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CHRISTINE F EEHAN Dunkle Stunden der Begierde

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CHRISTINE FEEHAN lebt gemeinsam

mit ihrem Mann und ihren elf Kindern in

Kalifornien. Sie schreibt seit ihrer frühesten

Kindheit. Ihre Romane stürmen regelmäßig

die amerikanischen Bestsellerlisten, und

sie wurde in den USA bereits mit zahlrei-

chen Literaturpreisen ausgezeichnet. Auch

in Deutschland erfreut sich die Autorin

einer stetig wachsenden Fangemeinde.

Auf Christine Feehans englischsprachiger

Homepage www.christinefeehan.com

erhalten Sie weitere Informationen über

die Autorin.

© Privat

Ein Blick auf Charlotte genügt, und der Karpatianer

Tariq steht in Flammen: Plötzlich pocht das Blut

in seinen Adern, Farben stürmen auf ihn ein und

er fühlt sich wieder lebendig. Doch Tariq weiß nicht, dass

seine Seelengefährtin von den blutrünstigen Mördern

ihres Bruders gejagt wird. Und während Tariq sie in einen

Strudel aus Leidenschaft und Lust zieht, kommt ihr Feind

immer näher. Ein Feind, dem vielleicht nicht einmal ein

uralter Karpatianer wie Tariq gewachsen ist …

Band 30 der Karpatianer-Reihe

Als Charlotte das erste Mal

einen Fuß in den Nacht-

club des Karpatianers Tariq

setzt, ändert sich alles. Nur ein einziger

Blick auf sie genügt, und Tariq steht in

Flammen: Plötzlich pocht das Blut in

seinen Adern, Farben stürmen auf ihn ein

und zum ersten Mal seit Jahrhunderten

fühlt er wieder etwas. Kein Zweifel,

Charlotte ist seine Seelengefährtin – und

er würde alles tun, um sie zu beschützen.

Schon bald muss er genau das unter

Beweis stellen. Ein tödlicher Feind ist

Charlotte auf den Fersen. Sie muss ein

gefährliches Spiel spielen, um ihr Leben

zu retten, und begibt dabei sich und

ihre beste Freundin in höchste Gefahr:

Sie benutzt sich als Lockvogel, um die

blutrünstigen Killer hervorzulocken,

die bereits ihren Bruder und Mentor

ermordet haben. Und während Tariq

sie in einen Strudel aus Leidenschaft

und Lust zieht, kommt ihr Feind immer

näher. Ein Feind, dem vielleicht nicht

einmal ein uralter Karpatianer wie Tariq

gewachsen ist …

Dunkle

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rde

CHRISTINE

FEEHANDunkle Stunden

der Begierde

Dunkle Stunden der Begierde

Christine Feehan

Dunkle Stunden der Begierde

Roman

Aus dem Englischen von Anita Nirschl

Besuchen Sie uns im Internet:www.weltbild.de

Genehmigte Lizenzausgabe für Weltbild GmbH & Co. KG,Werner-von-Siemens-Str. 1, 86159 Augsburg

Copyright der Originalausgabe © 2016 by Christine Feehan All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

This edition published by arrangement with The Berkley Publishing Group, an imprint of Penguin Group, a division of Penguin Random House LLC.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnÜbersetzung: Anita Nirschl

Umschlaggestaltung: Johannes Frick, NeusäßUmschlagmotiv: © Johannes Frick unter Verwendung von Shutterstock-Motiven

(© OLJ Studio, © Galyna Andrushko, © Iriska48)Satz: Datagroup int. SRL, Timisoara

Druck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o., PohorelicePrinted in the EU

ISBN 978-3-95973-264-2

2020 2019 2018 2017Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Lizenzausgabe an.

Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Dark Carousel bei Berkley, New York.

Für Sheila Clover English.Danke, dass du stets eine so gute Freundin bist.

Ganz egal, ob in guten oder besonders schlechten Zeiten, du bist immer für mich da.

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Charlotte Vintage strich sich die verirrten rotbraunen Locken hinter die Schultern und lehnte sich zu ihrer besten Freundin Genevieve Marten hinüber. Kalte, unbehagliche Schauer kro-chen ihr über den Rücken. Sie konnte sich nicht entspannen, nicht einmal bei einem Drink und guter Musik.

»Wir wissen, dass sie uns hierher gefolgt sind, Genevieve«, flüsterte sie hinter vorgehaltener Hand. Im Club zu flüstern, während die Bässe in wildem Rhythmus wummerten, war nicht leicht, doch es gelang ihr. Sie hatten erreicht, was sie wollten, aber nun, da sie ihre drei Verfolger ausfindig gemacht hatten, was sollten sie jetzt tun?

»Wir müssen verrückt gewesen sein zu glauben, dass wir das hier hinkriegen könnten, Genevieve. Wir sollten uns definitiv nicht so einer Gefahr aussetzen.«

Vor allem fand Charlotte, dass sie Genevieve dieser Gefahr nicht hätte aussetzen dürfen. Zumindest nicht, wenn sie beide zusammen waren. Nicht, wenn sie auch noch an eine Dreijäh-rige denken mussten.

Langsam ließ sie den Blick umherschweifen, um zu versu-chen, jedes Detail in sich aufzunehmen. Der Palace war der hei-ßeste Club der Stadt. Alle mit Rang und Namen kamen hierher. Obwohl die Location über vier Etagen verfügte, war jede davon vollgestopft, ebenso wie der Underground Club im Unterge-schoss. Männer versuchten unablässig, ihren Blick auf sich zu ziehen. Sie würde nicht so tun, als wüsste sie nicht, dass Genevieve bildschön war und dass sie auch nicht unbedingt hässlich anzu-sehen war. Zusammen erregten sie Aufmerksamkeit, wo auch immer sie hingingen – und das war schlecht.

»Wir verhalten uns zur Abwechslung mal wie normale Frauen«, erwiderte Genevieve ein wenig trotzig. »Ich habe das

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Versteckspiel satt. Wir müssen mal raus. Vor allem musst du mal raus. Du arbeitest die ganze Zeit. Ehrlich, Charlie, wir wer-den noch alt und grau, während wir uns verstecken. Was hat es uns denn bisher gebracht? Wir sind noch keinen Schritt näher dran, herauszufinden, wer uns all das antut.«

»Ich kann es mir nicht leisten, den Lockvogel zu spielen«, be-tonte Charlotte. »Und du kannst es dir auch nicht leisten. Je-denfalls nicht wir beide zusammen, wenn wir uns um Lourdes kümmern müssen. Sie darf nicht jeden Menschen in ihrem Le-ben verlieren. Alles in mir sträubt sich dagegen, mich zu verste-cken, aber ich muss in Betracht ziehen, was mit ihr passieren würde, falls ich getötet werde. Ihr Vater wurde bereits ermordet. Sie hat keine Mutter mehr. Ich bin alles, was sie noch hat.« Als Genevieve ihr einen bedeutsamen Blick zuwarf, korrigierte sie sich hastig. »Ich meine natürlich, wir sind alles, was sie noch hat.«

Charlotte war ebenso wenig der Typ, der sich vor einem Feind versteckt, wie Genevieve. Sie hatten sich in Frankreich kennengelernt, wo sie beide Kunst studiert hatten. Genevieve malte, und sie war gut. Mehr als gut. Ihre Landschaften und Portraits begannen bereits auf großes Interesse zu stoßen und waren bei Sammlern begehrt. Charlotte, die Gemälde und Schnitzereien restaurierte, hatte sich auf alte Karusselle speziali-siert.

Genevieve war Französin. Sie war groß, hatte langes, glänzen-des dunkles Haar und große grüne Augen. Der Farbton war nicht einfach nur Grün, sondern ein dunkles Waldgrün. Ein er-staunliches Grün. Sie hatte die Figur eines Models, und tatsäch-lich hatten mehrere große Agenturen versucht, sie unter Vertrag zu nehmen. Sie war finanziell unabhängig, da sie von ihren El-tern und Großeltern beider Seiten einiges an Vermögen geerbt hatte.

Genevieves Großmutter mütterlicherseits hatte sie aufgezo-gen. Vor ein paar Monaten war diese Grand-mère, ihre letzte le-bende Verwandte, brutal ermordet worden. Wenige Wochen

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später war ein Mann, mit dem Genevieve regelmäßig ausgegan-gen war, auf dieselbe Weise umgebracht worden. Man hatte ihm die Kehle aufgerissen, und er hatte keinen Tropfen Blut mehr in seinem Körper. Charlottes Mentor und Ausbilder war eine Woche darauf brutal getötet worden.

Zweimal hatten die beiden Frauen bemerkt, dass jemand spätabends versuchte, in ihr Haus einzudringen. Sie hatten alle Fenster und Türen verriegelt, aber wer auch immer hinter ihnen her war, hatte hartnäckig an den Scheiben und den schweren Türen gerüttelt und sie terrorisiert. Sie riefen die Polizei. Am Morgen fand man zwei Officer tot vor dem Haus, beide ausge-blutet und mit aufgerissener Kehle.

Wenige Wochen später erhielt Charlotte die Nachricht, dass ihr einziger Bruder tot aufgefunden worden war, auf dieselbe Weise ermordet. In Kalifornien. Den Vereinigten Staaten. Weit weg von Frankreich. Weit weg von ihr. Er hinterließ seine Firma und seine Tochter, die dreijährige Lourdes. Lourdes’ Mutter war im Kindbett gestorben, wodurch Charlottes Bruder sie alleine hatte großziehen müssen. Und nun war Charlotte für sie ver-antwortlich. Genevieve hatte sich entschieden, ihre Freundin nach Kalifornien zu begleiten. Wer auch immer hinter ihnen beiden her war, befand sich nun in den Staaten, und sie wollte ihn finden.

Genevieve legte ihre Hand auf die von Charlotte. »Ich weiß, Lourdes hat für dich oberste Priorität. Für mich genauso. Sie ist ein wunderbares kleines Mädchen und eindeutig traumatisiert durch das, was sie mitangesehen hat. Sie hat solche Albträume, dass sie sogar mich damit aufweckt, und dabei wohne ich noch nicht mal im selben Haus.«

Genevieve übertrieb damit nicht, das war Charlotte völlig klar. Genevieve wusste es jedes Mal, wenn Lourdes Albträume hatte, selbst wenn sie nicht bei ihnen über Nacht war. Dann rief sie jedes Mal an, um sich zu vergewissern, dass es der Kleinen gut ging. Lourdes war dabei gewesen, als man ihren Vater er-mordet hatte. Der Killer hatte das Kind am Leben gelassen, und

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sie hatte mehrere Stunden lang allein im Haus neben ihrem nie-dergemetzelten Vater gesessen, bis ihre Nanny Grace Parducci sie fand, eine Frau, die mit Charlotte zur Schule gegangen war.

»Die Polizei ist mit der Aufklärung der Morde noch keinen Schritt weitergekommen, Charlie. Weder hier noch in Frankreich. Lourdes ist ebenso in Gefahr wie wir. Vielleicht noch mehr.« Genevieve stützte das Kinn in die Hand, während sie ihren Stuhl näher an Charlotte heranrückte, um über die Musik hinweg gehört zu werden. »Ich habe viel darüber nachgedacht und wie das alles angefangen hat. Was wir getan haben könn-ten, um die Aufmerksamkeit irgendeines Verrückten auf uns zu ziehen.«

Charlotte nickte. Sie hatte ebenfalls darüber nachgedacht. Worüber konnte sie sonst nachdenken? Beide hatten alle Fami-lienmitglieder verloren, bis auf die kleine Lourdes. Charlotte wollte sie nicht auch noch verlieren, und obwohl sie alle mög-lichen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hatten, fühlte sie sich in letzter Zeit nicht mehr sicher. Überhaupt. Nicht. Mehr. Grace hatte ebenfalls berichtet, dass sie das Gefühl hatte, verfolgt und beobachtet zu werden.

Charlotte wusste, zu einem gewissen Teil war sie deshalb mit Genevieve in den Club gekommen, weil sie versuchen wollte, den Mörder aus der Reserve zu locken. Sie war jedenfalls vorbe-reitet. Sie hatte Waffen bei sich. Mehrere. Die meisten davon waren eher ungewöhnlich, aber sie hatte sie bei sich. Ehrlich ge-sagt wusste sie nicht, ob die Leute, die sie verfolgten, dieselben waren, die ihren Bruder ermordet hatten, aber es sah ganz da-nach aus.

Charlotte war nicht die Sorte Frau, die vor ihren Feinden da-vonlief, und es machte sie wütend, dass der Mörder ihres Bru-ders auf freiem Fuß war – dass er oder sie versuchte, sie zu ter-rorisieren. Nicht nur versuchte – sie hatte tatsächlich schreckli-che Angst um Lourdes. Sie hatte keine Ahnung, warum das kleine Mädchen am Leben gelassen worden war, doch sie würde keine Risiken bei ihr eingehen. Alleine in diesen Club zu kom-

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men war eine Chance, den Mörder aus der Reserve zu locken, ohne Lourdes in Gefahr zu bringen.

»Dieses blöde Psychocenter, in das wir gegangen sind, um uns auf übersinnliche Fähigkeiten testen zu lassen«, murmelte Charlotte. »Das war mir gar nicht geheuer.«

Genevieve nickte. »Genau. Das Morrison Center. Das Ganze hatte nur ein Jux sein sollen, aber es war ganz und gar nicht lus-tig. Die haben sich viel zu schnell für uns interessiert und uns wirklich sehr persönliche Fragen gestellt. Als wir gingen, hatte ich das Gefühl, dass man uns folgte.«

Charlotte war es ebenso gegangen. Das Gebäude war nur ein Verhau gewesen, allerdings in einer belebten Gegend, deshalb hatte sich keine von beiden etwas dabei gedacht. Sie behaupte-ten beide oft, übersinnlich veranlagt zu sein, und waren der Meinung, es könnte Spaß machen, sich testen zu lassen, so wie man sich aus der Hand lesen lässt. Ein lustiger Zeitvertreib. Er hatte sich allerdings als nicht sehr lustig herausgestellt.

Charlotte schaute in Genevieves grüne Augen und sah darin denselben Schmerz widergespiegelt, den sie fühlte. Wer hätte gedacht, dass etwas, das sie aus einer Laune heraus getan hatten, so schreckliche Folgen haben würde? So war es stets bei ihnen. Sie dachten beide ähnlich, wussten, was der anderen durch den Sinn ging.

»Seit wir dort waren, komme ich mir vor, als würden wir be-obachtet«, sagte Genevieve. »Regelrecht observiert. Als wir noch in Frankreich waren, bevor Grand-mère ermordet wurde, haben mich ein paar Männer um ein Date gebeten, und die waren mir irgendwie nicht geheuer. Während sie mit mir geredet haben, tauchte immer wieder das Bild des Testcenters in meinem Kopf auf, und ich konnte nicht anders, als sie damit zu verbinden.«

Charlotte nickte verstehend. Dasselbe war ihr auch mehr als einmal passiert. Und dann waren die Morde geschehen. Seit-dem waren sie viel vorsichtiger. Keine Dates. Kein Spaß. Keine Fremden in ihrem Leben. Charlotte führte die Kunsttischlerei ihres Bruders und machte ein wenig Kunstrestauration neben-

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bei, aber sie hatte seit Monaten nicht wirklich in ihrem eigenen Beruf gearbeitet. Nicht seit sie in die Vereinigten Staaten zu-rückgekehrt war.

»Was sollen wir tun, Charlie?«, fragte Genevieve. »Ich kann so nicht mehr lange weiterleben. Ich weiß, ich sollte dankbar sein, dass ich am Leben bin, dass wir am Leben sind, und ich will nichts tun, das Lourdes in Gefahr bringen könnte, aber ich komme mir vor, als würde ich ersticken.«

Charlotte wusste, wie sie sich fühlte. »Wir haben den ersten Schritt gemacht, indem wir hierhergekommen sind. Und dabei waren wir nicht gerade unauffällig, Vi. Wir haben eine Menge Aufmerksamkeit auf uns gezogen. Diese Männer, die immer wieder mit uns tanzen wollen – bei denen spüre ich diese un-heimlichen Schwingungen wie in dem Testcenter. Wie ist es bei dir? Und kommen sie dir nicht irgendwie bekannt vor? Ich könnte schwören, dass ich sie schon mal gesehen habe. Ich glaube, in Frankreich.«

Genevieve folgte Charlottes Blick zu den drei Männern, die sie unablässig zum Tanzen aufforderten und ihnen Drinks an den Tisch kommen ließen. Sie zwinkerten ihnen schon den ganzen Abend lang zu und blieben stets in ihrer Nähe. Sie wa-ren gute Tänzer; sie hatten andere Frauen aufgefordert, und Charlotte hatte sie beobachtet. Alle drei Männer wussten auf der Tanzfläche, was sie taten. Alle drei sahen außerordentlich gut aus. Sie wirkten wie Männer, die häufig in den Club kamen und dort jede Menge Frauen abschleppten. Dennoch: Irgendet-was war seltsam an ihnen.

»Geht mir genauso. Der eine namens Vince, Vince Tidwell, berührt mich jedes Mal, wenn er mir nahe genug kommt. Er streichelt mir einfach mit einem Finger über die Haut. Aber an-statt eines angenehmen Schauers bekomme ich davon Gänse-haut, und sofort sehe ich in meinen Gedanken das Testcenter vor mir. Ich sage mir immer wieder, dass wir in Frankreich ge-testet wurden, also warum sollten sie uns hierher folgen? Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es getan haben.«

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»Also vielleicht sollten wir gehen und dann draußen auf sie warten, um zu versuchen, ihnen zu folgen«, schlug Charlotte vor. »Lourdes ist für heute Nacht in Sicherheit. Ich habe ein halbes Dutzend Mal angerufen, und Grace hat mir versichert, dass an der heimischen Front alles ruhig ist. Wir könnten ihnen heute Nacht folgen und herausfinden, wo sie wohnen und wer sie wirklich sind. Vielleicht finden wir heraus, was sie von uns wollen.«

Genevieves große grüne Augen leuchteten auf. »Absolut. Ich muss irgendwas tun, damit ich nicht das Gefühl habe, untätig herumzusitzen und nur darauf zu warten, dass jemand mich umbringt. Ich muss irgendetwas Nützliches tun, um mir selbst zu helfen.«

Charlotte nickte zustimmend, aber sie sollte es besser wissen. Sie hatte jetzt Lourdes. Musste Verantwortung übernehmen. Eine gewaltige Verantwortung. Charlotte war immer schon abenteuerlustig gewesen. Sie tat alles dafür, um sich ihre Träume zu erfüllen, stürzte sich kopfüber in Dinge, vor denen andere sich fürchteten. Sie war nicht zu Hause bei ihrem Bruder ge-blieben, sondern hatte schon als Jugendliche hart gearbeitet, um sich ihre Reise nach Frankreich finanzieren zu können, wo-hin sie schon immer wollte. Sie lernte früh Französisch und büffelte fleißig, bis sie die Sprache wie eine Muttersprachlerin beherrschte. Sie hatte ihren Bruder zurückgelassen und war nur zurückgekommen, um ihm zu helfen, als seine Frau starb. Und dann war sie wieder fortgegangen.

»Egoistisch«, murmelte sie laut. »Ich war immer egoistisch, habe getan, was ich wollte. Ich will ihnen ja auch folgen, Vi. Das schwöre ich.« Sie musste mit ihrem Mund dicht an Genevieves Ohr kommen, um über die Musik hinweg gehört zu werden. Sie war eigentlich nicht der Typ Frau, der sich zu Hause unter der Bettdecke verkroch, aber wie sollte sie sich richtig verhal-ten? Sie wusste es wirklich nicht.

»Lourdes wäre viel sicherer, wenn wir es herausfinden, Charlie«, betonte Genevieve.

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Damit sagte sie nichts, was sich Charlotte nicht auch schon selbst gesagt hatte, doch sie wusste immer noch nicht, ob das vielleicht nur ein Vorwand war, etwas zu unternehmen, weil sie eine Rechtfertigung brauchte, den Kampf aufzunehmen und es ihrem Feind zu zeigen.

Sie traf eine Entscheidung. Sie konnte sich einfach nicht wei-ter verstecken. Es entsprach nicht ihrem Charakter, und Genevieve hatte so recht  – Lourdes brauchte ein normales Leben. Sie konnten nicht ständig umziehen und versuchen, ihre Spuren zu verwischen. »Dann tun wir es, Vi. Wir können ihnen folgen und sehen, ob wir herausfinden können, was sie im Schilde füh-ren. Du darfst allerdings nicht so aussehen, wie du aussiehst. Du ziehst viel zu viel Aufmerksamkeit auf dich.«

Charlotte riskierte einen weiteren raschen Blick zu den drei Männern. Der eine namens Daniel Forester schien ihr Anführer zu sein. Seine beiden Freunde richteten sich definitiv nach ihm. Er war groß und gut aussehend und wusste das auch. Selbst während er mit einer anderen Frau tanzte, starrte er zu Charlotte herüber. Die Frau himmelte ihn regelrecht an, aber er ignorierte sie, um stattdessen Charlotte zu fixieren.

Sie zog die Augenbrauen hoch, um ihn wissen zu lassen, dass sie ihn für unhöflich hielt, doch er grinste sie nur an, als teilten sie ein Geheimnis miteinander. »Er ist ein arrogantes Arsch-loch«, zischte sie.

»Genau wie seine Freunde. Playboys. Alle drei«, erwiderte Genevieve. »Sie wissen, dass sie attraktiv sind, und setzen ihr gutes Aussehen ein, um Frauen abzuschleppen.«

Charlotte konnte nicht anders, sie lachte leise und unter-brach den Blickkontakt mit Daniel, um ihre beste Freundin zu mustern. Genevieve war perfekt geschminkt und sah aus wie ein Laufstegmodel. »Ernsthaft? Wir verhalten uns gerade wirk-lich schlimm, Vi. Wir wissen schließlich auch beide, dass wir gut aussehen, und sind hergekommen, um ein bisschen Spaß zu haben.«

»Keine Ahnung, wovon du redest, Charlie«, protestierte

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Genevieve hochmütig. »Ich sehe immer so aus. Schon wenn ich morgens aufwache.«

Charlotte warf ihr eine Kusshand zu. »Um die Wahrheit zu sagen, du siehst wirklich schon beim Aufwachen so aus. Das ist geradezu ekelhaft.«

»Oh-oh, da kommen sie. Sie bringen Drinks. Vince und sein Freund Bruce auf neun Uhr. Für ihren Freund Daniel haben sie auch noch einen dabei.« Genevieve hatte die Stimme gesenkt, sodass Charlotte über die Musik hinweg kaum noch verstehen konnte, was sie sagte.

Beide Frauen setzten ein Lächeln auf, als die beiden Männer sich mit den Füßen Stühle herbeizogen und sich ungefragt an ihren Tisch setzten.

»Ich weiß, ihr habt uns vermisst«, sagte Bruce Van Hues. »Also haben wir euch was mitgebracht.« Er stellte die Drinks vor sie hin und ließ ein Lächeln aufblitzen, als würde sie das überzeugen, dass er nur scherzte.

»Wir waren schon ganz krank vor Sehnsucht«, erwiderte Charlotte. »Konnten kaum noch atmen ohne euch.«

Vince lachte und stupste Genevieve spielerisch mit der Schul-ter an, dann rückte er seinen Stuhl sehr dicht an sie heran, um zu demonstrieren, dass er sie für sich beanspruchte. Charlotte bemerkte, dass Genevieves Augen sich von ihrem normalen leuchtenden Grün zu einem viel tieferen Waldgrün verdunkel-ten, wie Moos nach einem Regenschauer. Das war immer, im-mer ein schlechtes Zeichen bei ihrer besten Freundin. Genevieve hatte ein leicht aufbrausendes Temperament. Ihre Wut loderte heiß und wild auf, hielt jedoch nie lange an. Charlotte dagegen konnte ziemlich nachtragend sein. Darüber war sie nicht glück-lich, aber sie musste der Ehrlichkeit halber zugeben, dass sie einen Groll lange hegen konnte. Sehr lange.

Charlotte wusste, dass Vince sich aufrichtig von Genevieve angezogen fühlte. Den meisten Männern ging das so. Genevieve war umwerfend. Aber Charlotte war ziemlich sicher, dass ihnen die drei Männer in den Club gefolgt waren und sie nicht ein-

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fach zufällig aus einer Menge Frauen ausgewählt hatten. Vier Stockwerke voller Frauen. Viele davon waren schön, und die meisten von ihnen waren darauf aus, jemanden mit nach Hause zu nehmen. Genevieve und Charlotte dagegen hatten dem Trio mehrmals deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nicht auf un-verbindliche Bettgeschichten aus waren. Doch das hatte sie nicht im Geringsten abgehalten.

Nun kam auch Daniel herübergeschlendert, zog sich einen Stuhl neben den von Charlotte und ließ sich darauffallen. »Ich glaube, für heute Abend habe ich meine Pflicht getan.« Er nahm den Drink, der vor Charlotte stand, grinste sie an und trank einen Schluck davon. »Aber du noch nicht, Lady. Du hast fast überhaupt nicht getanzt. Stell dir nur vor, wie viele Männer du damit enttäuschst.«

Charlotte warf ihm kopfschüttelnd ein leichtes Lächeln zu. Er hielt sich wirklich für charmant. Als er ihr den Drink zu-schob, legte sie die Finger bewusst genau an der Stelle um das Glas, an der seine Finger es berührt hatten, bevor sie es an die Lippen setzte und etwas von seinem Inhalt in ihren Mund kippte. Der Schock traf sie heftig, wie jedes Mal, wenn sie sich einer übersinnlichen Verbindung öffnete. Ihr Geist wurde zu einem Tunnel, und sie fand sich in leerem Raum wieder, in dem sie die letzten Gedankengänge der Männer vor sich sah, die das Glas vor ihr berührt hatten.

Zuerst der Barkeeper. Seine Berührung hatte sich im Glas eingeprägt. Er machte sich Sorgen um seine Mutter und mochte seinen Vater nicht. Er wollte eine Gehaltserhöhung und hatte es satt, von betrunkenen Frauen angemacht zu werden. Er wünschte sich, er könnte sich offen outen und verkünden, dass er auf Männer stand, aber sein Vater hatte deutlich gemacht, dass er dadurch die Familie kaputt machen und von ihr versto-ßen werden würde. Der Barkeeper wünschte, er hätte den Mut, seinem Vater zu sagen, er solle sich zum Teufel scheren, und sei-ner Familie einfach den Rücken zu kehren, anstatt eine Lüge zu leben.

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Charlotte hatte Mitleid mit dem Mann und riskierte einen raschen Blick in Richtung Bar. Davor drängten sich zu viele tanzende Leiber, als dass sie ihn sehen konnte, und sie wusste, dass sie damit das Unvermeidliche nur hinauszögerte – nämlich zuzulassen, Daniels Erinnerungen zu lesen. Kurze Szenen aus Horrorfilmen drängten sich in ihr Blickfeld. Ein Pflock, der einem Mann in die Brust gerammt wurde. Blut spritzte wie eine Fontäne hervor. Die Augen des Opfers waren weit aufgerissen und enthüllten Entsetzen und schreckliches Leid. Daniel schwang einen Hammer, um den Pflock tiefer in die Brust zu treiben. Stimmen spornten ihn an. Mit Widerwillen für die Aufgabe, aber voller Entschlossenheit.

Keuchend ließ Charlotte das Glas los, sprang auf und wich so jäh vom Tisch zurück, dass sie dabei ihren Stuhl umstieß. Das war kein Horrorfilm. Sondern Wirklichkeit. Einen Augenblick lang konnte sie nicht mehr atmen. Es war keine Luft mehr im Raum. Er hatte das wirklich getan. Einen Menschen getötet, in-dem er ihm einen Pflock ins Herz gestoßen hatte. Vince war auch dabei gewesen. Ebenso wie Bruce. Sie hatte ihre Stimmen erkannt.

Benommen nahm sie wahr, dass die Männer aufgestanden waren und Genevieve ihren Arm packte. Daniel legte ihr die Hand in den Nacken, weil er befürchtete, sie könnte in Ohn-macht fallen. Seine Berührung machte es nur noch schlimmer. Sie empfing keine Erinnerungen durch die Berührung von Menschen, nur von Gegenständen, aber sie kam sich immer noch so vor, als wäre sie unmittelbar dabei, als sähe sie dabei zu, wie er einem Mann einen Pflock ins Herz hämmerte, ihn bei vollem Bewusstsein quälte. Bei der Vorstellung stieg ihr Magen-säure in der Kehle hoch, und sie hielt sich eine Hand vor den Mund.

»Ich glaube, mir wird schlecht«, flüsterte sie.Genevieve fasste sie um die Taille und führte sie von Daniel

und den anderen fort in Richtung der Toiletten. »Was ist los, Charlie?«, flüsterte sie. »Was hast du gesehen?«

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»Er hat einen Mann umgebracht«, stieß Charlotte erstickt hervor. »Heute Abend. Bevor sie hergekommen sind. Er hat dem Mann einen Pflock ins Herz gestoßen, während er noch am Leben war. Bei vollem Bewusstsein. Die anderen beiden wa-ren auch bei ihm. Und dann sind sie hierhergekommen. Um zu trinken. Zu tanzen. Zu lachen.«

Genevieve blieb direkt vor den Damentoiletten stehen und warf einen Blick über ihre Schulter. »Sie beobachten uns, Charlie. Lass uns reingehen, wo wir außer Sichtweite sind.«

Charlotte nickte. Sie musste sich zusammenreißen. »Es war nur so ein Schock. Sie haben einen Mann getötet und sind dann hierhergekommen, um zu tanzen.« Sie ließ sich von Genevieve in die Damentoilette führen. »Oder Frauen abzuschleppen.«

»Besonders uns«, betonte Genevieve. »Ich empfange von ih-nen die Schwingungen, dass sie es total auf uns abgesehen ha-ben. Nicht auf irgendwelche Frauen. Sie hätten heute Abend definitiv die freie Auswahl gehabt. Mehrere Frauen haben deut-lich zu verstehen gegeben, dass sie gern mit ihnen nach Hause gehen würden, aber sie kommen immer wieder zu uns zurück.« Sie schaute sich in der überfüllten Damentoilette um und senkte ihre Stimme noch mehr. »Denkst du, sie könnten dieje-nigen sein, die deinen Bruder und meine Großmutter umge-bracht haben?«

Charlotte runzelte die Stirn und zwang sich, sich nicht länger auf Genevieve zu stützen und wieder auf eigenen Beinen zu ste-hen. Ihr Magen hob sich zwar noch immer, aber nun hatte sie es unter Kontrolle. »Es tut mir leid, Vi – es war einfach nur so schockierend. Ich habe das Glas losgelassen, bevor ich noch mehr sehen konnte. Das hätte ich nicht tun sollen, obwohl der Mord so frisch war, dass er wahrscheinlich alles andere über-deckt hätte.« Sie rieb sich die Falten aus der Stirn und warf Genevieve ein schiefes, halbherziges Lächeln zu. »Ich bin in Panik geraten. Das ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht pas-siert. Da sieht man eben, was passiert, wenn man ein Kind hat. Man wird nachlässig.«

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»Was sollen wir jetzt tun, Charlie?«Charlotte holte tief Luft, dann straffte sie die Schultern. »Wir

werden versuchen, so viele Informationen wie möglich in so wenig Zeit wie möglich herauszubekommen, und dann ver-schwinden wir. Mal sehen, ob sie uns folgen. Wenn ich heraus-finden kann, wo sich die Leiche befindet, kann ich den Cops einen anonymen Tipp geben und sie als die Mörder nennen.«

»Du willst zurück an den Tisch gehen und dich wieder zu ih-nen setzen?«, fragte Genevieve mit vor Schreck weit aufgerisse-nen Augen.

Charlotte nickte. »Wir dürfen uns nicht anmerken lassen, dass wir über sie Bescheid wissen. Wir müssen es einfach her-unterspielen, so als wäre mir plötzlich schlecht geworden oder so was. Ich lasse mir eine Erklärung einfallen.«

Genevieve holte tief Luft und nickte dann langsam. »Okay. Ich kann es, wenn du es kannst. Aber lass uns so bald wie mög-lich von hier verschwinden.«

»Einverstanden. Wir müssen vor ihnen aus dem Club raus-kommen und dann eine Möglichkeit finden, wie wir beobach-ten können, ob sie versuchen, uns zu folgen. Den Spieß umzu-drehen wird gefährlich werden, Vi. Wenn sie uns folgen, dann wollen sie etwas von uns. Und der Mord an diesem Mann muss irgendwie damit zusammenhängen.«

Genevieve schluckte heftig. »Hast du ihn erkannt? War es je-mand, den wir kennen?«

Charlotte versuchte, sich auf den Ermordeten zu konzentrie-ren. Er war um die vierzig gewesen. Dunkles Haar. Sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt gewesen, seine Augen voller Entsetzen und grausamer Qual. Diese Augen würden sie bis in den Schlaf verfolgen. Sie schüttelte den Kopf und versuchte, den Schauer zu unterdrücken, der durch ihren Körper lief. »Ich weiß es nicht. Er kam mir schwach bekannt vor. Möglicherweise hat er für Matt gearbeitet. Mein Bruder hatte eine Menge Angestellte. Als ich die Firma verkauft habe, wurden ein paar von ihnen ent-lassen, und das hat sie wütend gemacht. Ich bekam viele Dro-

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hungen.« Sie fuhr sich mit der Hand durch ihr dichtes Haar. »Ich kann ihn einfach nicht zuordnen. Er sah … entsetzt aus. So gequält und voller Schmerzen. Ich verstehe nicht, was sie ihm angetan haben.«

»Sie haben ihm einen Pflock ins Herz gestoßen? Du meinst, so wie bei Vampiren im Film?«, fragte Genevieve. »Denn als Grand-mère und dein Bruder ermordet wurden, waren ihre Lei-chen blutleer und ihre Kehlen aufgerissen. Jemand könnte das so interpretieren, dass sie von einem Vampir getötet wurden.«

Charlottes Augenbrauen schnellten in die Höhe. »Jetzt gera-ten wir aber wirklich außerhalb des Möglichen und in den Be-reich absoluter Fantasie.«

»Ich habe nicht gesagt, dass es Vampire gibt, nur dass irgend-ein Verrückter vielleicht glaubt, dass es sie gibt.« Genevieve seufzte. »Okay, ich gebe zu, als ich Grand-mère gesehen habe, hatte ich auch kurz den Gedanken, dass es solche Dinge wirk-lich geben könnte.«

Charlotte legte den Arm um ihre Freundin, um sie zu trös-ten.

»Es tut mir leid, Süße. Ich weiß, das war schrecklich für dich. Jeder hätte das gedacht, wenn er sie so gesehen hätte. Hoffen wir, dass es nicht wirklich so etwas wie Vampire da draußen gibt, denn bei unserem Glück wären sie mit Sicherheit hinter uns her.« Sie versuchte, ein wenig zu scherzen, obwohl ihr bei dem Klumpen, der ihr im Magen lag, absolut nicht nach La-chen zumute war.

Daniel, Vince und Bruce, die drei gut aussehenden Männer, die den Abend damit verbracht hatten, mit jeder Frau im Club und besonders mit Genevieve und ihr zu flirten, waren grau-same, kaltblütige Monster. Sie machte einen Schritt in Rich-tung Tür.

Genevieve hielt sie am Arm fest. »Warte. Warte nur noch eine Minute, Charlie, und lass mich noch mal darüber nachdenken. Ich weiß, ich war diejenige, die darauf gedrängt hat, aus unse-rem Versteck herauszukommen und zu versuchen, die Mörder

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deines Bruders und meiner Großmutter zu finden, aber viel-leicht war es falsch von mir, uns zur Zielscheibe zu machen. Diese Männer sind eindeutig Mörder, und wenn du nicht glaubst, dass sie dieselben sind, die unsere Familien umgebracht haben, dann sollten wir ihre Aufmerksamkeit nicht noch stär-ker auf uns ziehen, als wir es bereits getan haben.«

Sie waren schon viel zu lang auf der Toilette. »Wir laufen nicht davon. Das haben wir einander versprochen«, erinnerte Charlotte sie. »Wir werden nie frei sein, wenn wir nicht heraus-finden, wer unsere Lieben umgebracht hat. Lourdes wird nie frei sein. Du hattest recht, Genevieve. Ich war diejenige, die ver-sucht hat, sich zu verstecken. Für ein Kind verantwortlich zu sein hat mich aus der Bahn geworfen, aber wir sind stark. Wir haben bisher alles gemeinsam durchgestanden, und wir können es schaffen.«

»Sie werden damit nicht davonkommen, nicht wahr?«, sagte Genevieve und versuchte, ihrer Stimme einen stählernen Klang zu geben. »Wir werden herausfinden, wer uns unsere Familien genommen hat, und zwar gemeinsam.«

Charlotte blickte hoch in das schöne Gesicht ihrer Freundin und sah darin Entschlossenheit. Angst, allerdings auch Mut. Sie nickte. »Da hast du verdammt recht. Lass uns da rausgehen und wieder die Kontrolle übernehmen. Die denken vielleicht, sie hätten die Kontrolle, aber wir sind gut in dem, was wir tun.«

Genevieve warf einen Blick auf ihr Spiegelbild. »Charlie?« Sie zögerte. Lange Wimpern verschleierten ihre Augen. »Was, wenn es wirklich so etwas wie Vampire gibt? Was, wenn diese Männer sie töten?«

Charlotte öffnete den Mund, klappte ihn dann jedoch wieder zu. Genevieve hatte keine spöttische Antwort verdient. Sie musste sich sorgfältig überlegen, was sie sagte. Logisch denken. »Erstens einmal, Süße: Wenn es Vampire wirklich gäbe, hätte denn dann die Welt nicht nach all der Zeit schon von ihnen er-fahren? Und zweitens: Der Mann, den sie getötet haben, war kein Vampir. Ich habe seinen Tod gesehen. Ich habe ihn gese-

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hen. Ich habe ihn gespürt. Er war genauso ein Mensch wie wir beide. Vielleicht glauben diese Männer, Vampire zu töten, aber ich verstehe nicht, warum. Und jemandem bei lebendigem Leib und vollem Bewusstsein einen Pflock durchs Herz zu jagen, egal ob Mensch oder Vampir, ist einfach nur sadistisch. Wir dürfen bei diesen Männern kein Risiko eingehen. Wir müssen herausfinden, was sie wollen, und dabei müssen wir sehr vor-sichtig sein. Wenn sie es auf uns abgesehen haben, müssen wir herausfinden, warum.«

Genevieve holte tief Luft und nickte dann. Sie war zwar die-jenige gewesen, die darauf bestanden hatte, ihr Versteck zu ver-lassen und so zu tun, als würden sie wieder ein normales Leben führen, doch Charlotte war eher die Kriegerin von ihnen bei-den. Wenn es darauf ankam, einer Gefahr entgegenzutreten, dann war es Charlotte, die sich schützend vor Genevieve stellte.

Die beiden machten sich wieder auf den Weg zurück zum Tisch und schlängelten sich durch die Menge. Alle drei Männer warteten bereits auf sie und musterten sie aufmerksam, als sie näher kamen.

»Warum ist immer eine Schlange vor den Damentoiletten, aber bei den Männern nie?«, fragte Charlotte und warf sich auf den Stuhl neben Daniel. »Jedes Mal. Es ist verrückt, und dann würde ich am liebsten mit einem Haufen gleichgesinnter Frauen die Herrentoilette stürmen.«

»Was war los mit dir?«, fragte Daniel. Er klang charmant. Einfühlsam. Regelrecht besorgt. Aber er konnte die kalte Wach-samkeit in seinen Augen nicht verbergen. Den Argwohn.

Sie musste das Glas noch einmal berühren, ohne eine Reak-tion zu zeigen. Charlotte ließ ein verlegenes Lächeln aufblitzen. Bewusst streckte sie die Finger zu dem Glas aus, aus dem er ge-trunken hatte. »Ich bin stark allergisch gegen etwas, das sie in manche alkoholischen Sachen mischen. Ich hätte vorsichtiger sein sollen.« Sie legte die Handfläche um das Glas, genau dort, wo sie seine Fingerabdrücke vermutete, und schob es betont langsam von sich fort.

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Diesmal war sie viel besser auf den Schock vorbereitet, des-halb hielt sie ihn aus und wagte sich tiefer in den Tunnel, um noch mehr Erinnerungen zu finden. Um zu sehen, ob diese Männer ihren Bruder ermordet hatten. Sie erhaschte Bilder von Daniel, wie er Genevieve und Grace folgte, als sie ein Geschäft verließen. So hatte er herausgefunden, wo sie wohnten.

Die drei Männer hatten sich häufig abgewechselt, während sie den beiden Frauen gefolgt waren, dadurch war kein Auto längere Zeit hinter ihnen gewesen. Das erklärte, warum die stets so vorsichtige Genevieve ihre Verfolger nicht bemerkt hatte. Es erklärte auch, wie es dazu gekommen war, dass sie Grace verfolgten.

Dort in dem Tunnel fand Charlotte heraus, dass es auch noch zwei ältere Morde gab, beide ebenfalls durch einen Pflock ins Herz. Alle drei Männer waren dabei gewesen. Sie spürte nichts als einen erbitterten Hass von ihnen ausgehen. Ihr Bruder war keines der Opfer. Dennoch hatte einer der Morde in Frankreich stattgefunden. Sie erkannte die Gärten wieder, in denen Daniel sein Opfer gepfählt hatte.

Diese drei Männer waren Serienmörder. Die Leichen konn-ten nicht entdeckt worden sein, sonst wären die Morde in allen Nachrichten gekommen.

Charlotte wusste, dass sie die Hand nicht viel länger auf dem Glas lassen konnte, und lächelte weiterhin verlegen. Genevieve sah so ängstlich und nervös aus. Ihr Gesicht war blass, und ihr Blick wich den drei Männern geflissentlich aus und richtete sich stattdessen auf Charlotte, als hinge ihr Leben davon ab.

Als wüsste sie, dass die Männer ihre verzweifelte Angst be-merken könnten, lehnte sie sich zu Charlotte. »Bist du sicher, dass wir nicht lieber gehen sollten? Das letzte Mal, als du was getrunken hast, das dir so zugesetzt hat, musste ich dich ins Krankenhaus fahren.«

Charlotte war sehr stolz auf sie. Genevieve mochte zwar Angst haben, doch ihr Verstand arbeitete unablässig weiter. Sie hatte genau das Richtige gesagt, um Charlottes Erklärung zu

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untermauern. Langsam ließ sie das Glas los, nachdem sie es halb über den ganzen Tisch geschoben hatte.

»Es geht mir gut, Vi. Ich habe nur einen kleinen Schluck ge-trunken und sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmt.« Sie zuckte die Schultern. »Ich hätte es ausspucken sollen, aber ich wollte nicht, dass Daniel denkt, ich spucke ihn an.«

Die Männer lachten, obwohl sie merkte, dass es gezwungen klang. Sie war nicht sicher, ob sie ihr die kleine Scharade ab-kauften. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Es war an der Zeit, das Thema zu wechseln und ein wenig nachzuforschen. »Vi und ich haben uns in Frankreich kennengelernt und sind seitdem beste Freundinnen. Woher kennt ihr drei euch? Ihr seid offensichtlich schon lange befreundet.«

»Aus der Schule«, antwortete Vince sofort und richtete seine Aufmerksamkeit auf Genevieve. Er streichelte ihr mit einem Finger von der nackten Schulter hinunter zu ihrem Handge-lenk. »Der Grundschule. Ich liebe diesen sexy französischen Akzent, den du hast.«

Bruce nickte und lehnte sich zu Genevieve. »Wie lange bist du schon in den Staaten?«

Charlotte war dankbar für Genevieves französischen Akzent. Er war immer gut, um bei einer Unterhaltung für einen The-menwechsel zu sorgen. Als Ablenkung funktionierte er ausge-zeichnet.

»Wir haben uns kennengelernt, als wir in Paris an Kunstpro-jekten gearbeitet haben«, erklärte Genevieve, wobei sie bewusst die Aufmerksamkeit von Charlotte ablenkte. »Charlie lernte von einem der Besten der Welt, wie man Kunstwerke restau-riert, und ich habe gemalt. Wir wurden enge Freundinnen.«

Wie beiläufig griff Charlotte nach Daniels Serviette, auf der seine Hand gelegen hatte. Sie knüllte sie langsam zusammen, Finger für Finger, und zog sie wie abwesend in ihre Handfläche, während sie weiter lächelte und nickte, um zu zeigen, dass sie sich in Frankreich zur richtigen Zeit kennengelernt hatten.

Es fiel Charlotte schwer, das Lächeln aufrechtzuerhalten, und

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sie war froh darüber, dass sich die Aufmerksamkeit auf Genevieve verlagerte, denn auch wenn die Serviette ein neuer und frischer Gegenstand war, anstatt alt, wie ihre Gabe es bevorzugte, emp-fing sie von ihr genug Bilder, um zu wissen, dass Daniel und seine Freunde Genevieve und sie schon eine ganze Weile verfolg-ten. Und sie waren definitiv in Frankreich gewesen.

Ihr Herz hämmerte heftig. Sie sah das Gebäude aufblitzen, in dem sie sich auf übersinnliche Fähigkeiten hatten testen lassen. Genevieve und sie waren lachend hineingegangen, entschlos-sen, ein wenig Spaß zu haben. Keiner von ihnen war es in den Sinn gekommen, dass sie vielleicht in Gefahr sein könnten, oder dass ihnen die Gefahr folgen und womöglich anderen, die sie liebten, schaden könnte.

Daniel und Vince waren ihnen zu der Wohnung gefolgt, die sie gemeinsam gemietet hatten. Aber Charlotte sah sie nir-gendwo in der Nähe der Wohnung von Genevieves Großmut-ter, auch war da nicht einmal die schwächste Erinnerung daran, nach oder während des Mordes über deren Leiche gestanden zu haben. Sie sah sie auch nicht in der Nähe ihres Bruders oder sei-ner Wohnung.

Mit einem tiefen Atemzug ließ sie die Serviette los. Die drei Männer waren in Frankreich gewesen, ihnen vom Morrison Center aus gefolgt, wo Genevieve und Charlotte sich hatten tes-ten lassen, und nun waren sie den beiden Frauen in die Ver-einigten Staaten nachgereist. Sie waren Amerikaner, aber aus welcher Gegend genau, konnte sie nicht sicher sagen. Es frust-rierte Charlotte, dass sie keine klaren, detaillierten Informatio-nen bekam, wie es bei älteren Gegenständen der Fall war.

Vince setzte seine Unterhaltung mit Genevieve fort, fragte sie über ihre Malerei aus und was sie gerne malte und bot sich frei-willig als ihr nächstes männliches Modell an, falls sie eines suchte. Daniel und Bruce dagegen schienen auf Charlotte kon-zentriert zu sein, und einen Moment lang befürchtete sie, dass die beiden sie vielleicht etwas gefragt hatten, während sie ver-sucht hatte, Informationen zu sammeln.

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»Du restaurierst Kunstwerke?«, fragte Daniel. Er rückte nä-her zu ihr und legte seinen Arm auf die Rückenlehne ihres Stuhls, dabei strichen seine Finger über ihre nackte Haut und folgten den Spaghettiträgern ihres Tops.

Sie zwang sich, nicht zurückzuweichen, und schenkte ihm stattdessen ein leichtes Lächeln.

»Ja. Ich habe mich auf die Restaurierung sehr alter Karussell-pferde, der hölzernen Wagen und ganzer Karusselle speziali-siert. Ich kann amerikanische Karusselle restaurieren, die, die mich am meisten interessieren, stammen allerdings aus Europa. Außerhalb von Museen oder privaten Sammlungen besteht da-ran kein großer Bedarf, und sogar noch weniger hier in den Staaten, aber es ist mein Steckenpferd.«

Daniel sah verwirrt aus, wie die meisten Leute. Sie konnte ihnen nicht erklären, warum es ihr gefiel, das alte Holz zu berühren und jede Vertiefung darin, jede Schnitzerei zu spüren. Sie liebte es, alles zu erfahren, was es über den Schnitzer zu erfahren gab, der zwar schon lange von dieser Welt verschwunden, ihr aber dennoch so vertraut war, sobald sie das Kunstwerk des Schnitzers berührte.

Sie lachte leicht über seinen Gesichtsausdruck. »Ich sehe schon, du verstehst es nicht. Die Pferde sind einzigartig, jedes einzelne wurde anders geschnitzt, manche davon bereits vor mehr als dreihundert Jahren. Das ist doch unglaublich cool, oder? Ich konnte an einem arbeiten, das im Mittelalter ge-schnitzt worden war. Für junge Ritter, um sie auf die Turnier-wettkämpfe vorzubereiten. Man benutzte eine sich drehende Plattform mit Holzpferden ohne Beine, damit sie ihr Geschick üben konnten.« Trotz der gefährlichen Situation konnte sie nicht verhindern, dass sich Begeisterung in ihre Stimme mischte. Sie fand es faszinierend, dass man das Karussell bis weit ins zwölfte Jahrhundert zurückverfolgen konnte, als Araber und Türken auf Pferderücken ein Spiel mit einem parfümierten Ball gespielt hatten. Italiener und Spanier hatten den Wett-kampf beobachtet und das Spiel als »kleinen Krieg«, bezeichnet: carosello oder garosello.