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PhJb 1/09 / p. 178 / 26.3. BUCHBESPRECHUNGEN Josŗ Luis Cantȓn Alonso (Hg.), Maimȓnides y el Pensamiento medieval. VIII Centenario de la muerte de Maimȓnides. Actas del IV Congreso Nacional de FilosofȄa Medieval, Cȓrdoba, 9–11 de diciembre de 2004, Cȓrdoba: Publicaciones de la Universidad de Cȓrdoba 2007, 463 S., ISBN 978-84-7801- 861-1. Die Beitrȩge zum VIII. Centenarium des Todes von Maimonides (1135/38?-1204) konvergieren zwar in dem einen Gelehrten, der als Philosoph und Theologe gewȱrdigt wird, doch laufen in ihnen verschiedene Interessen zusammen: die Projekte der Stadt Cȓrdoba, die darauf zielen, die geschicht- lichen Kulturen in Al-Andalus und die beeindru- ckende Reihe ihrer Bȱrger (Seneca, Lukan, Albuca- sis, Averroes, Maimonides, Gȓngora) in die aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen einzube- ziehen, das Vorhaben der Sociedad de FilosofȄa Me- dieval und des Philosophischen Instituts der Uni- versitȩt, einen șberblick ȱber die gegenwȩrtige Maimonidesforschung und die spanische Mediȩ- vistik zu geben und schließlich die Kooperation der Ȱrtlichen Institutionen und der zurȱckgekehr- ten Jȱdischen Gemeinden in Spanien als eine Ges- te, die an die lange Zeit der arabisch-christlich- jȱdischen Zusammenarbeit vor 1492 erinnert. Die Themenbereiche sind in drei Sektionen un- terteilt: I. Ponencias (3–110) allgemein ȱber Fragen der Biographie, Medizin, Ethik, SchȰpfungskon- zepte und Kontroversen; II. Comunicaciones (113– 317) ȱber Spezialthemen der Maimonidesfor- schung und schließlich III. Miscelőnea (319–463) ȱber sachlich verschiedene Gebiete mit der Ab- sicht, die Forschungsrichtungen der spanisch-la- teinamerikanischen Mediȩvistik vorzustellen. Fȱr die zitierten Autoren und die behandelten Themen wȩren differenzierte Indices hilfreich, die leider fehlen. Die Hauptvortrȩge (Ponencias) werden von A. Blasco (3–23) mit einer biographischen șber- sicht eingeleitet, die auch die kontroversen Punkte diskutiert: Geburtsjahr, Erziehung, die JuderȄa de Cordoba (an deren Eingang heute die Philosophi- sche Fakultȩt liegt), die Studien (Mathematik, Geo- metrie, Astrologie, Philosophie und Medizin, aller- dings ohne Praxis), die Almohaden (die Christen und Juden gleichermaßen zur Kennzeichnung ihrer Kleidung zwangen), die Flucht nicht in den christlichen Norden, sondern den islamischen Sȱ- den (Fez, Palȩstina) und auf Umwegen nach Fustat in Ȗgypten, dem alten Kairo. Die Werke – arabisch verfasst, aber im hebrȩischen Alphabet geschrie- ben – lassen sich von der Biographie nicht ablȰsen und sind immer auch im Licht der zeitgeschicht- lichen Entwicklungen zu lesen. A. GarcȄa del Moral (25–36) diskutiert die Aufgaben der Medizin im Rahmen der Wissenschaftslehre, die von der Empi- rie ausgeht, aber das Erfahrungswissen stufenweise in logische, anthropologische und theologische Sinndeutungen (Talmud) ȱbersetzt. „El buen mŗdi- co no debe tratar de curar una enfermedad, sino una persona.“ (31) Die rezeptionsgeschichtlichen Phasen, die anfȩnglich Konflikte aufwerfen, aber spȩter in konstruktive Aufarbeitungen ȱbergehen, hat J. Lomba (37–54) untersucht. C. del Valle Rod- riguez diskutiert in einem kurzen, systematisch prȩzisen Beitrag die Ethik, die aristotelisch einsetzt und in ihrer Spitze die Tora-Lehren integriert. Die menschlichen Handlungen sind ȩhnlich den Natur- prozessen final ausgerichtet, doch mit dem Unter- schied, dass sie „frei“ gewȩhlt werden und ein in- tellektives Lebens („Licht im Licht“) intendieren. In den Hauptvortrȩgen zeichnet sich bereits die Per- spektive ab, die fȱr die weiteren Interpretationen leitend bleibt: Maimonides wird vorrangig aus der eigenen jȱdischen Tradition verstanden, dann im Kontext der arabisch-islamischen Welt und erst nachgeordnet aus der Sicht des lateinischen Mittel- alters, das daher zurȱcktritt. Der mittlere Teil der Comunicaciones mit den en- ger gefassten, nicht selten auch eigenwilligen The- menstellungen ist spannend zu lesen und dȱrfte der Forschung neue Impulse geben – ein Effekt, der fȱr Kongressakten nicht untypisch ist. Es lassen sich mehrere Sachgebiete unterscheiden. Die Dis- kussionen ȱber Thomas/Maimonides bewegen sich in Bahnen, die bekannt sind. Daneben aber fȩllt das Interesse auf, das an der Rezeption skeptischer Leh- ren besteht und an Fragen, die vor allem die Epis- temologie, Sprache, Exegese und Prophetie betref- fen. Das Spektrum der Themen ist breit, aber ȱberschaubar. Wie M. Bermȗdez Vősques (141–147) zu Recht bemerkt, ist der philosophische Abstand zwischen F. Sanches und Maimonides derart groß, dass es eher „paradox“ scheint, irgendwelche Parallelen oder Abhȩngigkeiten in Quod nihil scitur zu erwar- Phil. Jahrbuch 116. Jahrgang / I (2009)

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  • PhJb 1/09 / p. 178 / 26.3.

    BUCHBESPRECHUNGEN

    Jos� Luis Cant�n Alonso (Hg.), Maim�nides y elPensamiento medieval. VIII Centenario de la muertede Maim�nides. Actas del IV Congreso Nacional deFilosof�a Medieval, C�rdoba, 9–11 de diciembre de2004, C�rdoba: Publicaciones de la Universidad deC�rdoba 2007, 463 S., ISBN 978-84-7801-861-1.

    Die Beitr�ge zum VIII. Centenarium des Todesvon Maimonides (1135/38?-1204) konvergierenzwar in dem einen Gelehrten, der als Philosophund Theologe gew�rdigt wird, doch laufen in ihnenverschiedene Interessen zusammen: die Projekteder Stadt C�rdoba, die darauf zielen, die geschicht-lichen Kulturen in Al-Andalus und die beeindru-ckende Reihe ihrer B�rger (Seneca, Lukan, Albuca-sis, Averroes, Maimonides, G�ngora) in dieaktuellen gesellschaftlichen Diskussionen einzube-ziehen, das Vorhaben der Sociedad de Filosof�a Me-dieval und des Philosophischen Instituts der Uni-versit�t, einen �berblick �ber die gegenw�rtigeMaimonidesforschung und die spanische Medi�-vistik zu geben und schließlich die Kooperationder �rtlichen Institutionen und der zur�ckgekehr-ten J�dischen Gemeinden in Spanien als eine Ges-te, die an die lange Zeit der arabisch-christlich-j�dischen Zusammenarbeit vor 1492 erinnert.

    Die Themenbereiche sind in drei Sektionen un-terteilt: I. Ponencias (3–110) allgemein �ber Fragender Biographie, Medizin, Ethik, Sch�pfungskon-zepte und Kontroversen; II. Comunicaciones (113–317) �ber Spezialthemen der Maimonidesfor-schung und schließlich III. Miscelnea (319–463)�ber sachlich verschiedene Gebiete mit der Ab-sicht, die Forschungsrichtungen der spanisch-la-teinamerikanischen Medi�vistik vorzustellen. F�rdie zitierten Autoren und die behandelten Themenw�ren differenzierte Indices hilfreich, die leiderfehlen.

    Die Hauptvortr�ge (Ponencias) werden vonA. Blasco (3–23) mit einer biographischen �ber-sicht eingeleitet, die auch die kontroversen Punktediskutiert: Geburtsjahr, Erziehung, die Juder�a deCordoba (an deren Eingang heute die Philosophi-sche Fakult�t liegt), die Studien (Mathematik, Geo-metrie, Astrologie, Philosophie und Medizin, aller-dings ohne Praxis), die Almohaden (die Christenund Juden gleichermaßen zur Kennzeichnungihrer Kleidung zwangen), die Flucht nicht in den

    christlichen Norden, sondern den islamischen S�-den (Fez, Pal�stina) und auf Umwegen nach Fustatin �gypten, dem alten Kairo. Die Werke – arabischverfasst, aber im hebr�ischen Alphabet geschrie-ben – lassen sich von der Biographie nicht abl�senund sind immer auch im Licht der zeitgeschicht-lichen Entwicklungen zu lesen. A. Garca del Moral(25–36) diskutiert die Aufgaben der Medizin imRahmen der Wissenschaftslehre, die von der Empi-rie ausgeht, aber das Erfahrungswissen stufenweisein logische, anthropologische und theologischeSinndeutungen (Talmud) �bersetzt. „El buen m�di-co no debe tratar de curar una enfermedad, sinouna persona.“ (31) Die rezeptionsgeschichtlichenPhasen, die anf�nglich Konflikte aufwerfen, abersp�ter in konstruktive Aufarbeitungen �bergehen,hat J. Lomba (37–54) untersucht. C. del Valle Rod-riguez diskutiert in einem kurzen, systematischpr�zisen Beitrag die Ethik, die aristotelisch einsetztund in ihrer Spitze die Tora-Lehren integriert. Diemenschlichen Handlungen sind �hnlich den Natur-prozessen final ausgerichtet, doch mit dem Unter-schied, dass sie „frei“ gew�hlt werden und ein in-tellektives Lebens („Licht im Licht“) intendieren. Inden Hauptvortr�gen zeichnet sich bereits die Per-spektive ab, die f�r die weiteren Interpretationenleitend bleibt: Maimonides wird vorrangig aus dereigenen j�dischen Tradition verstanden, dann imKontext der arabisch-islamischen Welt und erstnachgeordnet aus der Sicht des lateinischenMittel-alters, das daher zur�cktritt.

    Der mittlere Teil der Comunicacionesmit den en-ger gefassten, nicht selten auch eigenwilligen The-menstellungen ist spannend zu lesen und d�rfteder Forschung neue Impulse geben – ein Effekt,der f�r Kongressakten nicht untypisch ist. Es lassensich mehrere Sachgebiete unterscheiden. Die Dis-kussionen �ber Thomas/Maimonides bewegen sichin Bahnen, die bekannt sind. Daneben aber f�llt dasInteresse auf, das an der Rezeption skeptischer Leh-ren besteht und an Fragen, die vor allem die Epis-temologie, Sprache, Exegese und Prophetie betref-fen. Das Spektrum der Themen ist breit, aber�berschaubar.

    Wie M. Bermdez V�sques (141–147) zu Rechtbemerkt, ist der philosophische Abstand zwischenF. Sanches und Maimonides derart groß, dass eseher „paradox“ scheint, irgendwelche Parallelenoder Abh�ngigkeiten in Quod nihil scitur zu erwar-

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    ten. Was k�nnte Sanches, der die aristotelischeWissenschaftslehre kritisiert, schon an Maimoni-des interessant gefunden haben, der konstant aufAristoteles zur�ckgreift? Die hermeneutischenProbleme beginnen damit, dass Sanches die Schrif-ten des Maimonides nicht zitiert, was zwar nichtausschließt, dass indirekte oder paraphrasierte�bernahmen oder Affinit�ten vorliegen, auf dieder Vf. abhebt. Aber aus den angezogenen Stellen(oder „Analogien“) l�sst sich nicht viel ableiten,wohl nur die allgemeine Einsicht, dass beide Auto-ren, wenngleich verschieden, aus der „gemein-samen Quelle“ der j�dischen Tradition sch�pfen.Dass man bei Maimonides dennoch antike skepti-sche Traditionen findet, zeigt der gelehrte Beitragvon M. Gonz�les Fern�ndez (229ff.). Die Vorlagen(�nesidemus) werden nur indirekt, aus dem ara-bischen Vulg�rskeptizismus und von den Mutaka-limun �bernommen, gegen die sich Mainomides(in der Nachfolge Galens) wendet. Die hermeneuti-sche Verarbeitung ist interessant, denn die Skepsisscheint gewissen Problemen der Bibelexegesevergleichbar („otro tipo de ‚dudas‘ y ‚perplejida-des‘“, 241). Es handelt sich um die schwierigenSchrifttexte, die keine begriffliche Analyse zulas-sen und daher „allegorisch“ auszulegen sind. �hn-lich wie die Skepsis nimmt auch die Allegorie un-terschiedliche Bedeutungen eines Sachverhaltesan, die aber verbunden bleiben: „‚dos caras‘ […]del mismo“ (241). C. L. Ra�a Dafonte (293ff.) gehtden Techniken dieser Hermeneutik (ars interpretan-di) imDetail nach.Mehrere Autoren (F. Asensio G�-mez, 121ff., M. M. Brito Martins, 157 ff., E. For-ment, 187ff. u. I. Murillo, 265ff.) behandeln dienicht ganz unbekannten R�ckgriffe des Aquinatenauf Maimonides (Sprachphilosophie, Providenz,Staatstheorie, Ethik, Freiheit). Der Beitrag vonG. Burlando Bravo (169ff.) f�hrt thematisch weiter.Die tradierte, auf Boethius zur�ckgehende These,dass das „ewige Gesetz“ (lex aeterna) im „ewigenSein“ des Sch�pfers fundiert sei, wird von der Au-torin sozusagen als Aufh�nger genommen, um diescholastischen Diskussionen zu verfolgen, die da-nach fragen, ob die „Ewigkeit“ (aeternitas) prinzi-piell zeitlos zu denken sei oder ob man in ihr docheine temporale Sukzession annehmen kann („prin-cipio de admisibilitad“). Die Wendung, die sich be-reits bei Mainonides ank�ndigt und mit weiterenThemenkreisen (Sch�pfung, Kontingenz) verbun-den wird, f�hrt in der Sp�tscholastik auf L�sungen,die eine temporale Dauer des Ewigen zulassen. Dasheißt, dass „Zeit“ und „Sein“, wie etwa bei Suarez(182f.), vermittelbar scheinen, wobei der Hinweisauf Heidegger, der diese Tradition kannte, durch-aus konsequent ist. J. M. Ayala (133ff.) gibt eine

    Strukturanalyse der „Prophetie“ und unterstreicht,dass Maimonides die tradierte Lehre der Intellekt-stufen theologisch weiter verarbeitet. Die Beitr�ge�ber die Aufgaben der Philosophie (C. Gallegos D-az, 201 ff.) und die Gr�nde des B�sen (F. Tauste Al-coer, 301f.) sind eher allgemein. – Dagegen rekons-truiert F. Valladolid Bueno (309ff.) subtil diehermeneutische Perspektive, unter der Leo Strauss(1899–1973) Maimonides liest: „un pensador judoleyendo a otro fil�sofo judo“. �ber die Aufdeckungvon „Grundwahrheiten“ („de siempre“) scheint esm�glich, geschichtliche, politische und auch reli-gi�se Differenzen als Differenzen zu verstehen.„Maim�nides se le presenta a Strauss como quienmejor le permite captar la diferencia entre Atenas yJerusal�n.“ (313) In dieser Hinsicht lassen sichKonflikte wenn auch nicht faktisch l�sen, aberdoch gedanklich unterlaufen – was nicht nichts ist.

    F�r Kongressakten ist es zwar nicht �ber-raschend, doch auch nicht uninteressant, dass sichin ihnen verschiedene Stilformen der Forschungbegegnen und herausfordern. Der Beitrag, der inmethodischer Hinsicht eine deutlich andere Hand-schrift zeigt, stammt von A. Quero-S�nchez: Deusnon eget alio extra se ad firmitatem (Dux neutro-rum, I, 62). La interpretaci�n del Maestro Eckhartde la tesis de la identidad de essentia y esse de Diosen t�rminos de su doctrina de la Abegescheidenheit(absoluteidad) (279–292). Die Interpretationen set-zen philologisch ein (Textstatus), er�rtern am Leit-faden der Maimondeszitate chronologische Fragen(Opus Tripartitum) und nehmen schließlich die (ty-pisch deutsche) Kontroverse um die Attributions-analogie (J. Koch) und Univozit�tslehre (K. Flasch,B. Mojsisch) auf, wobei allerdings die eigene Posi-tion („m�s bien una doctrina equivocista“, 287)mehr Fragen offen l�sst als beantwortet. Das The-ma, um das es zentral geht, ist rezeptionsgeschicht-licher Art: Eckhart greift auf Maimonides zur�ck(Dux neutrorum I, 62; ed. Giust.), der in der Exegesevon e

    ,h˙y� a

    ,sch�r e

    ,hy� (Ex. 3.14) auch den Gottes-

    namen shaddai anf�hrt und ihn als Selbstsuffi-zienz versteht – eine Deutung, deren fernes Echo�brigens noch in Spinozas Definition der „Sub-stanz“ zu vernehmen ist. Die scholastische Erkl�-rung von Ex. 3, 14 (Exodus-Metaphysik) geht be-kanntlich davon aus, dass „Sein und Wesen“ inGott eins seien. Eckhart verschr�nkt beide Gottes-namen derart, dass in der sufficientia (shaddai) dasWesen von sum qui sum fassbar wird (In Exod.n. 20; n. 155 f.). Der Vf. macht zu Recht darauf auf-merksam, dass diese Deutung nicht thomasisch ist,„sino m�s bien que Dios es el ser absoluto“ (289).Die Annahme wird durch die Interpretation der„Abgeschiedenheit“ als „absoluteidad“ gest�tzt

    Buchbesprechungen 179

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    und �ber exegetischen „Erweiterungen“ (bereits inSein als Freiheit1) ausgef�hrt. Allerdings bliebehier fragen, ob es nicht ertragreicher, auch herme-neutisch leichter zu rechtfertigen w�re, den Gedan-ken der Selbstsuffizienz Gottes (essentia sufficit si-bi) in engerem Bezug auf die Details zu diskutieren.Eckhart selbst verweist im Text auf die perfectioGottes (n.20) und dann – mediate et quasi indirecte– darauf, dass das Wesen Gottes zum Sein gen�gt(sufficit ad esse), aber auch zum Wissen, Wollen,K�nnen et universaliter ad omnia (n. 156). Im Hin-tergrund und als Negativfolie, doch stets mit Bezugauf Maimonides, taucht das Geschaffene auf, dassich selbst „nicht gen�gt“ und daher als in sich„�berfl�ssig, unn�tig und vergeblich“ eigentlich„abzutun“ w�re (In Gen. I n. 243), doch gerade des-wegen der „Hilfe“ eines Anderen bedarf. Der Bei-trag, der die Maimonides-Rezeption bei Eckhartauf einem hohen philologischen und philosophi-schen Niveau diskutiert, macht deutlich, wie viel-schichtig die scholastischen Transformationen an-gelegt sind.

    Die Artikel der Miscelnea (319ff.) gehen the-matisch �ber Maimonides hinaus. Dabei f�llt dasInteresse f�r Scottus Eriugena (319 ff., 441 ff.) undCusanus (319ff., 349ff.) auf, w�hrend Llullus-Stu-dien �berraschend fehlen. Der Beitrag von J. L.Cant�n Alonso (349–357) �ber die scientia aenig-matica bei Cusanus nimmt De beryllo als Text-grundlage (n. 7; 9, 8 ff.). Bekanntlich arbeitet Cusa-nus mit mathematischen und optischen Entw�rfen,die als Modelle (genauer als „�hnlichkeiten von�hnlichkeiten“) einf�hrt werden. Die ontologischeVoraussetzung der scientia aenigmatica liegt darin,dass alles, was ist, im Anderen anders als in sich ist(n.5; 7, 2) und daher nur in „�hnlichkeiten“ seinerselbst erkannt werden kann. Der Beryll dient alseine dieser �hnlichkeiten, ein Modell, das exempli-fiziert, wie der Intellekt (als beryllus intellectualis)in den geschaffenen Dingen als den sichtbarenGleichnissen den unsichtbaren Ursprung derSch�pfung – die Einheit – schaut. Der Geist erfasstdiese Einheit als eine Gegenst�ndlichkeit, die insich ununterschieden ist (una nueva objetividad),im Innen erfahren wird (el ante m� es al mismotiempo en m�) und dennoch – mit Bezug auf Deberyllo, n. 7 (9, 8–13) – als indexikalisches Zeichen(„no es representativa sino indicativa“) die Koinzi-denz des Gegens�tzlichen als „absolutamente otro“(356) vermittelt. Damit ist die Grenzlinie zwischenscientia und aenigma bezeichnet, die Cusanus imintellektiven Einsehen (intellectus) bekanntlich�berschreitet. Die Autoren nach ihm werden diesen�berstieg nicht mehr nachvollziehen, sondern beider kontrollierbaren Verstandeserkenntnis (ratio)

    stehen bleiben, die dann zum Leitfaden der Moder-ne wird.

    Aber gerade diese Option ist keineswegs exklu-siv modern, sondern leitet sich aus �lteren Tradi-tionen her, die bis auf Aristoteles und Platon zu-r�ckgehen. F�r Maimonides, der sich selbst indiese �berlieferung einreiht, ist die Vernunft dieeinzige Instanz, die eine Chance hat, in den politi-schen Konflikten und den nicht selten fanatischenAuseinandersetzungen der Kulturen und Religio-nen ausgleichend zu vermitteln. Nahezu alle Bei-tr�ge heben denMut, aber auch die Fragilit�t diesesUnternehmens hervor. Hier, noch vor den Lehrst�-cken, die in die Rezeptionsgeschichte eingehen undauch weiterhin zu den Aufgaben der philosophi-schen und theologischen Forschung geh�ren wer-den, d�rfte das eigentliche Erbe des Maimonidesliegen. „En este contexto la recepci�n de Maim�ni-des se traduce en la m�xima – ciertamente, pruden-te, cauta, paciente – que nos exhorta a resistimos adar por perdida la raz�n.“ (XII)

    Klaus Hedwig (Kerkrade/NL)[email protected]

    James T. Robinson, Samuel Ibn Tibbon’s Commen-tary on Ecclesiastes. The Book of the Soul of Man(= Texts and Studies in Medieval and Early ModernJudaism 20), T�bingen: Mohr Siebeck 2007, 660S., ISBN-13: 978-3161490675.

    Dass die mittelalterliche j�dische Philosophieaus weit mehr Werken und Autoren als dem „F�h-rer der Unschl�ssigen“ von Moses Maimonidesbesteht, l�sst sich nicht nur an Colette Sirats Ge-schichte der j�dischen Philosophie des Mittelalters,sondern inzwischen auch an der wachsenden Zahlan Editionen und/oder �bertragungen aus diesemBereich ablesen. Nicht alle sind gelungen, das hierzu besprechende Buch jedoch sehr wohl. Dass Wer-ke j�discher Philosophen lange Zeit unbemerkt ge-blieben sind, mag viele Ursachen haben, die gra-vierendste d�rfte die fehlende Sprachkenntnissein. Aber auch die Genreformen sind andere. Soist der eigenst�ndige philosophische Traktat eherdie Ausnahme, dagegen sind Exkurse in religions-gesetzlicher Literatur, Superkommentare (z.B.Kommentare zu einzelnen Kommentaren des Aver-roes zu Werken des Aristoteles oder Kommentarezu Kommentaren zu einzelnen Kommentaren des

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    1 Vgl. Quero-S�nchez, A. (2004), Sein als Freiheit.Die idealistische Metaphysik Meister Eckharts undJohann Gottlieb Fichtes, Freiburg/M�nchen.

    Phil. Jahrbuch 116. Jahrgang / I (2009)

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    Averroes zu Werken des Aristoteles) oder aber Bi-belkommentare, insbesondere zu den Salomo zu-geschriebenen biblischen B�chern, der Ort f�r dieAusformulierung philosophischer Gedanken. Letz-teres ist auch der Fall bei Samuel ibn Tibbon, derdas Buch Qohelet (Prediger) kommentierte.

    Samuel ibn Tibbon (ca. 1165–1232) ist Sohn des�bersetzers Judah ibn Tibbon (ca. 1120–1190), demBegr�nder der �bersetzerdynastie der Tibboniden,die vom 12. bis zum 14. Jahrhundert in S�dfrank-reich wirkten. Samuel ibn Tibbon kommt besonde-re Bedeutung deswegen zu, weil er noch zu Lebzei-ten das philosophische Hauptwerk des Maimonidessehr wortgetreu aus dem Judaeo-Arabischen insHebr�ische �bertragen hat und damit das Hebr�i-sche zu einer Wissenschaftssprache formte. Dane-ben �bersetzte er zahlreiche weitere philosophi-sche und naturkundliche Werke ins Hebr�ische,darunter solche von Aristoteles und Averroes (vgl.die �bersicht 7–12). Dass er auch als Philosoph t�-tig war, ist in Fachkreisen zwar bekannt, nun aberwird sein wichtiger philosophischer Bibelkommen-tar in englischer �bersetzung vorgelegt und damiteiner breiteren �ffentlichkeit zug�nglich gemacht.Sein �bersetzer und Herausgeber, James T. Robin-son, lehrt in Chicago und bereitet derzeit auch einekritische Ausgabe des hebr�ischen Kommentartex-tes vor (hierin besteht auch das Hauptmanko dervorliegenden Ausgabe: der nicht vorliegende he-br�ischeText erm�glicht keinenVergleichder�ber-tragung). Die vorliegende Ausgabe ist deutlichzweigeteilt: in Teil 1 (3–141) gibt Robinson eineEinf�hrung, aus der Teile bereits vorab ver�ffent-licht waren, in Teil 2 (145–605) folgt die �berset-zung mit erl�uternden Anmerkungen. Beschlossenwird der Band durch Bibliographie (607–638) undIndizes (639–660).

    In der Einf�hrung gibt Robinson neben einerBiobibliografie Samuels (3–17) eine �bersicht �berQohelet-Kommentare j�discher Autoren vorSamuel (18–23), sowie Aufbau (24–50), theo-logisch-exegetische und philosophische Quellen(51–75 bzw. 76–111) und Methode des Kommentars(112–141). Hier stechen zwei Besonderheiten insAuge: Samuel folgt bis in Formulierungen seinemMeister Maimonides und kommentiert neben demhinter dem Wortsinn liegenden geistigen bzw. me-taphorischen Sinn des Bibeltextes in zahlreichenExkursen alle ihm wichtigen Topoi der Philoso-phie, aber auch weitere Bibeltexte, die f�r sein mai-monidisches System – zu Recht bezeichnet Robin-son Samuel als „the creative epigone parexcellence“ (32) – Relevanz haben. Im Kommentarselbst ist die sehr ungleichgewichtige Kommentie-rung auff�llig. Im ausf�hrlichen Vorwort (150–

    188) erkl�rt Samuel, dass seine Vorg�nger sich aufGrammatik und Worterkl�rung beschr�nkt h�tten,so dass er diese Erkl�rungen voraussetze und sichanderen Fragen widmen k�nne (vgl. 178 n. 37). Esfolgt eine fast hundertseitige Erl�uterung des ers-ten Kapitels von Qohelet (189–282), in die Exkurseu.a. �ber die Funktion des Vorworts eines Philoso-phen, die Methodik des K�nig Salomo und die Rei-hung seiner B�cher (neben dem Prediger das Hohe-lied und die Proverbien), eine Einf�hrung in die(Sprach-)Logik, �ber die Bedeutung von Proverbia1, 1–7 und Genesis 8, 21f. und die Frage nach Phy-sik und Metaphysik eingef�gt sind. Im Vergleichdazu fallen die Kommentare zu den meisten nach-folgenden Kapiteln sehr viel k�rzer aus. Hervor-zuheben ist an dieser Stelle lediglich, dass in dieebenfalls sehr ausf�hrliche Erl�uterung des drittenKapitels (310–440), in der es u.a. um die ber�hmteDefinition von Zeit geht, ein Kommentar zu Psalm49, in dem es um das Ende der Weisheit und denTod geht, eingef�gt ist (vgl. 400–436). Die Aus-f�hrlichkeit des Kommentars der Kapitel 1 und 3mag ihren Grund darin haben, dass sich hier An-kn�pfungspunkte an die Lehre von der Seele erge-ben, die nach Samuel als geschaffene nicht unend-lich sein kann (vgl. 275–280, v. a. 278 f. n. 212).

    Aus dem Angedeuteten d�rfte bereits deutlichgeworden sein, dass Samuel ibn Tibbon nicht beidem Text des biblischen Buches Qohelet stehenbleibt. Vielmehr liest er das Buch als ein philoso-phisch zu interpretierendes Buch, das also in ge-wisser Hinsicht selbst Philosophie ist. Sein Inter-pretament ist der Aristotelismus maimonidischerPr�gung; gleichwohl findet eine R�ckbindung anbiblische Traditionen statt (die von Robinson un-kommentiert angef�hrte Besonderheit, dass andersals bei Maimonides bei Samuel die Figur des Abra-ham keine Rolle spiele (30 Anm. 32) l�sst sichm�glicherweise durch das christliche UmfeldSamuels erkl�ren, in dem die Abrahamskindschaftdie Gotteskindschaft der Kirche gegen�ber Israelbegr�ndet), die durch die zahlreichen Exkurse zueinzelnen Bibelversen und biblischen Theologu-mena ihren Ausdruck findet.

    Es bleibt zu hoffen, dass die gut lesbare �bertra-gung nicht das Schicksal bisheriger j�discher Phi-losophie erleidet und nur innerhalb eines kleinenKreises wahrgenommen wird, denn f�r Philoso-phie- wie auch Theologiehistoriker des 13. Jahr-hunderts im Blick auf die Transformation des Aris-totelismus in einen biblischen Monotheismus istdas Werk ein Muss – eine Entwicklung, die derchristlichen um Jahre voranging.

    G�rge K. Hasselhoff (Essen-Steele)[email protected]

    Buchbesprechungen 181

    Phil. Jahrbuch 116. Jahrgang / I (2009)

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    Giovanni Pico della Mirandola, �ber das Seiendeund dasEine (= PhilosophischeBibliothekBd. 573),Lateinisch-Deutsch, hg. von Paul Richard Blum,Gregor Damschen, Dominic Kaegi, Martin Mulsow,Enno Rudolph und Alejandro G. Vigo, Hamburg:Meiner 2006, LXXXIX + 94 S., ISBN-13: 978-3-7873-1760-8/ISBN-10: 3-7873-1760-0.

    Von dem italienischen RenaissancephilosophenGiovanni Pico della Mirandolla (1463–1494) liegtseit kurzem eine lateinisch-deutsche Fassung sei-ner kurzen, (wahrscheinlich) 1491 verfassten, je-doch erst 1496 postum erschienenen Schrift De en-te et uno in der Philosophischen Bibliothek desFelix Meiner Verlages vor. Die Schrift verdankt sicheiner Anregung des Pico-Freundes Angelo Polizia-nos, der nach einer philosophischen Auseinander-setzung mit dem zum Platonismus neigendenLorenzo de Medici um eine schriftliche Stellung-nahme zum Verh�ltnis zwischen Platon und Aris-toteles erbeten hatte. Pico willigt ein, obwohl ergleich am Anfang der Schrift auf sein großes sichunter Herausarbeitung befindende concordia-Pro-jekt hinweist, in dem er vor hat, das n�mliche The-ma mit viel gr�ßerer Ausf�hrlichkeit zu behandeln.Es ist ein Gl�cksfall, dass Pico in dieser Weise demFreunde entgegengekommen ist, denn von demwegen des fr�hen Todes des Verfassers unvollendetgebliebenen concordia-Projekt selbst ist bekannt-lich nichts direkt �berliefert worden.

    Ausgangspunkt der Schrift ist die anscheinendun�berbr�ckbare Diskrepanz zwischen den Mei-nungen des Platon und Aristoteles �ber das Seien-de und das Eine, insbesondere der von Pico letzt-endlich unterst�tzten These des Aristoteles von derUmfangsgleichheit des Seienden und des Einenbzw. dem Hinweis der Platoniker auf die fun-damentale Verschiedenheit der beiden Begriffe,die sich beispielsweise darin kund tut, dass es etwas(wie Gott und die Materie) gibt, das zwar eins, abernicht seiend ist. Pico argumentiert nun nicht gegenPlaton, sondern gegen eine bestimmte Platondeu-tung. Er anerkennt zwar, dass im Parmenides(141d-e) eine fundamentale Verschiedenheit zwi-schen unum und esse herausgestellt wird, aber denganzen Dialog interpretiert er als eine dialektische�bung ohne jegliche doktrinelle Verpflichtungen;Pico macht zudem auf Stellen im Sophistes (237d)aufmerksam, die im Sinne einer gemeinsamen Be-deutung von unum und esse verstanden werdenk�nnen. Was das Seiende angeht, so versteht PicoAristoteles’ Begriff davon im Sinne von „omneid …, quod est extra nihil“, in welchem Sinne auchdie Platoniker – hier Pseudo-Dionysios – zugebenm�ssen, dass Gott seiend, weil nicht nichts ist. Die

    Herausgeber machen darauf aufmerksam (71), dassAristoteles diesen Begriff des Seienden in der Tatnicht im Zusammenhang eines positiven Ver-gleichs mit dem Einen vertreten hat (man k�nntevermuten, dass Pico die aristotelisch-scholastischeMetaphysik eher als eine konkrete Aristoteles-Stel-le im Sinne hat). Nimmt man aber das Seiende (ens)in einer anderen Bedeutung, n�mlich im Sinne des-sen, was am Sein (esse) teilhat, dann wird manschon sagen k�nnen, dass es etwas gibt, das �berdem Seienden steht, mithin nicht selber Seiendesist, n�mlich das, was selber von sich aus Sein ist.In dieser Weise kann Gott, von dem das Seiendesein Sein hat, und der selber seiner Seinsweise nacheiner ist, als nicht-Seiendes verstanden werden.Diese Unterscheidung zwischen ens und esseschreibt sich eindeutig von der platonisch-thoma-nischen Partizipationsmetaphysik her. Das Interes-sante ist, dass Pico auch diesen Gedanken in deraristotelischen Tradition verankert wissen will, inder Gott als weder unter dem Seienden, das in denzehn obersten Kategorien eingeteilt wird, noch un-ter dem akzidentellen Seienden enthalten verstan-den wird. Der „eine Herrscher“ des Aristoteles (inAnkn�pfung an Homer) stehe, so Pico, �ber das soverstandene Seiende. Insofern dr�cke Aristotelesviel klarer den von den Platonikern vertretenenGedanken von einer Unterscheidung zwischendem Seienden und dem �ber dem Seienden Stehen-den aus. Wenn Pico schon im Umgang mit Platoneine recht eigenwillige Hermeneutik praktiziert,muss man doch mit den Herausgebern (lvi) sagen,dass hier auch Aristoteles f�r eigene Zwecke inter-pretiert, ja platonisiert wird. Und doch weiß Picoauch die Frage zu beantworten, warum die Peri-patetiker – darunter auch die „Parisienses theo-logi“, die, so weit es aus kirchlicher Perspektivegeht, auch Aristoteles folgen (34) – Gott viele Na-men beilegen, die von den Platonikern abgelehntwerden. Geht man von einem in mehreren Stufengegliederten Aufstieg zu Gott aus, dann k�nnenverschiedene Aussagen �ber Gott den entsprechen-den Stufen zugeordnet werden, so dass Gott aufeiner Stufe als „ipsum ens, ipsum unum, ipsum bo-num similiter et ipsum verum“, auf der n�chstenStufe aber dies �berbietend „super ens, super ve-rum, super unum, super bonum“ bezeichnet wer-den kann, was dann alles auf der letzten Stufe�berboten wird, die als ein St�ck negative Theo-logie (Pico kn�pft an Pseudo-Dionysios, Theologiamystica, cap. V an) darauf hinweist, dass wir trotzunserer begrifflichen Anstrengungen eigentlichnie das Wesen Gottes ad�quat werden ausdr�ckenk�nnen. Nachdem Pico das Verh�ltnis zwischenden Ans�tzen des Platon und Aristoteles heraus-

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    gestellt hat, widmet er sich einer eigentlich davonunabh�ngigen Betrachtung der Pr�dikate ens, un-um, verum, bonum, die unterschiedlich im Ge-sch�pf und im Sch�pfer statt haben, welche Ver-schiedenheit sich vor allem auf die von derRichtung des kausalen Verh�ltnisses abh�ngigeReihenfolge der Pr�dikate auswirkt. Dieses viel-leicht am wenigsten �berzeugende Lehrst�ck derganzen Schrift sei hier nicht weiter referiert, nursei darauf hingewiesen, dass Pico hier nicht dieFrage er�rtert, ob die zwei Reihenfolgen etwa aparte rei statt haben oder nur hinsichtlich unsererBegriffs�konomie von Relevanz sind, was eine ty-pisch scholastische Problemstellung gewesen w�re.Eine letzte Wende vollzieht Pico im Abschlusskapi-tel, wo die Transzendentalienlehre mit Fragen derLebensf�hrung in Verbindung gebracht wird, undzwar dahingehend, dass der Mensch, f�hrt er seinLeben nach weltlichen Maßst�ben, seine Einheit,Wahrheit und G�te verliert. Diese Wende, die einerErmahnung zur Gottesimitation gleichkommt,�berrascht sicher auf dem Hintergrund des Obigen,ist aber daf�r v�llig in Einklang mit dem Zentral-motiv von Picos Oratio de hominis dignitate, wo-nach das von sich aus unbestimmte Wesen desMenschen eben durch die Zwischenstellung zwi-schen Tier und Gott gekennzeichnet ist. DerMensch hat die Wahl, in die eine oder in die andereRichtung zu gehen.

    Der lateinische Text reproduziert von kleinerenVerbesserungen sowie der Textgliederung abge-sehen die kritische Ausgabe von Toussaint (1995).Die �bersetzung ist absolut vorz�glich, man weißkaum Wesentliches einzuwenden. An einer Stelle(20–21) tr�gt die �bersetzung jedoch eindeutignicht der in der Tat mit großer Plausibilit�t vor-genommenen Verbesserung der Textvorlage Rech-nung (es geht um den Satz: „Nam sexto – in decemgenera“). Wenn Pico von den Nachfolgern Avicen-nas spricht (44: „a posterioribus Avicennam secu-tis“), sind wohl nicht – so die �bersetzung – seine„Sch�ler“ (45) gemeint, sondern Vertreter der latei-nischen Scholastik, die an Avicenna ankn�pfen.Die Anmerkungen geben sorgf�ltige Auskunft �berPicos ausdr�cklich zitierte Quellen sowie �ber rele-vantes Vergleichsmaterial in von Pico nicht selberin De ente et uno erw�hnten Quellen. Es macht sichhier wie auch in der Einleitung eine dem Leser zuGute kommende Zitierfreude geltend. Aus denscholastischen Quellen Picos wird vor allem auf re-levante Stellen bei Thomas von Aquin hingewie-sen. Weitere scholastische Quellen h�tten wohl he-rangezogen werden k�nnen, bezieht sich Pico dochsowohl in seinen Conclusiones nongentae als auchin der Oratio de hominis dignitate neben Thomas

    von Aquin auch auf Albertus Magnus, Heinrichvon Ghent, Johannes Duns Scotus, Aegidius Roma-nus und Franciscus de Maironis, die Picos Be-griffen nach wohl alle zu den schon genannten„Parisienses theologi“ geh�ren. Eine k�nftige Un-tersuchung k�nnte nachzeigen, ob nicht etwa einVergleich mit der Lehre des Duns Scotus von denreinen Vollkommenheiten f�r das Verst�ndnis vonPicos Aussagen zur schlechthinnigen Vollkom-menheit relevant w�re. Es ist gleichwohl nicht zu�bersehen, dass Pico sich stark an der insbesonderevon Thomas, aber auch – wie von P. O. Kristeller1

    hervorgehoben – von Ficino vertretenen plato-nischen Partizipationsmetaphysik orientiert, diegeradezu als ein Eckpfeiler in der Seinslehre Picoserscheint (vgl. 18: „ens dicatur quod ipsum esseparticipat“; 46: „ens finitum est ens participatum“).

    Die Einleitung analysiert Picos Schrift, situiertsie im zeitgen�ssischen Streit zwischen den Plato-nikern und Aristotelikern sowie im unmittelbarenKontext der Beziehungen zwischen Ficino, Polizia-no, Lorenzo de Medici und Pico. Es wird heraus-gestellt, dass Picos Ausf�lle gegen die Platonikerkonkret gegen den platonischen Freund Ficino ge-richtet sind. Es wird zudem die in der Tat weitrei-chende Wirkungsgeschichte der Schrift umrissen.Den reichen Angaben zu diesem Thema f�gen wirhinzu, dass in der Barockscholastik Su�rez undAversa sowie wohl in seiner Folge auch noch Ma-strius De ente et uno zumindest zur Kenntnis ge-nommen haben, und zwar nicht wegen der eigen-st�ndigen Synthese Picos, sondern ausschließlichals Zeuge der – von Pico selber abgelehnten – pla-tonischen Lehre von der fundamentalen Verschie-denheit von ens und unum.2 Die kleine Schrift als

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    1 Vgl. Kristeller, P. O. (1974). Medieval Aspects ofRenaissance Learning. Hg. E. P. Mahoney, Dur-ham, 76 f.2 Die einschl�gigen Stellen sind: Su�rez, F. (1866),Disputationes metaphysicae, Vol. 2 Disp. 28 sect. 3n. 13, Paris, reprint Olms, Hildesheim 1965 (Erst-auflage 1597), 17; Aversa, R. (1650), Philosophiametaphysicam physicamque complectens, Tomusprimus q. 4 sect. 1, Bononiae (Erstauflage 1625),150; Mastrius, B. (1708), Disputationes ad mentemScoti in duodecim Aristotelis Stagiritae Libros Me-taphysicorum, Pars prior Disp. 5 q. 1 n. 1, Venetiis(Erstauflage 1646), 124. Neben Pico verweist Aver-sa auch auf Julius Caesar Scaliger; die exakt glei-chen Angaben gibt wenig sp�ter Mastrius, und wirk�nnen hier durchaus von einer Abh�ngigkeit aus-gehen, was an dieser Stelle bemerkenswert ist, weiles etwas �ber die Weise sagt, wie Picos Schrift und

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    ausschlaggebend in Bezug auf die sp�tere Meta-physik der Barockscholastik – wenn auch nur vor-sichtig – sehen zu wollen (lxi), ist wohl etwas �ber-trieben. Hinter diesem Buch steht eine ganzeMannschaft, was in der Einleitung zu einigen Un-ebenheiten im Stil mit sich gef�hrt hat. Das beein-tr�chtigt nicht die Qualit�t des jeweils Gebotenen.Generell gesagt liegt hier eine philosophisch span-nende und wirkungsgeschichtlich wichtige Schriftin vorz�glicher Pr�sentation vor.

    Claus A. Andersen (Bonn)[email protected]

    Boris Hennig, „Conscientia“ bei Descartes (Reihe:Symposion Philosophische Schriftenreihe, hg. vonM. Forschner u. L. Honnefelder), Freiburg/M�n-chen: Alber 2006, 229 S., ISBN-13: 978-3-495-48191-2.

    Die Ausgangssituation und Grundintention desBuchs von Boris Hennig kann folgendermaßen zu-sammengefasst werden: Gew�hnlich wird unterder conscientia bei Descartes ein aufmerksames Be-wusstsein oder ein Gewahrsein verstanden unddieses wird wiederum als Eigenschaft von Denkak-ten aufgefasst. Sowohl in systematischer wie auchin historischer Perspektive auf Descartes ergibt sichjedoch die Schwierigkeit, dass conscientia zwar ei-nerseits ein zentraler oder sogar der zentrale Be-griff der neuzeitlichen Philosophie ist, er anderer-seits aber �ußerst problematisch zu pr�zisieren ist.Bei Descartes selbst findet sich keine direkte Defi-nition, der Begriff taucht auch selten bei ihm auf.Erst in der Folge, bei Leibniz und Wolff finden sichDefinitionsversuche. Die conscientia bleibt beiDescartes jedoch nach Henning nicht deshalb un-definiert, weil sie gegen�ber der philosophischenTradition so neu und andersartig verstanden wird,sondern Descartes empfinde gerade im Gegenteilkeine Notwendigkeit den Begriff zu definieren, weiler ihm allzu selbstverst�ndlich aus der Traditionklar sei. Damit reiht sich Hennig in die Vielzahlvon Descartes-Forschern ein, die Descartes’ Ableh-nung gegen�ber Traditionslinien als eine gewisseKoketterie mit dem Image des Erneuerers der Phi-losophie sehen, der eigentlich sehr wohl genauesteKenntnisse der Tradition hat und auch wesentlicheAspekte derselben, insbesondere der scholasti-schen Philosophie, �bernimmt, in welcher er sicheigentlich auch ganz pr�zise zu verorten weiß. Des-cartes kenne die Tradition nicht nur genauer, als ersich und uns zugestehen will, sondern er integriertsie – bewusst oder unbewusst – in die eigene Kon-zeption. Hennig stellt sich daher nun die Aufgabe,

    die Bedeutung von conscientia in der Auseinander-setzung mit der Tradition und dem conscientia-Verst�ndnis der Zeitgenossen Descartes’ klar zumachen.

    Das Buch von Hennig geht zur Kl�rung der The-se, dass Descartes vieles aus der Tradition in seinemBegriff der conscientia integriert, was sich bereitsinsbesondere in der Tradition der christlichen Den-ker (Paulus, Augustinus und Thomas von Aquin)finde, in drei Schritten vor. Zun�chst (15–79) zeigter in einem ersten Schritt, worin Probleme in einerimmanenten Aufschl�sselung des Begriffs derconscientia im Werk von Descartes selbst bestehen.Daher wird es in einem zweiten Schritt (80–183)notwendig, die historischen Quellen, aus denenDescartes sch�pft, offen zu legen und zu ber�ck-sichtigen. Ein dritter Schritt (184–213) soll dannzeigen, inwiefern die Rekonstruktion der philoso-phiegeschichtlichen Bedeutung des Begriffs sichtats�chlich bei Descartes wiederfindet. Bereits andiesem Grundprogramm wird deutlich, dass Hen-nig ein argumentativ sehr gut nachvollziehbaresProjekt verfolgt, das einerseits eine vorz�glicheDescartes-, andererseits aber auch Traditions-kenntnis erfordert.

    Zu Hennigs erstem Schritt: Wenn man mit Des-cartes nur immanent den Sinn von conscientia zueruieren trachtet, ergeben sich nach Hennig einigeSchwierigkeiten: Die conscientia als eine F�higkeit/Eigenschaft von Denkakten, n�mlich als deren the-matisches Gewahrsein f�r einen Denker, ist nachHennigproblematisch, denndie conscientiahandeltnach Descartes’ eigenen Aussagen von gegenw�rti-gen Leistungen, die ein Denkender gerade ausf�hrt.Darin sieht Hennig die Schwierigkeit, dass die con-scientia dann, wenn sie von aktuellen T�tigkeitenhandelt, nicht von m�glichen F�higkeiten handelnk�nne. Was sich auf aktuelle Wirklichkeit bezieht,k�nne nicht bloß eine Eigenschaft sein (vgl. 30). Da-rin muss man allerdings nach Meinung des Rez.noch keine Schwierigkeit sehen, denn es ist durch-aus widerspruchsfrei denkbar, eine Eigenschaft/Disposition oder F�higkeit zu konzipieren, diewirk-lich ist; die allerdings sowohl latent sein kann alsauch explizit aktualisiert. Und so kommt dann trotzanders lautender Eingangs�berlegungen auchHen-nig zu der �ußerung: „Eigentlicher Gegenstand derconscientia kann also nur die gegenw�rtige odervergangene Aus�bung einer F�higkeit sein.“ (30)Dann gibt es jedoch nicht mehr das zun�chst ange-dachte Problem, welches Hennig so formuliert,dass die conscientia „nicht in erster Linie von F�-

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    die darin vermittelte Platon-Kenntnis in der Ba-rockscholastik rezipiert und weitertradiert wurden.

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    higkeiten und Unf�higkeiten“ (ebd.) handeln k�n-ne; denn genau das tut sie nach Descartes.

    Eine weitere Schwierigkeit bei Descartes siehtHennig in Folgendem: Die conscientia handeltnach Descartes von dem, was in uns geschieht.Doch was genau ist mit „in uns“ gemeint, die Ge-hirnaktivit�ten, Gedanken, Verdauung? Hennigweist darauf hin, dass Descartes in den Regulae Er-innerungen an sinnliche Wahrnehmungen als et-was „in uns“ deutet, das er zugleich als k�rperlichdefiniert – was also eigentlich nicht der Innerlich-keit des Geistes zukommen d�rfte – sowie auch alsGedanken, die innerlich im Geist sind. Dar�ber hi-naus sind derartige k�rperliche Prozesse zwar „inuns“, sie sind aber nicht notwendigerweise Gegen-stand der conscientia; sie k�nnen unbewusst ab-laufen. Nicht alles, was in uns ist, ist uns auchbewusst. „Es besteht also eine offensichtlicheSpannung zwischen den Stellen, an denen Descar-tes auch k�rperliche Prozesse zu dem z�hlt, was inuns ist, und denen, an denen er sagt, alles in unsm�sse Gegenstand unserer conscientia sein.“ (33)Auch an sp�teren Stellen der Meditationes kom-men, z.B. sinnliche Wahrnehmungen oder Imagi-nationen vor, die doch scheinbar k�rperliche Vor-g�nge sind und von Descartes als innere Erlebnissedes Geistes bestimmt werden. Doch auch diesscheint dem Rez. kein Problem zu sein, denn es istklar und deutlich, dass Descartes an derartigenStellen meint, dass solche scheinbar k�rperlichenVorg�nge f�r den Geist nur insofern gegeben sind,als er sie sich vorstellt und insofern geht es Descar-tes an jenen Stellen, wo er von Wahrnehmungenspricht, die Teil des Geistes sind und ihm bewusstsein k�nnen, gerade nicht um diese Prozesse sofernsie leiblich sind, sondern sofern sie vom Geist alsetwas vorgestellt werden, das Leibliches repr�sen-tiert. Als derartige Repr�sentationen von Leibli-chem geh�ren solche Wahrnehmungen aber nat�r-lich ausschließlich zum Geist, denn es handelt sichum Ideen und diese sind vollst�ndig geistimma-nent. Des Weiteren bezeichnet es Hennig als Des-cartes’ Auffassung, dass doch wohl „K�rper nichtaus eigener Kraft t�tig sind“ (38), dazu sei vielmehrder Geist notwendig. Dagegen kann argumentiertwerden, dass, sofern Bewegung – auch und beson-ders erstanf�ngliche Bewegung –, eine T�tigkeitist, und derartige Bewegung auch Tieren undPflanzen zukommt, die nach cartesischer Ansichtnat�rlich nicht �ber Geist verf�gen, K�rper sehrwohl aus eigener Kraft t�tig sein k�nnen. Jede Be-wegung eines Lebewesens ist ein Beweis f�r die T�-tigkeit aus eigener Kraft, die auch geistlosen K�r-pern zukommt. Es ist eine – wohl platonische undchristliche – Voraussetzung, dass die Seele das

    Prinzip der Bewegung ist, die Descartes jedoch of-fensichtlich bezweifelt. Bewegung ist f�r Descarteskein Beweis f�r Lebendigkeit, das gilt auch f�r be-sondere Arten von Bewegung.

    Eine Schwierigkeit bildet es, wenn Hennig be-z�glich Descartes’ �ußert, dass Denken „keine Ei-genschaft, sondern ein Vorgang“ sei (38). Weshalbsollten Eigenschaften sich nicht in Vorg�ngen ak-tualisieren k�nnen? Descartes bestimmt auch ein-deutig Denken als Eigenschaft der Denksubstanz.Des Weiteren deutet Hennig: Descartes „definiertden Geist rein operational und l�sst sich trotz desTitels Substanz nicht dazu hinreißen, ihn als gleichbleibendes Ding zu betrachten.“ (38 f.) Wie jederDescartes-Leser weiß, ist das aber genau die Auf-fassung des Barockdenkers und sie l�sst sich sogargegen Kritik verteidigen. Auch eine �ußerung wie:„Eine Substanz ist, was einen Wechsel seiner Attri-bute �bersteht.“ (39), ist problematisch oder zu-mindest ungenau, denn Descartes unterscheidet(vgl. Principia I, §§51 ff., AT VIII A, 24–271) subtilzwischen wesentlichen Attributen, die sich nicht�ndern k�nnen und welche die Natur der Substanzdefinieren, und solchen, die eigentlich besser als„Zust�nde“ bzw. „Modi“ zu bezeichnen w�ren, diesich auch tats�chlich �ndern k�nnen und welchedie Substanz individuieren, aber letztlich auf we-sentliche Attribute zur�ckgef�hrt werden k�nnen.So sind z.B. Einbilden, Phantasieren, Wollen, Ur-teilen, Erinnern etc. Modi des wesentlichen Attri-buts cogitare; letzteres kann sich aber nicht �ndernund die Substanz kann dabei in ihrer Identit�t fort-bestehen. Mit einer solchen �nderung eines we-sentlichen Attributs w�rde auch die Substanz auf-h�ren als eine solche zu existieren, und wenn diesenicht mehr existiert, sind nat�rlich umgekehrtauch die Eigenschaften – gleich ob gleich bleiben-de oder ver�nderliche – nicht mehr existent. EineSubstanz, der z.B. das wesentliche Attribut derAusdehnung zukommt, kann nicht dieses Attribut�ndern und als solche weiter bestehen. – Genauwegen dieser Lehre kommt Descartes ja auch mitder Transsubstantiation im Abendmahl in Konfliktund muss diese zu den Aspekten der geoffenbartenReligion rechnen, mit denen sich die rationale Phi-losophie, d.h. die Metaphysik nicht zu besch�fti-gen hat, weil diese rational nicht aufzukl�ren sind.– Bei Hennig hat die Annahme, dass Substanzenkeine bleibenden Eigenschaften h�tten und dieGeistsubstanz von Descartes rein operational defi-

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    1 Descartes’ Werke werden zitiert nach: Œuvres deDescartes. Hg. von Ch. Adams u. P. Tannery,12 Bde, Paris 1897ff. (= AT)

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    niert werde, zur Folge: „Zum reinen Geist geh�renkeine bleibenden Eigenschaften. Die conscientiahandelt in erster Linie von vor�bergehenden undgegenw�rtigen Vollz�gen, von allem anderen nur,insofern es daraus folgt.“ (42) Im Gegensatz dazukann man aber mit den zuvor geschilderten Dif-ferenzierungen von Descartes durchaus die con-scientia als eine bleibende Eigenschaft, die eineDisposition/M�glichkeit des Geistes ist, verstehen.Obgleich also der Geist stetig die M�glichkeit hat,sich seiner conscius zu sein, braucht er dies nichtkontinuierlich aktuell zu sein. Der Begriff einerDisposition, die hin und wieder aktualisiert werdenkann und die im Falle ihrer Inaktualit�t eine ideelleoder virtuelle Existenz beh�lt, aber im Falle ihrerAktualisierung wirkliche Vollz�ge/Ideen oder blei-bende Eigenschaften zu ihrem Gegenstand hat, im-pliziert keinen logischen Widerspruch. Eine inte-ressante Formulierung in diesem Hennig-Zitat ist:„in erster Linie“. Gibt es eine zweite Linie, in der dieconscientia dann doch von bleibenden Eigenschaf-ten handelt?

    Ein weiteres entscheidendes Problem, das Hen-nig bei Descartes’ conscientia-Konzept sieht, be-schreibt er wie folgt: „Wenn aber die conscientiaselbst die natura cogitans w�re, w�re schwer ver-st�ndlich, wie Descartes sagen kann, der Geist seiseiner Natur conscius (AT VII, 441). Denn einer Sa-che conscius zu sein, scheint ja dasselbe zu sein,wie conscientia von ihr zu haben. Die conscientiam�sste sich dann selbst zum Gegenstand haben.“(42) Das Problem bleibt unklar. Es ist kein stichhal-tiger Einwand gegen das Haben von conscientia,wenn sie den Geist und sich selbst als eine stets inAktualisierung �berf�hrbare M�glichkeit/Eigen-schaft/F�higkeit/Disposition selbst zum Gegen-stand hat. Das ist dann eben der Sonderfall vonSelbstbewusstsein im Unterschied zu dem ebenfallsbeobachtbaren Ph�nomen des Gewahrseins einesspezifischen Bewusstseinsinhalts, also z.B., dassman eines bestimmten Baumes als Vorstellungs-inhalt gewahr ist, im Unterschied dazu, dass manauch sich selbst als den, der gerade an einen Baumdenkt, thematisiert. Darin liegt doch scheinbarnoch kein Problem oder offenbarer Widerspruch,und es ist ph�nomenal sowie intuitiv wohl wenigsinnvoll, derartige Erlebnisse zu bestreiten. Im Hin-tergrund von Hennigs Argument (42) scheint demRez. der g�ngige Iterationseinwand zu stehen: Da-mit sich das Bewusstsein einer Idee, die es hat, ge-wahr sein kann, muss es sich selbst mit zum Ge-genstand haben, n�mlich als dasjenige, das einerIdee von etwas gewahr ist, aber auch diese Instanzmuss sich wiederum ihrer gewahr sein als bewuss-ter Akteur. Jede neue Gegenw�rtigkeit wird auf

    diese Weise ins Unendliche �berholt. Sollte diesdas Problem sein, das Hennig namhaft machen will(was z.B. sp�ter auf 59 so klingt), dann scheint mirdas tats�chlich eine Schwierigkeit, die mit den Mit-teln des Cartesianismus nicht aus der Welt zuschaffen ist; evtl. mit keiner Selbstbewusstseins-theorie.

    Verbl�ffend ist Hennigs Einsicht, Descartes k�n-ne Introspektion nicht als Mittel der Erkenntnis ak-zeptieren, weil er 1. zwischen Quelle und Mittel derErkenntnis unterscheide, sich 2. der cartesischeSkeptizismus der 1. Meditation gegen alle Erkennt-nismittel richte und daher 3. nur unmittelbareQuellen der Erkenntnis zum wahren Wissen nochzugelassen seien, wogegen Introspektion nur einErkenntnismittel sei (vgl. 46). Bei Descartes selbstfindet sich diese Unterscheidung von Erkennt-nismittel und -quelle nicht und es ist einfach eineunbegr�ndete Setzung von Hennig, dass Intro-spektion keine Erkenntnisquelle, sondern nur einErkenntnismittel sei. Descartes selbst w�rde die In-trospektion wohl eher als eine genuine Erkenntnis-quelle des Geistes deuten; Descartes spricht immerwieder von einem einfachen Blick des Geistes insich, der ihm z.B. die angeborenen Ideen klar unddeutlich erscheinen l�sst. Auch einige andere dog-matische Setzungen Hennigs �berraschen: „Un-mittelbarkeit betrifft ein Verh�ltnis, also ist nichtsschlechthin unmittelbar.“ (46) Widerlegt das denBegriff der Unmittelbarkeit? Und warum betrifftUnmittelbarkeit ein Verh�ltnis? Evtl. ist es das We-sen der Unmittelbarkeit in keinem Verh�ltnis zustehen!? Sind das nicht Gedanken, die eigentlicherst von Hegel her transparent gemacht werdenk�nnen? Das wird von Hennig ohne Argument un-mittelbar gesetzt. Er f�gt Beispiele an, z.B., vonzwei H�usern die „unmittelbar“ nebeneinander ste-hen; zwischen diesen k�nne kein anderes Haus ste-hen; oder – f�r die Thematik dann relevanter –:Unmittelbares Bemerken von etwas schließt aus,dass man etwas erst durch etwas anderes bemerkt.Also gibt es nun doch Unmittelbarkeit? Oder sinddies F�lle von nicht-schlechthinniger Unmittelbar-keit? Descartes selbst scheint dagegen ein unmit-telbares Gewahrsein in der Introspektion anzuneh-men.2

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    2 Die folgenden Stellen – die auch von Hennigmehrfach zitiert werden – belegen, dass bei Descar-tes conscientia etwas Innerliches ist, das mit cogi-tationes verbunden ist und in einer reflexiven In-trospektion besteht: Eine zentrale Stelle, an der dieconscientia vorkommt, findet sich in Descartes’ De-finition der cogitatio, des Denkaktes: „Unter der

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    Diskussionsw�rdig ist auch, wenn sich Henniggegen den renommierten Descartes-Forscher Cot-tingham wendet, der – �hnlich wie Heidegger –conscientia bei Descartes zutreffend als „reflectiveawareness“ deutet (62 f.).3 Hennig setzt einfach,dass Reflexion in Folgendem besteht: „Reflexionist eine verz�gerte R�ckmeldung �ber das, was wirbewusst tun, nicht wesentliches Merkmal des Tunsselbst.“ (64) Die zuvor in der Fußnote 2 angef�hr-ten Descartes-Zitate beweisen jedoch ganz einfach,dass Descartes einen anderen Reflexionsbegriffhat; insbesondere das Zitat gegen�ber Burmanzeigt, dass f�r Descartes die Reflexion ein unmittel-bares Innesein der eigenen Denkakte ist und dass esf�r bewusste Denkakte durchaus ein wesentlichesMerkmal ist, f�r den, der sie gerade erlebt, reflexivunmittelbar gegenw�rtig sein zu k�nnen.

    Hennig definiert mit großem Innovationsdrangdie conscientia dann folgendermaßen: „Die cons-cientia ist also nicht selbst eine Kompetenz desGeistes, von dessen Denken sie handelt. Die Kom-petenz, begleitend zum Denken einen reflexivenDenkakt auszuf�hren, sollte man vielmehr einfachVernunft nennen. Die conscientia ist dann ein Zei-chen von Vernunftbesitz, aber nicht dasselbe wieVernunft.“ (70 f.) Ist dies widerspruchsfrei nach-vollziehbar? Wenn die conscientia einerseits nichtin den Kompetenzbereich des Geistes f�llt, aber an-dererseits von dessen Denken handelt, muss es imGeist noch einen anderen „Mitbewohner“ geben,der unabh�ngig vom Geist diese Kompetenz erf�llt.Also etwas, das selbst nicht Geist ist und dennochkompetent ist �ber Geistiges, n�mlich Denkakte,die doch sehr wohl in die Kompetenz des Geistesfallen, zu urteilen. Das scheint dem Rez. ein „Nestvoller Widerspr�che“ zu sein. Zumal es die dualis-tische Substanzontologie Descartes’ aufh�be, denndie conscientia d�rfte danach nicht zur geistigenSubstanz geh�ren. Zur k�rperlichen aber dochwohl auch nicht.

    Nach Hennigs erstem Teil der Studie steht jeden-falls f�r ihn fest, dass conscientia bei Descartes we-der in einer cogitatio noch in Introspektion noch ineiner Reflexion bestehen kann, sie kann keine Auf-merksamkeit sein, kein Denken und auch keine Dis-position. Was also ist conscientia bei Descartes?

    Der 2. und 3. Schritt: Henning versucht nun, ineinem 2. Schritt die Erkl�rungsl�cke im conscien-tia-Verst�ndnis bei Descartes durch eine Rekon-struktion insbesondere der christlichen und scho-lastischen Tradition zu schließen. Hier steht dasconscientia-Verst�ndnis bei Paulus, Augustinusund Thomas von Aquin im Mittelpunkt. �ber dieseAutoren ist Hennig vorz�glich informiert undmacht �berzeugend Zusammenh�nge in dieser

    Tradition transparent. Man hat durchaus das Ge-f�hl, hier kommt der Autor in heimatlichere Gefil-de. Daneben �berzeugt Hennig aber auch durcheine unglaubliche Belesenheit bei zahlreichen an-deren Autoren dieser Tradition, Ambrosius, Boet-hius, Albertus Magnus, Francisco Su�rez, Eusta-

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    Bezeichnung ‚Denken‘ (cogitare) verstehe ich alles,was auf bewußte Weise in uns (consciis in nobis)geschieht, das wir also erkennen, insofern es zu un-serem Bewußtsein geh�rt (quatenus eorum in nobisconscientia est).“ (Principia I, §9, AT VIII/A, 7)�hnlich: „Unter dem Namen cogitatio fasse ich al-les das, was so in uns ist, dass wir dessen unmittel-bar conscius sind.“ (Med. Rationes, 1. Def., AT VII,160) Das „unmittelbar“ erl�utert Descartes an die-ser Stelle so, dass er damit aus der Definition voncogitatio all jenes ausschließen m�chte, das nur aufvermittelte Weise in uns ist. Damit sind offensicht-lich all jene zu unserem eigenen Leib geh�rendenProzesse gemeint, die zwar auch in uns stattfinden,aber nicht in unserem Geist stattfinden. Auf dieseWeise kann man z.B. Verdauung, aber auch Ge-hirnaktivit�t, aus der Definition der cogitatio aus-schließen, da diese, um in unserem Geist zu sein,allererst der Vermittlung durch Vorstellungen be-d�rfen. Diese leibliche Ph�nomene repr�sentieren-den Vorstellungen sind dann das, was tats�chlichunmittelbar als in uns (d.h. in unserem Geist) vor-liegt und die leiblichen Prozesse sind daher nur aufeine vermittelte Weise „in uns“. Eine weitere zen-trale conscius-Stelle ist Descartes’ �ußerung imGespr�ch mit Burman: „Bewußt-sein ist zwar den-ken und �ber seine Gedanken reflektieren: Aber esist falsch, daß dies nicht geschehen k�nne, solangeder vorangegangene Gedanke besteht. Denn wiewir schon gesehen haben, kann die Seele gleichzei-tig mehreres denken und dabei, so oft es ihr beliebt,�ber ihre Gedanken reflektieren und so ihres Den-kens bewußt sein.“ (Entretien avec Burman, AT V,149) – Auf diese Stelle geht auch Hennig ein (61),misstraut jedoch Burmans Bericht. – Zentral istauch diese Stelle aus Descartes’ Antwort auf die4. Objectiones (von Arnauld): „Daß aber ‚nichts imGeiste, sofern er ein denkendes Ding ist, sein kann,dessen er sich nicht bewußt w�re‘, scheint mir ansich bekannt, weil wir in ihm, wenn wir ihn so be-trachten, nichts einsehen, was nicht Denken w�reoder vom Denken abhinge; sonst n�mlich w�rde esnicht zum Geiste, sofern er ein denkendes Ding istgeh�ren. Und es kann in uns kein Denken vorhan-den sein, dessen wir uns nicht in eben dem Augen-blicke, wo es in uns ist, bewußt w�ren. Daherzweifle ich nicht, daß der Geist, sobald er dem K�r-

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    chius a Sancto Paulo und sehr viele mehr – einwahres Glissando an Gelehrtheit. Dass Descartesviele Kenntnisse dieser Tradition w�hrend seinerStudien im jesuitischen Coll�ge von La Fl�che ken-nen lernte, ist v�llig evident. Jedoch folgt darausnat�rlich noch nicht, dass diese Tradition deswe-gen auch Eingang in Descartes’ eigenes Verst�nd-nis von conscientia gefunden hat, was Hennig im3. Schritt nachzuweisen versucht. Wie Hennign�mlich zu Recht herausarbeitet, kann man in die-ser christlichen Tradition unter conscientia so et-was wie ein vertrauliches Mitwissen und Gewissenverstehen, wobei sich in der Innerlichkeit des Sub-jekts eine Art interner Diskurs des inneren Men-schen mit einer urteilenden, h�heren Instanz unddamit zugleich eine ethische Verantwortlichkeitaufschließt; dieser innere Diskurs mit einer h�he-ren Instanz ist nat�rlich in religi�ser Beleuchtungzu sehen. Das ist zwar f�r diese Tradition vollkom-men richtig, scheint dem Rez. aber nicht in ein-leuchtender Weise auf Descartes �bertragbar. Daszeigt z.B. das folgende Hennig-Zitat: „Eine prak-tisch sichere conscientia ist nun auch das, was Des-cartes mit dem cogito hat. Dessen Wahrheit h�ngtallein von dem ab, was er weiß, n�mlich dass erdenkt. In dem Sinn, in dem Su�rez spekulativevon praktischer Wahrheit unterscheidet, ist das co-gito zun�chst nur praktisch wahr. Denn dass ichdenke, gilt nicht schlechthin, sondern nur insofernich denke.“ (160f.) Hier changiert die Bedeutungdes Terminus „praktisch“; einerseits steckt in Hen-nigs Interpretation durchaus auch etwas von einerethischen Gewissheit, andererseits scheint er nurden konkreten Vollzug des Denkens mit dem „prak-tisch“ zu meinen. Doch Descartes selbst macht je-nen Unterschied zwischen „praktisch“ und „speku-lativ“ von Su�rez nicht geltend, das cogito hat auchkeinerlei ethische Implikationen, sondern ist aufmetaphysischer Ebene angesiedelt, also sozusagenauf einer meta-ethischen Ebene. Descartes schreibtimmerhin im Discours aus guten Gr�nden nur eine„provisorische Ethik“, weil dies ein besonders kon-tingentes, wechselhaftes und f�r ihn selbst nochunerforschtes Glatteis ist. Sofern Hennig mit dem„praktisch“ nur die konkrete Vollzugsseite des co-gito meint, scheint dem Rez. der Terminus auf-grund seiner andersartigen Bedeutung unpassendund wird dem theoretischen Unternehmen Descar-tes’, dem Projekt der rationalistischen Wissens-sicherung nicht gerecht. Das wird deutlich, wennHennig schlussfolgert: „Mit diesem Man�ver zeigtDescartes auch, dass selbst das spekulative Denkenletztlich eine praktische Angelegenheit ist.“ (161;vgl. auch 162ff.) Das geht �ber Descartes’Anliegenhinaus. An einigen Stellen bemerkt Hennig neben-

    bei und fl�chtig, dass sich eine solche „praktische“Bedeutung von Denken und Bewusstsein bei Des-cartes nicht finde (164, 166, 186). Wozu dann alsodie Rekonstruktion? Und wenn „praktisch“ eine soweite Bedeutung hat, dass auch die theoretischeLetztbegr�ndung rationalen Wissens darunter f�llt,wird dann nicht der Begriff aller Bestimmtheit be-raubt?

    Hennig arbeitet heraus, dass in christlicher Tra-dition die conscientiamit ihren praktischen Aspek-ten das Bezeugen einer Handlung ist. Sie ist einvertrauliches, moralisches Bewerten, das auf einerallgemeinen Praxis beruht und ein Mitwissen einesidealen Beobachters impliziert (vgl. 183). Dies wirdnun im 3. Schritt auf Descartes’ conscientia-Begriff�bertragen: „Also ist die conscientia keine cogita-tio. […] Conscientia hat der Geist nicht dadurch,dass er selbst an sein Denken denkt, sondern da-durch, dass er ein Wissen mit einem anderen, n�m-lich dem idealen Beobachter, teilt. In diesem Sinneist die conscientia ein implizites Wissen.“ (184f.) Inder conscientia steckt also ein geteiltes Wissen.Doch selbst wenn man dies Hennig zugibt, wasschon angesichts der cartesischen Einsamkeit desDenkers am Kamin, der mittels skeptischer Metho-de alle anderen Geister und K�rper von seiner be-wussten Letztbegr�ndung ausschließt, schwieriggenug ist, dann stellt sich doch die Schwierigkeit,wie die conscientia geteiltes Wissen sein kann, dasnicht in einem Denken bestehen soll. Was ist einWissen, das nicht gedacht wird? Umgekehrt zuHennig und mit Anklang an Hegel kann man sa-gen, dass conscientia das Denken des Denkens mitenth�lt.

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    per des Kindes eingefl�ßt ist, zu denken anf�ngtund zugleich sich seines Denkens bewußt ist, ob-wohl er sich sp�ter nicht daran erinnert, weil dieVorstellungsformen jener Denkakte nicht in der Er-innerung haften bleiben.“ (Meditationes, AT VII,246) Diese Stellen m�gen die zuvor von mir auf-gewiesenen Schwierigkeiten der Hennigschen Re-konstruktion von Descartes’ conscientia-Konzeptverdeutlichen.3 Dar�ber hinaus wendet sich Hennig aber auchgegen eine Vielzahl weiterer renommierter Auto-ren. So liest sich die Liste derer, die in seinen Augenkeine Gnade finden wie ein „who is who“ der Des-cartes-Forschung und auch Gegenwartsphiloso-phen werden nicht geschont: Dominik Perler (71 f.),Andreas Kemmerling (20, 67, 72), Margaret Wilson(72), Genevi�ve Rodis-Lewis (42), Anthony Kenny(48, 54), John Cottingham (62f., 72 f.), MartialGu�roult (69), Daisie Radner (77), Gilbert Ryle(18 f., 67, 76), Richard Rorty (76).

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    Fazit: Hennig argumentiert auf eine besonderseindringliche und sehr dichte Weise; selbst wennnicht alle Argumente �berzeugen, so wurde deut-lich, dass er Descartes zu Recht als systematischenDenker ernst nimmt und auf hohem Niveau behan-delt. Es wird durch Hennigs Rekonstruktion auchnochmals deutlich, dass Descartes sehr viel mehrvon der Tradition wusste und in sein eigenes Denk-geb�ude integrierte, als er uns, und vielleicht auchsich selbst, eingestehen wollte, um die Aura desNeubegr�nders der Philosophie zu konstruieren.Das Buch von Hennig ist eine Bereicherung derdeutschen Descartes-Forschung und gibt viele An-l�sse, mit Descartes weiter zu denken. Dieses kons-truktive Weiterdenken zeigt sich z.B. in vorz�g-licher Weise in dem dem Buch beigegebenenGeleitwort von Stekeler-Weithofer (9–13). Diesergeht mit Descartes �ber Descartes in einer sinnvol-len Erweiterung hinaus, denn er versucht die meta-physische R�ckbesinnung der cartesischen Letzt-begr�ndung als eine Form der geteilten Intelligenzweiterzuf�hren, die ihren eigenen Normen unter-liegt: „Die Reflexionen der Meditationen des Des-cartes machen eben hierauf aufmerksam: JedesDenken ist insofern bewusst, als es den Normen zu-n�chst des Sinnvollen, der richtigen Inhaltsbestim-mung und des Vern�nftigen, und schließlich desWahren unterworfen ist. Sonst w�re es keine Cogi-tatio.“ (13)

    Rainer Sch�fer (Heidelberg)rainerfsch�[email protected]

    Harald K�hl, Abschied vom Unbedingten. �ber denheterogenen Charakter moralischer Forderungen,Freiburg/M�nchen: Alber 2006, 349 S., ISBN-13:978-3495481547.

    Den Namen Harald K�hl verbinden viele Lesersicherlich mit seiner einschl�gigen UntersuchungKants Gesinnungsethik (1990). Mit seiner neuenMonographie liefert der Autor, weit �ber seine bis-herigen Stellungnahmen zu Kant hinausgehend,einen unverhohlenen Angriff auf gleich mehreregrunds�tzliche Annahmen, auf denen die kanti-sche Ethik angeblich beruhe. In Abschied vomUnbedingten geht es K�hl in losem begrifflichenAnschluss an Marquards „Abschied vom Prinzi-piellen“ ganz w�rtlich um einen Abschied vom Un-bedingten, genauer: vom praktisch Unbedingten,und damit zumindest in vielen Aspekten auch umeinen Abschied von der kantischen Ethik. Undschon nach Lekt�re der ersten Seiten merkt man:Es handelt sich um einen Abschied auf Nimmer-wiedersehen.

    Der anvisierte Abschied hat allerdings einen lan-gen Vorlauf; man muss ein wenig Geduld mitbrin-gen, bis man Kant (vielleicht) ‚goodbye and fare-well‘ zurufen kann. Denn die Studie beschr�nktsich nicht darauf, ein Demontierungsversuch einesTeils der systematischen Grundlagen der kanti-schen Moralphilosophie zu sein, sondern die Ver-abschiedung Kants kann auch als ein (freilich nichtunerw�nschter) Kollateralschaden betrachtet wer-den, der mit den in Abschied vom Unbedingten ent-wickelten Thesen zum Verh�ltnis von moralischenGeboten bzw. Forderungen und den Kategorien derpraktischen Kategorizit�t und der Unbedingtheiteinhergeht. K�hls diesbez�glicher Ansatzpunktwird bereits im Untertitel benannt: MoralischeForderungen bes�ßen demnach (gegen Kant) kei-neswegs immer einen homogenen, den Akteur un-bedingt n�tigenden, da ihn kategorisch verpflich-tenden Charakter, sondern diese einseitige Positionzeuge von dem Vergessen der Vielgestaltigkeit un-seres moralphilosophischen Instrumentariums, dasder ethischen Tradition insbesondere vor Kantnoch in vielen Facetten bekannt war und entspre-chend genutzt wurde. Erstens gebe es auch unbe-dingt verbindliche nicht-moralische Forderungen,die der von Kant beschriebenen Struktur unbe-dingter praktischer Notwendigkeit analog seinsollen, und zweitens m�sse man zudem von mora-lischen Forderungen ausgehen, die sich mitnichtendurch die ihnen von Kant zugeschriebenen Merk-male der prinzipiellen Notwendigkeit und somitdurch praktische Unumg�nglichkeit auszeichnen.Im Zentrum der Kritik K�hls an Kants Ethik undderen Modifikationen (z.B. bei Habermas) stehenneben den genannten Hauptaspekten deren „Prin-zipienfixierung“ (270 ff.), die Notwendigkeit derAnnahme eines obersten Moralprinzips samt derM�glichkeit der Deduktion moralischer Hand-lungsregeln niedrigerer Ordnung sowie die Pr�mis-se, dass moralische Verbindlichkeiten einzig undallein in deontischen Termini ausgedr�ckt werdenm�ssen. K�hls Gegenentwurf besteht in der Ideeeines an Schneewind anschließenden ethischenHolismus, der sowohl bedingte wie unbedingtemoralische Forderungen und zudem auch nicht-moralische Forderungen mit Unbedingtheitscha-rakter in sich begreifen und somit dem heteroge-nen Charakter beider Forderungsmodalit�tenRechnung tragen k�nnen soll.

    Man sieht sofort: Der Autor nimmt sich viel vor.Angesichts der Komplexit�t einer genauen Kant-Exegese auf Augenh�he mit dem aktuellen For-schungsstand sowie der davon weitgehend un-abh�ngig gef�hrten Diskussion um praktischeGr�nde – der Umfang alleine der nur epistemolo-

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    gisch und handlungstheoretisch orientierten Stan-dardliteratur zu diesem Problem ist schlichtwegenorm und ihrer argumentativen Differenziertheitnicht leicht zu entsprechen – fragt man sich schonzu Beginn, wie all diese schwergewichtigen Auf-gaben auf nur knapp 350 Seiten mit nachhaltigemErfolg zu bew�ltigen sein sollen. Dennoch mussman K�hl grunds�tzlich einen plausiblen Einstiegattestieren, wenn er seine Untersuchung nach dendemonstrativ selbstbewussten, jedoch zuweilen er-m�denden, da recht h�ufig ins Feld gef�hrten De-montierungsank�ndigungen1 aus der Einleitungmit einer vergleichsweise bescheiden daher kom-menden, „kleinen“ Ph�nomenologie moralischerForderungen fortf�hrt (36–67). Dort, auf rein (all-tags-)ph�nomenologischem Terrain, spielen reinvern�nftige erste Moralprinzipien keine wichtigeRolle, sondern in diesem Abschnitt ist K�hl aus gu-ten Gr�nden an einer dezidiert vorkantischen Be-standsaufnahme des moralischen Common Senseim weitesten Sinne interessiert, um diesem dannim Folgekapitel die kantische Ethikkonzeption ent-gegen zu stellen. Dabei spricht es durchaus f�r denAutor, wiederholt selbstkritisch auf die theoreti-sche Vorpr�gung auch angeblich vorurteilsfreierBeschreibungen moralischer Ph�nomene hin-zuweisen. Seine zu Beginn des Folgekapitels ge�u-ßerte Vermutung, unsere moralischen Intuitionenund ebenso unsere Beschreibungen moralischerPh�nomene seien stark von Kant beeinflusst (71 f.),ist sicherlich plausibel, auch wenn es hier (wieauch an anderen Stellen der Werks) so anmutet,als ob K�hl den noch nicht �berzeugten, vermut-lich durch �belste Kant-Orthodoxie verblendetenLeser aus dem Bannkreis des K�nigsberger Philoso-phen befreien wolle.2

    Das zweite Kapitel ist insofern zentral f�r dasWerk, als dort der kantische Ansatz unbedingtermoralischer Forderungen und, damit zusammen-h�ngend, die Grundlagen der kantischen Ethik re-konstruiert werden. Hier finden sich nun nahezualle Pr�dikate, die dieser Moralphilosophie aus or-thodoxer (und erst recht orthodox-kritischer) Per-spektive zugeschrieben werden: Sie sei rigoristisch(72), allein auf deduktiv-hierarchischer Prinzipi-eninferenz basierend (72, 233, 295), der Begriffder Pflicht sei prim�r („Die kantische Ethik ist einemoralphilosophische Pflichtveranstaltung“, 83;„Pflichtversessenheit der kantischen Ethik“, 84),sie sei durch den Kategorischen Imperativ begr�n-det (86 ff.) und aus bloßen Systemzw�ngen herauszu ihrer Struktur gelangt (109, 198) etc. – diese Rei-he ließe sich noch lange fortschreiben. Verwunder-lich und wohl zumindest auch biographisch be-gr�ndet ist nun der Umstand, dass K�hl im

    Rahmen seiner Kant-Rekonstruktion fast durch-g�ngig und mit wenigen Ausnahmen auf Autorenwie Tugendhat, Patzig, Foot und Habermas rekur-riert, wobei Letzterer offenbar eine ad�quate Spiel-art des Kantianismus repr�sentieren soll (100 f., 110Anm. 135) und Erstere immer wieder als inhalt-liche Referenzpunkte sowohl der k�hlschen Kritikals auch als St�tze seiner eigenen Position heran-gezogen werden. Dabei muss man keineswegs diejeweils unterschiedlichen philosophischen Meritender genannten Autoren und Autorinnen bezwei-feln, um konstatieren zu k�nnen, dass die Musikin der aktuellen Kant-Forschung aus philologi-schen und systematischen Gr�nden mittlerweilewoanders spielt.

    Kurz gesagt und damit einen (untergeordneten)Kritikpunkt an K�hls Demontierungsversuch vor-wegnehmend: Die k�hlsche Charakterisierung derkantischen Ethik als unerbittlich-rigoristischePflichtenethik ignoriert die derzeit lebhaft und aufhohem Reflexionsniveau gef�hrte Debatte um denbei ihr tats�chlich vorliegenden Ethiktyp sowie diesystematische Bedeutung der Tugendlehre und derGef�hle f�r die kantische Ethik (vgl. dazu auf ang-loamerikanischer Seite die diesbez�glichen Werkevor allem von Guyer, Herman, Cummiskey, Sher-man, Korsgaard, Baron und Wood sowie aus demdeutschsprachigen Raum von Sch�necker, Horn,Kr�mer und Leist). Dar�ber hinaus l�sst die Idee,Kants Ethik sei quasi nach cartesischer Manier reindeduktiv aufgebaut und ihr Geltungsanspruch so-mit recht einfach, sozusagen en passant zu bezwei-feln, außer Acht, dass u. a. Steigleder vor nicht all-zu langer Zeit gute Argumente daf�r vorgebrachthat, Kants Ethik sei zumindest maßgeblich durchSelbstreferenz gepr�gt. In dieser Perspektive m�ss-te man auch und gerade bei der Analyse praktisch-struktureller Selbstbez�glichkeit ansetzen, wennman den praktischen Unbedingtheitsbegriff Kantssezieren will, da der Witz der kantischen Ethiknicht zuletzt in der praktisch-axiologischen (zu-

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    1 Angesichts der Masse und inhaltlichen Vielfaltradikaler Kant-Kritik, die allein in den letzten Jahr-zehnten ver�ffentlicht wurde, d�rften auch dog-matisch verbohrte Kantianer bei K�hls Ank�n-digungen einer Demontierung des kantischenPflichtbegriffs oder des Sittengesetzes eher einenmittlerweile solide einge�bten Abwehrreflex denn�berraschtes intellektuelles Entsetzen an den Taglegen.2 Man kann bisweilen den Eindruck gewinnen,dass dieses Buch auch „Der Kantwahn“ h�tte hei-ßen k�nnen.

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    dem handlungstheoretischen, streng genommenauch axiothetischen) und nomothetischen Selbst-bez�glichkeit des noumenal-ph�nomenal vor-gestellten Akteurs liegt. �berhaupt vermisst manbei K�hls Analysen nahezu jeglichen (auch kriti-schen) Kontakt mit moderneren, handlungstheo-retischen Rekonstruktionsperspektiven3 und somiteinen „Gegner“, der, anders als die DiskursethikHabermas’, mit den klassischen Kritikpunkten anKant nicht ganz so leicht auszuhebeln ist.

    Letztere pr�sentiert K�hl zum Teil im 3. Kapitel –unter Rekurs auf Schopenhauer, Anscombe, Foot,Tugendhat, Rorty, Frankfurt und Williams. Beson-deres Augenmerk legt er dabei auf die von Rorty,Tugendhat und Foot geteilte Ansicht, dass nichtalle moralischen Forderungen unbedingt seien,sondern dass es auch hypothetische Moralgebotegebe. W�hrend er sich bem�ht, die kantische Auf-fassung der notwendigen Verbundenheit von Un-bedingtheit und Moralit�t als eine eher zuf�lligeingeb�rgerte und systematisch unhaltbare Auf-fassung von Moral zu charakterisieren, l�sst er sichdagegen vergleichsweise leicht von der Plausibili-t�t der Annahme hypothetischer Moralvorschriftenbzw. nicht-moralischer Notwendigkeiten �berzeu-gen und konstatiert dementsprechend auf Seite 154seiner Studie: „F�r Kantianer ergibt sich aus alle-dem eine ganz ungewohnte und unbequeme Sichtder Beweislastverteilung. Hypothetische Moral-gebote scheint es zu geben; ob es auch kategorisch-unbedingte gibt, ist bis dato ungewiss.“ Dieses Fa-zit zu Kapitel 3 klingt so, als z�ge K�hl einenevidenten Schluss aus beeindruckenden, neuarti-gen Argumenten der zuvor behandelten Kant-Geg-ner, die sowohl Kant selbst als auch den Kantianernentweder bis dato unbekannt waren oder in ihreroffenbar an sich �berzeugenden Stringenz �berviele Jahrzehnte verkannt wurden – was ist also indiesem Abschnitt passiert?

    N�chtern betrachtet, legt K�hl im dritten Kapiteldar, dass besagte Autoren durchaus einen gewissenSinn sowohl mit hypothetischen Moralgeboten alsauch mit nicht-moralischen Notwendigkeiten ver-binden k�nnen – nicht weniger, aber eben auchnicht mehr. W�hrend Schopenhauers sanktions-fixiertes Moralverst�ndnis und Anscombes Magie-verdacht gegen jede selbstevidente Ethik untereinem allgemeinen Sinnlosigkeitsverdikt gegendas Konzept moralischen Sollens abgebucht undnicht mehr konstruktiv aufgegriffen werden, stel-len Frankfurts „Notwendigkeiten des Willens“,Rortys „Notwendigkeiten der Selbst-Identit�t“ so-wie Williams’ „Notwendigkeiten des Charakters“als Konkretionen von unkantischen, da zumindestnicht per definitionem moralischen Formen von

    Unbedingtheit, einen Kernaspekt der weiteren Un-tersuchung dar. K�hls Zwischenfazit: Kant habesich wohl geirrt, denn man k�nne sich offensicht-lich sehr wohl alternative, nicht-kantische Moral-konzeptionen vorstellen. Die definitive argumenta-tive Substanz dieses Befunds in Kapitel 3 l�uftallerdings auch beim besten Willen nur auf psy-chologisch aufgeladene Annahmen tugendethi-schen Zuschnitts hinaus. So wenig jedoch die kan-tische Ethik allein durch die ihr eigene (in der Tatnicht zwingende) Moralauffassung rational letzt-begr�ndet ist, so wenig kann man davon sprechen,dass sie allein schon deswegen ins Wanken gerate,weil sich zeitgen�ssische Philosophien von ihr ab-setzen, da diese von einer anderen Moralkonzepti-on ausgehen.4

    Zwar kann man K�hl keinen vollends unkriti-schen Umgang mit Foot und Konsorten vorwerfen– einige ihrer Kant-kritischen Argumente weist ernachvollziehbar und klug zur�ck (156ff.) –, dochw�re es w�nschenswert und hilfreich gewesen, dierationale �berlegenheit dieser Ans�tze gegen�berKant auszuweisen, wenn man Letzteren derart ve-hement angreift. Da hilft es nicht wirklich weiter,wenn Kants Kategorischer Imperativ einerseits mitdem Argument kritisiert wird, dass es keine ein-sichtige Motivation zu seiner Ausf�hrung gebeund andererseits jede tiefergreifende Begr�n-dungsanforderung an die nach K�hl zul�ssigenmoralischen Zwecke mit dem Argument zur�ck-gewiesen wird, es reiche ja aus, dass die Akteuredie jeweiligen Zwecke subjektiv-willk�rlich alsmoralisch auffassen w�rden – vollkommen unab-h�ngig von ihrer tats�chlichen Begr�ndetheit.Wenn K�hl zudem die moralischen Zwecke Footsauf Seite 179 als „epistemisch unterf�ttert“ be-zeichnet, nur weil sie bestimmte Tugenden als de-ren Grundlage voraussetzen und diese wiederumeinen vertrauten Teil unserer moralischen Praxisdarstellen, kann man dadurch nur vor dem Hinter-grund einer von vornherein tendenzi�sen Lesartdavon �berzeugt werden, dass Foot gegen�berKant eindeutig vorzuziehen sei.

    Der entscheidende Punkt ist hier, dass K�hl ob-jektiv verbindliche Ethikbegr�ndungen als solcheohnehin schon verabschiedet hat, wie er jedocherst auf Seite 181 mitteilt: „Die Frage nach einem

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    3 Ans�tze dazu finden sich allenfalls bei seinersporadischen Auseinandersetzung mit Korsgaard(314 f.).4 Dies sieht K�hl zu Beginn des 4. Kapitels auf Sei-te 155 anders: „Die feste Burg des moralphiloso-phischen Kantianismus scheint zu wanken.“

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    ‚objektiven‘ Forderungscharakter, den eine Forde-rung unabh�ngig von den Gr�nden der am Forde-rungsgeschehen Beteiligten h�tte, ist sinnlos.“ Diesbleibt als bloße Setzung f�r sich stehen und wird –der andauernden und leidenschaftlichen Diskussi-on dieser Frage in der diesbez�glichen Forschungzum Trotz – nicht weiter gerechtfertigt; f�r K�hloffenbar eine selbstevidente Selbstverst�ndlich-keit, auf die man sich bedenkenlos verlassen kann.Hier vermisst man den hartn�ckig-kritischen, jasperrigen K�hl, der es unterhaltsam-bissig kom-mentiert, wenn eine Annahme am seidenen Fadenh�ngt und dennoch stillschweigend akzeptiertwird.5 Einmal mehr dr�ngt sich daher auch demkritischen Kant-Leser der Eindruck auf, dass dieprim�re Pointe des Abschieds vom kantischen Un-bedingten weniger in einer transsubjektiv verbind-lichen Widerlegung des K�nigsbergers, sondernvielmehr in der variantenreichen Formulierungeinfach einer anderen Moralauffassung besteht.Nach Kant etc. sind moralische Gebote prinzipiellbedingungslos verbindlich, nach K�hl, Foot etc.nicht – so weit, so wenig aufschlussreich, dennnicht-kantische Moralauffassungen gab es trivialerWeise schon lange vor Kant, gibt es nat�rlich auchheute und wird es in Zukunft ebenfalls geben. Kantwird aber leider nicht immanent widerlegt (diesw�re nach K�hl offenbar der falsche Ansatz) oderwenigstens mit Argumenten konfrontiert, die manselbst als eingefleischter Kantianer nur schwerlichignorieren kann. Ein solches Vorgehen w�re si-cherlich vielversprechender, um m�glichst vieleG�ste auch heterogener Provenienz zur groß ange-legten Abschiedsfeier begr�ßen zu k�nnen.

    Die eigentliche St�rke des Werks entfaltet sicherst in den Folgekapiteln, wenn K�hl z.B. richtigbeobachtet, dass die kantische Konzeption des Un-bedingten meist nur negativ expliziert bzw. re-konstruiert wird (218) und zudem gekl�rt werdenmuss, was genau unbedingt sein soll: Nicht dieHandlung bzw. Handlungsweise oder das Wolleneiner Handlung selbst, sondern die Art der Not-wendigkeit, also ihre praktisch-modale Bestim-mung solle unbedingt sein. Weiter arbeitet K�hl�berzeugend heraus, dass Unbedingtheit in derkantischen Ethik nicht die vollkommene Absenzvon Bedingungen jeglicher Art bedeutet, sondernnur die Unabh�ngigkeit von denjenigen Zwecken,die geltungstheoretische Implikationen f�r die Mo-dalit�t der Notwendigkeit von Handlungsweisenbesitzen (214). Bedingte Gebote seien nach Kantvon unbedingt notwendig zu befolgenden Gebotendurch die Art der jeweils vorliegenden Gr�nde un-terschieden; dies nennt K�hl den „reasons ap-proach“ (223ff.). Er differenziert diesbez�glich

    zwischen funktionalen und nicht-funktionalenGr�nden: W�hrend Erstere ihre Berechtigung nurinnerhalb eines ihnen selbst externen Zweck-bezugs – als Mittel zur Erreichung eines Hand-lungsziels – h�tten, seien Letztere zumindest auch‚an sich‘, also kontextinvariant praktisch relevant(230ff.). Allerdings ist die an Rorty anschließendeThese K�hls, Kant versuche vergeblich Moral undKlugheit anhand der Differenzierung von Prinzi-pien- und Zweckm�ßigkeitsgr�nden zu unterschei-den (235), zumindest ungenau, da sowohl in derKrV als auch und vor allem in der KdU das Prinzipder Zweckm�ßigkeit eine entscheidende Rollespielt. Die entscheidende Frage bei Kant ist auf-grund seiner durchg�ngig pr�senten handlungs-teleologischen Pr�missen auch in den moralphi-losophischen Hauptwerken nicht, ob Prinzipienoder Zweckm�ßigkeiten prim�r konstitutiv sind,sondern welche Art von Zwecken als Prinzipiender Willensbestimmung fungieren sollen.

    K�hls positive Bestimmung des kantischen Un-bedingten besteht schließlich darin, dass der unbe-dingte Charakter der Notwendigkeit moralischerForderungen aus dem spezifisch moralischen Cha-rakter der zugrunde liegenden Handlungsgr�nderesultiere. Der moralische Charakter dieser Gr�ndewiederum verdanke sich dessen Herkunft aus demmoralischen Selbstverst�ndnis des Akteurs (249).Der konstruktive, gegen Kant gerichtete Vorschlagim letzten Abschnitt des Werks besteht in einer vorallem an Williams orientierten Ausweitung des Be-griffs des Selbstverst�ndnisses des Akteurs alsGrund auch moralischer Deliberation und in demVersuch, der Rede von unbedingt notwendigenMoralgeboten dennoch einen gewissen Sinn abzu-gewinnen. Dies unternimmt K�hl, indem er vonKant her zwei Auffassungen der Unbedingtheitvon Moralgeboten unterscheidet und nur eine da-von zu retten versucht. Die erste, von K�hl mit Ror-ty nicht �berraschend als metaphysisch verworfe-ne M�glichkeit, besteht in der Annahme derVerwurzelung moralischer Forderungen in deraxiologisch ausgezeichneten Vernunft6 – weil das

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    5 Dementsprechend �ußert sich K�hl auf Seite 193:„Vom Zweifel befreit an der Existenz hypotheti-scher Moralgebote, die mit handfesten instrumen-tellen Gr�nden unterf�ttert sind, sehe ich die Be-weislast bei ihm [gemeint ist Kant] resp. seinenAnh�ngern.“6 Seine Kritik an dieser werttheoretischen Aus-zeichnung der Vernunft ist auf den ersten Blickzwar durchaus zu bedenken, doch scheint K�hlnur eine einzige Form des (unzul�ssigen) Zirkels

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    Sittengesetz seinen Ursprung a priori in der Ver-nunft habe, seien die direkt von ihm ausgehendenGebote unbedingt normativ verbindlich. Da nachK�hl ein Vernunftursprung genauso viel bzw. we-nig wert ist wie zahllose Alternativen und solcheAns�tze aufgrund ihres metaphysischen Charak-ters f�r ihn a priori indiskutabel sind, scheidet dieerste Variante als Kandidat unmittelbar aus. Diezweite, von K�hl aufgrund ihrer geringeren meta-physischen ‚Kontamination‘ akzeptierte Form derUnbedingtheit, ist die �bereinstimmung des mora-lisch Geforderten mit einem moralischen Prinzipbzw. funktionalen �quivalenten. Diese zweite, an-spruchslosere Unbedingtheitskonzeption wirdschließlich in den Kontext eines ethischen Holis-mus gestellt, der z.B. impliziert, dass ethische Prin-zipien durch einzelne moralische Urteile oder mo-ralische Erfahrungen in Frage gestellt und sogarsubstantiell modifiziert werden k�nnen. Der un-bedingte Charakter bestimmter Elemente diesesHolismus komme dann nicht mehr durch ihre ex-ponierte Begr�ndetheit oder grunds�tzliche nor-mative bzw. axiologische Autorit�t, sondern durchihre „nicht-funktionalen �bereinstimmungsbezie-hungen zu anderen Versatzst�cken des mora-lischen Patchworks“ (300) zustande. Will heißen:Damit ein Grund als moralischer bezeichnet wer-den kann, m�sse er nicht – wie bei Kant – einemunverr�ckbaren obersten Moralprinzip entspre-chen, sondern k�nne auch mit im klassischen Sin-ne schw�cher begr�ndeten Idealen, Tugenden oderauch Verhaltensweisen besonderer Personen �ber-einstimmen (303).

    Diese Entmoralisierung des praktischen Unbe-dingtheitsbegriffs Kants sowie die ‚Umpflanzungseiner Reste‘ in einen ethischen Holismus pragma-tistischer Pr�gung samt koh�rentistischem Begr�n-dungsbegriff kann einen Kantianer, sollte er nichtselbst dezidiert metaphysikkritisch sein, jedochnicht ersch�ttern oder gar �berzeugen – das weißauch K�hl (303). Auch die Ansicht, dass die Einbet-tung des moralischen Bereichs in einen nicht-mo-ralischen Kontext keineswegs die Unbedingtheitdes Moralischen tangiere (309), steht neben Kantund kann nicht �berzeugend aus dessen Ethik ent-wickelt werden. K�hls Beispiel, dass, wenn maneiner Gemeinschaft angeh�ren will und die Bedin-gung daf�r darin bestehe, bestimmte moralischeGr�nde als unbedingt verbindlich zu betrachten,die Befolgung dieser moralischen Regeln zumZwecke der Gemeinschaftszugeh�rigkeit nichts ander Unbedingtheit dieser Regeln �ndere, kann nurzeigen, dass er einen von Kant abweichenden Be-griff von Nicht-Funktionalit�t voraussetzt: NachKant kann nur entweder der Zweck der Gemein-

    schaftszugeh�rigkeit oder der Selbstzweck des Mo-ralischen der prim�re Bestimmungsgrund der Will-k�r sein, nicht aber beides zugleich in holistischerHarmonie und situativer Flexibilit�t inklusive derUnbedingtheit des Moralischen. Wie K�hl selber aneiner aufschlussreichen Stelle (309) andeutet, gehtes ihm selbst vielmehr um die Denkbarkeit der In-varianz bestimmter psychologischer und semanti-scher Notwendigkeiten in einem solchen Szenario.Diese mag unbestritten sein – besagte Invarianz hatKant aber auch nicht vorrangig besch�ftigt. Sieh�tte Kant aber ‚unbedingt‘ besch�ftigen m�ssen,damit er durch solche Reflexionen ernsthaft in Be-dr�ngnis gebracht werden k�nnte. Wenn K�hl z.B.auf Williams’ Argument verweist, auch bei supere-rogatorischen Akten, zu denen man nicht ver-pflichtet sei, k�nne man nicht behaupten, dass diesie ausf�hrende Person nicht auch eine unbedingteNotwendigkeit mit ihnen verbinde, ist das ja allesplausibel vermutet, doch weiß man doch ebensogenau, dass manche geistig gesunden Menschenmit vollkommen absurden Handlungen (z.B.Zw�nge jeglicher Art) dieselbe praktische (nicht-moralische) Unbedingtheit verbinden. In metho-discher Hinsicht stellt sich hier die Frage: Wie sollman mit Gedankenexperimenten zu m�glichensubjektiven Notwendigkeiten m�glicher Akteurezu einer belastbaren Demontierung des kantischenPflichtbegriffs gelangen k�nnen?7 Kant hat nir-gendwo die empirisch vollkommen unsinnige The-se vertreten, dass Handlungsweisen, die seinemMoralbegriff gem�ß nicht praktisch-unbedingtnotwendig sind, von keinem Vernunftwesen als

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    zu kennen, wenn er die M�glichkeit einer Selbst-autorisierung der Vernunft als „epistemisches Un-ding“ bezeichnet (290). Man fragt sich hier, warumK�hl diesen Punkt so stark macht, denn wenn mannicht immer schon davon ausgeht, dass Vernunftsich selbst autorisiert (wer sonst sollte dies tun:Gott, das Bauchgef�hl, einer der vielen zuf�lligen‚Common Senses‘ oder ‚die Natur‘ ?), dann k�nntenVernunftargumente �berhaupt nur zahnlos, da ex-tern bedingt vor sich hin existieren und keinerleinicht-kontingenten Geltungsanspruch besitzen.Hier bleibt leider offen, wie K�hl die geltungstheo-retischen Eigenschaften der (auch praktischen)Vernunft bestimmt und begr�ndet.7 Dies ist keine, etwa b�sartige, Verzerrung derk�hlschen Vorgehensweise, sondern auf Seite 313spricht er ganz klar nur von einer m�glichen Be-schreibungsvariante supererogatorischer Akte undsieht Kants Pflichtbegriff schon damit als erledigtan.

    Phil. Jahrbuch 116. Jahrgang / I (2009)

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    dennoch moralisch unbedingt geboten angesehenwerden k�nnen. Diese – nicht-kantische – Theseist in der Tat von Williams, K�hl etc. ‚widerlegt‘worden, nur hat das leider nicht so viel mit Kantzu tun, wie K�hl annimmt.

    Die abschließende Beantwortung der Frage, ob esK�hl in seiner Studie gelungen ist, die kantischeEthik samt Pflichtbegriff, Sittengesetz und Ver-nunfttheorie hinreichend�berzeugend als systema-tisch weitgehend redundantes Produkt eines unterSystemzw�ngen leidenden und zudem an unheil-barer Prinzipienfixierung erkrankten Pflichtverses-senen zu entzaubern, h�ngt entscheidend von denMaßst�ben ab, die man mit den Begriffen der„Begr�ndung“, „Widerlegung“ und allgemein der„Argumentation“ verbindet. Insofern man vontranszendentalphilosophischen (nicht zuletzthandlungstheoretisch-reflexiven, also nicht deduk-tiv-nomologischen) Begr�ndungsstandards, derNotwendigkeit der Transparenz der geltungstheo-retischen Annahmen �ber die Leistungsf�higkeitderVernunft sowie einer grundlegendenSkepsis ge-gen�ber psychologischen und Common Sense-ba-siertenArgumenten ausgeht, kannmandie Resulta-te K�hls nicht unwidersprochen stehen lassen.Auchdie Dankbarkeit gegen�ber den Rettungsversuchenvon bestimmten Begriffsskeletten, deren lebendigeVarianten sich noch im kantischen System findenließen, d�rfte sich in Grenzen halten. Dementspre-chend liegt K�hl ganz richtig, wenn er zuweilen die�berzeugungsresistenz ‚strenger Kantianer‘ antizi-piert. Dies betrifft nicht allein die Rekonstruktionund Kritik der kantischen Ethik, sondern ebensoden k�hlschen Gegenentwurf.

    Dagegen d�rfte Abschied vom Unbedingten eindurchaus unterhaltsames und lehrreiches Werk f�ralle Kant-Gegner, Kant-Skeptiker und �berhauptf�r alle diejenigen Leser sein, die die FaszinationvernunftethischerAns�tze noch nie nachvollziehenkonnten und dementsprechend nach einem nicht-fideistischen,moralpsychologischgest�tztenAlter-nativentwurf suchen. Selbst wennman, wie der Re-zensent, nicht von den systematischen Aspektendes Werks eingenommen wird, kann man anerken-nen, dass K�hl mit dem Unbedingtheitsbegriff so-wohl bei Kant als auch den anderen Autoren einkl�rungsbed�rftiges Thema mit einigen in der Tatsubstantiell relevanten Aspekten bearbeitet hat.Eine verbindliche Begr�ndung seinesMoralbegriffshat Kant in der Tat nicht geleistet, so dass es nichtseri�s w�re, K�hls Angriff auf diesen Aspekt derkantischen Ethik einfach zu ignorieren. Zugleichspitzt sich die systematische Problematik der prak-tischen Theoriekonstruktion im Ausgang von di-vergenten Moralbegriffen in diesem Werk jedoch

    auf eine Weise zu, die dem �berzeugungspotentialnicht nur der Theorie Kants, sondern auch der Posi-tion K�hls selbst nicht ohne weiteres zutr�glich ist.

    Abschließend ist dieser Studie trotz aller ge-nannten Kritikpunkte zu w�nschen, dass sie imzeitgen�ssischen Diskurs Beachtung findet undfruchtbar diskutiert wird. Es darf angenommenwerden, dass diese Diskussionen oftmals kontro-vers sein werden. Zumindest in dieser Hinsichtwird K�hl an eines seiner mit diesem Buch vermut-lich verbundenen Ziele gelangen.

    Christoph Bambauer (Essen)[email protected]

    Christian Helmut Wenzel, An Introduction toKant’s Aesthetics. Core Concepts and Problems,Malden/Oxford/Carlton, Victoria: Blackwell Publi-shing 2005, 183 S., ISBN-13: 978-1405130363.

    Christian Helmut Wenzel, Professor f�r Philoso-phie an der National Chi Nan University in Taiwan,adressiert seine Einf�hrung in Kants �sthetik anLeser ohne spezielle Vorkenntnisse. Diese Einf�h-rung folgt auf eine deutschsprachige Studie desAutors zum Problem der subjektiven Allgemein-g�ltigkeit des Geschmacksurteils bei Kant1, ist alsovon einem Spezialisten verfasst, der sich souver�nin Kants Texten und in der Forschungsliteraturbewegen kann. Henry Allison w�rdigt dementspre-chend im Vorwort, es hande