in Anspruchnehmen müssen, mit 10.000 Mark ist nach einem Bericht des Dr. Weiß kaum auszukommen.Und in Prag sehen wir uns (am 1. Oktober bin ich dort wohl schon bestimmt) auf Ihrer Durchreisenach Berlin und besprechen noch das Nötige. Fährt Frl. Irene wieder nach Dresden? Wo istGlauber? In Lomnitz? Grüßen Sie ihn bitte von mir! Und Szinay? - Meine kleine Nichte kommtnicht nach Hellerau, natürlich. Immerhin habe ich erreicht, daß die Schwester mit dem Schwagerund den Kindern in Hellerau waren, allerdings habe ich gerade durch diesen Zwischensieg jedeHoffnung auf den endgültigen Sieg verloren. Frau Neustädter hat sehr abgeschreckt, sie hatteboshafterweise an dem Tag gerade Schnupfen und Geschwüre im Gesicht, Herr Neustädter, derEngländer, eine Hilfslehrerin, eine Dalcroze-Schülerin haben zwar sehr gefallen, konnten abergegen den Schnupfen nicht aufkommen; die Schüler waren auf einem Ausflug, es war Sonntag. Esist eben so, daß die Schwester nicht die Kraft hat, den Entschluß zu fassen, ich kann es ihr nichtübelnehmen, ich will seit Monaten einen 10 Minuten-Ausflug mit der Bahn machen und es wirdmir nicht gelingen.Alles Gute!

Ihr F

An Oskar Baum21.9. 1922

Lieber Oskar, Dank für Deinen Brief, den ich über Planá (ich bin schon seit Montag in Prag)bekommen habe, ich fürchtete sehr, daß Du mir böse bist, und fürchte es noch, denn wie kann mangegenüber einer solchen Aufführung gut bleiben, es wäre denn, daß man angestrengt bedenkt, umwie viel näher ich diese schreckliche Aufführung am Leibe habe. Ich komme in den allernächstenTagen; in Planá ging es mir, mit einigen zählbaren Unterbrechungen, recht gut, erst zum Schlußwar ich fast froh, daß ich wegfuhr. Was gäbe es Schöneres, als den Winter dort zu bleiben, für dieSchlafhelden, dazu gehöre ich nicht, ich würde es dort nicht ertragen zwischen den freigelassenenNaturgeistern, und Du, von der Musiksaison gehalten, wärst bestenfalls für ein paar Tagegekommen.Glücklich Leo! Gepriesen seine Eltern! So wachsen und gesund und kräftig und geschickt undkörperlich erfahren werden und dabei von der Mädchenüberzahl angeschaut werden, welche dieEntwicklung durch ihr Anschauen lockt und leitet! Borg Dir von Max »Schwermut derJahreszeiten« von Speyer aus, wo ein Schulgut beschrieben ist. Demgegenüber möchte man sich,dessen Erziehung im Grunde genommen sich vollständig im einsamen, überkalten oder überheißen

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Knabenbett vollzogen hat, sagen: »Ich bin verflucht«. Es stimmt nicht ganz, aber man bekommtLust es zu sagen.Herzliche Grüße Dir, der Frau und Schwester.

Dein F

An Robert Klopstock(Prag, Herbst 1922)

Lieber Robert, ein paar Worte, das Fräulein wartet. Nach dem Bericht Frl. Irenes hatte ich denEindruck, daß das eigentlich Schlimme vorüber ist und daß also das Krankenhaus nicht mehr inBetracht kommt. Immerhin, wenn Sie sich irgendwelche allerkleinste Erleichterung vomKrankenhaus versprechen, könnten wir es doch versuchen (die Bedienung bei Ihnen zuhause istgewiß sehr schlecht), das wäre gar kein Bittgang, ich würde zu meinem Kollegen gehn und es durchihn auf sehr stolze Weise vermitteln lassen... Also äußern Sie sich. Von Dr. Hermann habe ichAuskunft heute bekommen, aber sehr kurze undeutliche, von leichter Grippe sprach er, morgengehe ich zu ihm.Wie hoch ist das Fieber? Genau.Ihren Brief hatte ich schon beantwortet, als Frl. Irene gestern hier war. Mit dem Fieber war aber dieSache noch belangloser geworden als sie früher gewesen war, die Antwort liegt bei mir.Alles Gute

Ihr KSagen Sie offen, was Sie brauchen.

An M. E.(Prag, Herbst 1922)

Liebe Minze, Ihr Brief hat mir große Freude gemacht, denn er zeigt, daß Sie den Hindernissen, dieich zu kennen glaube und den gewiß noch bestehenden mir unbekannten nicht nachgegeben habenund Ihr selbständiges tapferes Leben weiterführen. Die Einladung nehme ich natürlich an; wiesollte ich sie nicht annehmen. Sie als Hausfrau, dann Ruhe, Wald und Garten. Freilich meineTransportabilität, nicht so sehr die körperliche als die geistige, ist beschränkt. Im Sommer z.B. hätteich nach Thüringen zu Freunden fahren sollen und brachte es, trotzdem es mir körperlich recht gutging, nicht zustande. Das ist schwer zu erklären. Aber vielleicht gelingt es mit Kassel. Was ist esübrigens für eine Villa und für ein Grund? Eine Handelsgärtnerei? Oder nur ein Ruhesitz, das dochwohl nicht? Und allein können Sie doch dort nicht wohnen, mit was für Leuten wohnen Sie? Esgibt in den »Studien« von Stifter eine Geschichte »Zwei Schwestern« von einer großartigengärtnerischen Leistung eines Mädchens, kennen Sie die Geschichte? Merkwürdigerweise spielt sieam Gardasee, von dem, glaube ich, einmal in ähnlichem Zusammenhang die Rede zwischen unswar. Es scheint ein Traum zu sein, den mancher träumt.Die Beichte. Dazu ausgewählt sein, sie anhören zu dürfen, ist schon eine unausweichliche ernsteVerpflichtung, nur bitte erhoffen Sie nichts davon: was müßte das für ein Mann sein, von dem manetwas erhoffen dürfte, wenn man ihm beichtet. Einem Menschen beichten oder es in den Windrufen, ist meist das Gleiche, so gut der arme schwache Wille auch sein mag. In der Verwirrung deseigenen Lebens sich herumtreiben und von den Verwirrungen eines andern hören, was könnte mananderes sagen, als: »Allerdings so ist es, so geht es zu«, was freilich ein Trost sein mag, aber keinhoher. Schreiben Sie aber, liebe Minze, wenn es Sie drängt. Respekt und Teilnahme bis an dieGrenze meiner Kräfte wird es bei mir gewiß finden.Sie fragen nach meiner Krankheit, so schlimm ist sie nicht, wie sie vor der geschlossenen Tür desKrankenzimmers aussieht, aber ein wenig brüchig ist das Gebäude, doch ist es jetzt schon besserund war noch vor 2 Monaten sogar recht gut. Es ist eben eine etwas verwirrte Kriegslage. Die

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Krankheit selbst, als Kampftruppe angesehn, ist das gehorsamste Geschöpf der Welt, ihre Augensind nur auf das Hauptquartier gerichtet, und was man dort befiehlt, das tut sie, doch ist man obenoft unsicher in den Entschlüssen und auch sonst gibt es Mißverständnisse. Die Teilung zwischenHauptquartier und Truppe sollte aufhören.Leben Sie wohl, liebe Minze, und alles Gute zu Ihren Reisen und Unternehmungen

Ihr Kafka

An den Verlag Kurt Wolff(Prag, Eingangsstempel: 21. Okt. 1922)

Sehr geehrter Verlag!Meinen besten Dank Für die zwei Bücher und besonders für die mir vermittelten Grüße, die ichherzlich erwidere.Ich bitte bei dieser Gelegenheit, wie schon einige Male, in Vormerkung zu nehmen, daß meineAdresse nicht mehr Poøiè 7 sondern ausschließlich

Prag, Altstädter Ring 6 ist. Nicht nur, daß es mir aus andern Gründen unangenehm ist, noch immer Sendungen nach Poøiè7 zu bekommen, so erreichen mich auch diese Sendungen meist erst nach langen, manchmalmonatelangen Verspätungen. Auch die Bücher bekam ich wieder verspätet. Ich bitte also dieseAdreßänderung freundlichst zu beachten.Zufällig erfahre ich von dritter Seite, daß die »Verwandlung« und das »Urteil« in ungarischerÜbersetzung 1922 in der Kaschauer Zeitung Szebadság und der »Brudermord« in der Osternummer1922 des »Kassai Naplo« gleichfalls in Kaschau erschienen sind. Der Übersetzer ist der in Berlinlebende ungarische Schriftsteller Sandor Márai. War Ihnen das bekannt? Jedenfalls bitte ichweiterhin das Recht der Übersetzung ins ungarische einem mir gut bekannten ungarischen LiteratenRobert Klopstock vorzubehalten, der gewiß vorzüglich übersetzen wird.Hochachtungsvoll ergeben

F Kafka

An Robert Klopstock(Prag, 22. November 1922)

Lieber Robert, wann werden Sie mich endlich ohne Übermalung so sehn wie ich wirklich bin,ohnmächtig hier auf dem Kanapee liege. Oben auf der äußersten Turmspitze der Russischen Kirchemir gegenüber klettern, arbeiten und singen Bauspengler in Wind und Regen, ich staune sie durchdas offene Fenster an wie Riesen der Vorwelt; wenn ich ein Zeitgenosse bin, was können sieanderes sein als Riesen der Vorwelt. Kein anderer Grund für mein Nichtschreiben als dieser oderdoch noch einer. Ohnmacht, Sie zu über zeugen.Vielen Dank. Allmählich gräbt man sich doch mit kleinen Hilfen hie und da diesen großenMenschen aus dem ungarischen Dunkel, allerdings assistieren dabei gewiß in Mengen falscheVorstellungen und vor allem falsche Analogien. Eine solche Übersetzung erinnert ein wenig an dieKlagen der Geister über die quälende Unfähigkeit der Medien. Hier die verbündete medialeUnfähigkeit des Lesers und des Übersetzers. Aber die Prosa ist eindeutiger und man sieht ihn dortdoch aus etwas größerer Nähe. Manches verstehe ich nicht, aber das Ganze geht mir ein, es macht -wie immer in solchem Fall - glücklich darüber, daß er da war und ist und deshalb irgendwie mitihm verwandt - »mit niemandem verwandt« heißt es, also auch darin verwandt. DieGedichtübersetzungen sind offenbar jämmerlich, nur hie und da ein Wort, ein Ton vielleicht. Umdas Verhältnis zum Original festzustellen, habe ich als Maßstab das Verhältnis zwischen mir undden Bauspenglern.

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Gegen den Herausgeber sind Sie etwas ungerecht. Was liegt an dem Gewinn, den er hat. Und wasist gegen das Schmarotzen einzuwenden, wenn es offen, ehrlich, aus eingeborener Fähigkeit undzum allgemeinen Nutzen geschieht. Sind wir nicht auch Schmarotzer und ist nicht er unserAnführer? Übrigens ist auch der Anblick des Beisammenseins der Zwei sehr eindringlich underkenntnisfördernd, des einen, der so viel spricht und des andern, der so viel schweigt. Auch stehn,wenigstens für mich, Neuigkeiten in dem Nachwort.Mein Leben war, glücklicher Weise, in der letzten Zeit sehr gleichförmig. Nur Max kommtmanchmal, einmal war Werfel hier, um mich auf den Semmering einzuladen, das war sehr lieb,aber der Arzt hat mir nicht erlaubt zu fahren, schließlich hatte ich vier Tage lang Besuch. Das istalles.Nun nähert sich bald der Jahrestag meiner Ankunft in Matlar und des Kennenlernens des reichendicken jungen Herrn, der warm zwischen schönen Frauen mit der Weihnachtsnummer der NeuenFreien Presse saß.Leben Sie wohl.

Ihr K.Es kam Ihr Expreßbrief. Es gibt offenbar keinen andern Weg für Sie, mich zu erkennen, als durchden Haß, den endlich mein Verhalten in Ihnen erzeugen muß.

Grüßen Sie Glauber, bitte.

Was macht Frau Galgon?Frl. Ilonka hat mir letzthin geschrieben.

An Max Brod(Prag, Dezember 1922)

Lieber Max, in der Hauptsache zu Deiner Information, weil Werfel zu Dir kommen wird, nebenbeium mich in Gedanken von Dir trösten zu lassen:Gestern war Werfel mit Pick bei mir, der Besuch, der mich sonst sehr gefreut hätte, hat michverzweifelt gemacht. W. wußte ja, daß ich »Schweiger« kenne, ich sah also ,voraus, daß ich vonihm werde reden müssen. Wenn es nur ein gewöhnliches Mißfallen wäre, um ein solches kann mansich herumwinden; für mich aber bedeutet das Stück viel, es geht mir sehr nahe, trifft michabscheulich im Abscheulichsten, ich hatte nicht im entferntesten daran gedacht, daß ich Werfelwürde einmal etwas darüber sagen müssen, war mir selbst sogar über die Gründe des Widerwillensnicht ganz im Klaren, denn für mich hatte es angesichts des Stücks nicht die geringste innereDisputation gegeben, sondern nur das Verlangen, es abzuschütteln. Bin ich für »Anna« vonHauptmann vielleicht ertaubt, so bin ich für diese Anna und den Rattenkönig um sie herumhellhörig bis zur Qual; nun diese Gehörerscheinungen hängen ja zusammen. Wenn ich heute dieGründe meines Widerwillens zusammenfassen soll, dann etwa derart: Schweiger und Anna sind(wie natürlich auch ihre nahe Umgebung: die schreckliche Strohschneider, der Professor, derDozent) keine Menschen (erst in der weiteren Umgebung: Kooperator, Sozialdemokraten, entstehtein wenig Scheinleben). Um dies erträglich zu machen, erfinden sie eine ihre Höllenerscheinungverklärende Legende, die psychiatrische Geschichte. Nun können sie aber ihrer Natur nach wiedernur etwas ebenso Unmenschliches erfinden, wie sie selbst sind, und der Schrecken verdoppelt sich.Aber er verzehnfacht sich noch durch die scheinbare, alle Seitenblicke vermeidende Unschuld desGanzen.Was sollte ich Werfel sagen, den ich bewundere, den ich sogar in diesem Stück bewundere, hierallerdings nur wegen der Kraft, diesen dreiaktigen Schlamm durchzuwaten. Dabei ist mein Gefühldem Stück gegenüber so persönlich, daß es vielleicht nur für mich gilt. Und er kommt in reizenderFreundlichkeit zu mir und ich soll ihm, wenn er einmal nach Jahren kommt, mit solchen

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unausgetragenen, unaustragbaren Beurteilungen empfangen. Aber ich konnte nicht anders undschwätzte mir ein wenig Ekel vom Herzen. Aber ich litt den ganzen Abend und die ganze Nacht anden Folgen. Außerdem habe ich vielleicht Pick beleidigt, den ich in meiner Aufregung kaumbemerkte. (Über das Stück habe ich übrigens erst nach Picks Weggang gesprochen.)Gesundheitlich geht es mir besser.Alles Gute im Leben und auf der Bühne.

F.

An Franz WerfelVermutlich nicht abgeschickt. Prag, Dezember 1922)

Lieber Werfel, nach meiner Aufführung bei Ihrem letzten Besuch konnten Sie nicht wiederkommen, das wußte ich ja. Und ich hätte Ihnen gewiß schon geschrieben, wenn mir nicht das Brief-Schreiben allmählich so schwer würde wie das Reden und wenn nicht sogar das Brief-WegschickenSchwierigkeiten machen würde, denn einen Brief hatte ich für Sie schon fertig. Es ist aber unnütz,alte Dinge wieder aufzunehmen; wohin käme man, wenn man niemals davon ablassen würde, alleseine alten Kläglichkeiten immer wieder zu verteidigen und zu entschuldigen. Nur dieses, Werfel,was Sie ja wohl auch selbst wissen müssen: Wenn es sich um ein gewöhnliches Mißfallengehandelt hätte, dann wäre es doch vielleicht leichter zu formulieren gewesen und wäre dannüberdies so belanglos gewesen, daß ich darüber ganz gut hätte schweigen können. Es war aberEntsetzen und das zu begründen ist schwer, man sieht verstockt und zäh und widerhaarig aus, woman nur unglücklich ist. Sie sind gewiß ein Führer der Generation, was keine Schmeichelei ist undniemandem gegenüber als Schmeichelei verwendet werden könnte, denn diese Gesellschaft in denSümpfen kann mancher führen. Darum sind Sie auch nicht nur Führer, sondern mehr (Sie habenÄhnliches selbst in dem schönen Vorwort zu Brands Nachlaß gesagt, schön bis auf das Wort vondem »freudig Lug-Gewillten«) und man verfolgt mit wilder Spannung Ihren Weg. Und nun diesesStück. Es mag alle Vorzüge haben, von den theatralischen bis zu den höchsten, es ist aber einZurückweichen von der Führerschaft, nicht einmal Führerschaft ist darin, eher ein Verrat an derGeneration, eine Verschleierung, eine Anekdotisierung, also eine Entwürdigung ihrer Leiden.Aber nun schwätze ich wieder, wie damals und das Entscheidende zu denken und zu sagen bin ichunfähig. Bleibe es dabei. Wäre nicht meine Teilnahme, meine höchst eigennützige Teilnahme anIhnen so groß, ich würde nicht einmal schwätzen.Und nun die Einladung; hat man sie als Dokument in der Hand, bekommt sie ein noch großartigereswirklicheres Aussehn. Hindernisse sind die Krankheit, der Arzt (den Semmering lehnt er wiederunbedingt ab, Venedig im Vorfrühling nicht unbedingt) und wohl auch das Geld (ich müßte mittausend Kronen monatlich auskommen können), aber das Haupthindernis sind sie gar nicht. Vondem Ausgestrecktsein im Prager Bett zu dem aufrechten Herumgehn auf dem Markusplatz ist es soweit, daß es nur die Phantasie knapp überwindet, aber das sind ja erst die Allgemeinheiten, darüberhinaus etwa die Vorstellung zu erzeugen, daß ich z.B. in Venedig in Gesellschaft mittagesse (ichkann nur allein essen), das verweigert sogar die Phantasie. Aber immerhin, ich halte die Einladungfest und danke Ihnen vielmals.Vielleicht sehe ich Sie im Jänner. Leben Sie wohl!

Ihr Kafka

An Max Brod(vermutlich Dezember 1922)

Liebster Max, ich kann nicht kommen, an den letzten zwei Abenden hatte ich ein wenig Fieber(37,7) bei Tag dann viel weniger oder gar keines, immerhin wage ich nicht auszugehn. Viel Glück

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zu den Berliner Kämpfen und auch sonst. Herzlichen Gruß der Reisenden, die ich noch immer nichthabe erzählen hören können.

Dein F.Goethe kaufe mir bitte nicht, 1. habe ich kein Geld, brauche alles und mehr für den Arzt 2. habe ichkeinen Platz für Bücher 3. habe ich immerhin fünf lose Bändchen Goethe.

An Max Brod(wahrscheinlich 1922)

Lieber Max, ich komme nicht, ich muß um sieben Uhr essen, sonst schlafe ich dann gar nicht, dieDrohung mit der Injektion ist wirksam. Außerdem habe ich gerade heute (wie gerade täglich) mitetwas nicht Leichtem fertig zu werden. Manchmal ist mir wie einem Gladiator im Training, er weißnicht, was man mit ihm beabsichtigt, aber nach dem Training zu schließen, das man ihm auferlegt,wird es vielleicht ein großer Kampf werden vor ganz Rom.

An Max Brod(wahrscheinlich 1922)Lieber Max, nicht kommen! Ich habe etwas Fieber und liege im Bett. Dr. Thieberger habe ich nichtverständigt. Könntest Du es nicht tun, falls Du es für nötig hältst? Ich schicke Dir hier zweiNummern der Èeská Strá� und eine Èeská Svoboda. Die Svoboda hat über die Namenfrage eineandere Auffassung, sogar zwei andere Auffassungen (Notiz und Gedicht).Herzliche Grüße

Dein Franz

An Max Brod(wahrscheinlich 1922)

Lieber Max, bitte, damit kein Irrtum entsteht; es kommt mir vor, als hätte ich gesagt, unser Fräuleinwolle nur nachmittag ins Theater gehn, das ist nicht richtig, auch Abendkarten sind willkommen,sogar womöglich noch willkommener.

F

An M. E.(Prag, Winter 1922/23)

Liebe Minze, ich glaube es kaum, danke ich für die Blumen, die mir solche Freude gemacht haben,den Trost der Wohnung, die Mahnung an Kassel. Es sind aber höchst unruhige Tage, der Mutterwurde plötzlich und dringendst eine schwere Operation verordnet und nun kann sie trotz allerDringlichkeit wegen eines dazwischen gekommenen andern mit der Hauptsache allerdingszusammenhängenden Leidens nicht ausgeführt werden und wird unter schmerzhaftestenProzeduren von Tag zu Tag verschoben. Schreckliche Medicin, schreckliche Erfindung derschrecklichen Menschen.Bis es vorüber ist, schreibe ich; schicken Sie mir doch Ihre Adresse oder genügt Wilhelmshöhe beiKassel.Alles Gute

Ihr Kafka

Nun sind sogar diese paar Zeilen liegen geblieben und kommen wohl zu spät nach Teplitz. DieOperation, eine außergewöhnlich schlimme, ist gestern gewesen.

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1923

An Oskar Baum(Prag, Mitte Januar 1923)

Ihr Lieben, meine Glückwünsche; ihr Bösen, warum habt Ihr mich nicht rechtzeitig davonverständigt, ich komme auch mit Max und Felix nur selten zusammen, nur zufällig habe ich vor einpaar Tagen von dem Fest erfahren, habe es aber auf den Sechzehnten verlegt, erst gestern habe icherfahren, und sollte es schon ein Leben lang wissen (auch darin bin ich nicht rechtzeitig verständigtworden, aber daran seid Ihr unschuldig), daß das Fest nur am Samstag sein kann, habe gesterngefröstelt, konnte nicht ausgehn, mich nicht näher erkundigen und so ist das ganze ohne michgeschehn, und auch die Bücher sind wahllos und zufällig, nur meine sonstige Beteiligung an dem inseiner wirklichen Größe alle meine Vorstellungen übersteigenden Fest ist von Datum undVorbereitung unabhängig.Lebt wohl, vielleicht komme ich doch endlich einmal zu Euch.

FWenn Leo etwas von den Büchern nicht gefällt oder kennt, so kann er es bei Calve umtauschen, essind z.B. in dieser Bücherei noch recht gute Bändchen, z.B. Tiefseeexpedition, Darwin, SvenHedin, Nansen oder vielleicht gefällt ihm etwas in einer ähnlichen, bei Brockhaus erschienenen,auch bei Calve vorrätigen Bücherei.

An M. E.(Prag, Januar/Februar 1923)

Liebe Minze,Meinen letzten Brief werden sie wohl in Teplitz nicht mehr bekommen haben. Er handelte voneiner schweren Operation meiner Mutter; die Operation ist nun vorüber und die Mutter scheint sichlangsam, sehr langsam zu erholen.Diese Dinge und andere hinderten mich, Ihnen früher zu schreiben und nun sind Sie inzwischenwirklich in Ihrem winterlichen Garten. Daß es schwer ist, Minze, wie sollte ich das nicht wissen. Esist ein ganz verzweifeltes jüdisches Unternehmen, aber es hat, so weit ich sehe, Großartigkeit inseiner Verzweiflung. (Vielleicht ist es übrigens gar nicht so verzweifelt, wie es mir heute nach einerselbst für meine Verhältnisse ungewöhnlich schlaflosen, zerstörenden Nacht erscheint.) Man kannnicht die Vorstellung abweisen, daß ein Kind verlassen in seinem Spiel irgendeine unerhörteSessel-Besteigung oder dergleichen unternimmt, aber der ganz vergessene Vater doch zusieht undalles viel gesicherter ist als es scheint. Dieser Vater könnte z.B. das jüdische Volk sein*. KönnenSie übrigens hebräisch oder haben Sie es wenigstens jemals zu lernen begonnen? Ihr Bräutigam istJude? Zionist?Sorge macht mir eigentlich in dem ganzen Unternehmen nur die körperliche Müdigkeit, von der Siemanchmal schreiben. Ist es die Spur einer Krankheit? Oder nur oder zum größten Teil jeneselbstverständliche Müdigkeit, die mit dem wunderbaren, mir versagten Schlafe endet?Wenn ich in besserer Geistesverfassung bin, schreibe ich wieder.Leben Sie recht wohl.

Ihr Kafka*Dies würde auch das Ihnen unverständliche, aus eigener Kraft nicht hervorzubringende,fortwährende Sich-Sträuben gegen die Gleichgültigkeit erklären helfen.

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An M E.(Prag, März 1923)

Liebe Minzeeine schöne große übergroße Überraschung und das allernatürlichste, allervernünftigsteallerselbstverständlichste auf der Welt. Die Menge Fragen, die man bei einer solchen Überraschunghat, ist nicht niederzuschreiben, ich werde mich sehr freuen, Sie in Prag zu sehn. Grüßen Sie IhrenBräutigam von mir und bleiben Sie fröhlich und stark in der großen Umwälzung!

Ihr K

An Robert Klopstock(Prag, Ende März 1923)

Lieber Robert, ich kann nur das Frühere antworten, daß z.B. eben ein Brief wie Ihr letzter einBeweggrund der Angst ist oder daß es die Ungeduld ist oder daß es etwa die Bemerkung ist:»...nicht festhalten können, wenn auch am meisten von uns allen« eine Bemerkung, in der dochnicht eine Spur irgendeiner Wahrheit ist. Vor allem aber ist es unabhängig davon die Angst voreiner für den Augenblick - von der Zukunft rede ich gar nicht - untrennbaren, betont,ausgesprochen (stillschweigende Vereinbarungen nehme ich aus), mit allen Sakramenten derUntrennbarkeit versehenen, vor dem Himmel sich großartig hinpflanzenden Verbindung. Sie ist mirunmöglich mit Männern wie mit Frauen. Was will man auf der Wanderschaft, in der Bettlerschaftmit so großen Dingen. Es gibt jede Minute unausweichliche, entzückt ausgenützte Gelegenheit zuschamlosester Großtuerei, warum noch weitere Gelegenheiten suchen. Und überdies ist der Verlustvielleicht nicht so groß als er manchmal scheint; fühlt man etwas wie eine Gemeinsamkeit desWegs, ist darin Verbindung genug, das andere überlasse man den Sternen.Und alle diese Angst, über die Sie mich so ausfragen, als ob sie Sie beträfe, betrifft ja doch nurmich. Wenn hier etwas durch Buße oder etwas derartiges zu erreichen wäre, müßte ich sie mirauferlegen. Aber ist denn etwas gar so Merkwürdiges bei dieser Angst? Ein Jude und überdiesdeutsch und überdies krank und überdies unter verschärften persönlichen Umständen - das sindchemische Kräfte, mit denen ich mich anbiete, sofort Gold in Kiesel oder Ihren Brief in den meinenzu verwandeln und dabei Recht zu behalten.

An Robert Klopstock(Prag, Ende März 1923)

Es ist vielleicht besser den Brief schriftlich zu beantworten. Im Ganzen enthält er das, was ichschon vorher wußte und was Sie wenden mögen, wie Sie wollen, ohne daraus etwas anderesmachen zu können als das, was es ist: Sie sind von der Substanz enttäuscht und behaupten sich undmir gegenüber, von der Relation enttäuscht zu sein. Das ist natürlich nicht nur für Sie eine Qual,sondern auch eine große Qual, die Sie mir antun. Sie nähern sich ja gewiß der Aufdeckung diesesIrrtums, aber vorläufig scheint noch einige Zeit bis dahin nötig zu sein, Rettung wird ja auch dieAufdeckung nicht bringen, wie überhaupt hier nur Enttäuschung zu finden ist; je tiefer man gräbt,desto tiefere Enttäuschung.Unrecht haben Sie, wenn Sie eine so einschneidende Unterscheidung zwischen Matlar und Pragmachen. Sie waren in Matlar ebenso fortwährend enttäuscht. Auch die dortigen »großen Gebirge«sind wahrhaftig nicht jene, zwischen denen das Paradies lag.Was die Bemerkung hinsichtlich (ein durchgestrichenes, unleserlich gemachtes Wort) betrifft, so istdas verhältnismäßig eine unwesentliche Kleinigkeit, aber warum ich dabei Unrecht gehabt habensoll, wenn Sie etwas, was ich in Geschwätzigkeit Ihnen als großes Geheimnis anvertraut habe, voreinem Dritten (mag es auch nur das ganz uninteressierte Frl. Irene gewesen sein) mit einer Art

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Behagen laut erzählen und als ich Sie zurückhalten will, es noch mit Lust und Lächeln wiederholen- warum ich dabei Unrecht gehabt haben soll, kann ich nicht verstehn.Recht haben Sie aber mit dem, was Sie über die Frage nach der Traurigkeit sagen. Das warallerdings eine unehrliche Verlegenheitsfrage, aber warum soll gerade ich solcheVerlegenheitsfragen nicht stellen dürfen, ich, für den sie erfunden worden sind?Die angebliche »Unebenbürtigkeit« besteht darin, daß wir verzweifelte Ratten, die den Schritt desHerrn hören, nach verschiedenen Richtungen auseinander laufen, z.B. zu den Frauen, Sie zuirgendjemandem, ich in die Literatur, alles allerdings vergeblich, dafür sorgen wir schon selbstdurch die Auswahl der Asyle, durch die Auswahl der besondern Frauen u.s.w. Das ist dieUnebenbürtigkeit.Dabei kann ich zugeben, daß zwischen mir in Matlar und Prag doch ein Unterschied besteht. Ichhabe inzwischen, nachdem ich durch Wahnsinnszeiten gepeitscht worden bin, zu schreibenangefangen und dieses Schreiben ist mir in einer für jeden Menschen um mich grausamsten(unerhört grausamen, davon rede ich gar nicht) Weise das Wichtigste auf Erden, wie etwa einemIrrsinnigen sein Wahn (wenn er ihn verlieren würde, würde er »irrsinnig« werden) oder wie einerFrau ihre Schwangerschaft. Das hat mit dem Wert des Schreibens, wie ich auch hier wiederhole,gar nichts zu tun, den Wert erkenne ich ja übergenau, aber ebenso auch den Wert, den es für michhat... Und darum halte ich das Schreiben in zitternder Angst vor jeder Störung umfangen und nichtnur das Schreiben, sondern auch das dazu gehörige Alleinsein. Und wenn ich etwa gestern sagte,daß Sie nicht Sonntag abend, sondern erst Montag kommen sollen und Sie zweimal fragten: »abendalso nicht?« und ich also wenigstens auf die zweite Frage antworten mußte und sagte : »Ruhen Siesich einmal aus«, so war das eine restlose Lüge, denn ich meinte mein Alleinsein.Dieser Unterschied also besteht sehr stark gegenüber Matlar, sonst aber keiner, freilich auch nichtder, daß ich hier weniger »machtlos « (wie Sie es richtig ausdrücken) wäre, als ich es in Matlar war.Das Inliegende ist abend bei halbwegs guter Festigkeit geschrieben worden. In der zum Teilschlaflosen, zum Teil schlafzerstörten Nacht habe ich einen andern Brief noch ausgedacht, der miraber jetzt am hellen Tag doch auch wieder unzeitgemäß scheint. Nur dieses: Jedenfalls verdient dieWahrheit und Schönheit Ihres Briefes und die Wahrheit und Schönheit Ihres Blicks, daß ich mitmeiner Wahrheit und meiner Häßlichkeit antworte. Das habe ich aber auch seit jeher getan,mündlich und schriftlich, seit dem ersten Nachmittag im Liegestuhl, seit dem ersten Brief nach Iglound es ist eben das allerquälendste, daß Sie mir nicht glauben (während ich Ihnen glaube) odernoch ärger, daß Sie mir sowohl glauben als nicht glauben, aber sowohl mit dem Glauben als demNichtglauben mich schlagen und jedenfalls immerfort mit der an den Lebensnerv gehenden Frage:»Warum sind Sie nicht anders als Sie sind? « mich anbohren, anbrennen.Übrigens enthält Ihr Brief doch eine Neuigkeit, die mir erst im Zusammenhang mit Ihrem Stotternvor dem Doktor klar wird, die ich aber doch nicht glaube. Seit jeher stand in Besprechungen undBriefen folgendes zwischen uns fest: In Budapest können Sie nicht studieren, aus dreiHauptgründen, weil Sie in die Welt müssen, weil Sie in der Nähe Ihrer Cousine nicht leben können,vor allem aber wegen der politischen Verhältnisse. Fast in allen Briefen haben Sie das wiederbekräftigt . So heißt es noch in dem Brief, in welchem Sie den Paß zuletzt verlangten, daß dieAufenthaltsbewilligung des Preßburger Ministeriums unbedingt in den neuen Paßhinübergenommen werden müsse, weil ein Aus-Ungarn-nicht-Hinauskommen unter dengegenwärtigen Verhältnissen den Tod bedeutet, (Das erschien mir zwar übertrieben, aber esgenügte jedenfalls, daß Sie von ferne daran glaubten, um Budapest als Studienort für Sieauszuschließen.) Und in dem allerletzten Brief aus Budapest heißt es wieder, daß Sie neben derCousine nicht leben können. Budapest also war unmöglich, das erkannte ich an, aber von mir wardabei keine Rede, von mir war erst dann die Rede, als es sich darum handelte, unter denUniversitäten außerhalb Budapests zu wählen. Daß Sie dann mit Rücksicht auf mich und SonstigesPrag wählten, hielt ich für richtig, aber alles nur unter der Voraussetzung, daß Budapest unmöglich

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war, aber unmöglich ohne Rücksicht auf mich. Darin will nun Ihr gestriger Brief eine Änderungherbeiführen. Darin haben Sie Unrecht.

An Robert Klopstock(Postkarte. Prag, Mitte April 1923)

Lieber Robert, ich muß Sie mißverstanden haben, ich habe Sie schon seit einigen Tagenzurückerwartet und darum vor allem nicht geschrieben. Sagten Sie denn nicht, daß Sie zurPallenbergvorstellung am 12. gewiß schon hier sein werden und nun sind die Vorstellungenverschoben, werden Mittwoch, Donnerstag und Freitag sein und Sie werden noch immer nicht inPrag sein und ich werde nicht, wie ich wollte, unter Ihrem Schutz ins Stehparterre gehn können.Trotzdem ist es natürlich sehr gut, daß Sie länger geblieben sind, das zeigt deutlich der Unterschiedzwischen den zwei Briefen. Weil sich nicht gleich die Tore aller überraschten Herren geöffnethatten, waren Sie schon verzweifelt. Das Hauptergebnis ist die Ankunft Bergmanns, er bleibt vierWochen, Sie werden ihn sehn, es ist aufregend und verlockend mit ihm beisammen, zu sein. - Dererwartete hebräische Brief ist ausgeblieben, auch deshalb habe ich noch nicht geschrieben. - AlleGegrüßten lassen grüßen, auf die Nachricht von dem Gruße wollte Vìra in mein Zimmer, weil sienoch nicht weiß, daß man brieflich grüßen kann und dachte, Sie wären bei mir. - Das Paket istgekommen. Dank.

An Oskar Baum12. 6. 1923

Lieber Oskar, für den bei meinem Kopfzustand wahrscheinlichen Fall, daß ich in den allernächstenTagen nicht kommen sollte, hier die Übersetzung des Briefes: »Adresse: The workers bank Ltd.Jaffa - Tel Awiw - P. 0. B. 27 (das ist das Postfach). - Bezugsnummer des Briefes: 2485. - Dr.Bergmann schrieb uns, daß E. W. ihm versprochen habe, sich für die Aktien der Arbeiterbank zuinteressieren und Aktien unter Ihren Bekannten zu verkaufen. Wir kommen hiemit, Sie an IhrVersprechen zu erinnern und Sie um Mitteilung zu ersuchen, ob Sie von uns Informationen oderPropagandamaterial benötigen. Wir werden es uns angelegen sein lassen, alles, was Sie wünschen,sofort zu schicken und überhaupt werden wir uns bemühen, von hier aus Ihre Arbeit, wie wir nurkönnen, zu unterstützen, wenn Sie uns nur verständigen, ob Sie unserer Unterstützung bedürfen.Wir erwarten Ihre Antwort, in Hochachtung - «Den Brief lasse ich mir auf ein paar Tage zur Propaganda. Einem meiner Schwäger gegenüber (derPalästina leugnet) sind Papiersorten das stärkste Argument. Ich will es mit dem Brief versuchen.Herzliche Grüße

Dein F

An Oskar Baum(Sommer 1923)

Lieber Oskar, ich habe es noch am gleichen Abend mit Schrecken durchgelesen, mit Schreckenunter dem stählernen Tierblick und wie sie auf dem Sofa näher heranrutscht. Solche Dinge liegenuns allen wahrscheinlich nahe, aber wer kann das so? Ich habe es vor Jahren ohnmächtig auchversucht, aber statt mich zum Schreibtisch vorzutasten, habe ich mich lieber unter das Sofaverkrochen, wo ich noch immer zu finden bin. Tröstend ist in Deiner Geschichte das zweite sanfteRätsel, das versöhnen will. Es ist freilich zu schwach, um zu versöhnen, es gibt keinen Ausblick aufeine Hoffnung, sondern nur auf ihren Verlust. Menschlich ist es wenig, auch zu unwirklich, sonstaber scheint es mir sehr schön, diese sanfte Umrahmung des fressenden Feuers.

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Der Anfang war mir ein wenig zu unruhig von außen her, zu hotel- und detektivmäßig, es ist aberschwer zu sagen, ob es anders sein soll, vielleicht ist gerade das sehr nötig, zumindest ist esausgezeichnet; daß man an seinem Zimmer vorübergeht und die Wildheit sich dort in Ruheaustoben kann. Ich hätte diese Aussetzung wahrscheinlich auch weder gefühlt noch bemerkt, wennich Dich nicht einer Vorliebe für solche Anfänge verdächtigt und nur aus diesem Verdacht, auskeinem andern Grund die Notwendigkeit hier ein wenig bezweifelt hätte.Vielen Dank.

Dein F

An Max Brod(Postkarte. Ostseebad Müritz, Stempel: 10. VII. 1923)

Sie ist reizend. und so ganz und gar auf Dich konzentriert. Es gab keinen Anlaß, aus dem nicht aufDich Bezug genommen wurde. Ein Ostseezug, vielleicht bist Du darin. Da und dort ist sie mit Dirgewesen. Erst nach einem Weilchen verstehe ich, warum sie sich den Hradschin beschreiben läßt.Betrachtungen wie: »es ist merkwürdig, wie m an die Ansichten eines geliebten Menschenübernimmt, auch wenn sie den bisherigen eigenen entgegengesetzt waren« wiederholen sich häufig.Eine wirklich starke Ursprünglichkeit, Geradheit, Ernsthaftigkeit, kindlich liebe Ernsthaftigkeit. Ichfuhr mit ihr zur jüdischen Kinderkolonie der Pua nach Eberswalde, aber Emmys Hausgott siegteund wir blieben in Bernau stecken. Die größte Freude machte ihr dort ein Storchnest, das sieunbegreiflich schnell entdeckte. Sie war sehr gut zu mir. - Hier geht es mir leidlich, wie immer inden ersten Tagen. Eine Kolonie des Jüdischen Volksheims, gesunde, fröhliche blauäugige Kinder,machen mir Freude.Herzlichen Gruß Dir und der Frau

Franz

An Robert Klopstock(Postkarte. Müritz, Stempel: 13.VII. 1923)

Lieber Robert, die Reise und Berlin mit einiger Mühe überstanden, aber alle Mühe, durch die manden Gespenstern für einen Augenblick entläuft, ist süß, man sieht förmlich, wie man um die Eckeverschwunden ist und wie sie ratlos dastehn. Nicht lange freilich, die Jagdhunde, sie scheinen schondie Spur zu haben. - Das Meer war in den ersten Tagen sehr beglückend. Hebräisch wird vielweniger gelernt als in Prag. Allerdings ist eine Kolonie des Jüdischen Volksheims Berlin hier mitvielen Hebräisch-Sprechenden, gesunde, fröhliche Kinder. Es ist ein Ersatz für Puas Kolonie, zuder ich nicht vordringen konnte. Ich wußte nicht, daß Eberswalde fast zwei Stunden von Berlinentfernt ist und fuhr erst Nachmittag hin (nicht allein), blieb dann in der Hälfte des Wegs in Bernaustecken und schrieb von dort der Pua. Ich war nur einen Tag in Berlin, müde und ein wenig fiebrig.Herzliche Grüße

FGrüße den Freunden und Bekannten.

An den Verlag Kurt Wolff(Postkarte. Müritz, Stempel: 13. VII. 1923)

An den Kurt Wolff-Verlag!Eine Anfrage vom 12. v.M., auf die Sie sich beziehn, habe ich nicht bekommen, offenbar deshalb,weil sie wie auch Ihre letzte Karte, noch nach Poøiè 7 adressiert war, trotzdem ich den Verlag schonviele Male ersucht habe, nicht an jene Adresse zu schreiben, sondern nur nach Prag, Altstädter Ring

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6/III. »Ein Hungerkünstler« ist in der »Neuen Rundschau« im vorigen Jahr im Oktober- oderNovemberheft erschienen.Hochachtungsvoll

Dr. Kafka

An Hugo Bergmann(Müritz, Juli 1923)

Lieber Hugo,vielen Dank für Deinen Gruß und Wunsch. Es war die erste hebräische Schrift, die ich aus Palästinabekam. Der Wunsch in ihr hat vielleicht große Kraft. Um meine Transportabilität zu prüfen, habeich mich nach vielen Jahren der Bettlägerigkeit und der Kopfschmerzen zu einer kleinen Reise nachder Ostsee erhoben. Ein Glück hatte ich dabei jedenfalls. 50 Schritte von meinem Balkon ist einFerienheim des Jüdischen Volksheims in Berlin. Durch die Bäume kann ich die Kinder spielensehn. Fröhliche, gesunde, leidenschaftliche Kinder. Ostjuden, durch Westjuden vor der BerlinerGefahr gerettet. Die halben Tage und Nächte ist das Haus, der Wald und der Strand voll Gesang.Wenn ich unter ihnen bin, bin ich nicht glücklich, aber vor der Schwelle des Glücks. -Leb recht wohl

Dein FranzGrüße von mir Deine tapfere Mutter und die Kinder.

An Else BergmannMüritz, 13. 7. 1923

Liebe Frau Else,die kleine Vorprobe zur größeren Reise wäre überstanden, weder sehr schlecht, noch sehr ruhmvoll,immerhin weniger eine Vorprobe zu größeren, als vielmehr zur großen Reise. - Werden Sie nichtein wenig den Garten lassen und irgendwohin ans Meer kommen? Das Meer ist wahrhaftig in den10 Jahren, seitdem ich es nicht mehr gesehen habe, schöner, mannigfaltiger, lebendiger, jüngergeworden. Aber mehr Freude macht mir noch eine Ferienkolonie des Berliner JüdischenVolksheims, gesunde, fröhliche Kinder, an denen ich mich wärme. Heute werde ich mit ihnenFreitag- Abend feiern, ich glaube zum ersten Mal in meinem Leben.Leben Sie wohl und grüßen Sie den Kleinen

Ihr K.

An Else Bergmann(Müritz, Juli 1923)

Liebe, liebe Frau Else,nicht nur die Schwierigkeit, den alle paar Tage wechselnden Posttarif zu erfahren, verzögert denBrief. Ich weiß, daß ich jetzt ganz gewiß nicht fahren werde - wie könnte ich denn fahren - aber daßmit Ihrem Brief förmlich das Schiff an der Schwelle meines Zimmers anlegt und Sie dort stehenund mich fragen und mich so fragen, das ist nichts Geringes. Übrigens sagen Sie selbst -unbegreiflich nahe mit der abseitigen Sache beschäftigt - zum Teil die Antwort auf Ihre Frage. Eswäre, vorausgesetzt, daß etwas derartiges überhaupt für mich durchführbar wäre, keine eigentlichePalästinafahrt jetzt geworden, ganz und gar nicht - dazu, was es geworden wäre, kann ich jetzt nichtkommen, denn eben kommt Ihr Einschreibebrief in der dummen, dummen Sache. Erstens: hätte ichgewußt, daß das Buch überhaupt irgendeinen Wert für Sie hat, wäre mir nicht eingefallen, darum zuschreiben und ich wäre einfach stolz und froh gewesen, daß es mit Ihnen nach Palästina schwimmt.Zweitens: Das Buch wäre mir gar nicht eingefallen, wenn es hier, wo ich ein wenig in gärtnerischer

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Atmosphäre bin, nicht mit besonderem Lob erwähnt worden wäre. Drittens: wie es die Mutter auchgemacht haben mag - so wie ich wollte, leider gewiß nicht, was daran schlecht war, war gewißnicht gegen Sie persönlich gerichtet, bitte glauben Sie es, sondern gegen die »palästinensischeGefahr«. Und damit verlassen wir diese Sache, allerdings nicht ohne die Bitte, daß Sie dem Buch,wenn Sie es benützen, die Freude ansehen, mit der es Ihnen im Namen seines früheren Besitzersdient, trotzdem Sie es ihm wahr und wahrhaftig abgekauft haben. -Also zurück: es wäre keine Palästinafahrt geworden, sondern im geistigen Sinne etwas wie eineAmerikafahrt eines Kassierers, der viel Geld veruntreut hat, und daß die Fahrt mit Ihnen gemachtworden wäre, hätte die geistige Kriminalität des Falles noch sehr erhöht. Nein, so hätte ich nichtfahren dürfen, selbst wenn ich es hätte können - wiederhole ich, und: »alle Plätze sind schonvergeben« fügen Sie hinzu. Und wieder fängt die Lockung an und wieder antwortet die absoluteUnmöglichkeit und so ist es, wie traurig es auch ist, letzten Endes doch sehr recht. Und dieHoffnung bleibt für später und Sie sind gut und stören sie nicht.Leben Sie wohl und bleiben Sie mir gut

Ihr K.

An Robert Klopstock(Postkarte. Müritz, Stempel: 24. Juli 1923)

Robert, was ist denn wieder? Gestern kam das Paket (wie kamen Sie zu Puas alter Sendung?) unddas Anmerkungsbuch (gerade überlegte ich, ob ich mir eines kaufen sollte), aber keine Nachricht.Drückt wieder die schwere Luft der Tatra? Ist es unmöglich, dort hebräisch zu lernen? Ich glaubean die Macht der Orte oder richtiger an die Ohnmacht des Menschen. Mitteilbares habe icheigentlich nichts, zu Zeigendes viel, Mit-zu-Erlebendes viel. Um es zu ermöglichen, träumte ich Sieletzthin her. Die Kolonie, die Kolonie, diese jungen Menschen. Wie übertreiben Sie, Robert, denWert Prags für Sie, den Wert der vereinzelten Menschen für Sie, die Sie dort kennen. Anders mußman leben, als wir dort. Sie müssen Ihr Leben anders einrichten im nächsten Jahr, vielleicht vonPrag fortgehn z. B. in die schmutzigen Berliner Judengassen. - Was mich betrifft, so bedeutet dasalles nicht, daß ich schlafe. Böse heutige Nacht. Nur manchmal weht ein wenig Dämmern vomHause der Kolonie herüber.

Ihr FGrüße für Glauber und die andern.

An Robert Klopstock(Ansichtskarte. Müritz, Stempel: 2. VIII. 1923)

Lieber Robert, morgen schreibe ich, heute schicke ich nur Puas vorläufige, morgen allerdings schonsich ändernde Adresse: Müritz, Jüdisches Volksheim.Alles Gute

F(Anschrift mit hebräischem Gruß und Namenszeichnung: Pua.)

An Tile Rössler(Müritz, Stempel: 3.VIII. 1923)

Meine liebe Tile, die Post hat Deine Briefe verwirrt, der zweite kam Mittag, der erste nachher amAbend, den Abendbrief bekam ich am Strand, Dora war dabei, wir hatten gerade ein wenigHebräisch gelesen, es war der erste sonnige Nachmittag seit langer Zeit und wohl für lange Zeit, dieKinder lärmten, ich konnte nicht in meinen Strandkorb gehn, weil dort der Schwager eine vomFußballspiel verletzte Zehe behandelte, so stand ich also und las Deinen Brief, während Felix über

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mich hinweg, um mich herum, durch mich hindurch mit Steinen einen Pfahl zu treffen versuchte,der hinter mir stand. Und doch hatte ich Ruhe Deinen Brief zu lesen, mich zu freuen, daß Dir nachuns bange ist, aber auch froh zu sein, daß Du, wenigstens nach meinem augenblicklichen Gefühl,durch das Wegfahren bei weitem nicht so viel verloren hast, als Du glaubst. Es gefällt mir nichtmehr so gut hier wie früher; ich weiß nicht ganz genau, ob daran nur meine persönliche Müdigkeit,die Schlaflosigkeit und die Kopfschmerzen schuld sind, aber warum war das alles früher geringer?Vielleicht darf ich nicht zu lange an einem Ort bleiben; es gibt Menschen, die sich einHeimatgefühl nur erwerben können, wenn sie reisen. Es ist ja äußerlich alles, wie es war, alleMenschen im Heim sind mir sehr lieb, viel lieber, als ich es ihnen zu zeigen imstande bin, undbesonders Dora, mit der ich am meisten beisammen bin, ist ein wunderbares Wesen, aber das Heimals solches ist mir nicht mehr so klar wie früher, eine sichtbare Kleinigkeit hat es mir ein wenigbeschädigt, andere unsichtbare Kleinigkeiten arbeiten daran, es weiter zu beschädigen, als Gast, alsFremder, als ein müder Gast überdies, habe ich keine Möglichkeit zu sprechen, mir Klarheit zuverschaffen, und so falle ich ab, bis jetzt war ich an jedem Abend dort, aber heute, trotzdem es derFreitagabend ist, werde ich, wie ich fürchte, nicht hingehn.So bin ich gar nicht sehr unzufrieden damit, daß meine Schwester (ihr Mann ist sie abholengekommen) nicht erst am 10., sondern schon ein paar Tage früher wegfährt, und ich werde, weil esbequemer und billiger ist, und vor allem deshalb, weil ich allein hier nicht bleiben will, mit ihnenfahren. In Berlin werde ich, wenn ich nicht gar zu müde bin, ein oder zwei Tage bleiben und dannsehe ich Dich gewiß, aber auch wenn ich nicht bliebe, sondern gleich nach Marienbad zu meinenEltern, weiterfahren würde (um dann für einen Tag auch nach Karlsbad zu fahren und statt Tileleider nur den Herrn Chef zu sehn), sehen wir einander bald, denn ich hoffe bald wieder nachBerlin zu kommen.Letzthin hatte ich Besuch hier, eine gute Freundin, die Palästinenserin, von der ich Dir erzählte. Siekam gleichzeitig mit Frieda Behr, die sie von früher her kannte, und wohnte im Heim. Der Besuchging schnell vorüber, sie war kaum einen Tag hier, aber von ihrer Selbstsicherheit, ihrer ruhigenFröhlichkeit blieb eine Aufmunterung zurück. Du mußt sie einmal in Berlin kennen lernen.Es ist sehr hübsch, daß Du »Schaale« schreibst, so wie man, glaube ich, »Frage« im Jargonschreibt. Ja, die Schale soll auch eine Frage an Dich sein, nämlich diese: »Du, Tile, wannzerschlägst Du mich endlich?«Um die Vase, die ich von Dir habe, muß ich manchmal mit Christl kämpfen, der dreijährigenTochter unseres Wirts, einer jener kleinen, blonden, weißhäutigen, rotwangigen Blumen, wie siehier in allen Häusern wachsen. Wann sie zu mir kommt, immer will sie sie haben. Unter demVorwand, ein Vogelnest auf meinem Balkon ansehn zu wollen, drängt sie sich ein, kaum aber istsie beim Tisch, streckt sie schon die Hand nach der Vase; sie macht nicht viele Umstände, erklärtnicht viel, wiederholt nur immer streng: die Vase! die Vase!, und besteht auf ihrem guten Recht,denn da ihr die Welt gehört, warum nicht auch die Vase? Und die Vase fürchtet sich wohl vor dergrausamen Kinderhand, aber sie muß sich nicht fürchten, ich werde sie immer verteidigen undniemals hergeben.Grüß bitte alle meine Freunde vom Heim, besonders Bine, der ich schon längst geschrieben hätte,wenn ich nicht den Ehrgeiz hätte, ihr für ihr schönes Hebräisch auch mit Hebräisch, allerdingseinem weniger schönen zu danken, und wenn ich in der Unruhe, in der ich jetzt bin, die Sammlungfür die hebräische Kraftanstrengung gefunden hätte.Auch alle meine Verwandten lassen Dich vielmals grüßen, besonders die Kinder. Als DeinMittagsbrief kam, entstand ein großer Streit zwischen Felix und Gerti, wer Deinen Brief früherlesen dürfe. Es war schwer zu entscheiden, für Felix sprach sein Alter und die Tatsache, daß er denBrief vom Briefträger gebracht hatte, Gerti führte für sich an, daß sie mit Dir noch besserbefreundet gewesen sei als Felix. Leider entschied die Gewalt und Gerti ließ auf die ihreigentümliche großartige Weise die Unterlippe hängen.

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- Hast Du schon Grieg gehört? Das ist eigentlich die letzte ganz deutliche Erinnerung, die ich anDich habe; wie Klavier gespielt wird, und Du ein wenig gebeugt, ein wenig verregnet dastehst undDich vor der Musik demütigst. Mögest Du dieser Haltung immer fähig bleiben! Lebe recht wohl!

Dein K.Und die Stimme? Der Arzt? - Meine Adresse in Prag, wohin ich allerdings erst in etwa 14 Tagenkommen werde, ist Altstädter Ring No. 6 III Stock.

An Robert Klopstock(Müritz, Anfang August 1923)

Mein lieber Robert, niemals kann ich aus eigener Erfahrung verstehn, niemals auch werde ich dieMöglichkeit haben zu verstehn, daß man als ein sonst fröhlicher, im wesentlichen sorgenloserMensch nur an der Lungenkrankheit zugrundegehn kann. Irren Sie wirklich nicht hinsichtlichGlaubers? Ist es wirklich so weit, wie er nur immer behauptet hat, ohne daß jemand es ihm glaubenwollte? Und nun noch dieser regnerische Sommer, die baufällige »Tatra«, die unerbittlichen Berge,das ist schlimm. Für ihn und Sie.Hinsichtlich Ihrer Krankheit mache ich mir keine Sorgen. Sie sind nachlässig beim Essen,nachlässig hinsichtlich der Verkühlung, da kann leicht etwas geschehn, ohne daß es etwas bedeutet.Mein Kopf und Schlaf ist schlecht, besonders in den letzten Tagen, frei war mein Kopf schon langenicht, die Kolonie, die mir am Anfang nur Schlaf gegeben hat, nimmt mir ihn jetzt auch sehr, wirdmir ihn aber vielleicht wieder einmal geben, es ist eben ein lebendiges Verhältnis.Montag morgen fahren wir von hier fort, ich könnte freilich noch bleiben, wenn ich allein bleibenkönnte. Von der Kolonie allein könnte ich in diesem Sinne nicht leben, den dort bin ich nur Gast.Und nicht einmal ein eindeutiger Gast, was mich schmerzt, nicht eindeutig, denn mit derallgemeinen Beziehung kreuzt sich eine persönliche.Aber was es da an störenden Einzelheiten auch geben mag, und wenn es auch zur Lebenserhaltungnicht hinreicht, das wichtigste in Müritz und über Müritz hinaus ist mir die Kolonie.In Berlin bleibe ich ein, zwei Tage, bin ich nicht zu müde, mache ich das Wagnis und fahre füreinen Tag nach Karlsbad, d.h. von Berlin über Karlsbad nach Prag, was vielleicht nicht sehr teuerist. Das Wagnis ist gedankenmäßig deshalb nicht so groß wie es in meiner Terminologie aussieht,weil ich in Gedanken mich schon daran gewöhnt hatte, nach Marienbad zu den Eltern zu fahren, dieEltern aber wegen des schlechten Wetters schon früher nach Prag fahren, so daß ich sie dort nichtmehr treffen würde. Es ist also deshalb für mich in gewissem Sinn ein kleineres Wagnis, überKarlsbad als direkt nach Prag zu fahren, so wie etwa der Kaiser von Rußland auch seine Reiseplänenicht willkürlich ändern durfte, denn nur auf den schon vorbereiteten Strecken war er vorÜberfällen geschützt. Meine Lebenshaltung ist nicht minder großartig.Und späterhin, nach Prag? Das weiß ich nicht. Hätten Sie Lust nach Berlin zu übersiedeln? Näher,ganz nahe den Juden?

KGibt es etwas, was man einen akuten Lungenspitzenkatarrh nennt?Grüßen Sie, wer zu grüßen ist.

An Max Brod(Berlin, Stempel: 8.VIII.I923)

Lieber Max, so lange habe ich nun schon nichts Eigentliches von Dir gehört. Wenn ich Dir jetzt einpaar Tage vor dem Wiedersehen hier im Berliner Gasthausgarten schreibe und jetzt im Hotelfortsetze, so ist es, um eine körperliche Verbindung mit Dir zu haben, noch ehe ich Dir die Handreiche. Du warst sehr verschlossen in Deiner Ostseezeit. Wie mag es Dir gehn? Was mich betrifft:ich weiß nicht, wie mir ist. Jedenfalls fühle ich die böse Wirkung des erst eintägigen Alleinseins

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fast mit jeder neuen Stunde stärker. Dabei bin ich gar nicht allein, gestern abend z.B. war ich mitdrei ostjüdischen Freundinnen bei den »Räubern«, einer Aufführung, welcher ich freilich nicht vielmehr anmerkte als meine große Müdigkeit. Zu Emmy werde ich kaum gehn, ich bin zu schwach,wozu noch beiträgt, daß ich nicht genau weiß, wie Emmy von mir denkt und in solchen Fällen allesfürchte. Dann auch noch dieses fortwährend drohende Berlin. Übermorgen komme ichwahrscheinlich zu Dir. Grüß die Frau und Felix und Oskar, von denen ich gar nichts gehört habe.Jetzt fällt mir ein: vielleicht bist Du beim Kongreß und ich treffe Dich gar nicht an. Das wäre gutfür Dich und traurig für mich.

F

An Robert Klopstock(Postkarte. Schelesen, Stempel: 27. VIII. 1923)

So ist es also vorüber. Was mögen Sie, Robert, und was mag er durchgemacht haben. Merkwürdig,daß (natürlich ohne sonstigen Vergleich) die zwei fröhlichsten Menschen, die es damals in Matlargab, zuerst gestorben sind. Übrigens ist es unmöglich, sich mit solchen Dingen wirklich zubefassen, solange man noch aufrecht bei Tisch sitzt und das Herz einen noch knapp erträglichenTakt schlägt. Darüber gibt es eine unmenschlich-großartige Geschichte im Maggid, die von derAder, die nur in der Todesfurcht zu sehen ist. -Ich war nicht in Karlsbad, bin jetzt in Schelesen bei Ottla. Puas Adresse: Berlin W 57 ViktoriaHeim 11 Steinmetzstraße 16. Max ist in Prag. Hinsichtlich Berlins schreibe ich Ihnen. Wenn es dortnur nicht immerfort ärger würde. - Leben Sie wohl, ruhn Sie sich aus, grüßen Sie alle

F

An Max Brod(Postkarte. Schelesen, Stempel: 29. VIII. 1923)

Lieber Max, sehr gerne würde ich ein paar Worte darüber hören, wie Du lebst und arbeitest. Dietrübe Notiz über das Zurückkehren habe ich gelesen, sie bedeutet hoffentlich nichts Allgemeines.Über mich ist nichts zu sagen, ich mühe mich ab, ein wenig zuzunehmen - als ich hierher kam, habeich 54 1/2 gewogen, ich habe noch niemals so wenig gewogen - aber es geht kaum, zu vielGegenkräfte, nun, es ist ein Kampf. Die Gegend ist mir recht lieb und das Wetter war bisherfreundlich, aber ich muß ein kostbarer Besitz der Gegenkräfte sein, sie kämpfen wie der Teufeloder sind es. Leb wohl, grüß Felix und Oskar.

F

An Max Brod(Postkarte. Schelesen, Stempel: 6. IX. 1923)

Lieber Max, ich glaube nicht an den Ruin, Du hast leider manchmal meine Art des Blickes, aberglücklicherweise immer Deine Entschlußkraft. Warum Ruin? Hängen stärkste menschlicheBeziehungen so sehr von äußeren Dingen ab? Wenn E. vorübergehend jetzt in den schlimmstenZeiten etwa eine Stelle bei einem Kind annehmen würde, so wäre das zwar traurig, aber wäre esRuin? Wenn Du von Wut sprichst, so ist das eine Redeweise, welche weder Dir noch Deiner Sacheentspricht. Es ist dumm von mir, über Dinge sprechen, die Dir gewisser sind als mir, aber ich binwirklich dumm und unsicher im Kopfe und deshalb freut es mich, ein wenig eine Sicherheitauszusprechen wie etwa diese: Wut hat ein Kind, wenn sein Kartenhaus einstürzt, weil einErwachsener den Tisch rückt. Aber das Kartenhaus ist doch nicht eingestürzt, weil der Tischgerückt wurde, sondern weil es ein Kartenhaus war. Ein wirkliches Haus stürzt nicht ein, selbstwenn der Tisch zu Brennholz zerhackt wird, es braucht überhaupt kein fremdes Fundament. Das

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sind so selbstverständliche ferne und herrliche Dinge. - An E. habe ich zwei Karten geschickt undnächsten Freitag vormittag bin ich bei Dir. Wann fährst Du nach Berlin? Wieviel kostet jetzt dieFahrt?Grüß Felix und Oskar, bitte.

An Carl Seelig(Schelesen, September 1923)

Sehr geehrter Herr,ich bin für ein paar Tage auf dem Lande, Ihr Brief wurde mir nachgeschickt. Meinen herzlichenDank für die freundliche Einladung. Leider kann ich mich jetzt an der Bücherfolge nicht beteiligen.Was aus früherer Zeit an Geschriebenem vorliegt, ist gänzlich unbrauchbar, ich kann es niemandemzeigen; in letzter Zeit aber bin ich weit abseits von Schreiben getrieben worden. Lassen Sie miraber die Möglichkeit, später einmal vielleicht mich zu melden.An Ihren Brief vor etwa zwei Jahren erinnere ich mich wohl, verzeihen Sie die alte Schuld. Es gingmir damals so schlecht, daß ich nicht einmal antworten konnte.Ebensowenig wie der ersten kann ich Ihrer zweiten Aufforderung entsprechen, beide hängen jaauch zusammen und nicht nur äußerlich. Um ihnen zu entsprechen, ist zumindest eine gewisseVerantwortungskraft nötig, die mir augenblicklich fehlt. Auch könnte ich gewiß nur Namennennen, die Ihnen gut bekannt sind.Eine geringe Ausbeute, die Ihr liebenswürdiger Brief gemacht hat, nicht wahr? Es liegt nicht anihm, daß es so ist.Mit herzlichem GrußeIhr ergebener

Franz Kafka

An Max Brod(Postkarte. Schelesen, Stempel: 14. IX. 1923)

Liebster Max, »daß äußere Dinge menschliche Beziehungen nicht beeinflussen«, so großrednerischhabe ich es wahrhaftig nicht gemeint, obwohl es mir sonst eine Lust ist, meinen Gegensatz mir zuvergegenwärtigen. Diesmal aber habe ich nicht nur von menschlichen Beziehungen gesprochen,sondern von den stärksten, und nicht von den stärksten äußern Dingen etwa von Schmerzen undFolterungen, sondern nur vom Marksturz, und nicht von einem beliebigen Menschen, sondern vonDir, und nicht von der Ausschließung von Beeinflussungen, sondern von der Ausschließung des»Ruins«. Das alles, Max, laß bitte auch weiter gelten und sei mir nicht böse. Was mich betrifft: einekleine Gewichtszunahme ist da, äußerlich kaum zu merken, dafür aber jeden Tag irgendeingrößerer Mangel, es rieselt im Gemäuer, wie Kraus sagt. Erst gestern blieb ein alter Mann vor mirstehn und sagte: »Sie sind wohl nicht recht im Zeug?« Natürlich kamen wir dann auch auf dieJuden zu sprechen, er ist Gärtner in einer jüdischen Villa, so weit ganz gute Leute, aber furchtsamwie alle Juden. Furcht ist ihre Natur. Dann ging er um einen zweiten Rückenkorb einer riesigenMenge trockenen Holzes in den Wald und ich begann meinen Puls zu zählen, weit über 110.Glück zu Deiner Arbeit.

F

An Robert Klopstock(Postkarte. Prag, Stempel: 23. IX. 1923)

Lieber Robert, es ging nicht gut länger, ich fahre morgen, wenn nicht in den nächsten zwölfStunden ein großes Hindernis aus dem finstern Hinterhalt mir entgegengeworfen wird, nach Berlin,

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aber nur für ein paar Tage, wahrscheinlich bin ich, wenn Sie herkommen, auch wieder hier. MitMax konnte ich nur ganz flüchtig sprechen, er ist nämlich heute Samstag nach Berlin gefahren,vielleicht sehe ich ihn dort. Es fällt mir jetzt nur noch ein, von zwei Zeitschriften »Vers und Prosa«Verlag Rowohlt, Herausgeber Hessel, und von Ha-Auhel Das Zelt, Wien 1 Christinengasse 4,Herausgeber Höflich, habe ich Aufforderungen bekommen, ihnen wertvolle junge Schriftsteller zunennen. Hätten Sie Lust? Leben Sie wohl!Ich bin natürlich ein wenig unruhig.

F

An Robert Klopstock(Postkarte. Berlin-Steglitz, Miquelstr. 8, Stempel: 26. IX. 1923)

Lieber Robert, hier wäre ich also. Bestimmtes ist natürlich noch nicht zu sagen. Mit Max habe ichhier gesprochen. Beim Abendblatt ist nichts, vier ungarische Redakteure sitzen unbeschäftigt imPressdepartement, dagegen - und das wäre ja Im Grunde auch viel besser - ist Max bereit undgewiß auch fähig, bei der Mensa die Freikarte für Sie durchzusetzen, er wird es sehr gern tun, Siesollen gleich nach Ihrer Ankunft zu ihm kommen. Wissen Sie übrigens, daß Münzer schwer krankist, Darmkrebs? Wenigstens sagte es mir meine Mutter.Bis sich hier die Verhältnisse, die persönlichen meine ich, geklärt haben, schreibe ich ausführlicheroder, wahrscheinlicher, erzähle es mündlich. Meine Karte aus Prag haben Sie?

An Oskar Baum(Postkarte. Berlin-Steglitz, Stempel: 26. IX. 1923)

Lieber Oskar, ich war jetzt eineinhalb Tage in Prag und nicht bei Dir, trotz dem großen Verlangen,Euch endlich zu sehn. Wie hätte ich aber kommen können vor der tollkühnen Tat, die darin besteht,daß ich für ein paar Tage nach Berlin gefahren bin. Innerhalb meiner Verhältnisse ist das eineTollkühnheit, für welche man etwas Vergleichbares nur finden kann, wenn man in der Geschichtezurückblättert, etwa zu dem Zug Napoleons nach Rußland. Vorläufig geht es äußerlich leidlich, sowie übrigens auch damals. Wirst Du vielleicht in der nächsten Zeit nach Berlin kommen? (DasBildhauerdrama!) Oder werden Dich Deine Kurse zurückhalten, von denen ich noch nicht weiß, obman über sie traurig sein oder ob man sie ruhig hinnehmen soll.Herzliche Grüße Dir und den Deinen

FWenn Du einmal Aufträge für Berlin hast -

An Max Brod(Postkarte. Berlin-Steglitz, Stempel: 28. IX. 1923)

Lieber Max, gestern, Donnerstag, war sie bei mir, es war meine erste gesellschaftlicheVeranstaltung, die »Eröffnung des Hauses« und es wurden dementsprechend einige schwere Fehlergemacht, die ich allerdings auch nächstens zum Teil nicht gutzumachen wüßte. Sie hat sie freilichlieb und zart übersehn, aber nebenbei könntest Du doch vielleicht gelegentlich noch nachhelfen.Zunächst lud ich sie einfach telephonisch ein, um 5 zu kommen, eine Formlosigkeit, die dadurchleid er noch formloser wurde, daß man damals leider im Telephon fast nichts verstand als ihrLachen. Außerdem hätte ich es vielleicht trotz allgemeinen Schwächezustandes besser gemacht,wenn ich gewußt hätte, daß man in ihre Pension gehn darf, ich hielt das für verboten, im Juli hattees ganz diesen Anschein. Ferner brachte sie ein paar Blumen, ich hatte keine. Ferner, aber das warschon vielleicht kein Fehler, war Dora da und sie war auch für die Veranstaltung unumgänglich.Das schlimmste war freilich, daß ich bei der Ankunft schlief, einzigartigerweise schlief. Sonst

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verlief es aber, glaube ich, leidlich; ein wenig unruhig, nervös, fast überarbeitet scheint sie, abertapfer und entsetzlich sehnsüchtig. Für Sonntag wurde die Möglichkeit des Besuches des jüdischenErntefestes besprochen, ein Wagnis, nicht weniger für sie als mich. Ich tue es wohl nicht.Alles Gute!

F

An Max Brod(Postkarte. Berlin-Steglitz, Stempel: 2.X.1923)

Lieber Max, eben warte ich auf Emmy, wir wollen einen kleinen Vormittagsspaziergang machen indieser schönen Gegend. Sonntag nachmittag war ich bei ihr, machte wieder einige schwere Fehler,schäme mich schon, immer das Gleiche zu wiederholen. Hauptgrund freilich ist, daß ich, wenn ichdort unten etwa am Zoo aussteige, einen großen Teil der Atemfähigkeit verliere, zu husten anfange,noch ängstlicher werde als sonst, alle Drohungen dieser Stadt sich gegen mich vereinigen sehe.Auch suche ich mich hier draußen gegen die wirklichen Qualen der Preise zu schützen, man hilftmir darin sehr, in der Stadt versagt das, gestern z. B. hatte ich einen starken Anfall desZahlenwahns und ich verstehe viel besser Deine Sorgen, Du armer lieber unermüdlicher,unerschütterlicher Kopf. Mein Zimmer, das mit 28 Kronen monatlich gemietet war, kostete imSeptember schon über 70 Kronen, im Oktober wird es zumindest 180 Kronen kosten. Ich versteheauch gut, daß E. Trost braucht, aber in ihrem Zimmer schien sie mir mutiger, kräftiger und, überDeine »letzte Rose « gebeugt, glücklich. - Übrigens kam sie heute nicht, hat abtelephoniert, kommtmorgen, ist sehr lieb. - Inzwischen habe ich, was ich bis jetzt schon tagelang vermieden habe, denSteglitzer Anzeiger durchgesehn. Schlimm, schlimm. Es liegt aber Gerechtigkeit darin, mit demSchicksal Deutschlands zusammenzuhängen, wie Du und ich.

FNebenbei: Du hast leider auf die Mutter nicht beruhigend gewirkt.

An Max Brod(Postkarte. Berlin-Steglitz, Stempel: 8.X. 1923)

Lieber Max, Emmy habe ich jetzt ein paar Tage nicht gesehn, einmal waren wir im BotanischenGarten recht freundschaftlich beisammen, wieder überwog der Eindruck der Tapferkeit den derUnruhe. Seitdem ist schlechteres Wetter, Steglitz lockt nicht mehr zu Spaziergängen und vor derStadt fürchte wieder ich mich. Gestern Sonntag war E., wie mir telephoniert wurde, ein wenigunwohl. Übrigens war gleichzeitig auch mir nicht ganz gut, ein Husten, harmlos der Qualität nach,ärgerlich in der Quantität, kostete mich eine Nacht, ich blieb den Sonntag im Bett und er istvorüber. Vielleicht erfahre ich heute etwas über E. - Über meine Zeiteinteilung ist noch nichts zusagen, unmerklich, untätig verfliegen mir die Tage. Anders Dr. Weiß, mit dem ich gestern, er warbei mir, zum erstenmal sprach. Tätig, nervös, die Nervosität des Starken, verbittert-fröhlich, sogarerfolgreich (Eröffnung des Schauspieler-Theaters mit der Bergner als Tanja), außerdem machte ichihm aufs Geratewohl Hoffnung, daß vielleicht in dem Cyklus Deiner Prager Besprechungen auchNahar an die Reihe kommt, er glaubts nicht.- Klopstock geht es, glaube ich, sehr schlecht, hält sich, für »verkommen«, wagt deshalb nicht, zuDir zu gehn, »seine Artikel erfüllen mich aber mit immer neuer Freude und die immer zunehmendeEhrfurcht mit der ich seine Sachen lese, wiedergeben mir selbst einen Teil der schon sinkendenWürde.«Herzlichst

FGrüß Felix und Oskar.

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An Carl Seelig(Berlin-Steglitz, Herbst 1923)

Sehr geehrter Herr,nun kann ich Ihnen doch etwas vorlegen, was Sie vielleicht freuen wird. Gewiß kennen Sie denNamen Ernst Weiß und wahrscheinlich auch etwas von seinen neueren, für mich manchmalunbegreiflich starken, wenn auch schwer zugänglichen Büchern (Tiere in Ketten, Nahar, Stern derDämonen, Atua). Nun hat er aber außer diesen erzählenden Schriften auch eine Sammlung vonAufsätzen bereit, die er unter dem Titel »Credo quia absurdum« herausgeben würde. DieseAufsätze haben meinem Gefühl nach alle Vorzüge seiner erzählenden Schriften, ohne sichabzuschließen wie jene.Ich lege als Probe vor die Aufsätze: »Goethe als Vollendung« und den Titelaufsatz : »Credo quiaabsurdum «, außerdem, um Ihnen eine Vorstellung von seiner gegenwärtigen Arbeit zu machen, daserste Kapitel eines Romans: Daniel.Einige Titel der in dem Aufsatzbuch zu vereinigenden Stücke waren:

Mozart, ein Meister des OstensDie Ruhe in der Kunst AktualitätDas Leben des Rubens ,DaumierEin Wort zu MacbethDer Genius der GrammatikRousseauDer neue RomanCervantesÜber die SpracheFrieden, Erziehung, Politik

Ihre Meinung über eine Herausgabe des Buches teilen Sie bitte mir oder vielleicht noch bessergleich ihm direkt (Dr. Ernst Weiß, Berlin W 30, Nollendorfstraße 22a) mit. Jedenfalls bitte ich, diedrei Beilagen, die er dringend benötigt, zurückzuschicken.Mit besten Grüßen Ihr ergebener

Franz Kafka

An Felix Weltsch(Postkarte. Berlin-Steglitz, Stempel: 9. X. 1923)

Lieber Felix, vielen Dank für die »Selbstwehr« ich bin doch länger geblieben als ich dachte undhätte sie schwer entbehrt. Bei Lise war ich noch nicht, die Tage sind so kurz, sie vergehn mir nochschneller als in Prag und glücklicher Weise viel unmerklicher. Daß sie so schnell vergehn, istfreilich traurig, es verhält sich eben so mit der Zeit, hat man einmal die Hand von ihrem Radgenommen, saust es an einem vorüber und man sieht für die Hand keinen Platz mehr. Über dienächste Umgebung der Wohnung komme ich kaum hinaus, diese ist freilich wunderbar, meineGasse ist etwa die letzte halb städtische, hinter ihr löst sich das Land in Gärten und Villen auf, alteüppige Gärten. An lauen Abenden ist ein so starker Duft, wie ich ihn von anderswoher kaum kenne.Dann ist da noch der große Botanische Garten, eine Viertelstunde von mir, und der Wald, wo ichallerdings noch nicht war, keine volle halbe Stunde. Die Einfassung des kleinen Auswanderers istalso schön. - Noch eine Bitte, Felix; wenn Du kannst, nimm Dich ein wenig (Stellenvermittlung)des armen Klopstock an.Herzliche Grüße Dir und den Deinen

F

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An Max Brod(Postkarte. Berlin-Steglitz, Ankunftstempel: 16. X. 1923)

Lieber Max, Emmy hat es Dir wahrscheinlich schon gesagt, ich will nicht nach Prag, nicht jetzt,vielleicht in 2 Monaten. Deine Befürchtungen sind grundlos: die Zeitungen lese ich nicht, schlimmeFolgen der Zeit am eigenen Leibe habe ich bis jetzt nicht gespürt, ich lebe, was das Essen betrifft,ganz genau, aber ganz genau so wie in Prag, bei schlechtem Wetter bleibe ich in meinem Zimmer,der Husten, den ich nur zufällig erwähnt, hat sich nicht wiederholt. Schlimmer ist allerdings, daß inder allerletzten Zeit die Nachtgespenster mich aufgespürt haben, aber auch das ist kein Grund zurRückfahrt; soll ich ihnen erliegen, dann lieber hier als dort, doch ist es noch nicht so weit. Übrigenswerde ich Dich ja bald sehn. Wirst Du so gut sein, mir eine Handtasche mit Wintersachenmitzubringen. Man würde sie als Dein Mitgepäck aufgeben, hier würdest Du den Schein demGepäckzustellungsdienst übergeben, nur in Bodenbach würdest Du allerdings Plage damit haben.Würdest Du es tun wollen?. Mit E. war ich einigemal beisammen. Sie schien mir wieder fröhlicherund stärker, besonders, wenn sie mit Prag telephoniert hatte.

Dein FDrei Aufsätze, die mir E. gab, haben mir große Freude gemacht.

An Robert Klopstock(Postkarte. Berlin-Steglitz Stempel: 16. X. 1923)

Lieber Robert, Frýdek, ein guter Ausweg; daß Sie ihn gefunden haben, freut mich sehr. Wann solldie Prüfung geschehn? Hinsichtlich meiner, unnötige Besorgnisse: wenn es nur irgendwie geht, willich sehr gern den Winter hier verbringen. Wäre mein Fall ganz neu in der Geschichte, wäre dieBesorgnis berechtigt, aber es gibt ja Vorgänger, auch Columbus z.B. hat die Schiffe nicht gleichnach ein paar Tagen wenden lassen. - Was mein Essen betrifft: ich esse nicht in großerGesellschaft, habe also nur Gelegenheit zu innerer Scham. Übrigens ist hier in Steglitz das Lebenfriedlich, die Kinder wohl aussehend, die Bettelei nicht beängstigend, der Fundus aus früherenreichen Zeiten immer noch großartig und in gegenteiligem Sinne beschämend. Vor der innern Stadtfreilich halte ich mich zurück, war nur dreimal dort, mein Potsdamer Platz ist der Platz vor demSteglitzer Rathaus, noch er mir zu lärmend, glücklich tauche ich dann in die wunderbar stillenAlleen.Alles Gute

FAn Max und Felix habe ich geschrieben, gehn Sie zu ihnen.

An Max Brod(Berlin-Steglitz, Ankunftstempel: 25. X. 1923)

Lieber Max, es ist wahr, ich schreibe nichts, aber nicht deshalb, weil ich etwas zu verbergen hätte(soweit das nicht mein Lebensberuf ist) und noch viel weniger deshalb, weil ich nicht nach einervertrauten Stunde mir Dir verlangen würde, einer Stunde, wie wir sie, so scheint es mir manchmal,seit den oberitalienischen Seen nicht mehr gehabt haben. (Es hat einen gewissen Sinn, das zu sagen,weil wir damals jene, der Sehnsucht vielleicht gar nicht werre, aber wirklich unschuldige Unschuldhatten und die bösen Machte, in gutem oder schlimmem Auftrag, erst die Eingänge leichtbetasteten, durch die sie einmal einzubrechen sich schon unerträglich freuten.) Wenn ich also nichtschreibe, so hat das vor allem, wie es bei mir in den letzten Jahren immer zum Gesetz wird,»strategische« Gründe, ich vertraue Worten und Briefen nicht, meinen Worten und Briefen nicht,ich will mein Herz mit Menschen, aber nicht mit Gespenstern teilen, welche mit den Wortenspielen und die Briefe mit hängender Zunge lesen. Besonders Briefen vertraue ich nicht und es ist

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ein sonderbarer Glaube, daß es genügt, den Briefumschlag zuzukleben, um den Brief gesichert vorden Adressaten zu bringen. Hier hat übrigens die Briefzensur der Kriegszeit, die Zeit besondererKühnheit und ironischer Offenheit der Gespenster, lehrreich gewirkt.Aber ich schreibe auch deshalb wenig (noch etwas vergaß ich zum Vorigen zu sagen: manchmalscheint mir überhaupt das Wesen der Kunst, das Dasein der Kunst allein aus solchen »strategischenRücksichten« erklärbar, die Ermöglichung eines wahren Wortes von Mensch zu Mensch), weil ichja, wie es natürlich ist, mein Prager Leben, meine Prager »Arbeit«, von der auch nur sehr wenig zusagen war, fortsetze. Du mußt auch bedenken, daß ich hier halb ländlich lebe, weder unter demgrausamen, noch aber auch unter dem pädagogischen Druck des eigentlichen Berlin. Das ist auchverwöhnend. Ich war einmal mit Dir bei Josty, einmal bei Emmy, einmal bei Pua, einmal beiWertheim, um mich photographieren zu lassen, einmal um mir Geld zu holen, einmal um mir eineWohnung anzusehn - das sind gewiß alle meine Ausflüge nach Berlin in diesen vier Wochengewesen und von fast allen kam ich elend zurück und tief dankbar, daß ich in Steglitz wohne. Mein»Potsdamer Platz« ist der Steglitzer Rathausplatz, dort fahren zwei oder drei Elektrische, dortvollzieht sich ein kleiner Verkehr, dort sind die Filialen von Ullstein, Mosse und Scherl, und ausden ersten Zeitungsseiten, die dort aushängen, sauge ich das Gift, das ich knapp noch ertrage,manchmal (gerade wird im Vorzimmer von Straßenkämpfen gesprochen) augenblicksweise auchnicht ertrage -, aber dann verlasse ich diese Öffentlichkeit und verliere mich, wenn ich noch dieKraft dazu habe, in den stillen herbstlichen Alleen. Meine Straße ist die letzte annähernd städtische,dann löst sich alles in den Frieden von Gärten und Villen auf, jede Straße ist ein friedlicherGartenspazierweg oder kann es sein.Mein Tag ist ja auch sehr kurz, ich stehe zwar gegen 9 Uhr auf, aber liege viel, besondersnachmittag, ich brauche das sehr. Ein wenig lese ich hebräisch, in der Hauptsache einen Romanvon Brenner, aber es wird mir sehr schwer, doch ist trotz aller Schwierigkeit das Lesen von bisher30 Seiten keine Leistung, mit der man sich rechtfertigen kann, wenn für vier Wochen Rechenschaftgefordert wird.Dienstag. Als Roman freut mich übrigens das Buch nicht sehr. Ich hatte vor Brenner seit jeherEhrfurcht, ich weiß nicht genau warum, Gehörtes und phantasiertes mischten sich darin, immerwurde von seiner Trauer gesprochen. Und »Trauer in Palästina«?-

Sprechen wir lieber von der Berliner Trauer, weil sie näher ist. Eben unterbricht mich dasTelephon, Emmy. Sie hätte schon Sonntag kommen sollen, schade daß sie nicht kam, es war auchsonst Besuch da, der sie zerstreut hätte, eine kleine Müritzer Bekannte und ein junger BerlinerMaler, zwei schöne junge Menschen von gefangennehmenden Liebreiz, ich hatte viel davon fürEmmy gehofft, die jetzt so tief in den Aufregungen des Tages und in jenen der Liebe ist. (Glaubeübrigens nicht, daß ich Gesellschaften gebe, es ergabt sich zufällig und einmal, ich fürchte mich vorMenschen genau so wie in Prag.) Aber sie kam nicht, war verkühlt. Dann sprachen wir gesterntelephonisch miteinander, sie war aufgeregt, Berliner Aufregungen (Furcht vor Generalstreik,Schwierigkeiten des Geldwechselns, die aber gerade nur beim Zoo und vielleicht nur gestern zubestehen schienen, heute z.B. wurde am Bahnhof Friedrichstraße ohne jedes Gedränge gewechselt),Berliner Aufregungen mischten sich mit Prager Leiden (ich konnte nur sagen: Max schreibt etwasvom neunten) und die Berliner sind hier wirklich ansteckend, ich hatte nach dem Telephongesprächnoch in der Nacht mit ihnen zu kämpfen. Jedenfalls versprach sie aber heute abend zu kommen undich hoffte, inzwischen tröstende Kraft angesammelt zu haben, aber nun telephoniert sie, daß sienicht kommen kann, gibt Gründe für ihre Aufregung an, es ist aber offenbar nur einer, die andernlagern sich nur als Verzierung herum, das Datum Deiner Reise. Die Hochzeit wird alsVerhinderungsgrund nicht anerkannt, »soll er zur Abwechslung auch einmal andern die Herzenbrechen«. Ähnliches glaube ich auch schon in Prag bei ähnlichen Gelegenheiten gehört zu haben.Armer, lieber Max! Glücklich-unglücklicher! Wenn Du mir irgendeinen Rat geben zu könnenglaubst, was ich bei E. nützen kann, ich werde es gewiß tun, ich selbst weiß augenblicklich nichts.

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Ich fragte, ob ich morgen zu ihr kommen könnte, sie sagte, sie wisse nicht, wann sie zuhause seinwerde (alles sehr freundlich und aufrichtig), früh nehme sie eine Stunde, nachmittag sei sie beieiner Freundin, »die auch verrückt ist« (sie hatte mir schon von ihr erzählt), schließlich einigten wiruns darauf, morgen wieder telephonisch miteinander zu sprechen. Das ist alles, wenig und viel.Mittwoch. Eben um 9 Uhr habe ich wieder mit E. gesprochen, es scheint viel besser zu stehn, dasheutige telephonische Abendgespräch mit Dir wirft seinen Trost voraus. Wahrscheinlich kommt sieheute abend. Neues telephonisches Gespräch, neue Änderung. E. läßt sagen, daß sie schon mittagkommt. Immer denke ich daran, wie die Liebe Lmd die Musik E. erhöht, aber gelöst haben muß,daß sie, die früher in einem harten Leben höchst tapfer gelebt hat, jetzt in einem trotz aller BerlinerSchrecken äußerlich doch viel leichteren Leben unter dem Äußerlichen so sehr leidet. Ich fürmeinen Teil verstehe dieses letztere sehr gut, viel besser noch als sie, aber ich hätte ja ihr früheresLeben nicht ertragen.

Noch zu Deinen Fragen: Von dem geringen Hebräischen sprach ich schon. Außerdem wollte ich indie kaum eine Viertelstunde entfernte berühmte Gärtnerschule in Dahlem gehn, ein Hörer, einPalästinenser, ein Bekannter von D. (Diamant ist der Name), hat mich aber durch seineInformationen, mit denen er mich aufmuntern wollte, abgeschreckt. Für den praktischen Unterrichtbin ich zu schwach, für den theoretischen zu unruhig, auch sind die Tage so kurz und beischlechtem Wetter kann ich ja nicht ausgehn, so ließ ich es sein.Nach Prag wäre ich gewiß gefahren, trotz der Kosten und der Mühe, schon nur um mit Dirbeisammenzusein und endlich Felix und Oskar einmal zu sehn (in einem Brief m E. steht einschrecklicher Satz über Oskar, ist das nur eine stimmungsmäßige Bemerkung oder eine Tatsache?),aber Ottla riet mir ab und schließlich auch die Mutter. Es ist auch besser so, ich wäre dort nochnicht Gast, hoffentlich kann ich so lange fort bleiben, daß ich es werde.

Dein FGib mir einen Rat wegen Deines Bruders Hochzeit. Grüß die Schwester und den Schwager von mir.Bis November kann ich wegen der Wintersachen gut warten.Worin bestehen Deine Arbeiten? Der Roman ruht?

An den Verlag Kurt Wolff(Postkarte. Berlin-Steglitz, Eingangsstempel: 26. Okt. 1923)

Sehr geehrter Verlag,den Rechnungsabschluß habe ich erhalten, die Büchersendung wäre mir sehr willkommen. Könnteich auf die Auswahl der Bücher Einfluß haben? Ich lebe jetzt zeitweise in Berlin (bei MoritzHermann, Berlin-Steglitz, Miquelstraße 8), dies würde wohl die Sache erleichtern?Hochachtungsvoll

F. Kafka

An Robert Klopstock(Postkarte. Berlin-Steglitz, Stempel: 25. X. 1923)

Lieber Robert, hoffentlich leben Sie dort unter den Freunden friedlich nach der Prager Hetze(übrigens schrieb mir Max, der Sie im Vorübergehn einmal gesehen hat, daß Sie nicht schlechtaussehn, daran halte ich mich, wenn ich an Sie denke) und vielleicht läßt die Chemie auch nochetwas für Hebräisch übrig. Ich komme darin sehr langsam vorwärts, die Ferien und Schelesenhaben mich viel und besonders das regelmäßige verzweifelte Lernen vergessen lassen, jetzt bin ichvier Wochen hier und habe 32 Seiten in einem Roman von Brenner gelesen, also jeden Tag eineSeite. »Schechól uchischalón«* heißt das Buch, lösen Sie diese chemische Formel. Ein für mich injeder Hinsicht schweres Buch und nicht sehr gut. Pua hat mir zweimal heim Lesen geholfen, jetzt

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habe ich sie aber schon fast vierzehn Tage nicht gesehn. - Eine der hier möglichenUnternehmungen ist gescheitert, sie war allerdings noch kaum in scheiterungsfähigem Stadium.Nahe von mir in Dahlem ist eine berühmte Gärtnerschule, in die ich eintreten wollte; Informationeneines dort lernenden Palästinensers, der mich aufmuntern wollte, haben mich abgeschreckt. Zurpraktischen Gärtnerarbeit bin ich zu schwach, zur theoretischen zu unruhig, ich werde die Unruhein andere Richtungen schicken müssen.Das große Butterpaket kann in ausgezeichnetem Zustand an, vielen Dank.Wie geht es Ihrer Mutter und dem Bruder?Grüßen Sie Steinberg!

* In hebräischer Kursivschrift.- »Unfruchtbarkeit und Scheitern«.

An Max Brod(Berlin-Steglitz, Ankunftstempel: 27. X. 1923)

Lieber Max, nur ein paar Worte zu Deiner Karte, meinen Brief hast Du ja inzwischen bekommen.E. war also Mittwoch Mittag bei mir, ich habe sie eigentlich durch ein Brot hergelockt, das inSteglitz leicht, in Berlin am Dienstag, nicht aus wirklichem Mangel, sondern aus andernundurchsichtigen, bei den hiesigen Zuständen täglich neu sich bildenden Ursachen schwierig zuhaben war, (übrigens nur Dienstag, E. hat dann auch das Brot nicht für sich behalten, sondern es derSchwester geschenkt). Nun, E. war aufgeregt, was allerdings nicht hindert, daß sie zwischendurchauch munter war und gelacht hat. Aber diese Aufregung nur auf die Berliner Zuständezurückzuführen, das geht nicht. Die Aufregung und die Berliner Zustände hängen eben nur sozusammen, daß ein eintägiger Brotmangel, eine einmalige Schwierigkeit beim Geldwechselngenügt, um die Tür für allen andern Jammer zu öffnen. Und diesem andern Jammer, nicht demersten, ist schwer zu begegnen. Übrigens hatte ich schwächliche Ausreden zu allem, nur zu demeinen nicht, wenn sie sagte, daß sie im Grunde auf alles verzichte und sich vollständig damitzufrieden geben würde, wenn Du nur alle vier Wochen für zwei Tage kämest. Was ist dazu zusagen? Besonders, wenn sie hinzufügt, daß Du zu der Winkler-Zeit, wenn es nötig oder nur nützlichoder auch nur angenehm gewesen wäre, sofort auf ihre Bitte oder auch nur auf ein Wort, eineAndeutung hin gekommen wärest, über alle Hochzeiten hinweg. Und daß sie doch nicht mehrverlangt, als daß Du kommst. Nun, man kann auch darauf gut antworten, aber es ist in diesem Fallnicht passend.Aber das alles ist ja für den Augenblick nicht mehr aktuell. Nach dem Telephongespräch mit Dirrief mich E. an, fröhlich, glückstrahlend, alles sei gut, etwas von »neugeboren« sagte sie, aber einenbessern, stärkern Ausdruck. Ich führte die Wendung hauptsächlich darauf zurück, daß sie vomSchauspielertheater engagiert ist - eine, wie es auch sei, wirklich ausgezeichnete, geradezubefreiende Sache - nach Deiner Karte sehe ich aber, daß die Abwälzung ihres Leides auf Dich auchviel zur »Neugeburt« beigetragen hat. Der Prager oder Aussiger Plan scheint mir nicht richtig undsehr gefährlich, nur in der Arbeit und der Musik ist Rettung, die äußern Verhältnisse sind bis jetztbei weitem nicht so schlimm, wie Du glaubst, im allgemeinen vielleicht, im besondern gewiß nicht,ich lebe z.B. bis jetzt, was das Essen betrifft, genau so wie in Prag, Butter schickt man mirallerdings, aber auch sie ist zu haben. Nur um Dir eine Vorstellung von den Preisen zu geben;gerade an dem Telephongesprächstag aß ich zu Mittag in der Stadt, in einem vegetarischenRestaurant in der Friedrichstraße (ich esse sonst immer zuhause, seitdem ich hier bin, war es daszweite Gasthausessen), ich mit D. Wir hatten: Spinat mit Setzei und Kartoffeln (ausgezeichnet, mitguter Butter gemacht, an Menge allein schon sättigend), dann Gemüseschnitzel, dann Nudeln mitApfelmus und Pflaumenkompot (davon gilt dasselbe wie vom Spinat), dann ein Pflaumenkompotextra, dann einen Tomatensalat und eine Semmel. Das Ganze hat mit übermäßigem Trinkgeld etwa8 Kronen gekostet, das ist doch nicht schlimm. Vielleicht war es eine Ausnahme, von Zufällen des

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Kursstandes beeinflußt, die Teuerung ist wirklich sehr groß, abgesehen vom Essen sich irgendetwaszu kaufen, ist unmöglich, aber wie gesagt, Essen gibt es noch in Berlin, und recht gutes. Darübermach Dir kehle Sorgen.Grüß Felix und Oskar, sag ihnen ein gutes Wort von mir.Vielleicht gehe ich heute mit E. ins Theater, »Volksfeind« mit Klöpfer. Ich war bis jetzt nochkeinen Abend von zuhause fort.

An Robert Klopstock(Berlin-Steglitz, Oktober 1923)

Lieber Robert, ich bekomme den Brief Mittwoch vormittag; wenn Sie die Geschichte Freitag habensollen, müssen wir uns beeilen, ich und die Post. Im übrigen macht es mir durchaus nur Freude,Ihre Übersetzungen durchzusehn, schicken Sie nur, was Sie haben. Die Geschichte selbst scheintmir recht gut, nur habe ich bei diesen Geschichten von K. meistens einen unangenehmenNebeneindruck, so als ob dieser Einfall, an sich selbst erträglich gut, immer der letzte wäre, wiewenn der arme Mann immer seinen letzten Kreuzer ausgeben würde und man außer der Münzeauch noch die leere Tasche zu sehen bekäme. Ich weiß nicht, woran das liegt, da doch seinReichtum zweifellos ist. - Die Übersetzung ist sehr gut. Nur ein paar Bemerkungen: Der Titel istrichtig, wäre aber nicht stärker, einfach: »Ohne Kopf« oder »Kopflos.«6) ich würde »schleppen« wählen, auch »ziehen« enthält Qual und ist abseitiger. »bewegen« wäreohne diese Qual - Dieses Ganze:»ziehen« und »Spur hinterlassen« erinnert zu sehr an kriechendeRaupen.feinen Zeuges Stoff - klingt nicht schlecht, aber Zeug und Stoff ist das gleiche;was ist das: Glaubender?Die andern Dinge habe ich im Text eingetragen.Das Krausbuch habe ich bekommen, schön, lieb und verschwenderisch war es, daß Sie es geschickthaben, es ist lustig, wenn es auch nur eine Nachgeburt der »Letzten Tage« ist. Sonst lese ich nurwenig und nur hebräisch, keine Bücher, keine Zeitungen, keine Zeitschriften oder doch: die»Selbstwehr«.Warum schicken Sie nicht der »Selbswehr« etwas, die Ihnen weit offensteht. Ichhätte gedacht, daß Sie schon am 1. November in Prag sein wollten. Ja, Wien ist schön, nach derBerliner Zeit übersiedeln wir dann nach Wien, ja?Ich verkehre mit sehr wenigen Menschen, mit Dr. Weiss habe ich einmal gesprochen, mit Pua seitfünf Wochen nicht, sie ist ganz verschollen, antwortet auf Karten nicht.Mein Gesundheitszustand ist erträglich.Am 15. November übersiedle ich in eine neue Wohnung, in der Nähe. Die Adresse schicke ichnächstens.Leben Sie wohl, alles Gute Ihren Träumen und Arbeiten

Ihr F»Schechol uchischalon« sind zwei Hauptworte, die ich auch nicht ganz verstehe, jedenfallsversuchen sie den Inbegriff des Unglücks darzustellen. »Schechol« heißt wörtlich Kinderlosigkeit,also vielleicht Unfruchtbarkeit, Fruchtlosigkeit, sinnlose Anstrengung, und »Kischalon« heißtwörtlich: Straucheln, Fallen.

An Robert Klopstock (Postkarte. Berlin-Steglitz, Stempel: 31. X. 1923)

Lieber Robert, bitte, nicht übertreiben hinsichtlich Berlins. Daß ich hierhergefahren bin, warungeheuerlich, aber weitere Ungeheuerlichkeiten sind dem hier vorläufig nicht gefolgt, also sollman es nicht durch Lobsprüche schrecken. Es ist nicht einmal ausgeschlossen, daß mich dieunheimliche Teuerung - vorläufig nicht, wohl aber wenn sie sich weiter mit gleicher

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Unermüdlichkeit steigert - vertreibt. Bis jetzt geht es mir äußerlich gut, man kann nicht besserversorgt sein, als ich es bin. - Daß Sie eine neue Übersetzung von Klarissa gemacht haben, hat mireinen schmerzhaften Stich gegeben. Sie war doch vorzüglich übersetzt, warum noch einmal dieseArbeit, besonders jetzt, da ich - vielleicht ist es eine Täuschung dann aber eine starke - in Ihrenletzten Briefen ein solches Verlangen und darüber hinaus eine solche Kraft zu eigener Arbeit fühlewie niemals früher. Es wäre vielleicht gar nicht übel, wenn Sie sich nach dem Rigorosum wiedernach Frýdek, in die Stille flüchten könnten. Trotzdem, wie ich in der »Selbstwehr« lese, geradeheuer eine Überfülle hebräischer Dinge dort geplant ist. Hier muß ich zu solchen Dingenstundenlang fahren, dort hätte ich es hundert Schritte vom Haus und doch unerreichbar weit.

Ihr F.

An Max Brod(Postkarte. Berlin-Steglitz, Stempel: 31. X. 1923)

Liebster Max, ich schreibe Dir erst morgen, wenn ich auch weiß, was E. tun wird. Freilich, schwerist die Sache, bestürzend schwer, obwohl man, da von beiden Seiten höchste Bereitwilligkeitletzten Endes vorhanden ist, an eine leichte Ausgleichsmöglichkeit glauben sollte. Manchesverstehe ich auch nicht ganz; einmal in vier Wochen herzukommen wäre zu teuer. Aber die 14Tage in Bodenbach wären doch viel teuerer. Ich verstehe vorläufig auch nicht, wie geradeBodenbach nervenberuhigend wirken soll. Ein kleines fremdes Landstädtchen im Spätherbst, unddort allein leben, ohne Arbeit und Bekannte, auf flüchtige Besuche aus Prag angewiesen sein undschließlich doch wieder nach Berlin - angenommen daß dies die Ursache aller Leiden wäre -zurückkehren müssen. Nun, der Beschluß ist ja noch nicht endgültig und morgen schreibe ich.

Dein F

Von Klopstock höre ich, daß er eine neue (!) Übersetzung von »Klarissa« gemacht hat und sie vierAgenturen schicken wird.

An Max Brod(Berlin-Steglitz, Ankunftstempel: 2. XI. 1923)

Liebster Max, Du kommst also, wie ich von E. hörte. Wie ich es schon im zweiten Brief und in derKarte sagte, ich kann auch nur das für das Richtige halten. Nun ist auch über alles andere damitZusammenhängende nichts weiter zu schreiben, denn wir werden einander ja bald sehn. Ich binübrigens heute auch nicht im Besitze aller Geisteskräfte, zu viel mußte ich abgeben an einungeheueres Ereignis: ich werde am 15. November übersiedeln. Ein sehr vorteilhafter Umzug wiemir scheint. (Ich fürchte mich fast, diese Sache, die meine Hausfrau erst am 15. November erfahrenwird, zwischen ihren über meine schultern hinweg mitlesenden Möbeln aufzuschreiben, aber siehalten, wenigstens einzelne, zum Teil auch mit mir.) Was die Erbschaft betrifft, so ist das wirklichGerede, aber ein, wie es scheint, verbreitetes, denn auch Else Bergmann hat mir schon davongeschrieben. Die Wahrheit ist, daß die Erbschaft brutto etwa 600.000 Kronen beträgt, auf welcheaußer der Mutter noch drei Onkel Anspruch haben. Das wäre nun freilich noch immer schön, aberleider sind die Hauptbeteiligten die französische und die spanische Regierung und Pariser UndMadrider Notare und Advokaten.Hinsichtlich der Freundin magst Du Recht haben, ein- bis zweimal huschte an solchen Stellen dieFreundin durch das Gespräch. Übrigens hat E. neben der Zuneigung zu dieser Freundin auch einesehr starke Abneigung ihr gegenüber, die man nur unterstützen müßte.Bei Deinen Befürchtungen wegen der Zukunft vergißt Du, daß Du jetzt doch auch wertbeständigesGeld von Wolff bekommen mußt, der übrigens wahrhaftig ungeheuerliches Geld verdient habenmuß.

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Aus dem Theaterbesuch mit E. ist vorläufig nichts geworden, die Teuerung ist wirklichungeheuerlich, zwei Theater kamen für mich in Betracht, Lessingtheater (»Rausch«, Kortner, GerdaMüller), und Schillertheater (»Volksfeind« mit Klöpfer), das, erstere ist aber unbezahlbar, dasletztere auf Tage hinaus ausverkauft und bei jedem Wetter kann ich nicht gehn.Lebwohl und möge uns - unschuldig oder schuldig - noch einmal die Luganosonne scheinen.

F.

An Valli Pollak(Berlin-Steglitz, November 1923)

Liebe Valli,der Tisch steht beim Ofen, eben bin ich vom Ofenplatz weggerückt, weil dort zu warm wird, selbstdem ewig kalten Rücken, meine Petroleumlampe brennt wunderbar, ein Meisterwerk sowohl derLampenmacherei als auch des Einkaufs (sie ist aus einzelnen Stücken zusammengeborgt undzusammengekauft, freilich nicht von mir, wie brächte ich das zustande! eine Lampe mit einemBrenner, groß wie eine Teetasse, und einer Konstruktion, die es ermöglicht, sie anzuzünden, ohneZylinder und Glocke abzunehmen; eigentlich hat sie nur den Fehler, daß sie ohne Petroleum nichtbrennt, aber das tun wir andern ja auch nicht) und so sitze ich und nehme deinen jetzt so alten,lieben Brief vor. Die Uhr tickt, sogar an das Ticken der Uhr habe ich mich gewöhnt, höre esübrigens nur selten, gewöhnlich dann, wenn ich besonders billigenswerte Dinge tue, sie hat, dieUhr, gewisse persönliche Beziehungen zu mir, wie überhaupt manche Dinge im Zimmer, nur daßsie jetzt, seitdem ich gekündigt habe (oder genauer. seitdem mir gekündigt worden ist, was in jederBeziehung gut ist und im übrigen eine komplizierte seitenlang beschreibbare Angelegenheit ist),sich zum Teil von mir abzuwenden anfangen, vor allem der Kalender, von . dessen Aussprüchenich schon einmal den Eltern schrieb. In der letzten Zeit ist er wie verwandelt, entweder ist er ganzverschlossen, man braucht z. B. dringend seinen Rat, geht zu ihm, er aber sagt nichts weiter als :Reformationsfest, was ja wahrscheinlich einen tieferen Sinn hat, aber wer kann ihn auffinden; oderaber er ist bösartig ironisch, letzthin z. B. las ich etwas und hatte dazu einen Einfall, der mir sehrgut oder vielmehr bedeutungsvoll vorkam, so sehr, daß ich den Kalender darüber fragen wollte (nurbei so zufälligen Gelegenheiten antwortet er im Laufe seines Tags, nicht etwa, wenn man zubestimmter Stunde pedantisch das Kalenderblatt abreißt), »Manchmal findet auch ein blindes Huhnusw.« sagte er ein anderes mal war ich entsetzt über die Kohlenrechnung, worauf er sagte: »Glückund Zufriedenheit ist des Lebens Seligkeit«, darin liegt freilich neben der Ironie eine beleidigendeStumpfsinnigkeit, er ist ungeduldig, er kann es schon gar nicht aushalten, daß ich wegkomme,vielleicht aber ist es auch nur, daß er mir den Abschied nicht schwer machen will, vielleicht wirdhinter dem Kalenderblatt meines Ausziehtages ein Blatt kommen, das ich nicht mehr sehen werdeund auf dem irgend etwas stehn wird, wie. »Es ist bestimmt in Gottes Rat usw.«. Nein, man darfdoch nicht alles aufschreiben, was man von seinem Kalender denkt, »er ist doch auch nur einMensch«.Wenn ich dir in dieser Weise von allem schreiben wollte, womit ich in Berührung komme, kämeich natürlich zu keinem Ende und es bekäme den Anschein, als wenn ich ein sehr bewegtesGesellschaftsleben führen würde, in Wirklichkeit ist es aber sehr still um mich, übrigens niemals zustill. Von den Aufregungen Berlins, den schlimmen und den guten, erfahre ich wenig, von denersteren natürlich mehr. Weiß übrigens Peppa was man in Berlin sagt, wenn man gefragt wird:»Wie gehts?« Ach, er weiß es ja gewiß, ihr wißt alle über Berlin mehr als ich. Nun auf die Gefahrhin, etwas ganz Veraltetes zu sagen, sachlich ist es ja noch immer aktuell, man sagt: »Mies malIndex.« Und dieses: Einer erzählt begeistert vom Leipziger Turnfest: » - der ungeheure Anblick,wie die 750.000 Turner einmarschiert sind!« Der andere sagt, langsam rechnend: »Na, was ist denndas, dreieinhalb Friedensturner.«

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Wie geht es (das ist schon gar kein Witz mehr, aber hoffentlich auch nichts Trauriges) in derjüdischen Schule? Hast du den Aufsatz des jungen Lehrers in der »Selbstwehr« gelesen? Sehr gutgemeint und eifrig. Wieder habe ich gehört, daß es Arnstein sehr gut geht und Frl. Mauthner solldas ganze palästinensische Turnen reformiert haben. Dem alten Ascherman mußt du seinenGeschäftssinn nicht übelnehmen, es ist immerhin schon etwas Ungeheures, seine Familie auf denRücken zu nehmen und durch das Meer nach Palästina zu tragen. Daß so viele es tun von seinerArt, ist kein kleineres Meerwunder als jenes im Schilfmeer.Marianne und Lotte danke ich vielmals für ihre Briefe. Merkwürdig wie ihre Schriften,nebeneinandergestellt, vielleicht nicht ihre Wesensunterschiede, aber fast ihre Körperunterschiededarstellen, wenigstens scheint es mir so in diesen letzten Briefen. Marianne fragt, was mich ausihrem Leben besonders interessiert, nun: was sie liest, ob sie noch tanzt (hier, in dem jüdischenVolksheim lernen alle Mädchen rhythmisches Tanzen, allerdings unentgeltlich) und ob sie noch dieBrille trägt. Lotte soll ich von Anni G. grüßen. Ein liebes, schönes, kluges Kind (Lotte nämlich,aber auch Anni), sie lernt fleißig Hebräisch, kann schon fast lesen und ein neues Liedchen singen.Macht auch Lotte Fortschritte?Nun ist aber schon allerhöchste Zeit, schlafen zu gehn. Nun war ich fast einen ganzen Abend beieuch und aus der Stockhausgasse in die Miquelstraße ist es so weit. Lebt wohl.

.......

An Max Brod(Berlin-Steglitz, Ankunftstempel: 5. XI. 1923)

Liebster Max, eine kurze Darstellung dessen, wie sich die Sache in einem heute allerdings ausverschiedenen Gründen etwas erschütterten Kopfe malt; das Material dazu habe ich hauptsächlichaus dem gestrigen, Donnerstägigen Gespräch mit E., die etwa von sieben bis zehn bei mir war,übrigens gerade zu der Zeit, als Dein Brief kam, den ich vor ihr nicht aufmachen wollte.Darin hast Du gewiß recht: wenn die Berliner Verhältnisse so wären wie etwa voriges Jahr, dasLeben leicht, die Möglichkeiten groß, angenehme Zerstreuungen u.s.w., dann wäre es sehrwahrscheinlich zu einem solchen Ausbruch nicht gekommen, aber nicht deshalb, weil in demVulkan kein Feuer wäre, es hätte sich nur andere Wege gesucht; das hätte unter Umständenfriedliche Zelten ergeben, dauernde gewiß nicht, denn es ist ein Mittelpunkts-Leid da, in welchemsich mancherlei mischt und das zu verschiedenen Zeiten - gar unter dem offenbar übermächtigenEinfluß Deiner Gegenwart - einen ganz verschiedenen Anblick gibt, aber immer da ist. Dazu kannman sich so verhalten, daß man sich mit dem äußerlichen Frieden begnügt. Das wäre ja auchwirklich sehr viel, denn schließlich kann ja auch nach diesem vorläufigen Frieden durch erwarteteoder unerwartete Dinge einmal der wirkliche Friede kommen. Diesen vorläufigen Frieden kann nundas heutige Ber1in nicht zustandebringen, auch wenn Du Dich übermenschlich anstrengst und Duscheinst das leider wirklich zu tun. Da es aber Berlin nicht kann, muß man nachhelfen und dieseNachhilfe wäre Dein Kommen alle vier Wochen. Das würde besser nähren als die besten Kistchen.Du mußt keine andern unmittelbaren Anlässe für den letzten Ausbruch suchen. Noch vor vierzehnTagen beschränkte sich die Forderung nur auf Dein Kommen, erst jetzt ist sie so ungeheuerlichgestiegen. Ich glaube deshalb auch, daß sie sich durch Deinen persönlichen Einfluß wiedereinschränken lassen wird und nur in dieser Hoffnung habe ich gestern den für Dich vielleichtschrecklichen, innerhalb meines Vorstellungskreises aber erlösenden Vorschlag gemacht, daß IhrEuch in diesen letzten Tagen nicht mehr mit dem Hin und Her der Briefe und Telephongesprächequält, sondern alles dem Aug-in-Aug-Sein überlaßt, von dem sich dann wieder der »vorläufigeFriede« erhoffen läßt.Die jetzige Hauptforderung E's ist ungeheuerlich, das fühle ich, Max, tief mit Dir. Aber es ist nichtnur Eifersucht, obwohl auch diese nicht »sinnlos« wäre, wie Du schreibst Es ist nicht nurEifersucht �ich sage das nicht deshalb, weil Du es etwa nicht weißt, ich sage das, um Dir in diesem

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sonderbaren, versteckten, rätselhaften Leid nah zu sein - es ist auch Unmöglichkeit des Verstehns,so wie es auf Deiner Seite Unmöglichkeit der Erklärung ist. Du kannst doch nicht glauben, daß DuEs widerlegt hast, wenn Du sagst, »daß nur Pflicht mich hier in der Ehe festhält«. Was weiß siealles an Unwiderleglichem dazu zu sagen! Und an Selbstverständlichem. Es ist eben nicht nur»Pflicht«, aber es läßt sich im Augenblick nicht anders ausdrücken. Du darfst aber auch nichthoffen, damit etwas zu widerlegen.Übrigens sah E., vielleicht noch unter dem Einfluß des, wie sie sagte, »beglückenden«Telephongesprächs (das später durch Deinen Brief gänzlich widerrufen worden sein soll), recht gutaus, hatte auf der Probe Erfolg gehabt, hatte außerdem die Aussicht in einem Kirchenkonzertmitzusingen, so daß der Gesamteindruck durchaus nicht verzweifelt war, nur hie und da brach eshervor, dann waren es entweder Fragen die »Pflicht« betreffend, oder es war Angst vor derBeeinflussung und Einschläferung durch Dich, wenn Du hier sein wirst.

Der Mutter habe ich allerdings vor einiger Zeit geschrieben, daß Du nach Berlin kommen wirst; ichwerde es jetzt widerrufen, aber auch sonst hätte es keine Bedeutung, ich kann mich doch geirrthaben. Wenn Du die Sachen mitnehmen kannst, - eine Last bleibt es, wie man es auch einrichtet -dann bring sie bitte; unbedingt nötig ist es aber nicht, es würde sich wohl auch sonst eineGelegenheit finden, sie herzuschaffen. Bringst Du sie, dann gib einfach den Gepäckschein demBahnzustellungsdienst mit meiner jetzigen Adresse. Vielleicht werde ich Dir aber noch rechtzeitigmeine neue (ab 15. November geltende) Adresse schicken, damit der Koffer der Einfachheit halbergleich hingebracht wird. Aber wichtiger als alles das ist, daß wir uns nun bald wiedersehn.

FAn den Verlag Kurt Wolff

(Postkarte. Berlin, Eingangsstempel: 19. Nov. 1923)Sehr geehrter Verlagbesten Dank für Ihre Karte vom 29. Okt. und das Verlagsverzeichnis. Auf diese Weise geht es abernicht. Das Verzeichnis enthält viel Verlockendes und dieses ist meist teuer. Was eine»entsprechende Auswahl« sein soll, weiß ich nicht. Ich bitte Sie deshalb, mir doch zu sagen, fürwie viel Goldmark Sie mir ursprünglich Bücher zu schicken beabsichtigten. Danach werde ich danngleich auswählen.Hochachtungsvoll

F. KafkaMeine jetzige Adresse: Berlin-Steglitz, Grunewaldstraße 13, b. Hr. Seifert

An Felix Weltsch(Postkarte. Berlin-Steglitz, Stempel: 18. XI. 1923)

Lieber Felix, vielen Dank für die regelmäßige Zusendung und dafür, daß Du Dich unser hierannimmst, so schwer es Dir vielleicht fällt. Ich bin übrigens übersiedelt, veranlasse bitte dieUmadressierung: Berlin-Steglitz, Grunewaldstraße 13 bei Herrn Seifert, und noch etwas; schreibmir bitte, wieviel ich schuldig bin, ich werde dann gleich meine Schwester anweisen, es zubezahlen. Die Zusendung meines Prager Exemplars stell bitte ein, falls Du es nicht schon getanhast, ich bleibe wohl noch einige Zeit hier, trotz der besinnungslosen Teuerung. Bei DeinenVerwandten war ich noch immer nicht, so gerne ich es wollte, es wird mir zu schwer, in dieserJahreszeit und bei der Kürze der Tage herumzuwandern. Zweimal in der Woche und nur bei gutemWetter gehe ich ein wenig in die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, das ist schon dasÄußerste, was ich zustandebringe. Herzlichste Grüße Dir, den Deinen und den Baumischen

Dein F

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An Max Brod(Postkarte. Berlin-Steglitz, Stempel: 25.XI. 1923)

Lieber Max, die letzten Tage habe ich mich viel mit Dir beschäftigt, die Mutter hat mir dieBesprechungen aus dem Abendblatt geschickt, was für schöne frische lebendige Dinge, immerfortim Sattel. - Heute ist Ottla hier, ich glaube, zufrieden mit allem, was sie sieht. Was Dich betrifft,hab ich keine Angst. - Geld habe ich jetzt und werde im Laufe der Woche E. die 400 Kronen geben.Wie bewährt sich Euere neue Geldüberweisungsmethode? - Krank war ich nicht, es flackert ebennur das Lämpchen ein wenig, sonst ist es bis jetzt nicht schlimm. Es hat mich allerdings verhindert,zu E's Theater zu gehn, auch D. war unglücklicherweise an dem Tag nicht ganz wohl. Abervielleicht wird das Stück Weihnachten wiederholt. - Was Du über die Mängel des Beisammenseinsin Berlin sagst, ist wahr. Aber es ist auch ein Mangel meiner selbst, mehr als ein Mangel Berlins.Bleibe uns die Hoffnung auf Besseres erhalten. Übrigens habe ich das Gefühl, daß Du jetzt - vonunvermeidlichen Störungen Deines komplizierten und durch seine Heldenhaftigkeit doch einfachenLebens abgesehn - frei und sicher lebst, wie kaum jemals früher, auch die Aufsätze beweisen es.-Streichle Felix und Oskar ein wenig für mich.- Alles Gute!

FDora grüßt schön.

An den Verlag Kurt Wolff(Berlin-Steglitz, Ende November 1923)

Sehr geehrter Herr Meyer,aus der Zeit, die seit Ihrer freundlichen Karte wieder verstrichen ist, können Sie entnehmen, wieschwer mir die Sache wird. Es ist aber auch ein zu großes und zu einmaliges Ereignis in diesenZeiten, Bücher aus der Fülle auswählen zu dürfen.Es würde sich also um folgende Bücher handeln (wobei ich die Einschränkung mache, daß ichmich dort, wo der Einband teuer ist, also besonders bei den Stundenbüchern sehr gern mitkartonierten Exemplaren begnüge):

Hölderlin GedichteHölty GedichteEichendorff GedichteBachhofen Japanischer HolzschnittFischer Chinesische LandschaftPerzynski Chinesische GötterSimmel RembrandtGauguin Vorher und NachherChanlisso SchlemihlBürger MünchhausenEin Band von HamsunKafka 1 Heizer1 oder 2 Betrachtung

VerwandlungLandarztStrafkolonie

Das ist also die Liste, es ist trotz aller Gegenmühe wieder viel zu viel geworden, aber da auch zehnweitere Versuche nicht besser ausfallen würden, mag es jetzt schon so weggehn.Mit bestem Dank und Grußergeben

KafkaBerlin-Steglitz

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Grunewaldstraße 13 bei Hr. Seifert

An Max Brod(Postkarte. Berlin-Steglitz, Stempel: 17. XII. 1923)

Liebster Max, lange habe ich nicht geschrieben, es gab für mich Störungen verschiedenster Art undverschiedenstartige Müdigkeit, wie man sich eben (als pensionierter Beamter) durchkämpft in derwilden Fremde und, was noch schwieriger ist, in der wilden Welt überhaupt. Die Aufregungen, indenen ich damals mit Deinem Feuilleton meine unglückliche Hand bewährte, sind wohl schonvorüber, waren übrigens schon damals vorüber, denn den Tag nachher bekamst Du ja, wie mir E.sagte, eine gute, um Verzeihung bittende Karte, darum trug auch ich dann nicht mehr schwer daran.Die Geldsorgen verstehe ich jetzt sehr gut, nur verstehe ich jetzt nach dem Miterleben undMißverstehn der Novemberkrise, die Du damals so viel besser deutetest als ich, nicht, warum DuDich von der Dezemberkrise als solcher (Eifersucht, Telephonschwierigkeiten u.s.w.) so sehrfortreißen ließest, als wäre sie im Wesen etwas anderes als die Krise im November, die durch EuerBeisammensein sich derart schön löste, daß es ein Präjudiz für alle Zeiten gab. Jedenfalls aber,wenn Du irgendeinen Auftrag hast und die Gefahr einer Dummheit meinerseits nicht zu sehrbefürchtest, vergiß mich nicht. - Was bedeutet die Bemerkung über Dein Stück? Ist es schonaufgeführt worden? Ich lese (wegen der Teuerung) keine Zeitung, auch die Sonntagszeitung habeich aufgegeben (von neuen Steuern erfährt man ja sowieso von der Hausfrau überrechtzeitig) undso weiß ich von der Welt viel weniger als in Prag. So würde ich z.B. gern etwas über »Vincenz«von Musil erfahren, wovon ich nichts weiß als den Titel, den ich lange nach der Premiere auf demWeg zur Hochschule (meinem Weitgang) auf dem Theaterzettel las. Aber ein wesentliches Leid istdas wahrhaftig nicht. Übrigens : mit Viertel oder Blei kannst Du wegen Deines Stückes in keineBeziehung treten? es sind doch fast Freunde. - An Oskar hätte ich wegen seinerRundschauerzählung längst schreiben sollen, aber die Sache ist noch im Gang, sozusagen.Grüße von Dora, die gerade entzückt ist von dem Aufsatz über Køièka.

An Oskar Baum(Postkarte. Berlin-Steglitz, Dezember 1923)

Mein lieber Oskar, was für einen miserablen Advokaten hast Du! Was nützt sein guter Wille? Beisoviel Miserabilität kann er nur schaden. Entzückt, wahrhaftig entzückt war ich, einen Auftrag undeinen so aussichtsreichen von Dir zu haben. Nun lief ich freilich nicht selbst zum Telephon (wiedenn! zum Telephon! Es steht freilich auf meinem Tisch), drängte aber mit aller Kraft jemandenandern hin. Zwei Anrufe mißglückten, ich nahm das als Zeichen, daß man schlauer vorgehn müsse,schrieb einen Brief und schickte ihn durch einen sehr guten Bekannten hin. Es war so gedacht, daßK. zu mündlichen Zugeständnissen gezwungen werden sollte. K. aber, noch schlauer, verschwandim Nebenzimmer und brachte einen diktierten Brief zurück. »Es tue ihm sehr leid -, aberSondernummern und redaktionelle Schwierigkeiten -,bisher nicht möglich -. Nun sei aber eine neueIdee aufgetaucht (ich weiß bis heute nicht, ob sie sich auf Deine Geschichte bezieht), über die ersehr gern mit mir sprechen würde, ich solle zu ihm kommen oder antelephonieren.« Das warunbewußt schlau, denn beides ist mir unmöglich. Ich, noch schlauer, schicke einen zweiten Brief,wieder durch meinen Bekannten, erkläre darin die zwei Unmöglichkeiten, bitte aber dringendst, daßer sich über Deine Geschichte mit meinem Bekannten genau ausspricht. Aber die Schlauheitentürmen sich über einander. Auf diesen zweiten Brief hin sagt er, daß er im Laufe der Woche zu mirhinauskommen werde. Nun ist er fein heraus, denn er kommt nicht; in der nächsten Woche frageich wieder (d. h. wieder nicht ich) bei ihm wegen der Geschichte an, worauf er sagt, daß er erstnach Weihnachten kommen werde; was aber die Geschichte betreffe, so sei sie unbedingtangenommen, aber über die Veröffentlichungszeit könne er nichts sagen. - Sonderbar, wie sich eine

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so große Aktion in den Lauf der Welt einschieben kann, zart, ohne das Allergeringste zu verändern.Oskar, Lieber, bitte sei mir nicht böse!Herzlichste Grüße Dir und den Deinen

F.An Robert Klopstock

(Postkarte. Berlin-Steglitz, Stempel: 19.XII. 1923)Lieber Robert, zuerst Fragen nach Roberts Art, aber wichtigere als er sie stellt: Mensa? Zähne?Übersetzungen? Sonstiger Verdienst? Zimmer? Prüfungen? Das würde vorläufig genügen. Wasmich betrifft, so dürfen Sie doch, Robert, nicht glauben, daß mein Leben ein solches ist, wo man imbeliebigen Augenblick die Freiheit und Kraft hat, zu berichten oder auch nur zu schreiben, da esdoch Abgründe gibt, in die man versinkt ohne es zu merken, um dann wieder erst lange Zeitemporzukriechen, besten Falls. Situationen zum Schreiben sind das nicht. - Daß Sie in die Iwriahgehen wollen, ist sehr gut, vielleicht nicht nur in die Hebräischkurse, sondern auch zu derTalmudstunde (einmal wöchentlich!, Sie werden es nicht ganz verstehn, was tut es? Aus der Fernewerden Sie es hören, was sind es sonst, als Nachrichten aus der Ferne). Die Hochschule fürjüdische Wissenschaft ist für mich ein Friedensort in dem wilden Berlin und in den wildenGegenden des Itwern. (Gerade werde ich nach meinem Zustand gefragt und kann vom Kopf nichtssagen, als daß er »löwenmäßig Frisiert« ist.) Ein ganzes Haus schöne Hörsäle, große Bibliotllek,Frieden, gut geheizt, wenig Schüler und alles umsonst. Freilich bin ich kein ordentlicher Hörer, binnur in der Präparandie und dort nur bei einem Lehrer und bei diesem nur wenig, so daß sichschließlich alle Pracht wieder fast verflüchtigt, aber wenn ich auch kein Schüler bin, die Schulebesteht und ist schön und ist im Grunde gar nicht schön, sondern eher merkwürdig bis zumGrotesken und darüber hinaus bis zum unfaßbar Zarten (nämlich das Liberalreformerische, dasWissenschaftliche des Ganzen). Aber genug davon. - Daß Sie Pua sehen werden, ist sehr gut,vielleicht erfahre ich dann etwas über sie. Sie ist mir unerreichbar seit Monaten. Was habe ich ihrnur getan? - Alles Gute

FEin anderer Hörer will noch einen Gruß mitschicken:

(Gruß und Unterschrift D.)

An den Verlag Kurt Wolff(Postkarte. Berlin-Steglitz, Stempel: 31.XII. 1923)

Sehr geehrter VerlagUnter dem 4. 1. M. schrieben Sie mir, daß eine Büchersendung für mich schon unterwegs sei.Heute sind fast 4 Wochen vergangen, ich habe aber noch nichts bekommen. Wären Sie sofreundlich nachforschen zu lassen, was mit der Sendung geschehen ist.Hochachtungsvoll

F KafkaBerlin-Steglitz, Grunewaldstraße 13 (bei Seifert)

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1924

An Max Brod(Berlin-Steglitz, Mitte Januar 1924)

Lieber Max, zuerst schrieb ich nicht, weil ich krank war (hohes Fieber, Schüttelfrost und alsNachkrankheit ein einziger ärztlicher Besuch. für 160 Kronen, D. hat es dann später auf die Hälftehinuntergehandelt, jedenfalls habe ich seit dem zehnfache Angst vor Krankwerden, ein Platzzweiter Klasse im jüdischen Krankenhaus kostet 64 Kronen pro Tag, womit aber nur das Bett unddie Kost bezahlt ist, also wohl weder Bedienung noch Arzt), dann schrieb ich nicht, weil ichglaubte, daß Du auf der Durchreise nach Königsberg Berlin passierst, übrigens sagte damals auchE., daß Du in drei Wochen kommst, um bei ihrem Vorsprechen dabei zu sein, und als auch danndiese Meinung vorüber war (wie ist Königsberg ausgefallen? Daß man gegen Bunterbart ablehnendist, den ich nun schon endlich gern lesen möchte, muß noch nichts Schlimmes sein, bei Klarissawar es doch anfänglich auch so, freilich, Klarissa hätte dem zweiten Stück den Weg machensollen), als also auch das vorüber war und Deine Herreise so weit verschoben ist, daß man mit E. -ich weiß nicht, wie sie sich diesmal verhält, - seufzen könnte, schrieb ich nicht wegen leichterSinnestrübung, verursacht durch Verdauungsbeschwerden u. dgl. Jetzt aber hat mich Deine Kartegeweckt. Natürlich werde ich bei E. in der Grenze meiner Kräfte und Geschicklichkeit alles zumachen versuchen, wenn auch die Gegnerschaft der alten, offenbar ebenso launischen wiehartköpfigen Dame, der es auch an Sinn für Intriguen nicht zu fehlen scheint, immerhin etwasbedeutet. Mir kommt zuhilfe und schadet mir allerdings auch etwas, daß ich mich eigentlich freue,E. und ihre Sache auf dem Gebiet der Schauspielerei zu haben, das mir nicht so ganz unzugänglichist, wie die Kehlkopf � Brust - Zungen- Nasen - und Stirngeheimnisse, aber mein Wort verliertdadurch an Wert, wenn es sonst irgendwelchen gehabt haben sollte. Das Haupthindernis ist abermeine Gesundheit, heute war z.B. ein telephonisches Gespräch mit E. vereinbart, ich kann abernicht gut in das kalte Zimmer hinübergehn, denn ich habe 37.7 und liege im Bett. Es ist nichtsbesonderes, ich habe das öfters ohne weitere Folgen, der Wetterumschlag mag auch daran beteiligtsein, morgen ist es voraussichtlich vorüber. Immerhin ist es ein schweres Hindernis derBewegungsfreiheit und außerdem schwebt die Ziffer des ärztlichen Honorars in feurigenBuchstaben über meinem Bett. Vielleicht werde ich aber doch morgen vormittag in die Stadt zurHochschule fahren und mich bei E. aufhalten können, sie immerfort herausschleppen bei diesemWetter, - sie scheint auch ein wenig verkühlt zu sein - geht auch nicht gut. Ferner habe ich denPlan, E. vielleicht mit der Rezitatorin Midia Pines, von der ich Dir einmal erzählte,zusammenzubringen. Sie kommt für ein paar Tage nach Berlin, wird im Graphischen KabinettNeumann einen Vortrag haben (sie spricht auswendig die Lebensgeschichte des Einsiedlers aus denBrüdern Karamasow) und mich wahrscheinlich besuchen. Vielleicht wird das auf E. eine guteexemplifikatorische Wirkung haben, die Pines ist auch Sprachlehrerin, ein junges Mädchen. Undvorsprechen werde ich mir natürlich von E. sehr gerne lassen, habe sie auch schon längst ausaufrichtigem Herzen darum gebeten (schon nur um Verse von Goethe nach langer Zeit zu hören),nur die äußern Umstände haben es bisher verhindert, zu denen auch gehört, daß wir aus unsererwunderschönen Wohnung am 1. Feber, als arme zahlungsunfähige Ausländer vertrieben werden.Du hast recht, an das »warme satte Böhmen« zu erinnern, aber es geht doch nicht gut, ein wenig istman doch festgerannt. Schelesen ist ausgeschlossen, Schelesen ist Prag, außerdem hatte ich Wärmeund Sattheit 40 Jahre und das Ergebnis ist nicht für weitere Versuche verlockend. Schelesen wäreauch mir und wahrscheinlich auch uns zu klein, auch habe ich mich an das »Lernen« nicht etwagewöhnt, abgesehen davon daß es gar kein Lernen ist, sondern nur eine formale Freude ohneUntergrund, aber einen Mann, der etwas von den Dingen versteht, in der Nähe zu haben, würde mireine gewisse Aufmunterung bedeuten, es würde sich mir wahrscheinlich mehr um den Mann als umdie Dinge handeln. Jedenfalls wäre das in Schelesen nicht möglich, aber vielleicht wirklich - das

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fiel mir bei Deiner Bemerkung ein - in irgendeiner böhmischen oder mährischen Landstadt, ichwerde darüber nachdenken. Wäre das Wesen nur nicht so hinfällig, man könnte ja die Erscheinungfast aufzeichnen: links stützt ihn etwa D.; rechts etwa jener Mann; den Nacken könnte ihm z.B.irgendein »Gekritzel« steifen; wenn jetzt nur noch der Boden unter ihm gefestigt wäre, derAbgrund vor ihm zugeschüttet, die Geier um seinen Kopf verjagt, der Sturm über ihm besänftigt,wenn das alles geschehen würde, nun, dann ginge es ja ein wenig. Ich dachte auch schon an Wien,aber zumindest 1000 Kronen für die Reise ausgeben, (ich sauge sowieso meine, ganz entzückendsich verhaltenden Eltern aus, neuerdings auch die Schwestern) überdies Prag passieren undaußerdem ins Unsichere fahren ist zu riskant. So ist es vielleicht doch ganz vernünftig noch einWeilchen hier zu bleiben, umsomehr als die schweren Nachteile Berlins immerhin eine erfreulicheund erzieherische Wirkung haben. Vielleicht fahren wir dann einmal gemeinsam mit E. von hierweg. - Alles Gute, besonders zum Roman, zu dem Du, wie ich höre, endlich zurückkehren willst.

Dein F.

Dank für das Liebesgabenpaket. Wir haben uns ein wenig geschämt, es zu behalten, der Inhalt warauch nicht sehr verlockend, wenn auch allen Lobes wert, D. hat einen großen Kuchen backen lassenund ihn in das jüdische Waisenhaus getragen, wo sie voriges Jahr Näherin war. Für die Kinder, diedort ein bedrücktes freudloses Leben führen, soll es ein großes Ereignis gewesen sein. Ich habe, umDich nicht mehr damit zu belästigen, einige Adressen meiner Schwester Elli geschickt, sie sollenalle beschickt werden.

Letzthin war Kaznelson mit Frau bei mir. Frau Lise sagte, ihre Mutter hätte Dich Weihnachten inBodenbach gesehn; ob Du hier warst? Nein sagte ich. Sofort, schlagfertig, wie von Dir souffliert,sagte Kaznelson: »Wahrscheinlich ist er nach Zwickau gefahren.« Er kam mir in diesemAugenblick geradezu verdächtig vor.

Dora kennt Manfred Georg aus Breslau gut (er ist jetzt in Berlin) und wäre neugierig, ein paarUrteilsworte von Dir über ihn zu hören. Du kennst ihn doch, wenn ich nicht irre, und wenn ichweiters nicht irre, ist der Aufsatz über Dich in dem Sammelbuch von ihm.

Sehr schön, sehr aufmunternd, kraftgebend und mehrmals zu lesen ist das, was Du überWerfelschreibst. Aber warum heroisch, Eher genießerisch, nein doch heroisch, heroisches Genießen. Wärenur nicht der Wurm in allen Äpfeln der eigentliche Genießer.

Schön, schön das Theater Poiret. Beschränken wir uns einmal nur auf diese Aufsätze, was für einSchriftsteller bist Du doch! Wie oft habe ich schon den Aufsatz über Musorgski gelesen (und kannden Namen noch immer nicht schreiben), etwa als ein Kind, das sich am Pfosten der Saaltür festhältund in ein großes fremdes Fest hineinschaut.

Kennst Du die »Feuerprobe« von Weiss, ich habe sie nun schon wochenlang, ich habe sieeineinhalbmal gelesen, sie ist prachtvoll und noch schwieriger als alles andere, obwohl sie sehrpersönlich sein will und in Drehungen und Windungen freilich auch wieder nicht sein will. Ichhabe ihm noch gar nicht gedankt, solche Lasten habe ich einige auf dem Gewissen. Um sie einwenig von mir abzuwälzen: hast Du schon über »Nahar« geschrieben?

Grüß bitte vielmals Felix und Oskar von mir (von Kayser habe ich nichts weiter gehört und werdewohl auch nichts mehr hören).

Weißt Du etwas von Klopstock? Ist im Abendblatt etwas von ihm erschienen?

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An Robert Klopstock(Postkarte. Berlin-Steglitz, Stempel: 26.1. 1924)

Lieber Robert, ich vermutete Sie noch immer in B., erst aus einem Brief von Max erfuhr ich, daßSie schon in Prag sind, auch von vier Übersetzungen schrieb er, die von Ihnen erschienen sind undvon denen ich nichts wußte. Auch schicken Sie nur keine mehr zur Durchsicht; wer hat die Arbeitweggenommen? Inzwischen war Irene hier und hat ein wenig von Ihnen erzählt; was war das füreine Prüfung, die Sie ihr gegenüber Weihnachten als gut bestanden erwähnten? Bei Midia war ichnicht, abend habe ich fast immer Temperaturerhöhung, bei solchen Gelegenheiten geht dann immerder »andere Schüler«, er war entzückt von Midia. Von mir ist wenig zu erzählen, ein etwasschattenluftes Leben, wer's nicht geradezu sieht, kann nichts davon merken. Augenblicklich habenwir Wohnungssorgen, eine Überfülle von Wohnungen, aber die prachtvollen ziehn unerschwinglichan uns vorüber und der Rest ist fragwürdig. Wenn man etwas verdienen könnte! Aber für Bis-zwölf-im-Bett-Liegen gibt hier niemand etwas. Ein Bekannter, ein junger Maler, hat jetzt einenschönen Beruf, um den ich ihn schon manchmal beneidet habe, er ist Straßenbuchhändler, gegenzehn Uhr vormittag bezieht er den Stand und bleibt bis zur Dämmerung; und es gab schon zehnGrad Frost und mehr. Um die Weihnachtszeit verdiente er zehn Mark täglich, jetzt drei bis vier.

An Felix Weltsch(Postkarte. Berlin-Steglitz, Stempel: 18.1. 1924)

Lieber Felix, ich schreibe Dir zwar (aus Angst, die Selbstwehr könnte einmal ausbleiben, sie, die sopünktlich jetzt immer kommt, die Treueste der Treuen in Pünktlichkeit und Inhalt, zu demUnpünktlichsten der Abonnenten) immer nur wenn ich übersiedle, aber die Korrespondenz hat auchso Anlage, lebhaft zu werden. Am 1. Feber (also schon für die nächste Nummer) ist meine Adresse:Berlin-Zehlendorf, Heidestraße 25-16, bei Frau Dr. Busse. Ich tue vielleicht Unrecht (und bin schonvon vornherein durch die entsetzlich hohe, für die Wohnung zwar gar nicht ungebührliche, für michaber in Wirklichkeit unerschwingliche Miete gestrafft), in das Haus eines toten Schriftstellers zuziehn, des Dr. Carl Busse (1918 gestorben), der zumindest zu Lebzeiten gewiß Abscheu vor mirgehabt hätte. Erinnerst Du Dich vielleicht an seine monatlichen Sammelkritiken in Velhagen &Klasings Monatsheften? Ich tue es trotzdem, die Welt ist überall voll Gefahren, mag diesmal ausdem Dunkel der unbekannten noch diese besondere hervortreten. Übrigens entsteht merkwürdigerWeise selbst in einem solchen Fall ein gewisses Heimatsgefühl, welches das Haus verlockendmacht. Verlockend macht allerdings nur deshalb, weil ich in meiner bisherigen schönen Wohnungals armer zahlungsunfähiger Ausländer gekündigt worden bin.Herzliche Grüße Dir und den Deinen

An Lise Kaznelson(Postkarte. Berlin-Steglitz, Ende Januar 1924)

Liebe Frau Lise, bitte, nicht böse sein, daß ich den Dank für Ihre Sendung gleich mit derErinnerung an meine kleine Buchhändlerin verbinde. Es ist so hübsch Wohltäter zu sein und es istso leicht (man bittet bloß jemanden zu telephonieren und läßt weiter Dr. Kaznelson bitten beiBuchhändlern nachzufragen) und da es so leicht ist, hat - man keine Lust damit aufzuhören undquält die Mitmenschen, die sich quälen lassen. Aber nun verspreche ich, wenn Dr. Kaznelson sogut sein will und mir über den letzten Versuch, den er noch machen wollte, Auskunft gibt, fürdiesmal mit dem Wohltun aufzuhören. Jedenfalls herzlichen Dank Ihnen beiden.Grüße den Ihrigen

K.Meine Adresse ist vom 1. Feber ab Berlin-Zehlendorf Heidestraße 25-26, bei Frau Dr. Busse.

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An Ludwig Hardt(Berlin-Zehlendorf, Anfang Februar 1924)

Mein lieber Ludwig Hardt, vielen Dank für das Telegramm, »im Geister-Saal« lesen Sie, heißt esdort, nicht ohne Verstand. Nun so ich von Berlin auch bin, so fern doch nicht, daß ich von denVorträgen nicht auch ohne Telegramm gewußt hätte, nur leider, nur leider, ich kann nicht kommen.Nicht nur, weil ich heute nachmittag übersiedelt bin mit dem ganzen Krimskrams der mächtigenWirtschaft, die ich führe (die war noch einfach genug dank der Hilfe der freundlichenÜberbringerin Frl. R. F.), sondern vor allem deshalb weil ich krank bin, fiebrig und die ganzenBerliner vier Monate abends nicht aus dem Hause war. Aber könnte ich Sie hier in Zelllendorfeinmal sehn nach so langer Zeit? Zum morgigen Abend kommt ein Frl. Dora Diamant, um dieseMöglichkeit mit Ihnen zu besprechen. Leben Sie wohl und Segen über Ihren Abend.

K.

An Ludwig Hardt(Berlin-Zehlendorf, Anfang Februar 1924)

Lieber Ludwig Hardt, eben bekomme ich den Bericht einer Unglücklichen: der Portier hat dieFrage, ob Hardt schon angekommen sei, mißverstanden und ihn selbst zum Telephon gerufen; ichvermehre das Unglück durch die Erinnerung daran, daß H. vor dem Vortrag zu schlafen pflegt (wasdoch wahr ist), tröste dann aber wieder damit, daß H. nichts stören kann (was doch noch wahrerist). Nicht einmal ein geschwätziger Brief am Schluß eines Vortragsabends. Jetzt aber kurz: ichkann nicht kommen, bin krank, schickte schon gestern einen Brief durch eine Besucherin desabgesagten Vortrags. Können Sie vielleicht einmal herauskommen, damit ich Sie einmal sehe nachso langer Zeit sehr Erfreuliches werden Sie hier nicht zu sehen bekommen, immerhin �Frl. Dora Diamant, die Überbringerin, hat die Vollmacht und mehr als das, die Möglichkeit derZehlendorfer Reise zu besprechen. Wird es möglich sein?

Ihr K.

An Robert Klopstock(Berlin-Zehlendorf: Stempel: 29. 11. 1924)

Mein lieber Robert, es geht nicht, ich kann nicht schreiben, kann Ihnen kaum danken für alles Gute,womit Sie mich überhäufen (die prachtvolle Chokolade, die ich erst vor ein paar Tagen bekam odervielmehr, um die Wahrheit nicht zu verschleiern, die wir bekamen und dann die Fackel, mit der ichdie Ihnen schon bekannten entnervenden Orgien abendlich getrieben habe, einmal während derOnkel und Dora entzückt, anders wohl entzückt als ich, bei einer Krausvorlesung waren) und unterwelchen die Geschenke noch das Geringste sind. Zwei angefangene Briefe und eine Karte treibensich schon längst irgendwo in der Wohnung herum, Sie werden sie nie bekommen. Letzthin suchteich Ihren vorletzten Brief, konnte ihn nicht finden,nun fand er sich in einem hebräischen Buch, indem ich ihn aufgehoben hatte, weil ich in dem Buch täglich ein wenig las, nun aber hatte ich esschon einen Monat lang nicht aufgemacht, in der Hochschule war ich noch länger nicht. Hierfreilich draußen habe ich es sehr schön, werde aber wohl fortmüssen. Sehr schade, daß es auchIhnen nicht sehr gut geht, das ergibt dann keinen Ausgleich. Es ist mir unbegreiflich, wovon Sieleben. Zahlt wenigstens S.? Und gibt die Mensa Karten? Sehr unrecht, daß Sie den Auftrag für D.durchtrieben haben. Aufträge machen uns glücklich. - Ihre Gesundheit scheint trotz aller Plage -fassen wir das Zarte zart an - wenigstens nicht allzu schlecht zu sein. Mit diesem Besitz läßt es sichdoch vorwärts gehn. Leben Sie recht wohl

Ihr F

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An Robert Klopstock(Berlin-Zehlendorf, Anfang März 1924)

Lieber Robert, nein, keine Reise, keine so wilde Tat, wir werden auch ohne das zusammenkommen,auf stillere, den schwachen Knochen entsprechendere Art. Vielleicht - eigentlich denken wirernstlich daran - kommen wir bald nach Prag, käme ein Wiener Waldsanatorium in Betracht, danngewiß. Ich wehre mich gegen ein Sanatorium, auch gegen eine Pension, aber was hilft es, da ichmich gegen das Fieber nicht wehren kann. 38 Grad ist zum täglichen Brot geworden, den ganzenAbend und die halbe Nacht. Sonst, trotzdem, ist es ja sehr schön hier, auf der Veranda zu liegenund zuzusehn, wie die Sonne an zwei der Schwere nach so verschiedenen Aufgaben arbeitet: michund die Birke neben mir zu natürlichem Leben zu wecken (die Birke scheint Vorsprung zu haben).Sehr ungern gehe ich von hier fort, aber den Gedanken ans Sanatorium kann ich doch nicht ganzabweisen, denn da ich wegen des Fiebers schon wochenlang nicht außerhalb des Hauses war, imLiegen mich zwar genug stark fühle, aber irgendwelche Wanderungen noch vor dem ersten Schrittden Charakter der Großartigkeit annehmen, ist manchmal der Gedanke, sich lebend-friedlich imSanatorium zu begraben, gar nicht sehr unangenehm. Und dann doch wieder sehr abscheulich,wenn man bedenkt, daß man sogar in diesen für die Freiheit vorbestimmten paar warmen Monatendie Freiheit verlieren soll. Aber dann ist wieder der stundenlange Morgen- und Abendhusten da unddas fast täglich volle Fläschchen, - das arbeitet wieder für das Sanatorium. Aber dann z. B. wiederdie Angst vor den dortigen, schrecklichen Essenspflichten.Nun kam Ihr späterer Brief, Sie stimmen also zu, oder nur gezwungen? Es freut mich, daß Sie sichkorrigieren und den Onkel nicht mehr einfach als »kalten Herrn« ansehn. Wie könnte auch Kälteeinfach sein? Schon da es wahrscheinlich immer nur eine historisch erklärbare Erscheinung ist,muß sie kompliziert sein. Und dann: was ihn kalt erscheinen läßt, ist wahrscheinlich dies, daß erseine Pflicht erfüllt und das »Junggesellen-Geheimnis« hütet.An Ihre Erzählungen von dem kranken Mädchen erinnere ich mich wohl. War sie es nicht, in derenTräumen auch Abraham umging? Viel habe ich an Sie gedacht beim Lesen von HolitschersLebenserinnerungen, sie erscheinen in der »Rundschau«, die zweite und dritte Fortsetzung habe ichgelesen. Zwar ist zwischen Ihnen und ihm gar keine unmittelbare Beziehung festzusfellen, als ebenUngarn und das uns allen gemeinsame Judentum, aber ich halte mich gern an Örtlichkeiten fest undglaube aus ihnen mehr zu erkennen als sie zeigen. Übrigens hat H. seiner Meinung nach gar keinUngartum in sich, er ist nur Deutscher, von solchen Budapestern haben Sie mir kaum erzählt. Sehrschön in den Erinnerungen das Auftauchen Verlaines, das Auftauchen Hamsuns. Mitbeschämendfür ihn und den Leser die besondere Art seiner Judenklage. So wie wenn man in einer Gesellschaftstundenlang die Elemente eines gewissen Leids erörtert und weiterhin ihre Unheilbarkeit unterallgemeiner Zustimmung festgestellt hätte und nachdem alles fertig ist, fängt einer aus der Eckeüber eben dieses Leid jämmerlich zu klagen an. Und doch schön, aufrichtig bis zu groteskerJammerhaftigkeit. Trotzdem, man fühlt: es ginge noch weiter.Bei mir kommen zur Verstärkung des Genusses noch »literarische« Jugenderinnerungen, dasAussaugen der Langenschen Verlagskataloge bis auf den Grund und immer von neuem, weil sieunerschöpflich waren und weil ich die Bücher, von denen sie handelten, meist nicht bekommenkonnte und meist auch nicht verstand. Der Glanz von Paris und von Literatur, der für michjahrelang um Holitscher und die Titel seiner Romane war, und nun klagt der alternde Mann die Notdieser ganzen Zeit aus sich heraus. Er war unglücklich damals, aber man denkt: wäre man docheinmal auch so unglücklich gewesen, man hätte es doch einmal in dieser Art versuchen wollen.Übrigens erklärt dort Hamsun - was offenbar nur um mich zu trösten, aber recht grob undungeschickt erfunden ist -, daß ihm der Winter in Paris sehr zugesetzt habe, sein altes Lungenleidensich wieder melde, er in ein kleines Sommersanatorium oben in Norwegen fahren müsse und daßParis überhaupt zu teuer sei.

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Nun kommt die Davos-Überraschung, wie schwer das alles ist und was für entsetzliche Summenich für mich aus andern werde pressen müssen. Und Sie, Robert, klagen über die 1000 K. Was fürein verwöhnter, selbständiger, freier Edelmann Sie sind.

Nun werden wir unsja wohl sehn, der Onkel schlug mir zwar vor, ich solle von hier direkt nachInnsbruck fahren, ich erklärte ihm aber heute, warum ich es vorziehen würde, über Prag zu fahren.Vielleicht stimmt er zu.

An Robert Klopstock(Postkarte. Sanatorium Wiener Wald, Ortmann,

Nieder-Österreich, Stempel: 7.IV. 1924)Lieber Robert, nur das Medizinische, alles andere ist zu umständlich, dieses aber - sein einzigerVorteil - erfreulich einfach. Gegen Fieber dreimal täglich flüssiges Pyramidon - gegen HustenDemopon (hilft leider nicht) - und Anästesinbonbons: Zu Demopon auch Atropin, wenn ich nichtirre. Hauptsache ist wohl der Kehlkopf. In Worten erfährt man freilich nichts Bestimmtes, da beiBesprechung der Kehlkopftuberkulose jeder in eine schüchterne ausweichende starräugigeRedeweise verfällt. Aber »Schwellung hinten«, »Infiltration« »nicht bösartig« aber »Bestimmteskann man noch nicht sagen« »das in Verbindung mit sehr bösartigen Schmerzen genügt wohl.Sonst: gutes Zimmer, schönes Land, von Protektion habe ich nichts bemerkt. Pneumothorax zuerwähnen hatte ich keine Gelegenheit, bei dem schlechten Gesamtzustand (49 kg inWinterkleidern) kommt er ja auch nicht in Betracht. - Mit dem übrigen Haus komme ich gar nichtin Verkehr, liege im Bett, kann ja auch nur flüstern (wie schnell das ging, etwa am dritten Tag inPrag begann es andeutungsweise zum erstenmal) es scheint ein großes Schwatznest zu sein vonBalkon zu Balkon, vorläufig stört es mich nicht.

An Max Brod(Postkarte. Sanatorium Wiener Wald, Stempel: 9.IV. 1924)

Lieber Max, es kostet und wird unter Umständen entsetzliches Geld kosten, Josefine muß ein wenighelfen, es geht nicht anders. Biete sie bitte Otto Pick an (aus »Betrachtung« kann er natürlichdrucken, was er will), nimmt er sie, dann schicke sie bitte später der »Schmiede«, nimmt er sienicht, dann gleich. Was mich betrifft es ist doch offenbar der Kehlkopf Dora ist bei mir, grüß DeineFrau und Felix und Oskar.

F(Aus einer Nachschrift von Dora Diamant geht hervor, daß der Zustand des Patienten sehr ernst ist.)

An Robert Klopstock(Postkarte. Sanatorium Wiener Wald, Stempel: 13.IV. 1924)

Lieber Robert, ich übersiedle in die Universitätsklinik des Prof. Dr. M. Hajek, Wien IXLazarettgasse 14. Der Kehlkopf ist nämlich so angeschwollen, daß ich nicht essen kann, es müssen(sagt man) Alkoholinjektionen in den Nerv gemacht werden, wahrscheinlich auch eine Resektion.So werde ich einige Wochen in Wien bleiben. Herzliche Grüße

F.Ich fürchte mich vor Ihrem Kodein, heute habe ich das Fläschchen nicht nur schon verbraucht,sondern nehme nur Codein 0.03. »Wie mags drinnen ausschauen?« fragte ich jetzt die Schwester.»Wie in der Hexenküche« sagte sie aufrichtig.

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An Robert Klopstock(Postkarte. Wien, Stempel: 18.IV. 1924)

Robert, lieber Robert, keine Gewalttaten, keine plötzliche Wiener Reise, Sie kennen meine Angstvor Gewalttaten und fangen doch immer wieder an. Seitdem ich aus jenem üppigen, bedrückendenund doch hilflosen (allerdings wunderbar gelegenen) Sanatorium weggefahren bin, geht es mirbesser, der Betrieb in der Klinik (bis auf Einzelheiten) hat mir gut getan, die Schluckschmerzen unddas Brennen sind geringer, es wurde bisher keine Injektion gemacht, nur Menthol-Öl-Bespritzungen des Kehlkopfs. Samstag will ich, wenn kein besonderes Unglück dazwischen fährt,in Dr. Hoffmanns Sanatorium, Kierling b. Klosterneuburg, Niederösterreich.

An Max Brod(Kierling, wahrscheinlich 20. April 1924)

Liebster Max, eben bekomme ich Deinen Brief., der mich ungemein freut, so lange schien es mir,hätte ich kein Wort von Dir gesehn. Vor allem verzeih den brieflichen und telegraphischen Lärm,der meinetwegen rings um Dich gemacht worden ist. Es war zum großen Teil unnötig, vonschwachen Nerven veranlaßt (wie groß ich rede und habe heute schon einigemal grundlos geweint,mein Nachbar ist in der Nacht gestorben) und dann allerdings auch von dem bösen bedrückendenSanatorium im Wiener Wald. Hat man sich einmal mit der Tatsache der Kehlkopftuberkuloseabgefunden, ist mein Zustand erträglich, vorläufig kann ich wieder schlucken. Auch der Aufenthaltim Krankenhaus war nicht so schlimm, wie Du Dir ihn vorzustellen scheinst, im Gegenteil, inmancher Hinsicht war er ein Geschenk. Von Werfel habe ich auf Deinen Brief hin verschiedenessehr Freundliches erfahren : Den Besuch einer ihm befreundeten Ärztin, die auch mit demProfessor sprach, dann hat er mir auch die Adresse des Prof. Tandler angegeben, der sein Freundist, dann hat er mir den Roman (ich war gräßlich hungrig nach einem Euch, das für mich inBetracht kam) und Rosen geschickt, für und obwohl ich ihn hatte bitten lassen, nicht zu kommen(denn Kranke ist es hier ausgezeichnet, für Besucher und in dieser Hinsicht auch für die Krankenabscheulich), scheint er nach einer Karte heute doch noch kommen zu wollen, abend fährt er nachVenedig. Ich fahre jetzt mit Dora nach Kierling.Vielen Dank auch für alle mühseligen literarischen Geschäfte, die Du für mich so prachtvolldurchgeführt hast.Alles Gute Dir und allem, was zu Deinem Leben gehört

FMeine Adresse, die vielleicht von Dora den Eltern undeutlich angegeben wurde:Sanatorium Dr. HoffmannKierling bei Klosterneuburg, Nieder-Österreich

An Max Brod(Postkarte Kierling, Stempel: 28.IV 1924)

Liebster Max, wie gut Du zu mir bist und was ich Dir alles verdanke in diesen letzten Wochen.über das Medizinische wird Dir Ottla berichten. Ich bin sehr schwach, aber hier recht gutaufgehoben. Tandler haben wir bisher nicht in Anspruch genommen, es wäre vielleicht durch ihnein Freiplatz oder ein billiger Platz in dem sehr schön gelegenen Grimmenstein zu erreichen, aberich kann jetzt nicht reisen, vielleicht hätte es auch sonst Nachteile. Dr. Blau werde ich nächstens fürseinen Empfehlungsbrief danken, nicht? Das Freiexemplar ist nur sehr lieb, nur bekomme ich esnicht, bisher habe ich die Nummern von Donnerstag und Freitag bekommen, sonst nichts, auch dieOsternummer noch nicht, die Adresse ist undeutlich, einmal steht Kieburg, sei so lieb und fahrdazwischen, vielleicht könnte man mir auch die Osternummer* noch schicken. Mit den zwei

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Sendungen, besonders mit der zweiten hast Du mir eine große Freude gemacht und dieReclambücher sind wie für mich vorbestimmt. Es ist ja nicht so, daß ich wirklich lese (doch,Werfels Roman lese ich unendlich langsam, aber regelmäßig), dazu bin ich zu müde,Geschlossensein ist der natürliche Zustand meiner Augen, aber mit Büchern und Heften spielenmacht mich glücklich.Leb wohl, mein guter lieber Max

F.* eben bekam ich sie von zuhause, die Zusendung scheint schon in Ordnung zu kommen.

An Max Brod(Postkarte. Kierling, Stempel: 20.V. 1924)

Liebster Max, nun ist also auch noch das Buch da, großartig schon anzusehn, grell gelb und rot mitetwas Schwarz, und sehr verlockend und überdies umsonst, offenbar ein Geschenk der FirmaTaubeles - es muß in irgendeinem Rest des Alkoholrausches - und da ich jetzt jeden Tag ein biszwei Injektionen bekomme, die Räusche sich kreuzen, bleibt immer ein Rest - gewesen sein, daßich Dich, von Doras Unschuld angetrieben, gerade und frech um »Beschaffung« des Buches bat.Hätte ich doch lieber eine kräftige Alkoholinjektion dazu verwendet, während Deines Besuches,auf den ich mich so gefreut hatte und der so trübselig verlief, etwas menschenähnlicher zu werden.Allerdings ein böser Ausnahmstag wars nicht, das mußt Du nicht glauben, er war nur schlechter alsder vorherige, in dieser Art aber geht die Zeit und das Fieber weiter. (Jetzt versucht es Robert mitPyramidon.) Neben diesen und andern Klagedingen gibt es natürlich auch einige winzigeFröhlichkeiten, aber deren Mitteilung ist unmöglich oder eben vorbehalten einen Besuch wie demvon mir so kläglich verdorbenen. Leb wohl, Dank für alles

FGrüß Felix und Oskar.