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DAS KEM-MIKROFON - PRAKTISCHE ERFAHRUNGEN BEI MUSIKPRODUKTIONEN 1
VON SEBASTIAN GOOSSENS
Zusammenfassung
Mit dem Kardioid-Ebenen-Mikrofon (KEM), über dessen Eigenschaften bereits auf der
19. Tonmeistertagung 1996 in Karlsruhe ([1], [2]) berichtet wurde, hat das IRT einen völlig neuen
Mikrofontyp mit einer scheibenförmigen Richtcharakteristik – vergleichbar der einer
Lautsprecherzeile – entwickelt. Auch am Rednerpult des Plenarsaals im Berliner Reichstag hat
sich das KEM bereits bewährt (Bild 1). Dank seiner speziellen Richtcharakteristik (Bild 2) wird das
KEM, das die Firma Microtech Gefell fertigt und vertreibt, bereits bei vielen Sprachaufnahmen
(z. B. bei Theateraufführungen, Diskussionsrunden, u. a.) mit großem Erfolg eingesetzt.
Bild 1 Das KEM am Rednerpult des Plenarsaals im Berliner Reichstag
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Bundesbildstelle Berlin
1 Überarbeitete Fassung eines Vortrages, gehalten am 26. November 2000 auf der 21. Tonmeistertagung in Hannover
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In der Musikproduktion wurde es bislang nur wenig verwendet, obwohl es auch hier
entscheidende Vorteile bietet. So ist es z. B. als Stützmikrofon für den in einer Ebene
ausgedehnten Klangkörper eines Chores geeignet. Die hier vorgestellten Erfahrungen anlässlich
zweier Konzerte des Bachfestes Leipzig 2000 zeigen, dass das KEM sich auch in
Musikproduktionen bewährt und darüber hinaus dem experimentierfreudigen Tonmeister neue
Möglichkeiten eröffnet.
1. Einleitung
Anlässlich des 250. Todestages von J. S. Bach wurden am 26. und 27. Juli 2000 die
Matthäuspassion und die Messe h-moll in der Thomaskirche in Leipzig aufgeführt. Beide Konzerte
waren hochkarätig besetzt: Die Matthäuspassion, die der MDR live über mehrere
Rundfunkprogramme weltweit ausstrahlte, wurde vom Chor und Orchester des Collegium Vocale
Gent unter der Leitung von Philippe Herreweghe aufgeführt. Die h-moll-Messe, aufgeführt vom
Thomanerchor und dem Gewandhausorchester Leipzig unter der Leitung von Georg Christoph
Biller, wurde als Fernsehproduktion der Firma Euroart ebenfalls live in mehrere Länder übertragen.
Mit Unterstützung des MDR und der Produktionsfirma Euroart war es möglich, bei diesen
Musikereignissen zwei KEM-Mikrofone als Chorstützmikrofone einzusetzen. Da bei beiden
Produktionen auch die Signale der vier konventionellen Chorstützmikrofone mit
Nierencharakteristik (Typ Neumann KM143) aufgezeichnet wurden, die in einem Abstand von
1,3 m über dem Chor an einer Stahlseilkonstruktion hingen, konnte aufgrund des direkten
Vergleichs die Eignung des KEM besonders gut beurteilt werden.
Neben der Möglichkeit des A/B-Vergleichs der aufgezeichneten Signale wurde auf diese
Weise auch sichergestellt, dass typische Randbedingungen, die für eine Hörfunk- bzw.
Fernsehproduktion mit Live-Übertragung gelten, berücksichtigt wurden. Das hieß im Einzelnen:
sehr kurze Generalprobe, kurzfristig wechselnde Chor- und Orchesteraufstellung,
Mikrofonaufstellung nur in Abstimmung mit der Bildregie, sehr wenig Platz am Aufnahmeort,
Störgeräusche des Publikums, provisorische Verkabelung der Mikrofone, Erdungsprobleme usw.
Auch in dieser Hinsicht hat das KEM seine Praxistauglichkeit überzeugend unter Beweis gestellt.
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2. Stützmikrofone für den Chor
Für eine gute Aufnahme eines klassischen Chor- und Orchesterkonzertes reichen in der
Regel zwei Hauptmikrofone allein nicht aus. Üblich sind neben den zusätzlichen
Solistenmikrofonen mehrere Chorstützmikrofone mit Nierencharakteristik, die über dem Chor, an
einer Stahlseilkonstruktion hängend, angebracht werden. Der Chor steht meist in mehreren Reihen
hinter dem Orchester auf nach hinten ansteigenden Stufen und ist am weitesten von den
Hauptmikrofonen entfernt. Daher wird der Chorgesang von den Hauptmikrofonen im Vergleich zum
Orchesterklang etwas diffus, mit wenig Kontur und eher undeutlich abgebildet. Die Verwendung
von Stützmikrofonen soll deshalb vor allem die Präsenz des Chores auf der Aufnahme erhöhen.
Zugleich wird auch die Textverständlichkeit und die Ortung der Stimmgruppen des Chores
verbessert. Idealerweise sollte nur der Chor – und nicht auch Teile des Orchesters – durch die
Chormikrofone gestützt werden.
2.1. Präsenz aus der Entfernung
Im fachlichen Sprachgebrauch wird der Begriff "Präsenz" mit Deutlichkeit, Kontur, Brillanz
und Nähe umschrieben. In der Aufnahmetechnik wird Präsenz bislang durch relativ geringen
Mikrofonabstand realisiert. Damit wird der Diffusschall unterdrückt, und unerwünschte
Schallquellen werden weitgehend ausgeblendet. Das KEM ist aufgrund seiner speziellen
Richtcharakteristik jedoch in der Lage, auch aus einer größeren Entfernung von drei bis sechs
Metern die gewünschte Präsenz zu liefern.
2.2. Unterdrückung des Diffusschalls
Aufgrund des geringen Abstands wird bei konventionellen Stützmikrofonen der Diffusschall im
Verhältnis zum Direktschall abgeschwächt. Dadurch empfindet der Hörer den Chor als weniger
weit entfernt. Das KEM nimmt aufgrund seines schmalen vertikalen Erfassungswinkels von nur 30°
(Bild 2) diffusen Schall wesentlich schwächer auf als ein Nierenmikrofon. Für den Fall einer
einzelnen aufzunehmenden Quelle lässt sich die Unterdrückung des Diffusschalls aus der
Differenz der Bündelungsmaße von KEM und Nierenmikrofon ableiten: Bei gleicher
Direktschallempfindlichkeit wird der Diffusschallpegel bei gleichem Aufnahmeabstand durch den
KEM-Einsatz um bis zu 6 dB gesenkt. Alternativ kann bei Einsatz von KEM-Mikrofonen bei
konstantem Diffusschallpegel (gleicher Präsenz) der Abstand zur (kugelförmig strahlenden)
Schallquelle in etwa verdoppelt werden (Tabelle 1).
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Mikrofontyp Bündelungsmaß Entfernungsfaktor Erfassungswinkel vertikal
Kugel 0 dB 1 360°
Niere 4,8 dB 1,74 120°
KEM 11 dB (ab 1,6 kHz) 3,5 30°
Tabelle 1
Bündelungseigenschaften verschiedener Mikrofontypen
Wird das KEM als Chorstützmikrofon eingesetzt, weist es – das haben die Aufnahmen in
Leipzig bewiesen – im Vergleich zu den konventionellen Stützmikrofonen eine noch stärkere
Unterdrückung des Diffusschalls auf, als aufgrund des Verhältnisses der Mikrofonabstände zum
Chor (entsprechend der vorherigen Betrachtungen) ohnehin zu erwarten gewesen wäre. Für diese
positive Eigenschaft des KEM sind mehrere Erklärungen denkbar. Beispielsweise dürften am
Aufnahmeort des KEM die nicht dem Direktschall zuzuordnenden Anteile des Schallfeldes nicht
gleichmäßig aus allen Richtungen eingefallen sein – und damit im Sinne der strengen Definition
nicht diffus gewesen sein; dies wird jedoch beim Vergleich der Bündelungsmaße vorausgesetzt.
Daher kann die nicht rotationssymmetrische Richtcharakteristik des KEM (Bild 2) die "diffusen"
Schallanteile zusätzlich unterdrücken und damit mehr Präsenz liefern [3]. Eine genaue Klärung
können allerdings erst weitere Untersuchungen ergeben.
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2.3. Ausblendung des Orchesters
Bei den über dem Chor abgehängten Mikrofonen erfolgt das Ausblenden des Orchesters
weitgehend über den Abstand: Von den Chorstützmikrofonen weit entfernte Instrumente im
vorderen Teil des Orchesters (Streicher) werden schwach aufgenommen, Instrumente in der
letzten Reihe des Orchesters (Bläser) dagegen sind im Signal der Stützmikrofone deutlicher zu
hören.
Im Gegensatz dazu sorgt bei den auf den Chor ausgerichteten, jedoch mitten im oder sogar
vor dem Orchester aufgestellten KEM-Mikrofonen deren keulenförmige Richtcharakteristik in der
vertikalen Ebene für eine deutlich stärkere Ausblendung der Orchesterinstrumente (vgl. Bild 3).
Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass bei dem sehr schmalen vertikalen Erfassungswinkel des
KEM von 30° die genaue Ausrichtung des Mikrofons auf den Chor besonders wichtig ist. Deshalb
wurde eine grün leuchtende LED (Light Emitting Diode) im Mikrofonkörper integriert, die nur im
optimalen Erfassungswinkelbereich des Mikrofons sichtbar ist. Diese optische Kontrolle ist beim
Aufstellen und Einrichten des Mikrofons eine entscheidende Hilfe.
Bild 2 Die scheibenförmige Richtcharakteristik des KEM Oben links: horizontal Oben rechts: vertikal Unten links: räumliche Darstellung
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Bild 3 Positionierung des KEM als Chorstützmikrofon in Seitenansicht
Bei optimaler Ausrichtung ist die beste Erfassung des Chor-Klangkörpers möglich – bei weitgehender Unterdrückung seiner diffusen Schallanteile und bei wirkungsvoller Abtrennung des Orchesterklanges
2.4. Ein homogenes Klangbild bei jeder Choraufstellung
Der geringe Aufnahmeabstand der konventionellen Stützmikrofone ist mit prinzipiellen
Nachteilen verbunden: Um einen ausgedehnten Klangkörper zu stützen, müssen mehrere
Mikrofone installiert werden. Darüber hinaus ist es z. B. wegen der Laufzeitprobleme keine leichte
Aufgabe, aus mehreren Stützsignalen am Mischpult wieder ein homogenes und natürliches
Klangbild zusammenzusetzen.
Werden die Signale von zwei über dem Chor abgehängten Mikrofonen auf einem Kanal
summiert, so sind bei einzelnen Sängern oder Sängerinnen in Abhängigkeit von den Laufzeiten
des Schalls zu den beiden Mikrofonen Auslöschungen bzw. Überhöhungen nicht zu vermeiden.
Daher ragen in der Abmischung willkürlich einzelne Stimmen aus dem Chorklang heraus, andere
dagegen tragen – nur aufgrund ihrer Positionierung – wenig zum Gesamtklang bei.
Das KEM dagegen bildet den Chor in seiner ganzen Breite homogen und natürlich ab; die
anschließende Nachbearbeitung am Mischpult wird erheblich vereinfacht.
Orchester
StützmikrofonHauptmikrofon(Kugel) KEM
Chor
Erfassungswinkel30°
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Die Installation von mehreren Chorstützmikrofonen ist gerade in Konzerträumen, die nicht
für Aufnahmen eingerichtet sind, mit erheblichem Aufwand verbunden, wenn sie z. B. über dem
Chor an einer optisch unauffälligen Stahlseilkonstruktion hängen sollen. Auf kurzfristig wechselnde
Chor- und/oder Orchesteraufstellungen kann dann wegen des Aufwandes für die
Neupositionierung der Stützmikrofone kaum reagiert werden. Die Ausrichtung zweier auf Stativen
montierter KEM-Mikrofone dagegen lässt sich leicht an eine wechselnde Chor- und/oder
Orchesteraufstellung optimal anpassen.
3. Hörbeispiele
Für die hier vorgestellten Untersuchungen/Aufnahmen wurde aus den Signalen der vier
konventionellen Chorstützmikrofone vom jeweiligen Tonmeister nach seinen individuellen Kriterien
ein zweikanaliges Stützsignal abgemischt und aufgezeichnet, gleichsam als Referenz für die KEM-
Signale. Die Signale der beiden KEM-Mikrofone wurden ebenfalls auf zwei separaten Spuren
gespeichert. Für einen A/B-Vergleich zwischen den beiden Chorstützsignalen wurden in einer
Nachbearbeitung die KEM-Signale hinsichtlich Lautstärke, Klangfarbe und Abbildungsbreite des
Chores an das stereophone Stützsignal der vier abgehängten Mikrofone angeglichen. Dies
geschah, weil bei einem A/B-Vergleich deutliche Unterschiede in den beim Abmischvorgang
beeinflussbaren Größen von den Unterschieden in den nicht beeinflussbaren Größen, die ja
beurteilt werden sollen, ablenken würden. Beim Angleichen der Klangfarbe hat sich in diesem
Zusammenhang eine Entzerrung bewährt, die einem frequenzunabhängigen
Diffusfeldübertragungsmaß des KEM nahe kommt (Absenkung der Frequenzen unter 300 Hz um
5 dB und Anhebung der Frequenzen über 6 kHz). Zusätzlich wurden bei beiden Konzerten die
Signale der Hauptmikrofone (Brüel & Kjaer 4006) aufgezeichnet.
Die Hörbeispiele können von den Internetseiten des IRT (www.irt.de) bei den Informationen
zum Sachgebiet Akustik heruntergeladen werden. Sie liegen im datenreduzierten aber qualitativ
hochwertigen MPEG-Layer-2-Format (*.mp2) vor, das von gängigen Playern (z. B. Winamp,
Windows Media Player oder Realplayer) am PC abgespielt werden kann2.
2 Hinweise: Für qualitativ hochwertiges Abhören mit PC ist auf ausreichenden Rauschabstand zu achten, der
gerade bei vorinstallierten Soundkarten bzw. Soundchips auf dem Motherboard oft nicht gegeben ist. Der Winamp-Player hat den Vorteil, dass die beiden zu vergleichenden Aufnahmen in einer "playlist" geladen und dann automatisch abwechselnd abgespielt werden können. Bei Verwendung des Windows Media Player 6.4 für NT4 und Win95 müssen die Eigenschaften des MPEG-Decoders auf "CD-Qualität" und "Stereo" eingestellt sein.
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Die Datenrate beträgt 256 kbit/s, so dass je Tonbeispiel von etwa 60 Sekunden Länge eine
Datenmenge von ca. 2 MB heruntergeladen werden muss.
Für jede der beiden Produktionen (Matthäuspassion und Messe h-moll) steht der
entsprechende Ausschnitt als Stereosignal in fünf Mikrofonabmischungen zur Verfügung:
1. die vier konventionellen Nierenmikrofone
2. die KEM-Mikrofone
3. die Hauptmikrofone
4. die Hauptmikrofone + Nierenmikrofone
5. die Hauptmikrofone + KEM-Mikrofone
Die Namen der insgesamt zehn herunterzuladenden Dateien sind selbsterklärend, z. B.
"matthnurnieren.mp2" oder "hmollnurkem.mp2".
Die weiteren Ausführungen konzentrieren sich auf den Vergleich zwischen den
Chorstützsignalen in Form der vier abgehängten Nierenmikrofone und denen der KEM-Mikrofone.
3.1. Matthäuspassion
Die beiden KEM-Mikrofone standen mitten im Orchester in einem mittleren Abstand zum
Chor von ca. 3 m und waren in einer Höhe von 3,2 m auf einem Stativ angebracht (Bild 4). Der
Chor bestand aus drei Gruppen: dem Erwachsenenchor 1 und 2 links und rechts auf den beiden
oberen Chorstufen hinter den Holzbläsern des Orchesters sowie einem Kinderchor, der oberhalb
der Erwachsenenchöre auf der Orgelempore stand (Bild 5). Die vier konventionellen
Chorstützmikrofone (Neumann KM143) hingen etwa 1,3 m über den Köpfen der
Erwachsenenchöre. Als Hörbeispiel im Internet wurde eine Passage aus dem ersten Chor "Kommt
ihr Töchter, helft mir klagen" ausgewählt.
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Bild 4
Skizze der Mikrofonaufstellung bei der Aufnahme der Matthäuspassion auf der Empore der Thomaskirche in Leipzig (Sicht von oben)
Es zeigte sich, dass hinsichtlich Unterdrückung des Diffusschalls und Ausblendung des
Orchesters beide Stützmikrofonsignale gleich gut waren, obwohl die KEM-Mikrofone 3 m vom Chor
entfernt und mitten im Orchester standen. Sie boten einen präsenten, natürlichen und in seiner
Gesamtheit homogen gestützten Chorklang, während die konventionellen Stützmikrofone einzelne
Stimmen stärker hervorhoben (siehe Abschnitt 2.4.). Der am weitesten entfernte Kinderchor auf
der Orgelempore wurde von den KEM-Mikrofonen deutlich besser gestützt als von den
konventionellen Stützmikrofonen, und auch die links/rechts-Effekte der doppelchörigen
Komposition wurden von den KEM-Mikrofonen hervorragend abgebildet.
An dieser Stelle muss betont werden, dass sich die Unterschiede zwischen den
konventionellen Mikrofonen und den KEM-Mikrofonen auch bei Verwendung von vier beliebigen
anderen Nierenmikrofonen anderer Hersteller in gleicher Weise ergeben hätten; es handelt sich
also nicht um spezielle Eigenschaften des hier verwendeten Mikrofontyps (Neumann KM143).
Orchester - Holzbläser
Hauptmikrofon (B&K)
Orchester
Dirigent
Kinderchor
Säule
1m
KEM
Säule
KM 143
Chor 1 - Damen
Chor 1 - Herrren
Hauptmikrofon (B&K)
Solisten
KEM
Säule
KM 143
Chor 2 - Damen
Chor 2 - Herren
Säule
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Bild 5
Aufnahmesituation auf der Empore der Thomaskirche in Leipzig bei einer Probe zu der Aufführung der Matthäuspassion am 26. Juli 2000: Sicht auf den Chor und Teile des Orchesters Das rechte auf Stativ montierte KEM-Chorstützmikrofon und drei abgehängte Nierenmikrofone sind durch Pfeile markiert
3.2. Messe h-moll
Wie bei jeder Fernsehproduktion sollte nach dem Wunsch der Kollegen der Bildregie
möglichst kein Mikrofon in den verschiedenen Kameraeinstellungen zu sehen sein. Gerade in
dieser Situation wäre ein KEM, trotz seines preisgekrönten Designs 3, in der akustisch besten
Aufstellung mitten im Orchester vor dem Chor vermutlich von der Bildregie nicht akzeptiert worden.
Um diesen Konflikt zu vermeiden, wurde für die KEM-Mikrofone ein extremer Aufstellungsort
gewählt, der – sofern das Experiment erfolgreich verlaufen sollte – die überragenden Fähigkeiten
dieses neuen Mikrofontyps in der Musikproduktion unter Beweis stellen würde: Die beiden KEM-
Mikrofone standen, für die Kameras fast unsichtbar, auf Stativen an den Säulen links und rechts
vor dem Orchester in einer Höhe von ca. 3,5 m (Bild 6) und waren somit als Chorstützmikrofone
mit ca. 6 m Abstand vom Chor fast ebenso weit entfernt wie die Hauptmikrofone.
3 Das Produkt KEM 970 der Firma Microtech Gefell wurde mit dem Thüringer Preis für
Produktdesign 1999 und dem Bundespreis Produktdesign 2000 ausgezeichnet.
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Bild 6
Skizze der Mikrofonaufstellung bei der Aufnahme der Messe h-moll auf der Empore der Thomaskirche in Leipzig; (Sicht von oben)
Der Thomanerchor verteilte sich auf alle vier Chorstufen hinter dem Orchester. Die vier
konventionellen Chorstützmikrofone (Neumann KM143) hingen wieder etwa 1,3 m über den
Köpfen des Chores (Bild 7). Als Hörbeispiel im Internet wurde eine Passage aus dem Chor
"Crucifixus" ausgewählt.
Hinsichtlich Unterdrückung des Diffusschalls und Ausblendung des Orchesters erwies es
sich auch hier wieder, dass die Leistung beider Stützmikrofone sehr ähnlich war. Dies ist umso
erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass die KEM-Mikrofone in einem Abstand von ca. 6 m vom
Chor aufgestellt waren – also doppelt so weit entfernt wie bei der Matthäuspassion. Dennoch
boten sie einen präsenten, natürlichen und in seiner Gesamtheit homogen gestützten Chorklang,
während die konventionellen Stützmikrofone auch in diesem Fall einzelne Chorsänger deutlicher
hören ließen. Hinsichtlich Textverständlichkeit und Ortung der Stimmgruppen des Chores stand die
Leistung der KEM-Mikrofone auch hier der der konventionellen Stützmikrofone nicht nach.
Hauptmikrofon (B&K)
Orchester
Dirigent
Thomanerchor
Thomanerchor
Thomanerchor
Thomanerchor Sopran
Säule
KEM1m
Säule
KM 143
Hauptmikrofon (B&K)
Solisten
KEM
Säule
KM 143
Säule
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Bild 7
Aufnahmesituation auf der Empore der Thomaskirche in Leipzig bei einer Probe zu der Aufführung der Messe h-moll am 27. Juli 2000: Sicht über den Thomanerchor auf Teile des Orchesters Das linke auf Stativ montierte KEM-Chorstützmikrofon und zwei abgehängte Nierenmikrofone sind durch Pfeile markiert
4. Schlussbemerkung
Die praktischen Erfahrungen aus Hörfunk- bzw. Fernsehmusikproduktionen zeigen deutlich,
dass das KEM-Mikrofon auch als Stützmikrofon neue Möglichkeiten bietet: Mit nur zwei dieser
Mikrofone können ausgedehnte Klangkörper, wie beispielsweise Chöre oder auch Orchesterteile in
ihrer Gesamtheit homogen und besser gestützt werden als mit vier (oder mehr) konventionellen
Stützmikrofonen. Typische Laufzeitprobleme, die bei Verwendung von vier (oder mehr) Mikrofonen
zur Stützung eines solchen Klangkörpers auftreten, werden bei Verwendung zweier KEM-
Mikrofone vermieden.
Das KEM-Mikrofon kann ohne nennenswerten Installationsaufwand sehr flexibel an
wechselnde Chor- und Orchesteraufstellungen angepasst werden. Aufgrund seiner speziellen
Richtcharakteristik ist es auch bei großem Mikrofonabstand in der Lage, die gewünschte Präsenz
zu liefern. Die genaue Ausrichtung des KEM-Mikrofons ist wegen seines schmalen vertikalen
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Erfassungswinkels von 30° besonders wichtig. Bei der Aufstellung hat sich die im Mikrofonkörper
integrierte LED, die nur im optimalen Erfassungswinkelbereich des Mikrofons sichtbar ist, als
optische Kontrolle ausgezeichnet bewährt.
Beim Einsatz als Stützmikrofon sollte am Mischpult eine Klangfarbenangleichung des KEM-
Signals an das Signal des Hauptmikrofons vorgenommen werden.
Über die hier vorgestellte Anwendung des KEM als Stützmikrofon hinaus bietet dieser
Mikrofontyp dem experimentierfreudigen Tonmeister eine Fülle weiterer Gestaltungsmöglichkeiten.
Schrifttum
[1] Goossens, S.; Wollherr, H.: Das KEM als neuartiges Gestaltungsmittel in der Hand des
Tonmeisters. In: 19. Tonmeistertagung Karlsruhe 1996 <19, 1996, Karlsruhe>. München:
Verlag K. G. Saur, 1997, S. 435 – 441
[2] Goossens, S.; Wollherr, H.: KEM – das ganz andere Mikrophon. In: Fernseh- und Kino-
Technik 51 (1997), Nr. 4, S. 186 – 191
[3] Wollherr, H.; Goossens, S.; Ruth K. D.; Fastl H.: Horizontal/vertikal differenziertes
Bündelungsmaß elektroakustischer Wandler. In: Fortschritte der Akustik – DAGA'97 <23,
1997, Kiel>. Oldenburg: Deutsche Gesellschaft für Akustik e. V., 1997, S. 123 – 124
Der Autor
Dipl.-Ing. Sebastian Goossens studierte Nachrichten- und
Informationstechnik an der Technischen Universität München. Nach
seiner Tätigkeit am dortigen Lehrstuhl für Elektroakustik kam er 1992
zum Institut für Rundfunktechnik und ist hier im Sachgebiet Akustik als
Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Berater und Entwickler tätig. Unter
anderem war er an der Entwicklung des Kardioid-Ebenen-Mikrofons
(KEM) beteiligt.