das spiel der kunst als die kunst des spiels (gadamer und wittgenstein)-m. flatscher

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  • 7/28/2019 Das Spiel Der Kunst Als Die Kunst Des Spiels (Gadamer Und Wittgenstein)-M. Flatscher

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    Das Spiel der Kunst als die Kunst des SpielsBemerkungen zum Spiel bei Gadamer und Wittgenstein

    Matthias Flatscher

    Das Phnomen Spielhat durch seine exzessive Bewegtheit und seinen Anspruch auf Mitspielenimmer wieder Philosophen herausgefordert, adquate Beschreibungen, was sich im Spielereignet und welche Konsequenzen sich daraus fr das Denken ergeben, zu liefern. Auchwichtigen Denkern des 20. Jahrhunderts blieb dieses Faszinosum nicht verborgen.1 So habenneben Hans-Georg Gadamer und Ludwig Wittgenstein beispielsweise auch Martin Heidegger,Eugen Fink oder Jacques Derrida immer wieder auf die Abgrndigkeit dieses unerschpflichenBegriffs hingewiesen, der sich einer vollkommen fassbaren Definition stets zu entziehenscheint.2

    Gadamer und Wittgenstein beziehen entscheidende Impulse fr ihr Denken aus einemadquaten Verstndnis von Spiel. Beiden geht es zunchst darum, der metaphysischenTradition durch die vom Spiel erffneten Einblicke ihre Grenzen aufzuzeigen, um dann diegewonnenen Einsichten fr neue Denkweisen fruchtbar zu machen. In einem ersten Schritt (I.)soll hier zunchst Gadamers Begriff des Spiels anhand der Ausfhrungen in Wahrheit undMethode3 errtert werden, in denen er vom Phnomen Spiel ausgehend das neuzeitlicheSelbstverstndnis des menschlichen Subjekts hinterfragt, um auf die genuine Seinsweise derKunst aufmerksam zu machen. In einem zweiten Anlauf (II.) soll mit WittgensteinsVerstndnis des Spiels ebenfalls eine grundlegende Kritik am metaphysischen Denken gebtwerden. Damit einhergehend soll aber von seinem differentiellen Spielbegriff her diehermeneutische Integration aller Kunstwerke in den eigenen Auslegungshorizont kritisiert undsomit eine Korrektur am Gadamerschen Kunstverstndnis angebracht werden.

    I.

    Bei seinem Vorhaben einer Wiedergewinnung der Frage nach der Wahrheit der Kunst (GWI, 87) wendet sich Gadamer dem Begriff des Spiels zu. Er versucht in einer

    phnomenologischen Analyse aufzuzeigen, inwiefern das Spiel von einer einseitigsubjektzentrierten Interpretation zu befreien ist. Nun orientiert sich Gadamer ausgerechnet andem Begriff, der bei Kant und vor allem bei Schiller den Ansatzpunkt fr die Errichtung einesautonomen Bereichs bildete und keine erkenntnisgewinnende oder ethische Relevanz besa.4Von einer dem Spiel adquaten Deutung ausgehend erhofft sich Gadamer, die genuineSeinsweise des Kunstwerkes selbst (GW I, 107) in den Blick zu bekommen, die nicht mehrvon den subjektmetaphysischen Prmissen der sthetik des 19. Jahrhunderts durchzogen ist.Mit der Neubewertung des Phnomens Spiel steht und fllt fr Gadamer gleichzeitig das

    Verstehen von Kunst und ihres Wahrheitsgehaltes berhaupt.Nach Gadamer markieren Kant und in der Folgezeit Schiller den entscheidenden Wendepunktin der abendlndischen Kunstauffassung, da sie den Weg zu einer radikalen Subjektivierung

    1 Fr einen Abriss der philosophiehistorischen Entwicklung des Spielbegriffs vgl. Corbineau-Hoffmann, Spiel,1383-1390.2 Ebenso unergrndbar wie das Phnomen Spielscheint auch seine im Dunkeln liegende etymologische Herkunftzu sein: Die Ausgangsbedeutung scheint Tanz, tanzen zu sein alles weitere ist unklar. (Kluge,Etymologisches Wrterbuch, 778.)3 Zit. als GW I.4 Schiller beschreibt im 27. Brief der sthetischen Erziehung die Sphre des Spiels als einen Bezirk desScheins, der abgekoppelt von der Realitt ein unabhngiges Reich der Freiheit ermglicht: Mitten in dem

    furchtbaren Reich der Krfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der sthetische Bildungstriebunvermerkt an einem dritten, frhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesselnaller Verhltnisse abnimmt und ihn von allem, was Zwang heit, sowohl im Physischen als im Moralischenentbindet. (Schiller, sthetische Erziehung, 667.)

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    der sthetischen Grundbegriffe ebneten. Mit der Inanspruchnahme eines eigenen, autonomenGeltungsbereiches fr die sthetik ging eine strikte Trennung zwischen der faktischenWirklichkeit und der verklrten Scheinwelt der Kunst einher. Dieser eigengesetzliche Bezirkdes Fiktiven hatte obwohl er implizit als Gegenentwurf einen (negativen) Bezug zur Realittvoraussetzte keine Verankerung im alltglichen Leben mehr; im illusionren Imperium der

    Kunst wurden schlichtweg die Grenzen der Wirklichkeit berflogen (GW I, 88) und jederinhaltliche Zusammenhang der beiden Sphren zurckgewiesen. Diese sthetik beanstandetefr sich keinen Geltungsanspruch ihrer Erkenntnismglichkeiten auerhalb ihres selbst

    postulierten Bereichs des Idealen. Das von der Realitt entfremdete sthetische Bewusstseingalt nunmehr als der Mastab fr die Kunst, die nur mehr in sthetischen Erlebnissenzugnglich wurde. Fr das sthetische Bewusstsein wird die Frage nach demWirklichkeitsstatus und dem Wahrheitsanspruch des Kunstwerks als obsolet betrachtet, da esdurch das sthetische Erlebnis in eine Welt der unmittelbaren Illusion hineinverzaubert werdenmchte. Das Kunstwerk fhrt lediglich als eines von vielen mglichen Vehikeln in einen

    phantastischen Traum, aus dem man spter ohne Nachwirkungen fr das reale Leben erwacht.Gadamer sieht in dieser sthetizistischen Herangehensweise ein Vorbeigehen am Phnomen

    der Kunst: Die Einheit des sthetischen Gegenstandes ist gar keine wirkliche Gegebenheit.Das Kunstwerk ist nur eine Leerform, der bloe Knotenpunkt in der mglichen Mehrheit vonsthetischen Erlebnissen, in denen allein der sthetische Gegenstand da ist. Wie man sieht, istabsolute Diskontinuitt, d. h. Zerfall der Einheit des sthetischen Gegenstandes in die Vielheitvon Erlebnissen, die notwendige Konsequenz der Erlebnissthetik. (GW I, 101)Durch die Fragmentierung in disparate, zeitunabhngige Scheinwelten und durch das

    privilegierte, aber abgesonderte Erleben wird jede inhaltliche Bestimmung des Kunstwerksunverbindlich. Die propagierte sthetische Unmittelbarkeit ist einer konkreten Lebensweltverlustig gegangen und hat keinerlei Rckwirkung auf die faktische Existenz des menschlichenDaseins mehr. Nach dem sthetischen Erlebnis gehen smtliche qualitative Bestimmtheiten derKunst verloren; sie sind Schall und Rauch einer untergegangenen Welt, die fr die nchsteReise in die Sphre des Illusionren mit derselben unverbindlichen Punktualitt undDiskontinuitt fr das menschliche Dasein wieder eingeholt werden knnen. Der Kunst wirddiese sthetizistische Zugangsart nicht gerecht, denn das Kunstwerk wird in diesem subjektiv-sthetischen Erlebnis nicht mehr eigens thematisiert, es erscheint nur mehr als sthetischesObjekt fr ein erlebnisorientiertes Subjekt. Das Kunstwerk wird unter diesen Prmissen alsKunstwerk vernichtet.Gadamer versucht daher eine dem Schnen und der Kunst adquate Zugangsart zu finden, dieweder in einer punktuellen Unmittelbarkeit aufgeht noch das Kunstwerk alserlebnisermglichende Leerform betrachtet, sondern der lebensweltlich-geschichtlichenSituiertheit des Menschen entspricht. Gadamers Unternehmen, den genuinen

    Wahrheitsanspruch der Kunst unverstellt hervortreten zu lassen, kann nur dann gelingen, wenner aufzuzeigen vermag, inwiefern in der Erfahrung der Kunst dieser Dualismus zwischen Seinund Schein aufgehoben werden kann und was sich durch die Kunst fr die reale Existenzergibt. Es muss belegt werden, in welcher Weise im Kunstwerk eine Wahrheit erfahren wird,die uns auf keinem anderen Wege erreichbar (GW I, 2) ist.Ein wesentliches Anliegen Gadamers ist es, die sthetik aus dem autonomen, aber fr diegeschichtliche Wirklichkeit des Daseins irrelevanten Bezirk, in den sie durch den Siegeszugder naturwissenschaftlichen Methodik und ihrer rational berprfbaren Ergebnisse gedrngtwurde, in die lebensweltliche Faktizitt zurckzuholen und ihr so den eigenstenWahrheitsgehalt rckzuerstatten. Das Vorhaben darf aber nicht dahingehend missverstandenwerden, dass Gadamer einer unumschrnkten sthetisierung der Wahrheit das Wort reden

    mchte und Wahrheit sich nur mehr in einem sthetischen Diskurs kundzutun vermag. Bereitsin der Einleitung zu Wahrheit und Methode weist Gadamer darauf hin, plurale Zugnge zurWahrheit aufspren zu wollen. Indem er sich den Phnomenen Kunst, Geschichte und Sprache

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    zuwendet, zeigt er auf, inwiefern gerade in diesen (geisteswissenschaftlichen) Themenfeldernder weitlufig akzeptierte Methodenuniversalismus des mathematisch-naturwissenschaftlichenDenkens neu hinterfragt werden muss, da auch von den so genannten Geisteswissenschaftenein Wahrheitsanspruch ausgeht, der nicht auf naturwissenschaftliche Prmissenzurckzufhren ist. Gadamer weist in einem Interview dezidiert darauf hin, dass damit

    keineswegs eine generelle Diskreditierung der Naturwissenschaften einhergehen soll: beralldort, wo durch das messende Verfahren und die Logik Blindheit entsteht, liegt die wirklicheBlindheit nicht in diesem Wissen, sondern darin, dieses Wissen fr das Ganze zu halten.5

    Noch eindringlicher warnt Gadamer an einer anderen Stelle vor der Universalisierung derLogik: Plane logische Schlssigkeit ist noch nicht alles. Nicht als ob die Logik nicht ihreevidente Gltigkeit htte. Aber die Thematisierung des Logischen beschrnkt denFragehorizont auf formale berprfbarkeit und verstellt damit die Weltffnung, die in unserersprachlich ausgelegten Welterfahrung geschieht.6

    Gadamers Verstndnis von Wahrheit orientiert sich dabei weitgehend an den Ausfhrungenseines akademischen Lehrers Martin Heidegger. Mit Wahrheit ist weder ausschlielich noch

    primr die Angemessenheit der Rede an die Sache (adaequation intellectus ad rem) und somit

    die Richtigkeit der Aussage im Urteil gemeint, sondern der Hervorgang in dieUnverborgenheit. In diesem Sinne kann auch Gadamer schreiben: Wahrheit istUnverborgenheit. Vorliegenlassen des Unverborgenen, Offenbarmachen ist der Sinn derRede.7 Wie Heidegger wendet sich Gadamer gegen die im Laufe der Geschichte erreichteMonopolstellung der Urteilswahrheit und das daran anschlieende mathematischeBeweisverfahren der certitudo. Mit dieser Entmethodisierung der Wahrheitsfrage geht einewiedergewonnene Breite von vielfltigen Bereichen der Unverborgenheit einher. Ein Ort dieserWahrheitserfahrung ist fr Gadamer die Kunst; dort wird etwas offenbar, das sonst nicht soeinsichtig wre. Sein Gesamtanliegen ruft er in einer Funote fr den Leser in Erinnerung, ausder ersichtlich wird, in welchen Gesamtkontext die Wiedergewinnung des Wahrheitsgehaltesder Kunst eingebettet ist: Wenn unsere Untersuchung sich gegenber der Subjektivierungder philosophischen sthetik auf die Erfahrung der Kunst besinnt, zielt sie nicht nur auf eineFrage der sthetik, sondern auf eine angemessene Selbstinterpretation des modernen Denkensberhaupt, das immer noch mehr in sich schliet, als der neuzeitliche Methodenbegriffanerkennt. (GW I, 130; Anm. 229)8 Der Zugang zu diesem Wahrheitsgehalt, der sich in derKunst kund tut und mit dem eine Einschrnkung des neuzeitlichen Methodenbegriffs bzw. eineDestruktion der Souvernitt des Subjekts einhergeht, soll nun anhand des Leitfadens desSpiels nherhin aufgezeigt werden.Das Kunstwerk besitzt nach Gadamer fr den Rezipienten eine lebensweltliche Relevanz.Dafr muss der Betrachter allerdings vom Kunstwerk angesprochen werden, mit ihm in einGesprch treten. Erst dann kann von einem genuinen Erkenntnisanspruch und von einem

    eigenen Wahrheitsgehalt in der Erfahrung von Kunst gesprochen werden. Hierfr gilt es nachGadamer, die starre Gegenberstellung zwischen erlebendem Subjekt und sthetischem Objektzurckzuweisen. Eine dem Kunstwerk angemessene Ontologie, die eine wahrhafte undlebensweltlich fundierte Kunstbetrachtung zulsst, mchte Gadamer anhand einer genauenBetrachtung des Spiels ausarbeiten.

    5 Gadamer, Dialogischer Rckblick, 292.6 Gadamer, Selbstdarstellung, 507.7 Gadamer, Was ist Wahrheit?, 47.8 Das Machen von Erfahrung in der Kunst darf nicht dahingehend verstanden werden, dass es wiederum voneinem Subjekt bewerkstelligt oder verrichtet sein soll. Um diesem Missverstndnis vorzubeugen, schreibt

    Gadamer: Dies Machen meint nicht eigentlich, da wir etwas tun, sondern vielmehr, da uns etwas aufgeht,wenn wir etwas richtig verstehen. Das heit also ganz und gar nicht, da wir etwas hineinlesen oder hineinlegen,das nicht darin ist. Wir lesen vielmehr heraus, was darin ist, und so, da es herauskommt. (Gadamer, Wort undBild, 387)

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    Durch die phnomenologische Erfassung des Spiels verspricht sich Gadamer eineranthropozentrisch ausgerichteten sthetik zu entgehen. Er muss hierbei der Frage nachgehen,warum sich im Spiel die traditionelle Gegenberstellung von Subjekt auf der einen und Objektauf der anderen Seite nicht mehr aufrecht erhalten lsst. Wie wird diese scheinbar dochfestzementierte Vormachtstellung des Subjekts und der daraus resultierende possessive

    Gegenstandsbezug aufgelst und wie kann dabei die Seinsweise des Kunstwerkes nherhincharakterisiert werden?Gadamer geht in seiner Veranschaulichung des Spiels davon aus, dass es zwar durchausmglich ist, von einem Bewusstsein der Spielenden zu sprechen. Der Spielende wei, dass dasSpiel frei von herkmmlichen Zweckbezgen ist und keinen Ernstfall darstellt. Doch dieseEntlassung aus dem alltglichen Ernst fungiert nicht als konstitutives Moment im Verstndnisder Spielenden. Das Spiel selbst fordert nicht nur die Einhaltung bestimmter Regeln, sondernauch eine genuine Anerkennung der gestellten Aufgaben, die jedoch nicht aus dem Spielhinausweisen und von einer distanzierten Warte aus geschehen, sondern vom Spiel selbst hermotiviert sind. Der von einer Auenperspektive festgemachte Unterschied zwischen Spiel undErnst verliert im Vollzug des Spieles seine Berechtigung. Ist man nicht bei der Sache des

    Spiels und nimmt es so nicht ernst beispielsweise indem manden anderen stets gewinnenlsst oder nur halbherzig mitmacht , gilt man als Spielverderber.9 Ein Spiel zu spielen ist nurdann mglich, wenn man sich auf es einlsst, in ihm aufgeht und es nicht als ein Objekt

    betrachtet: Die Seinsweise des Spieles lt nicht zu, da sich der Spielende zu dem Spiel wiezu einem Gegenstande verhlt. Der Spielende wei wohl, was Spiel ist, und da, was er tut,nur ein Spiel ist, aber er wei nicht, was er da wei. (GW I, 108).Es zeigt sich eine eigentmliche Verwischung des binren Gegensatzes zwischen spielendemSubjekt und gespieltem Objekt. Von einer solchen Gegenberstellung im Spiel auszugehen, istnicht mehr zulssig und widerspricht der Anforderung des Spiels an die Spielenden. DasAufgehen im Spiel zeigt sich auch in der Weise, dass im Vollzug des Spiels jeder Bezug zurAngestrengtheit fehlt. Die Anstrengung des Spielenden rckt thematisch nicht in denVordergrund; so bemerkt man beispielsweise seine Blasen erst nach dem Tanz und kann sichgar nicht mehr so recht entsinnen, dass man seine Fe whrend dem Tanzen gesprt htte.Ferner wird augenfllig, wie wenig der Spielende das Wesen oder den Geist des Spiels zu

    bestimmen vermag. Nicht ein eigenmchtiges Subjekt setzt den jeweiligen Charakter desSpiels fest, sondern das Spiel wahrt unabhngig von den es zur Darstellung bringendenSpielenden seine Eigenheiten. Denn das Spiel hat ein eigenes Wesen, unabhngig von demBewutsein derer, die spielen. Spiel ist auch dort, ja eigentlich dort, wo kein Frsichsein derSubjektivitt den thematischen Horizont begrenzt und wo es keine Subjekte gibt, die sichspielend verhalten. (GW I, 108)Es ist fr Gadamer entscheidend, dass das Spiel nicht primr von den es ausbenden Subjekten

    determiniert ist ja, dass es unter Umstnden sogar hinfllig wird, von der grammatikalischenTrennung zwischen einem ausbenden Subjekt und einem davon abhngigen gespielten Objektzu sprechen. Dieses Schema wird offensichtlich im Spiel auf mehrfache Weise unterlaufen.

    Nicht das menschliche Subjekt bewerkstelligt ein Spiel, vielmehr wird man in eshineingezogen und man fgt sich den Ansprchen des Spiels. Um diesen medialen Sinn10 vonSpielen noch strker in den Vordergrund zu rcken, fhrt Gadamer eine Reihe von Beispielenan, die gerade nicht aus dem anthropologischen Bereich stammen. Anhand dieser Beispiele solldas Spiel als Spiel pointiert zum Vorschein kommt: so sprechen wir doch auch von einem

    9 Grondin bemerkt in diesem Zusammenhang, dass bei Gadamers Betonung des Hineingezogenwerdens in dasSpiel die Opposition zwischen bloem Spiel und realem Ernst nicht mehr greift: Der Gegenbegriff zum Spiel ist

    also nicht der des Ernstes, weil das Spiel auch etwas Ernstes ist, sondern das Nichtdabeisein. (Grondin, VonHeidegger zu Gadamer, 120)10 Gadamer versucht so in Anlehnung an die griechische Verbform auf einen Modus, derzwischen der aktiven und

    passiven Form angesiedelt ist, auf die mediale Struktur des Spiels hinzuweisen. Vgl. GW I, 109ff.

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    Spiel der Farben oder von einem Spiel der Bltter, genauso wie von einemZusammenspiel der Krfte oder von Wortspielen. In all diesen Exempeln spielt nicht derMensch oder ein sonstiges Subjekt, sondern es wird gespielt: Immer ist da das Hin und Hereiner Bewegung gemeint, die an keinem Ziele festgemacht ist, an dem sie endet. [...] DieBewegung des Hin und Her ist fr die Wesensbestimmung des Spieles offenbar so zentral, da

    es gleichgltig ist, wer oder was diese Bewegung ausfhrt. Die Spielbewegung als solche istgleichsam ohne Substrat. Es ist das Spiel, das gespielt wird oder sich abspielt es ist keinSubjekt dabei festgehalten, das da spielt. Das Spiel ist Vollzug der Bewegung als solcher.(GW I, 109)Im Mittelpunkt steht folglich das Spiel, seine unablssige Bewegtheit, die einen in den Bannzieht, und nicht ein souvernes Subjekt. Die rein solipsistisch-subjektivistische Sphre wird frGadamer auch dahingehend destruiert, dass es fr ihn kein losgelstes Alleine-Spielen gibt,sondern der Spielende immer auf etwas angewiesen bleibt, auf das er antworten kann. JedesSpielen ist somit in erster Linie ein dialogisches Spielen, auch wenn man scheinbar mit sichalleine beschftigt ist: So whlt die spielende Katze das Wollknuel, weil es mitspielt, und dieUnsterblichkeit des Ballspieles beruht auf der freien Allbeweglichkeit des Balles, der

    gleichsam von sich aus das berraschende tut. (GW I, 111)Aus den von Gadamer angefhrten Beispielen wird ersichtlich, dass zwar der Spielende das

    jeweilige Spiel whlt, aber nicht das Tun des Spielenden das Erste ist, sondern er antwortetstets auf die Anforderungen des Spiels. Dieser Antwortcharakter des Spiel ist es, der sichentschieden gegen die neuzeitliche Auffassung eines souvernen Subjekts richtet. Dasscheinbar allem und jedem voraus- und zugrundeliegende subjektive Bewerkstelligen zerbrichtam Phnomen des Spiels. DerSpielende selbst ist immer auf ein Gegebensein angewiesen undordnet sich dem Spiel unter.11

    Alles Spielen ist ein Gespieltwerden. Der Reiz des Spieles, die Faszination, die es ausbt,besteht eben darin, da das Spiel ber den Spielenden Herr wird. Auch wenn es sich um Spielehandelt, in denen man selbstgestellte Aufgaben zu erfllen sucht, ist es das Risiko, ob es geht,ob es gelingt und ob es wieder gelingt, was den Reiz des Spieles ausbt. Wer so versucht,ist in Wahrheit der Versuchte. Das eigentliche Subjekt des Spieles (das machen gerade solcheErfahrungen evident, in denen es nur einen einzelnen Spielenden gibt) ist nicht der Spieler,

    sondern das Spiel selbst. (GW I, 112; teilw. herv. v. M.F.)Die eingangs gestellte Frage, inwiefern von dieser Phnomenologie des Spiels Rckschlsseauf eine neue Kunstbetrachtung gezogen werden knnen, ist mit der Besinnung auf das Spielzwar angerissen, aber fr Gadamer noch nicht beantwortet. Bei seiner Beschreibung des Spielsversucht er, den fr ihn entscheidenden Punkt auszumachen: Das Spiel ist wirklich darauf

    beschrnkt, sich darzustellen. Seine Seinsweise ist also Selbstdarstellung. (GW I, 113). Die

    11 Diese Pointe der Destruktion des metaphysischen Subjektbegriffs und die Gewinnung eines neuenSelbstverstndnisses des Menschen in den Gadamerschen Ausfhrungen unterschlgt Hammermeister:Gleichwohl verliert sich der Spieler dennoch nicht derart im Spiel, da ultimativ nur noch von der Herrschaft desSpiels ohne Subjekte gesprochen werden knnte [...]. Im Unterschied zu Heideggers und Derridas subjektlosemAntihumanismus hlt Gadamer an der Bedeutung des Subjekts fest. (Hammermeister, Gadamer, 43). Abgesehendavon, dass weder Heidegger noch Derrida einem (amoralischen) Antihumanismus das Wort reden und sich inirgendeiner Weise vom Menschen verabschieden, distanzieren sich die genannten drei Denker gemeinsam vonder neuzeitlichen Metaphysik und ihrem Subjekt-Verstndnis; so schreibt Gadamer selbst von einer volle[n]Anerkennung der durch Heidegger geleisteten Kritik am Subjektsbegriff von seiner Seite (Gadamer, Text undInterpretation, 332). Differenzierter wird das Verhltnis zwischen Gadamer und Heidegger bei Grondin betrachtet,indem er aufzeigt, inwiefern Gadamer noch auf die (bei Heidegger als metaphysische Grundposition abgelehnte)humanistische Tradition rekurriert und so der Humanismus nicht notwendig mit einem metaphysischenAnthropozentrismus zusammenfallen muss: Here Gadamer truly follows the turn of the later Heidegger towards

    a more modest and peripheral understanding of our humanity. He fully assumes Heideggers critique ofmetaphysical subjectivism, but he doesnt forfeit the focus on humanity involved in this process. PerhapsGadamers achievement is the protest against the too swift equation of subjectivism and humanism. (Grondin,Gadamer on humanism, 167)

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    Akzentuierung derDarstellung ist fr Gadamer deshalb so wichtig, um das Spiel in denKontext der Kunst rckzubinden und die in ihr liegende konstitutive Funktion fr jedes weitereVerstehen von Kunst in den Blick zu bekommen. Diese hier von Gadamer folglich zu einemganz bestimmten Zweck vorgenommene Charakterisierung scheint auf den ersten Blick einenicht unbetrchtliche Verengung des Spielbegriffs darzustellen. Gadamer formuliert zwar

    selbst noch eventuelle Einwnde gegen diese eindimensionale Darlegung, indem er daraufhinweist, dass beispielsweise das sportliche Spiel, wenn es nur mehr fr die Zuschauervorgefhrt wird, zum Schaukampf mutiert. Doch selbst in einer Kulthandlung (als sakralesSpiel), bei der man eigentlich davon ausgeht, dass sie keine Beobachter in der Gemeinde gebenkann, glaubt Gadamer wahrnehmen zu knnen, dass es wesenhaft nach dem Zuschauerverlangt (GW I, 114); ebenso ist fr ihn bei der so genannten Hausmusik der Aspekt imVordergrund, dass versucht wird, sie so gut zu spielen, als ob ein Publikum sie hren wrde.Fhlt sich aber nicht das fr sich alleine spielende und somit im Spiel versunkene Kind durchden Beobachter gestrt? Ist tatschlich jedes Spiel unumschrnkt auf Darstellung hin angelegt?Diese Fragen schiebt Gadamer beiseite, indem er sich am leitenden Paradigma des Schauspielsorientierend festhlt, dass die Zuschauer in den Gesamtprozess immer miteingelassen sind, ja

    in der genuinsten Weise am Spiel partizipieren: [E]s [das Spiel] wird von dem ameigentlichsten erfahren und stellt sich dem so dar, wie es gemeint ist, der nicht mitspielt,sondern zuschaut. (GW I, 115). Was versteht Gadamer unter dem Zuschauer? In seiner SchriftDie Aktualitt des Schnen wendet er sich eindringlicher als in Wahrheit und Methodedieser Frage zu. Er weist darauf hin, inwiefern jedes Zuschauen beim Spiel immer schon ein

    Mitspielen ist. Es gibt hier nmlich genauso wenig wie zuvor einen souvernen Spieler keinen distanzierten Beobachter mehr, sondern es wird vom Spiel nach mitspielendenTeilnehmern verlangt. Die aktive Spielerrolle bzw. die passive Beobachterposition und diedamit implizierte Subjekt-Objekt-Trennung ist nicht mehr aufrecht zu erhalten. So kann

    beispielsweise das Publikum bei Musikauffhrungen gar nicht anders, als die Melodie(innerlich) summend oder den Rhythmus taktklopfend mitgehen; so passt auch derStadionbesucher den Ball mit in den Strafraum und jubelt mit dem Schtzen. Auch Gadamerliefert dazu ein anschauliches Beispiel aus der Sportwelt: Man braucht sich nur einmal, imFernsehen z. B., das Publikum bei einem Tennisturnier anzusehen! Es ist eine reineHalsverrenkung. Keiner kann es unterlassen, mitzuspielen.12 Jedes Spielen als Darstellenimpliziert fr Gadamer ein Darstellen fr jemanden und der Zuseher unterliegt ebenfalls demAnspruch des Spiels. Vom Spiel als Darstellung geht unweigerlich die Aufforderung zumMitspielen aus. Die Trennung zwischen ausfhrenden Spielern und neutral-beobachtendemPublikum wird hier unterwandert. Sie nehmen alle am Spiel teil. Durch das unablssigeHineingezogenwerden in das Spiel gibt es auch keinen Standpunkt auerhalb des Geschehensmehr. Jede distanzierte Betrachtungsweise wird dadurch verunmglicht: Das gespielte Spiel

    ist es, das durch seine Darstellung den Zuschauer anredet, und das so, da der Zuschauer trotzallem Abstand des Gegenbers dazugehrt. (GW I, 121)Anhand der Seinsweise des Spiels, die ja leitend fr die Seinsweise des Kunstwerkes werdensollte, lsst sich aufzeigen, dass sowohl der Zuseher (Rezipient) als auch der Spieler(Produzent) in einen Gesamtprozess eingelassen sind. Den berraschend nahtlosen bergangvom herkmmlichen zum genuin knstlerischen Spiel thematisiert Gadamer in Wahrheitund Methode nicht eigens; er liefert kein Kriterium dafr, was ein Kunstwerk zu einemsolchen macht. Vielmehr beschrnkt er sein Augenmerk auf die Seinsweise des Spiels, um vonihr aus die tradierten Auffassungen des sthetizismus in Frage zu stellen. Von dentransitorischen Knsten ausgehend, muss nun nach Gadamer auch der berlieferte Werk-Begriff neu hinterfragt werden, denn die hermeneutische Identitt des Werkes liegt weit tiefer

    begrndet13

    als es in der bisherigen sthetischen Tradition zur Kenntnis genommen wurde.12 Gadamer, Aktualitt des Schnen, 115.13 Gadamer, Aktualitt des Schnen, 116 (herv. M.F.).

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    Das Kunstwerk ist ebenso wie jedes andere Spiel ein Geschehnis und es ist ebenso wie jedeandere Spielform auf einen Mitvollzug angewiesen: die Darstellung von etwas ist stets eineDarstellung fr jemanden. Diesen ontologischen Vorgang, der sich im Kunstwerk qua Spielereignet und von dem der Anspruch auf einen ttigen Mitvollzug ausgeht, nennt GadamerVerwandlung ins Gebilde (GW I, 116). Mit dieser leicht missverstndlichen Begriffsbildung

    soll nicht einer feststellenden Verobjektivierung des Gesamtgeschehnisses das Wort geredetwerden; der Ereignischarakter (Energeia) bleibt mitbetont. Auf der einen Seite ist das Spiel derKunst prinzipiell wiederholbar und insofern bleibend (GW I, 116); es ist ein Gebilde(Ergon). Das Gebilde als Werk ist auf der anderen Seite jedoch stets an die Darstellung alsVollzug gebunden, d. h. das Ergon hat seine Wirklichkeit in derEnergeia ohne jedoch voneiner Subjektivitt (Knstler oder Zuschauer) bewerkstelligt zu werden. Das Kunstwerk wirdzwar als bedeutungshaftes Ganzes in seiner ideellen Einheit (GW I, 122) und somit alsGebilde erfahren, aber es ist immer auf ein Gespieltwerden angewiesen. Das Kunstwerk wirdsomit von Gadamer als ein Seinsvorgang (GW I, 156) aufgefasst.Die Verwandlung ist in der Kunst als eine vollkommene Umwlzung zum frheren Sein zuverstehen. Gadamer spricht in diesem Zusammenhang von einer berlegenen Wahrheit (GW

    I, 117), die im Kunstwerk offenbar wird, ja von einem Zuwachs an Sein (GW I, 145),durch das neue Zugnge zur Welt, je neue Welten selbst aufgehen knnen. In der Verwandlungliefert nicht nur das Kunstwerk neue, grundlegende Einblicke, sondern auch die teilnehmendenMitspieler erfahren eine Verwandlung: sie sehen durch das Neue im Kunstwerk auch die Weltin einem bis dato nicht gekannten Licht und erfahren selbst eine tiefgreifende Vernderung. Esgibt dabei jedoch keine Rckkehr in die Welt mehr, aus der man entwachsen ist. Die Trennungzwischen Realitt und Fiktion, wie sie noch das sthetische Erleben anstrebte und die jederzeiteine problemlose Rckkehr in das alte Weltverstndnis zulie, ist in der wahrhaften Erfahrungder Kunst unmglich. Die alte Welt wird im mitspielenden Vollzug nichtig. In der Darstellungdes Spieles kommt heraus, was ist. In ihr wird hervorgeholt und ans Licht gebracht, was sichsonst stndig verhllt und entzieht. [...] Die Welt des Kunstwerks, in der ein Spiel sich derart inder Einheit seines Ablaufs voll aussagt, ist in der Tat eine ganz und gar verwandelte Welt. Anihr erkennt ein jeder: so ist es. (GW I, 118)Obwohl Gadamer in Verbindung mit den tiefgreifenden Erfahrungen, die von der Kunstausgehen knnen, gerne den bekannten Rilke-Vers Du mut dein Leben ndern14 zitiert,muss darunter nicht zwingend ein dramatisches Damaskuserlebnis mit einschneidenden Folgenverstanden werden. Gerade in den kleinen Perspektivennderungen, durch die dasAllzuselbstverstndliche in einem neuen Licht erscheint, kann die Kunst den grten

    Niederschlag auf unser alltgliches Selbstverstndnis finden und uns neue Einsichtenvermitteln. Wie tiefgreifend die Kunst es vermag, uns fr neue Sichtweisen die Augen zuffnen, beschreibt Oscar Wilde in seinem Essay Der Verfall des Lgens auf eindringliche

    Art und Weise:Woher, wenn nicht von den Impressionisten, stammen jene wundervollen braunen Nebel, diedurch unsere Straen ziehn, die Gaslampen verschleiern und die Huser in ungeheuerlicheSchatten verwandeln? Wem verdanken wir die kstlichen Silbernebel, die ber unserem Flu

    brauen und die die geschwungene Brcke, die schwankende Barke in die zarten Linienvergnglicher Anmut hllen, wenn nicht ihnen und ihrem Meister? Der ungewhnlicheUmschwung, der whrend der letzten zehn Jahre in den klimatischen Verhltnissen Londonsstattfand, ist einzig und allein einer besonderen Kunstrichtung zuzuschreiben. Du lchelst. [...]Die Dinge sind, weil wir sie sehen, und was wir sehen und wie wir sehen, hngt von denKnsten ab, die uns beeinflut haben. Es ist ein groer Unterschied, ob man ein Ding ansieht,oder ob man es sieht. Man sieht nichts, solange man nicht seine Schnheit sieht. Dann, und erst

    dann, wird es lebendig. Jetzt sehen die Leute die Nebel, nicht weil es Nebel gibt, sondern weil14 Rilke, Archascher Torso Apollos, 557, V. 14. Vgl. Gadamer, sthetik und Hermeneutik, 8; Aktualitt desSchnen, 125.

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    die Dichter und Maler ihnen die geheimnisvolle Schnheit solcher Erscheinungen offenbarten.Es hat vielleicht schon seit Jahrhunderten in London Nebel gegeben. Das glaube ich sogar ganzsicher. Aber niemand hat sie gesehen, und deshalb wissen wir nichts darber. Sie waren nichtvorhanden, bis die Kunst sie erfunden hatte.15

    Im Zusammenhang mit der Textpassage wird ersichtlich, dass die Kunst einen eigenstndigen

    Wahrheitsgehalt fr sich beanspruchen kann, denn die Nebelschwaden wrden sich unsbeispielsweise in einem meteorologischen Kontext vllig anders (vielleicht auch berhauptnicht, aber sicherlich nicht in der Weise) zeigen. Die Welt sieht durch die Kunst anders aus. Sieerhebt Anspruch auf dauerhafte Einsichten, die nicht mit sthetischen Erlebnissen und ihrer

    punktuellen Wertigkeit ausreichend erfasst sind. Anhand der Erfahrung, die uns die Kunstvermittelt, knnen wir nicht mehr anders sehen. Was am Kunstwerk aufgeht, ist bleibendaufgegangen und findet nach Gadamer seinen rckwirkenden Niederschlag imlebensweltlichen Wahrnehmen und alltglichen Zutunhaben. Es wird in diesem Kontext auchverstndlich, weshalb Gadamer den lngst ad acta gelegtenMimesis-Begriff rehabilitiert (vgl.GW I, 118ff.). In der Nachahmung und dem daraus resultierenden Wiedererkennen wird mehrerkannt [...] als nur das Bekannte (GW I, 119), indem etwas nicht blo wiederholend

    abgebildet, sondern vielmehr in einer pointierten Hervorhebung allererst sichtbar gemachtwird. Hier reicht offensichtlich das landlufige (platonistische) Einteilungsschema vomeigentlichen Ur- und einem seinsverminderten Abbild nicht mehr aus. Durch das Kunstwerk(auch in einem Portraitbild oder in einer Photographie) wird etwas so markant dargestellt, dasses durch das Bild eine neue Wirklichkeit erfhrt. Es besitzt nicht mehr eine blo abbildendeFunktion, sondern es vermag Entscheidendes ber das Urbild auszusagen: in der Darstellungkommt etwas genuin Eigenes zur Darstellung. Wort und Bild sind nicht bloe nachfolgendeIllustrationen, sondern lassen das, was sie darstellen, damit erst ganz sein, was es ist. (GW I,148)Gadamer zieht jedoch noch weitere, entscheidende Konsequenzen aus dem Spielcharakter desKunstwerks. Jedes Kunstwerk ist uns laut Gadamer nur im Gespieltwerden zugnglich.Obwohl der Musik und dem Theater meistens eine Partitur oder ein Text vorliegt, sind sieeigentlich nur in der Auffhrung da. Der Mitvollzug gehrt hier nicht blo akzidentiell zumKunstwerk, sondern nur so gewinnt es sein eigentliches Sein (GW I, 123). Gadamer weistdarauf hin, dass wir in diesen Fllen nie von einem fertigen Werk ausgehen knnen, das voruns stnde, sondern es ist immer schon auf den Vollzug angewiesen, es ist nur in der

    Interpretation da.16 Zwischen Werk und Vermittlung kann nicht mehr weiter differenziertwerden. Sie sind ein Geschehen. Das Kunstwerk wird immer nur im jeweiligen Gespieltwerdenoffenbar. Von diesen Zugangsbedingungen ist es unmglich abzusehen. Es selbst [das Werk]gehrt in die Welt hinein, der es sich darstellt. Schauspiel ist erst eigentlich, wo es gespieltwird, und vollends Musik mu ertnen. (GW I, 121). Dass das Kunstwerk auf den Mitvollzug

    des Publikums und auf die Auffhrung selbst angewiesen und nicht davon ablsbar ist, ist unsbei den transitorischen Knsten unschwer nachzuvollziehen.17 Aber trifft dieser Umstand auch

    15 Wilde, Verfall der Lge 34f.16 Noch einmal ausdrcklich auf diesen ereignishaften Charakter des Kunstwerks macht Gadamer in seinen letztenArbeiten aufmerksam: Die Kunst ist im Vollzug. [...] Der Vollzug ist die Interpretation. (Gadamer, Wort undBild, 391 und 393)17 Am eindringlichsten ist nach Gadamer das unauflsbare Verwobensein von Auffhrung und Werk auf der einenund der ttige Mitvollzug des Kunstwerks vonseiten des Publikums auf der anderen Seite anhand der griechischenTragdie demonstrierbar; Grondin schreibt dazu: Die Tragdie ist in mehrfacher Hinsicht fr Gadamer

    paradigmatisch. Es geht aus ihr deutlich hervor, 1. da die Tragdie ihr Sein in der Darstellung oder in derAuffhrung hat, 2. da sie den Zuschauer in ihr Spiel, ja fr die Griechen, in ihr Fest miteinbezieht, und 3. dasich die gespielte Tragdie vom tragischen Charakter des Lebens nicht abtrennen lt. (Grondin, Einfhrung zu

    Gadamer, 73). Anhand der Tragdie wird auch ersichtlich, inwiefern es nicht mehr zulssig ist, von einersthetizistischen Illusionswelt zu sprechen, da mit dem Dargestellten auch gem der AristotelischenAuffassung stets ein eindringliches Sichverstehen einhergeht. Gadamer bemerkt, da das im Spiel der KunstGespielte keine Ersatz- oder Traumwelt ist, in der wir uns vergessen. Das Spiel der Kunst ist vielmehr ein durch

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    auf die bildenden Knste und auf die Literatur zu? Kann auch bei den statuarischen Knstengesagt werden, dass es das Gedicht an sich oder das Bild an sich berhaupt nicht gibt?Greift hier noch der hermeneutische Zugang, dass jedes Kunstwerk uns in ein Spiel hineinziehtund uns erst in diesem Seinsvorgang offenbar wird? Gadamer beantwortet diese Frageentschieden mit einem Ja. Wie in den transitorischen Knsten, ist das literarische Werk nie

    ohne den Bezug zu dem aufnehmenden Leser. Die Lektre gehrt zum Gedicht oder Romannicht blo akzidentiell dazu. Indem Literatur zu uns spricht, uns zur Teilnahme auffordert, istdas Werk. Der Text ereignet sich nur im mitvollziehenden Lesen. Gadamer verdeutlicht diesenProzess am Beispiel der Brder Karamasow:Da ist die Treppe, die Smerdjakow angeblich hinunterstrzt. Das wird bei Dostojewskij aufirgendeine Weise beschrieben. Ich wei dadurch ganz genau, wie diese Treppe aussieht. Ichwei, wie sie anfngt, es wird dann dunkel, und dann geht es nach links. Das ist fr michhandgreiflich klar, und doch wei ich, da niemand anderer die Treppe so sieht wie ich. Unddoch wird jeder, der diese meisterhafte Erzhlkunst auf sich wirken lt, seinerseits die Treppeganz genau sehen und berzeugt sein, da er sie sieht, wie sie ist. Das ist der Freiraum, dendas dichterische Wort in diesem Fall lt und den wir ausfllen, indem wir der sprachlichen

    Evokation des Erzhlers folgen.18Ebenso erffnet jedes Kunstwerk der bildenden Knste fr den Betrachter einen Spielraum, dervon ihm beschritten werden muss. Das Bild erhebt von sich aus einen Anspruch, es schautmich an. Wie das Gedicht will auch das Bild aktiv gelesen werden.19 Unser stndiges Mit-Ttigsein beim Betrachten eines Gemldes baut die Komposition mit auf, unser Auge zeichnetdie Linien nach und stellt die Farbkompositionen zusammen, sodass es Punkt um Punkt alsBild gelesen wird, sich am Ende als Ganzes zeigt und zu einem Bild zusammengeht. Darauswird fr Gadamer ersichtlich, dass unsere permanente (reflexive) Aufbauleistung, die unsereTeilnahme erfordert und bei der wir unsere Voraussetzungen mit ins Spiel bringen, dasKunstwerk in seinem jeweiligen Erscheinen fr uns zugnglich macht. Dadurch sind wir stetsals Teilnehmer in den Gesamtprozess des Spiels eingelassen. Jeder Betrachter ist immer schonMitspieler. Auch in den statuarischen Knsten gibt es folglich keine Trennung zwischen einemobjekthaften Werkgebilde und einem subjektiven Betrachter. Es ist ein Geschehen und mussals solches auch gesehen werden. Ohne dieses dialogische Wechselverhltnis bleibt die Kunststumm.Trotz der sehr einleuchtenden und stellenweise schlicht grandiosen Errterung der Seinsweisedes Kunstwerks am Leitfaden des Spiels wirft Gadamers Vorgehen auch einige Fragen auf Anfragen, die als Korrektiv gegen manche zu geglttete Einfachheit der hermeneutischenKunstauffassung verstanden werden mchten. Anhand der Ausfhrungen in Wahrheit undMethode wird man den Verdacht nicht los, Gadamer orientiere sich weitgehend an der pr-modernen Kunst. Bei allem Verstndnis fr zeitgenssischer Kunst, wovon ja auch die Bnde

    VIII und IX der Gesammelten Werke ein beeindruckendes Zeugnis ablegen, scheint erhistorisch rckwrts gewandt zu sein und einem vormaligen unverstellten Verstehen von Kunstnachzutrauern: Man kann jedenfalls nicht bezweifeln, da die groen Zeiten der Geschichteder Kunst solche waren, in denen man sich ohne alles sthetische Bewutsein und ohneunseren Begriff von Kunst mit Gestaltungen umgab, deren religise oder profane

    die Jahrtausende hindurch immer aufs neue vor uns auftauchender Spiegel, in dem wir uns selber erblicken oftunerwartet genug, oft fremdartig genug , wie wir sind, wie wir sein knnten, was es mit uns ist. (Gadamer, Spielder Kunst 92)18 Gadamer, Aktualitt des Schnen, 118.19 Gerade mit dem Verb lesen versucht Gadamer auf das Prozesshafte in der Kunstbetrachtung aufmerksam zumachen: Beim Bild wie beim Buch nenne ich, wie dieses Geschehen geschieht, das Lesen. Beim Lesen wei

    man, was es heit, das zu knnen und kein Analphabet zu sein was freilich nur der erste Schritt zum Knnen ist,das ein Werk der Kunst verlangt. Aber wenigstens bildet man sich nicht ein, wie die meisten beim Sehen meinen,das knne man schon. In Wahrheit mu man es lernen, wie das Sehen und wie das Hren von Musik. (Gadamer,Wort und Bild, 393)

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    Lebensfunktion fr alle verstndlich und fr niemanden nur sthetisch genureich war. (GWI, 87)Diese distanzlose Unmittelbarkeit, die es in den groen Zeiten der Geschichte der Kunst frGadamer gab, schwindet sptestens mit Anbruch der avantgardistischen Moderne und vollends

    bei einem Groteil der Kunstwerke im 20. Jahrhundert. Ist hier der Rezipient, zumindest

    teilweise, nicht stark auf vermittelnde Hilfestellungen angewiesen, freilich ohne bei denInterpretationen selbst stehen zu bleiben? Wre es nicht Aufgabe der Hermeneutik, auf diesevermittelnden Akte dezidierter hinzuweisen, die einem die Welt der Kunst erst langsamerschlieen, bevor eine unmittelbare Erfahrung berhaupt mglich werden kann? Wievielmuss man vorher schon wissen, um sich auf ein Kunstwerk einlassen zu knnen, und treteneinem manchmal Kunstwerke zunchst nicht als vollkommen unverstndlich entgegen? Jedetheoretische oder sonstwie vermittelte Zugangsart zur Kunst wre fr Gadamer blo einsekundrer Akt. Eine sthetische Reflexion gibt es fr ihn nurin nachtrglicher Weise, der alssthetische Unterscheidung jede Unmittelbarkeit verwehrt wird (vgl. GW I, bes. 122f.). Kannes nicht umgekehrt sein, dass ein gewisses vermitteltes Wissen einem diese angestrebteUnmittelbarkeit erschliet? Vielleicht verleitet Gadamer die Seinsweise des Spiels zur

    Annahme, dass es mhelos sei, mit einem Werk in einen Dialog zu treten, obwohl esmanchmal furchtbar langwierig sein kann, ein Spiel zu erlernen, sich in es einzufinden. Hierscheint Gadamer so den Akzent auf ein unmittelbares Aufgehen im Dialog mit dem Kunstwerkzu legen, dass er (eigentlich in un-hermeneutischer Manier) den vorgelagerten hindernisreichenParcours, der durchlaufen werden will, bevor der Weg zu einer eventuellen Unmittelbarkeitgeebnet ist, stets schon als bewltigt ansieht. Im Gegensatz zu Gadamer zeigt Adorno in seinersthetischen Theorie, die man auch als eine Art Gegenentwurf zu Wahrheit und Methodelesen kann, wie komplex vermittelt diese angestrebte Unmittelbarkeit ist: Wer nicht wei, waser sieht oder hrt, geniet nicht das Privileg unmittelbaren Verhaltens zu den Werken, sondernist unfhig, sie wahrzunehmen. [...] Die ideale Wahrnehmung von Kunstwerken wre die, inwelcher das dergestalt Vermittelte unmittelbar wird; Naivitt ist Ziel, nicht Ursprung.20

    Die Gadamerschen Termini wie totale Vermittlung (GW I, 125) oder volle Gegenwart(GW I, 132) legen ein restloses Verstehen von Kunst nahe. Ist Kunst jemals so bruchlos in deneigenen Auslegungshorizont integrierbar? Entzieht sie sich uns nicht immer wieder und reituns aus dem Spiel heraus, da die Kunst stets Inkommensurabilitten beinhaltet, die nicht zugltten sind? Entstehen in der Kunst nicht unauflsbare Dissonanzen und irreduzibleDifferenzen, die uns einen (einzigen) harmonischen Sinnzugang stets verwehren? Ist esberhaupt zutrglich, von einem generellen Verstehen von Kunst zu sprechen? Wieder sei alsDenkansto Adorno zitiert: Verstehen selbst ist angesichts des Rtselcharakters eine

    problematische Kategorie. Wer Kunstwerke durch Immanenz des Bewutseins in ihnenversteht, versteht sie auch gerade nicht, und je mehr Verstndnis anwchst, desto mehr auch

    das Gefhl seiner Unzulnglichkeit, [...].

    21

    Wie schwer sich Gadamer mit dem Fragmentarischen, mit dem nicht integrierbaren Rest undder Fremdheit tut, ist daran ersichtlich, dass es fr ihn schlichtweg keine unberwindbareAlteritt gibt. Selbst nach der Auseinandersetzung mit Derrida rckt er diesbezglich auch inseinen letzten Arbeiten nicht von diesem Punkt ab: Es [das Kunstwerk] hat seine Prsenz undwird nicht als fremd bestaunt, sondern zieht einen in seinen Bann mag auch zunchst vielFremdes dabei zu berwinden sein. [...] Aber die Kunst setzt sich in aller ihrer ungezhltenVielfalt auf die Dauer auch mit Fremdestem durch. 22 So etwas wie bestehenbleibende

    20 Adorno, sthetische Theorie, 502.21 Adorno, sthetische Theorie, 184.22 Gadamer, Hans-Georg: Wort und Bild, 376. Wie problemlos der Bereich hin zum Anderen berschritten werdenkann, da eine gemeinsame (in Wirklichkeit nmlich die eigene) Basis einer allgemeinen Sprache vorausgesetztwird, sei hier an einer Passage gezeigt, die sich nicht auf die Kunst, sondern auf die zwischenmenschlicheFremdheit bezieht: Sie [die Sprache, M.F.] umfat vielmehr das Ganze der Fremdheit, die zwischen Mensch und

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    Unterschiede und nicht berwindbare Differenzen existieren fr Gadamer nicht. Letztlich sindalle Diskrepanzen ausrumbar: Wer [...] auf Differenz besteht, steht am Anfang einesGesprches, nicht an seinem Ziele.23 Vielleicht, msste man hier Gadamer entgegnen, stehenwir gerade in der Kunst als Spiel nie an einem Endpunkt und bewegen uns stets inZwischenrumen und Anfangsstadien.

    Als Korrektur gegen jede vorschnelle Integration der Kunstwerke in ein gemeinsamesGeschehnis soll nun Ludwig Wittgensteins Verstndnis von Spiel angefhrt werden. Er hatmarkant auf die irreduzible Pluralitt der verschiedenen Sprachspiele hingewiesen, dieaufgrund ihrer Eigenheiten nicht immer in einen eintrchtigen Auslegungshorizont integriertwerden knnen.

    II.

    hnlich wie Gadamer beinhaltet Wittgensteins Verweis auf das Spiel eine grundlegende Kritikam metaphysischen Denken; der Akzent wird dabei nicht auf einen anthropozentrischenSubjektivismus gelegt, sondern konzentriert sich vornehmlich auf eine am mathematischenIdeal der Exaktheit orientierte essentialistische Sprachkonzeption. Wittgensteins Errterungdes Spiels bewegt sich somit in erster Linie in einem sprachphilosophischen Kontext, der hierin der gebotenen Krze rekonstruiert werden soll. Davon ausgehend soll in einem zweitenSchritt eine eventuelle Adaption fr den Bereich der Kunst und eine etwaige Berichtigung desGadamerschen Kunstverstndnisses in Aussicht gestellt werden.In seinem spten Hauptwerk Philosophische Untersuchungen wendet sich Wittgensteinzunchst gegen die vorherrschende Sprachauffassung, die seiner Ansicht nach historisch schon

    bei Platon und vor allem bei Augustinus begrndet wurde und wenn auch unausdrcklich bei zeitgenssischen Sprachtheorien noch vorzufinden ist. In erster Linie setzt er sich hierbeimit seinem eigenen Frhwerk, dem Tractatus logico-philosophicus, aber ebenso mit denArbeiten von Frege und Russell auseinander.

    All die genannten Anstze evozieren nach Wittgenstein eine vehemente Verengung desPhnomens Sprache, da in diesen Sprachtheorien nicht die sich im alltglichen Sprechenzeigende Mannigfaltigkeit gesehen wird. Im Zentrum der traditionellen Sprachbetrachtungsteht eine eindeutige Zuordnung von Gegenstand und Wort. Dieses Referenzverhltnis, daseine eindeutige Abbildung der Realitt durch die Sprache ermglicht, wird mittels derostensiven Definition hergestellt. Alle weiteren in der Sprache vorkommenden Stze fuengleichsam auf diesen elementaren bereinstimmungen. Das Projekt der (analytischen)Sprachvorstellung postuliert Elementarstze, um eine fehlerfrei weltabbildende Idealspracheaus dem oft unzulnglichen Konglomerat der Alltagssprache zu erhalten und sie so in ihremWesen beschreibbar zu machen.24

    Wittgenstein geht nun in den Philosophischen Untersuchungen daran, das so genannte

    Augustinische Bild der Sprache Punkt fr Punkt zu destruieren: So ist es fr ihnoffensichtlich, dass die tatschliche Sprache weder nur aus substantivischen Ausdrckenbesteht, noch die Bedeutungen der Namen ausschlielich an den tatschlichenGegenstandsbezug gebunden sind. Auerdem ist die hinweisende Definition nur dann mglich,wenn zahlreiche Voraussetzungen erfllt wurden und man gleichsam schon wei, worauf(Farbe, Form usw.) gezeigt wird. Das hinweisende Zeigen kann folglich niemals als erstes

    Mensch sich auftut und immer neue Verwirrung schafft. Aber darin ist auch die Mglichkeit ihrer berwindungeingeschlossen. [...] [M]an kann sogar die fremde, seine, des Anderen Sprache lernen. Man kann in die Spracheder Anderen bergehen, um den Anderen zu erreichen. (Gadamer, Destruktion und Dekonstruktion, 364). Wiedurchaus problematisch ein alles vereinheitlichendes Verstndnis von Sprache sein kann, wird anhand der

    Darstellung der Wittgensteinschen Position zu zeigen versucht.23 Gadamer, Destruktion und Dekonstruktion, 372.24 Die Elementarstze werden nach dem frhen Wittgenstein durch die Alltagssprache verschleiert (vgl.Wittgenstein, Tractatus, 4.002).

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    Glied einer Erklrungskette fungieren.25 Fr Wittgenstein ist das sterile Korrelationsverhltnisvon Satz, Sprache, Denken, Welt26 uerst problematisch, da es stets die lebensweltlicheVerankerung der verschiedenartigen Sprachspiele auer Acht lsst. Die in der Analytikvorgenommene Fokussierung auf den prpositionalen Gehalt des Behauptungssatzes stellt frWittgenstein eine allzu starke Verkrzung des alltglichen, in sich differenzierten Sprechens

    dar. Die Rckfhrung auf Urelemente ist daher in der konkreten Sprachverwendung nichtbrauchbar, denn alle diese Metatheorien und Hypostasierungen der Alltagssprache verkennendie ungeheure Vielfalt der Sprache, die nicht ohne eklatante Verluste auf ein Wesen derSprache reduzierbar ist.Gegen die Rckfhrung auf eine privilegierte Satzart fhrt Wittgenstein eine Vielzahl voneigenstndigen Weisen der Sprache an: Wieviele Arten der Stze gibt es aber? EtwaBehauptung, Frage und Befehl? Es gibt unzhlige solcher Arten: unzhlige verschiedeneArten der Verwendung alles dessen, was wir Zeichen, Worte, Stze nennen. Und dieseMannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein fr allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache,neue Sprachspiele, wie wir sagen knnen, entstehen und andre veralten und werdenvergessen.27. Die von Wittgenstein angefhrte Auflistung der verschiedenen Sprachspiele soll

    die breite Palette der Sprache im Alltag anzeigen und vermeidet bewusst eine hierarchischeReihung. Es gibt folglich eine variable Zahl von Sprachspielen, die jeweils fr sich einautonomes Gefge mit eigenen Regeln bilden und an den Kontext einer konkreten Lebensformgebunden sind, ohne dass ihre Heterogenitt in eine allgemeine Einheit berfhrt werdenknnte.Wird in dieser Anfhrung von vielen verschiedenen Weisen der Sprachspiele und in derZurckweisung der Frage nach einer allgemeinen Form der Sprache, so Wittgenstein in einemSelbsteinwand28, nicht gerade der schwierigste Part der Untersuchung einfach weggelassenund die Verwendung des Begriffs Sprachspiel nicht zu Ende gedacht? Das Aufzeigen einerPluralitt von Sprachspielen wirft unweigerlich die Frage auf, ob nicht doch den mannigfaltigaufgefcherten Sprachspielen wiederum ein Allgemeines zugrunde liegt. Impliziert nicht dasSprechen ber die verschiedenen Sprachspiele einen die Vielzahl berhaupt ermglichendenBegriff von Einheit? Dies bedenkt auch Wittgenstein als mgliches Gegenargument: Wir sindz. B. geneigt zu denken, da es etwas geben mu, das allen Spielen gemeinsam ist, und dadiese gemeinsame Eigenschaft die Anwendung der allgemeinen Bezeichnung Spiel auf dieverschiedenen Spiele rechtfertigt [...].29 Wie kann Wittgenstein eine irreduzible Vielfalt frdie mannigfaltigen Sprachspiele veranschlagen, ohne dabei auf ein Gemeinsames zurekurrieren? Dieser Denkschwierigkeit mchte er mit der Analogie von Sprache und Spielweiter nachgehen, um einen Aspekt des vielschichtigen Terminus Sprachspielhervorzuheben:Ich werde keine allgemeine Definition von Satz zu geben versuchen, denn das ist nichtmglich. Es ist genausowenig mglich wie die Angabe einer Definition des Wortes Spiel.30

    Es zeigt sich fr Wittgenstein, dass bei einer genauen Besichtigung der Pluralitt von Spielen er fhrt dabei Brett-, Karten-, Ball- und Kampfspiele an nicht von einem allen gemeinsamen,

    25 Die Aporien einer voraussetzungslosen ostensiven Definition verdeutlicht Wittgenstein einleuchtend an einemBeispiel: Die Definition der Zahl Zwei Das heit zwei wobei man auf zwei Nsse zeigt ist vollkommenexakt. Aber wie kann man denn die Zwei so definieren? Der, dem man die Definition gibt, wei ja dann nicht,was man mit zwei benennen will; er wird annehmen, da du diese Gruppe von Nssen zwei nennst! Er kanndies annehmen; vielleicht aber auch, umgekehrt, wenn ich dieser Gruppe von Nssen einen Namen beilegen will,ihn als Zahlennamen miverstehen. Und ebensogut, wenn ich einen Personennamen hinweisend erklre, diesen alsFarbnamen, als Bezeichnung der Rasse, ja als Namen einer Himmelsrichtung auffassen. Das heit, diehinweisende Definition kann in jedem Fall so oder anders gedeutet werden. (Wittgenstein, PhilosophischeUntersuchungen, 28)26 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 96.27 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 23.28 Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 65.29 Wittgenstein, Blaues Buch, 37.30 Wittgenstein, Vorlesungen 1930-1935, 170.

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    wesentlichen Merkmal gesprochen werden kann. Zwar sind durchaus ineinandergreifendehnlichkeiten oder verwandte Elemente verortbar, aber es lsst sich kein einheitlicherGrundzug festmachen, der alle Arten des Spiels und nur diese hinreichend bestimmenknnte: Wie gesagt: denk nicht, sondern schau! Schau z. B. die Brettspiele an, mit ihrenmannigfachen Verwandtschaften. Nun geh zu den Kartenspielen ber: hier findest du viele

    Entsprechungen mit jener ersten Klasse, aber viele gemeinsame Zge verschwinden, anderetreten auf. Wenn wir nun zu den Ballspielen bergehen, so bleibt manches Gemeinsameerhalten, aber vieles geht verloren. Sind sie alle unterhaltend? Vergleiche Schach mit demMhlfahren. Oder gibt es berall ein Gewinnen und Verlieren, oder eine Konkurrenz derSpielenden? Denk an die Patiencen. In den Ballspielen gibt es Gewinnen und Verlieren; aberwenn ein Kind den Ball an die Wand wirft und wieder auffngt, so ist dieser Zugverschwunden. Schau, welche Rolle Geschick und Glck spielen. Und wie verschieden istGeschick im Schachspiel und Geschick im Tennisspiel. Denk nun an die Reigenspiele: Hier istdas Element der Unterhaltung, aber wie viele der anderen Charakterzge sind verschwunden!Und so knnen wir durch die vielen, vielen anderen Gruppen von Spielen gehen. hnlichkeitenauftauchen und verschwinden sehen.31

    Den tradierten Denkschemata, die in ihren theoretischen Vorannahmen stets von einer Essenzausgehen, hlt Wittgenstein entgegen, dass ein genaues Hinschauen auf das Phnomen Spielzeigt, dass sich hier nicht ein durchgehendes Hauptmerkmal ausmachen lsst. So sind wederalle Spiele unterhaltend noch gibt es immer Gewinner und Verlierer, sondern es gibt eine Reihevon hnlichkeiten und Verwandtschaftsbeziehungen, die sich berlappen und kreuzen. Aberkeines dieser Attribute ist allen Spielformen gemeinsam. Es gibt weder ein einheitlichesZentrum noch ein gemeinsames Definiens, auf das smtliche Varianten zurckzufhren wren.Die Pluralitt der verschiedenen Spielarten ist irreduzibel. Den Einwand, dass es doch einGemeinsames geben msste selbst wenn es die Disjunktion aller dieserGemeinsamkeiten32 wre , da ansonsten nicht der Begriff Spielverwendet werden knnte,weist Wittgenstein als bloe Rabulisterei zurck. Der angestrebte Dogmatismus derUnifikation wird niemals den unzhligen Varianten des Spiels, die wir kennen, gerecht. Spielist fr Wittgenstein ein offener Begriff, der nie vllig durchstrukturiert ist und folglich keineabgeschlossene Grenze aufweist.Ist das Wort Spielberhaupt verstehbar, wenn es unmglich ist, den Terminus begrifflich klarzu umreien? Fr Wittgenstein ist nicht nur keine Definition mglich, sondern sie ist auch inkeinster Weise ntig, da wir immer schon ohne eine eindeutig exakte Erklrung auskommen.Es hat ja schlielich keinen von uns gestrt, dass wir keine umfassende Begriffsbestimmung

    parat haben, wenn wir das Wort Spiel im Alltag verwenden. Das Fehlen einer scharfenGrenzziehung ist folglich kein zu behebender Mangel. Wir kommen auch ohne prziseDemarkationslinie aus, indem wir im konkreten Einzelfall anderen dieses oder jenes Spiel

    beschreiben und ihnen Beispiele dafr geben. Auch hier weist Wittgenstein die Annahme

    31 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 66. Kontrr zu den Ausfhrungen Wittgensteins mchte MaxBlack charakteristische Merkmale des Spielbegriffs festmachen, der seiner Auffassung nach (1) zum Spielen (unddamit als Gegensatz zur Arbeit) bestimmt, (2) regelgeleitet, (3) zielgerichtet, (4) autonom ist. Zudem ist Black derAnsicht, dass (5) die Spielregeln willkrlich sind und (6) dass das Spiel immer durch ein Feld, einen Beginn undein Ende begrenzt ist. In short: a competitive game is a mock contest, conducted within a limited space and time,for a desired but intrinsically trivial outcome (a win), according to arbitrary rules freely adopted. Such a game isa make-believe fight, an escape activitypar excellence. (Black, Wittgensteins Language-games, 83). Abgesehendavon, dass Black durch diese Wesensbestimmung des Spiels vollkommen an Wittgensteins Argumentationvorbeigeht, zeigt sich, dass hier Spiel in erster Linie als unterhaltende Beschftigung in Abgrenzung zum ernstenAlltagsleben verstanden wird. Diesem einseitigen Verstndnis von Spiel versucht Wittgenstein v. a. durch die

    Anfhrung von Spielen der Bauarbeiter, des Kaufmanns oder von Kampfspielen, z. B. Gladiatorenspiele,entgegenzutreten. Spiel bleibt bei ihm ein offener Begriff, der durch kein Merkmal zureichend bestimmt werdenkann.32 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 67.

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    zurck, dass das Exempel blo ein indirektes Mittel der Erklrung33 sei und implizit dochwieder auf ein Allgemeines ziele. Diesem unausrottbaren Platonismus hlt Wittgenstein immerwieder die irreduzible Vielfalt von Kontexten vor Augen. Seine Herangehensweise versuchtgerade diese singulren Sprachspiele in ihrer unaufhebbaren Eigenheit im Blick zu behalten.Damit einhergehend wendet er sich parallel zum Vorhaben Gadamers auch gegen das Ideal

    einer definitorischen Exaktheit, die einen Methodenuniversalismus in smtliche Bereichehineintragen mchte. Wittgenstein fhrt eine Reihe von Beispielen an, bei denen wir ohnemathematisch eineindeutige Angaben auskommen, ja eine wissenschaftlich exakteVersicherung sich als unbrauchbar erweist: Frege vergleicht den Begriff mit einem Bezirk undsagt: einen unklar begrenzten Bezirk knne man berhaupt keinen Bezirk nennen. Das heitwohl, wir knnen mit ihm nichts anfangen. Aber ist es sinnlos zu sagen: Halte dich ungefhrhier auf!?34 So wie wir in lebensweltlichen Belangen frei von Verlusten ohne einExaktheitsideal auskommen, da jede Mathematisierung an den Phnomenen vorbeigehenwrde, ist auch ein eindeutiger Zugriff auf die Kunst nicht mglich.Wittgenstein weist in den Philosophischen Untersuchungen darauf hin, dass es einehoffnungslose Aufgabe zu werden droht, aus einem verschwommenen Bild, in dem die Farben

    ineinander flieend bergehen, ein gestochen scharfes ermitteln zu wollen. Und in dieser Lagebefindet sich z. B. der, der in der Aesthetik oder Ethik nach Definitionen sucht, die unserenBegriffen entsprechen.35 Gerade in diesen Bereichen scheint das am Paradigma derMathematik orientierte exakt begriffliche Definieren fehl am Platz zu sein.Bereits im Tractatus betont Wittgenstein, dass die sthetik ebenso wie die Ethik sichnicht mit kontingenten Tatsachen beschftigt. Sowohl der sthetische als auch der ethischeBereich entziehen sich der Darstellung in sinnvollen Stzen und daher jedem (natur-)wissenschaftlichen Diskurs. Was sich in der Kunst ereignet, kann nur mehr gezeigt werden. Inhnlicher Weise grenzt sich Wittgenstein auch in seinen spteren Schriften, in denen er zumeistdas Problemfeld der sthetik nur streift36, von der wissenschaftlichen Vereinnahmung derKunst ab. Fast ausnahmslos sieht er sich gezwungen, vor den grbsten Missverstndnissen in

    puncto sthetik zu warnen.Mit aller Schrfe wendet er sich gegen die Annahme, sthetik sei eine Wissenschaft37 unddurch die Rckfhrung auf das Fundament der Psychologie genau entschlsselbar. Dasszientistische Verfahren und Psychologie ist fr Wittgenstein eine am Ideal der

    Naturwissenschaften orientierte Mechanik der Seele38 kann nicht die Fragen der Kunstbeantworten. sthetische Phnomene lassen sich nicht durch kausale Erklrungen deuten, wiees in der experimentellen Psychologie versucht wird. Dort trachtet man danach, die Wirkung,die von einem Kunstwerk ausgeht, auf psychoneurologische Vorgnge zu reduzieren, die

    bestimmte Gemtsverfassungen beim Menschen hervorrufen. Das Kunstwerk spielt alsKunstwerk in dieser Reaktionskette keine eigenstndige Rolle mehr, da es nur mehr als ein

    Reiz, dessen Quelle im Grunde austauschbar ist, angesehen wird. Die Eigenstndigkeit desWerkes und sein Rtselcharakter gehen durch diesen szientistischen bergriff verloren.Wittgenstein schreibt daher: Wir knnen aber davon trumen, die Reaktionen von Menschen,sagen wir auf Kunstwerke, vorherzusagen. Wenn wir uns vorstellen, der Traum seiverwirklicht, dann htten wir damit die von uns empfundenen sthetischen Rtsel nicht gelst[...]. Warum hrst du dieses Menuett?, und es besteht die Neigung zu antworten: Um die und

    33 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 71.34 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 71.35 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 77.36 Eine Ausnahme bildet die 1938 in Cambridge gehaltenen Vorlesungen ber sthetik.37 Wittgenstein, Vorlesungen ber sthetik, 24.38 Wittgenstein, Vorlesungen ber sthetik, 46.

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    die Wirkung zu erzielen. Bedeutet das Menuett selbst nichts? das zu hren: htte es einanderes genausogut getan?39Die Eigenstndigkeit des Werkes zeigt sich gerade darin, dass das Menuett als dieses Menuettnicht austauschbar ist oder sich auf die ausbende Wirkung bzw. einen bestimmten Inhaltreduzieren lsst. Das Kunstwerk zeigt sich stets als komplexes Ganzes und ist nicht auf einen

    Teil, z. B. Inhalt, reduzierbar.40

    Neben der Zurckweisung einer Vereinnahmung des sthetischen von seiten dernaturwissenschaftlichen Methodik weist Wittgenstein darauf hin, dass es in der Kunst

    problematisch ist, unreflektiert mit der Terminologie zu hantieren. So wie das Wort Spiel inden diversen Bereichen je andersartig aufzufassen ist und keiner allgemeinen Definitionunterliegt, darf die Begrifflichkeit zur Beschreibung von sthetischen Phnomenen nichtachtlos aus anderen Sprachspielen importiert werden, ohne diese entscheidendeKontextnderung mit dem jeweils spezifischen Gebrauch stets mitzubedenken. Diegleichlautende Nomenklatur verleitet allzu schnell zu Fehlschlssen und stiftet nicht seltenVerwirrungen: Es ist immer wieder berraschend, welche neuen Streiche uns die Sprachespielt, wenn wir uns auf ein neues Gebiet begeben.41 Indem Wittgenstein auf die jeweils

    gravierenden Unterschiede im Gebrauch des Vokabulars aufmerksam macht, lehnt er auchjegliche Art von einer abstrakten Begriffsbestimmung im sthetischen Bereich ab. Abgesehendavon, dass laut Wittgenstein in sthetischen Auseinandersetzungen Ausdrcke wie schnoder hsslich kaum verwendet werden, da sie primr als Interjektionen gebraucht werden,muss uns bewusst werden, in welchen unterschiedlichen Kontexten wir diese Terminologiegebrauchen: Das Wort Schnheit wird fr tausend verschiedene Dinge verwendet. [...] DieBedeutung des Wortes Schnheit knnen wir nur dadurch ermitteln, da wir erkennen, wiewir es verwenden.42

    Die kontextuellen Umstnde versucht Wittgenstein nicht nur in Abgrenzung zu anderenGebieten, sondern auch innerhalb des weiten Felds des sthetischen zu bercksichtigen, indemer auf historische und kulturelle Bedingtheiten verweist. Er lsst hier die Frage offen, ob wirvor der Andersartigkeit von Kunstwerken aus gnzlich fremden Epochen und Kulturen stehen

    bleiben mssen, oder ob eine Annherung, zumindest ein Stck weit, doch mglich ist. Weitbehutsamer als Gadamer, der ja immer von einem prinzipiellen Verstehenknnen jederAlteritt ausgeht, bewegt sich Wittgenstein in diesem Feld. Es ist fr ihn unsicher, ob wir

    beispielsweise afrikanische Kunst oder die Malerei des 15. Jahrhunderts adquat verstehenknnen.43 Wo Gadamer stets fr die Integration in den eigenen Auslegungshorizont pldiertund damit einen Grundzug des hermeneutischen Verstehens anzeigt denn jedes Etwas wirdals etwas verstanden , lsst Wittgenstein weit grere Vorsicht walten. Er entzieht sich hiereiner klaren Festlegung und macht durch eine Reihe von Fragen auf das vielschichtige Problemaufmerksam. Jeder einfache Rckschluss auf unseren eigenen Auslegungshorizont erscheint

    39 Wittgenstein, Vorlesungen ber sthetik, 46.40 In diesem Sinne schreibt Wittgenstein auch in den Philosophischen Untersuchungen: Wir reden vomVerstehen eines Satzes in dem Sinne, in welchem er durch einen andern ersetzt werden kann, der das Gleiche sagt;aber auch in dem Sinne, in welchem er durch keinen andern ersetzt werden kann. (So wenig wie ein musikalischesThema durch ein anderes.) Im einen Fall ist der Gedanke des Satzes, was verschiedenen Stzen gemeinsam ist; imandern, etwas, was nur diese Worte, in diesen Stellungen, ausdrcken. (Verstehen eines Gedichts.) (Wittgenstein,Philosophische Untersuchungen, 531)41 Wittgenstein, Vorlesungen ber sthetik, 12. Auf diesen Umstand macht Wittgenstein auch in denPhilosophischen Untersuchungen aufmerksam: Die unsgliche Verschiedenheit aller der tagtglichenSprachspiele kommt uns nicht zum Bewutsein, weil die Kleider unserer Sprache alles gleichmachen.(Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, p. 570)42 Wittgenstein, Vorlesungen 1930-1935, 192. Vgl. Wittgenstein, Vorlesungen ber sthetik, 11ff.43 So schreibt Wittgenstein: Was knnte Tradition in Neger-Kunst sein? Da Frauen Grasrcke tragen? usw. usw.Ich wei es nicht. Ich wei nicht, wie Frank Dobsons Bewunderung fr Neger-Kunst sich zu der eines gebildeten

    Negers verhlt. Wenn du sagst, er schtzt sie, wei ich noch nicht, was das bedeutet. (Wittgenstein, Vorlesungenber sthetik, 20)

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    ihm eine simplifizierende Konstruktion zu sein. Wir knnen nie generell vom eigenenKunstverstndnis ausgehend auf smtliche Kunstwerke aller Zeitalter und Zivilisationenschlieen. Dieser Transfer ist, wenn er berhaupt stattfinden kann, uerst komplex.Um die Mglichkeit einer Annherung an die Kunst, an die jeweiligen Kunstwerke, offen zuhalten, ist fr Wittgenstein die Bercksichtigung der kontextuellen Verankerung von grter

    Wichtigkeit: Um dir ber sthetische Begriffe klar zu werden, mut du Lebensweisenbeschreiben.44 Der Akzent ist in diesem Zitat jedoch weder auf das Klarwerden noch auf ein(intellektualistisches) Sichkundigmachen gelegt, sondern auf das, was beschreiben hier heit.Wittgenstein mchte mit dieser Aussage nicht einer simplen Aneignung der verschiedenenLebensweisen das Wort reden, denn durch das Beschreiben von Kunstwerken werden allevorgefertigten Erklrungsmuster auen vor gelassen. In den PhilosophischenUntersuchungen weist Wittgenstein genau auf dieses behutsame Sichnhern im Beschreibenhin: Und wir drfen keinerlei Theorie aufstellen. Es darf nichts Hypothetisches in unsernBetrachtungen sein. AlleErklrungmu fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten.45 Indiesem genauen Betrachten wird das zu sehen versucht, was sich jeweils zeigt, ohne alles aufein vorgefertigtes Auslegungsraster zurckzufhren oder vieles durch dieses

    Interpretationsschema gar nicht wahrzunehmen. Dabei sollen die Differenzen nicht durch deninterpretatorischen Zugriff eingeebnet und Fremdheiten problemlos integriert werden, sondernWittgenstein mchte gerade smtliche Spannungen mitbercksichtigen und sie als solchestehen lassen. Diese Art der Beschreibung bewegt sich auch immer am Rande des Scheiterns,am Abgrund des Nicht-Beschreiben-Knnens46, und bleibt als offene Erkundungsbewegungnur dem einzelnen Kunstwerk verpflichtet. So mag vielleicht fr die WittgensteinscheKunstbetrachtung auch das gelten, was er bereits ber die Philosophie und ihr Verhltnis zurSprache gesagt hat: Die Philosophie darf den tatschlichen Gebrauch der Sprache in keinerWeise antasten, sie kann ihn am Ende also nur beschreiben. Denn sie kann ihn auch nicht

    begrnden. Sie lt alles, wie es ist.47

    Aus der Nachzeichnung des Spielverstndnisses bei Gadamer und Wittgenstein kann folgendesFazit gezogen werden: Die magebliche Orientierung am Spielbegriff erlaubt es Gadamer, denrein subjektivistischen Auslegungstendenzen der sthetik des 19. Jahrhunderts einweitgreifendes Verstndnis von Kunst und Kunstwerk entgegenzuhalten. Kunst ist nicht bloesBeiwerk, das man nach dem sthetischen Erleben wieder beiseite schieben kann, sondern dieKunst als Spiel zieht uns als Betrachtende in den Bann, fordert uns zum Mitspielen heraus undmacht uns dadurch neue Zugnge zur Welt sichtbar, die nachhaltig unser Selbstverstndnisverndern knnen. Der Spielbegriff verleitet Gadamer aber auch dazu, die Unmittelbarkeit imgespielten Spiel so berzubetonen, dass dadurch der nie restlos einzuholende Rtselcharakterder Kunst bisweilen vollkommen aus den Augen verloren wird. Dem wurde versucht,Wittgensteins Verstndnis von Spiel entgegenzuhalten. Ebenso wie die Mannigfaltigkeit der

    Spiele und im weiteren Sinne die Pluralitt der Sprachspiele sich nicht definitorisch auf eineAllgemeinheit reduzieren lassen, bewahrt auch jedes Kunstwerk seine Eigenheit, die nichtimmer in einem unmittelbaren Mitspielen aufgeht. Gerade in der Kunst verwehrt sichWittgenstein gegen eine vorschnelle Eingliederung des Kunstwerks in ein gemeinsamesGeschehnis, wie es die Hermeneutik Gadamers manchmal nahezulegen scheint. Wittgenstein

    betont dagegen die Widerstndigkeit und Alteritt des Kunstwerkes. Unser Verstehen vonKunst wird nach Wittgenstein durch vielerlei Faktoren begrenzt. Gerade das Phnomen Spielweist ja selbst auf diese bestndige Unabgeschlossenheit und Uneinholbarkeit hin. Im Spiel

    44 Wittgenstein, Vorlesungen ber sthetik, 23.45 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 109.46 Wittgenstein, Vorlesungen ber sthetik, 56. Wittgenstein weist in einem anderen Zusammenhang auch auf dieuerst diffizile Problematik einer sthetik berhaupt hin: In der Kunst ist es schwer etwas zu sagen, was so gutist wie: nichts zu sagen. (Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, 481).47 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 124.

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    lsst sich niemals ein Endpunkt finden, an dem alle Mglichkeiten erschpft sind und das Spielals Spiel zu Ende wre. Vielmehr kann das stete Erffnen von Mglichkeiten undHerausforderungen im Spiel der Kunst immer wieder fesseln und einen neuen Reiz ausben.

    Adorno, Theodor W.: sthetische Theorie. Hg. v. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann,Frankfurt am Main: Suhrkamp 141998.

    Black, Max: Wittgensteins Language-games, in: Shanker, Stuart (Hg.): Ludwig Wittgenstein.Critical Assessments. Vol Two. From Philosophical Investigations to On Certainty:Wittgensteins Later Philosophy, London [u.a.]: Croom Helm 1986, 74-88.

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    Gadamer, Hans-Georg: Das Spiel der Kunst (1977), in: sthetik und Poetik I. Kunst als

    Aussage, Tbingen: Mohr (Siebeck), 1993 (=GW VIII), 86-93.

    Gadamer, Hans-Georg: Destruktion und Dekonstruktion (1985), in: Hermeneutik II. Wahrheitund Methode. Ergnzungen. Register, Tbingen: Mohr (Siebeck) 1993 (=GW II), 361372.

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    Gadamer, Hans-Georg: Die Aktualitt des Schnen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest (1974),in: sthetik und Poetik I. Kunst als Aussage, Tbingen: Mohr (Siebeck), 1993 (=GW VIII),94-142.

    Gadamer, Hans-Georg: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzge einerphilosophischen Hermeneutik, Tbingen: Mohr (Siebeck) 61990 (=GW I)

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    Gadamer, Hans-Georg: Text und Interpretation (1983), in: Hermeneutik II. Wahrheit undMethode. Ergnzungen. Register, Tbingen: Mohr (Siebeck) 1993 (=GW II), 330-360.

    Gadamer, Hans-Georg: Was ist Wahrheit? (1957), in: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode.Ergnzungen. Register, Tbingen: Mohr (Siebeck) 1993 (=GW II), 44-56.

    Gadamer, Hans-Georg: Wort und Bild so wahr, so seiend (1992), in: sthetik und Poetik I.

    Kunst als Aussage, Tbingen: Mohr (Siebeck), 1993 (=GW VIII), 373-399.

    Grondin, Jean: Einfhrung zu Gadamer, Tbingen: Mohr (Siebeck) 2000.

    Grondin, Jean: Gadamer on humanism, in: Hahn, Lewis Edwin (Hg.): The Philosophy of Hans-Georg Gadamer, Chicago u.a.: Open Court 1997 (=The library of living philosophers 24), 157-170.

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    Kluge, Friedrich: Etymologisches Wrterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von ElmarSeebold, 23. erw. Aufl. Berlin, New York: de Gruyter 1999.

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    Schiller, Friedrich: ber die sthetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen,in: Smtliche Werke. Bd. V. Erzhlungen. Theoretische Schriften. Hg. v. Gerhard Fricke undHerbert G. Gpfert, Mnchen: Hanser91993, 570-669.

    Wilde, Oscar: Der Verfall der Lge. (bers. v. Christine Koschel und Inge v. Weidenbaum),in: Smtliche Werke in sieben Bnden. Essays II. Hg. v. Norbert Kohl. bers. v. ChristineHoeppener u. a., Frankfurt am Main: Insel 2000 (= SW 7), 9-44.

    Wittgenstein, Ludwig: Das Blaue Buch, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984 (=WA 5).

    Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984(=WA 1) [Teil I wird nach Paragraphen, Teil II nach Seitenzahlen zitiert].

    Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984(=WA 1) [nach Satznummern zitiert].

    Wittgenstein, Ludwig: Vermischte Bemerkungen, in: ber Gewiheit, Frankfurt am Main:Suhrkamp 71997 (=WA 8), 445-573.

    Wittgenstein, Ludwig: Vorlesungen 1930-1935. Hg. v. Desmond Lee und Alice Ambrose.bers. v. Joachim Schulte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989.

    Wittgenstein, Ludwig: Vorlesungen ber sthetik, in: Vorlesungen und Gesprche bersthetik, Psychoanalyse und religisen Glauben. Hg. aus Notizen von Yorick Smythies, RushRhees und James Taylor v. Cyril Barrett. bers. v. Ralf Funke, Frankfurt am Main: Fischer2001, 11-60.