die Überlieferung der interrogatio st. anselmi de passione

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1 Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione Domini, deutschEine methodische und methodologische Herausforderung * Klaus-Peter Wegera, Bochum Die Interrogatio St. Anselmi ist in außergewöhnlich großer Zahl überliefert. 1 Neben einer großen Zahl lateinischer Textzeugen 2 sind inzwischen 64 deutschsprachige und 4 mnl. 3 Exemplare bekannt, und man kann mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass sich noch weitere finden lassen. Das Besondere der deutschsprachigen Überlieferung, die sich aus 54 Hss. und 10 Druckexemplaren zusammensetzt, liegt einerseits in der zeitlichen Dichte der Überlieferung zwischen der 2. Hälfte des 14. und dem beginnenden 16. Jh. mit einem deutlichen Schwerpunkt im 15. Jahrhundert und andererseits in der besonderen Art der Textvariation. Die Handschriftenüberlieferung verteilt sich über das gesamte deutschsprachige Gebiet, die Drucke finden sich mehrheitlich im Ripuarischen (Köln) und im Niederdeutschen (Lübeck); im hochdeutschen Raum finden sich nur zwei Augsburger Drucke beide mehr oder weniger fragmentarisch. Die Überlieferung umfasst neben verschiedenen Prosaformen auch mehrere Versfassungen: eine mit 10 Handschriften- und 8 Druckexemplaren aus Köln und dem niederdeutschen Raum, eine mit nur einem überlieferten Textexemplar aus dem ostmitteldeutschen Raum (D3) und eine weitere mit nur einem überlieferten Fragment (b1) ebenfalls aus dem ostmitteldeutschen Raum. 4 * Der Beitrag bezieht sich auf den Forschungsstand von Dez. 2012. Zu diesem Zeitpunkt waren einige Hss. noch nicht zugänglich, so hk1, Hz1, Kn1. Der Beitrag wird regelmäßig auf den neuesten Stand gebracht und versteht sich insofern als dynamisch. 1 Die Literatur zu diesem ‚Text‘ ist durchaus überschaubar und basiert auf unterschiedlichen, immer aber unvollständigen Textsammlungen: Bergmann (1986); Cepkova (1969), (1982); de Haan (1968); Eggers (1955), (1978); Graffunder (1893); Jellinghaus (1882); Lisch (1858); Lübben (1869a), (1869b), (1893); Patera (1886); Ruh (1956); Stammler (1953a), (1953b); Schade (1870); Schröder (1871); (1872); Steer (1977); Traunbauer (1955); Zeller (1943). Die leider kaum noch zugängliche Dissertation von Zeller bietet die bisher solideste Darstellung. Das Bochumer DFG-Projekt zur Edition und Erschließung der Überlieferung basiert auf einer Sammlung des früh verstorbenen Detmar Grubert im Vorfeld seiner nicht fertiggestellten Dissertation in den 1980er Jahren. Die Sammlung wurde erweitert, insbesondere um die Hss., die Grubert seinerzeit nicht zugänglich waren, Lokalisierung und Datierung neu vorgenommen und mit den neueren Forschungsergebnissen in Einklang gebracht. Die Hss. und Drucke wurden diplomatisch transkribiert, digitalisiert, lemmatisiert und zumindest teilweise grammatisch annotiert. Sie stehen demnächst unter www.rub.de/wegera/sanktanselmus für weitere Forschungen zur Verfügung. 2 Die Sammlung von Grubert, erweitert um die Angaben bei Cardelle de Hartmann (2007) sowie eigene Recherchen, ergeben eine vorläufige Zahl von 162 Überlieferungsträgern im (ehemaligen) deutschsprachigen Raum. 3 Prosa : Le1 Leiden Ms. Ltk. 226 (15. Jh.); Am1 Amsterdam UB IG 41 (14. Jh.); B1523 Druck Utrecht 1523 bei Jan Berntsz (Den Haag Kgl. NB). Vers: ma1 Maastricht Rijksarchief Manuscripten collectie nr. 167-III- 13 (15. Jh.). Das von De Haan (1968) als weitere St. Anselmus-Hs. transkribierte Fragment Groningen UB. hs. 405 ist kein Exemplar der Interrogatio St. Anselmi. 4 Da die Überlieferung bisher nicht komplett aufgearbeitet ist und im o.g. Forschungsvorhaben zum ersten Mal eine auf Vollständigkeit bedachte Sammlung angelegt wurde, konnten neue einheitliche Siglen vergeben werden: Großbuchstaben (nach dem aktuellen Aufbewahrungsort) für vollständig überlieferte Hss. (Volltexte), Kleinbuchstaben für Fragmente; die Drucke werden (abgekürzt) nach dem Drucker und dem Druckjahr angeführt (etwa KJ 1499 für den Kölner Druck von 1499 des Druckers Johann Koelhoff d. Jüngeren).

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Page 1: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

1

Die Überlieferung der ‚Interrogatio St. Anselmi de Passione Domini, deutsch‘

– Eine methodische und methodologische Herausforderung *

Klaus-Peter Wegera, Bochum

Die Interrogatio St. Anselmi ist in außergewöhnlich großer Zahl überliefert.1 Neben einer

großen Zahl lateinischer Textzeugen2 sind inzwischen 64 deutschsprachige und 4 mnl.

3

Exemplare bekannt, und man kann mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass sich noch

weitere finden lassen. Das Besondere der deutschsprachigen Überlieferung, die sich aus 54

Hss. und 10 Druckexemplaren zusammensetzt, liegt einerseits in der zeitlichen Dichte der

Überlieferung zwischen der 2. Hälfte des 14. und dem beginnenden 16. Jh. mit einem

deutlichen Schwerpunkt im 15. Jahrhundert und andererseits in der besonderen Art der

Textvariation. Die Handschriftenüberlieferung verteilt sich über das gesamte

deutschsprachige Gebiet, die Drucke finden sich mehrheitlich im Ripuarischen (Köln) und im

Niederdeutschen (Lübeck); im hochdeutschen Raum finden sich nur zwei Augsburger Drucke

– beide mehr oder weniger fragmentarisch. Die Überlieferung umfasst neben verschiedenen

Prosaformen auch mehrere Versfassungen: eine mit 10 Handschriften- und 8

Druckexemplaren aus Köln und dem niederdeutschen Raum, eine mit nur einem überlieferten

Textexemplar aus dem ostmitteldeutschen Raum (D3) und eine weitere mit nur einem

überlieferten Fragment (b1) ebenfalls aus dem ostmitteldeutschen Raum.4

* Der Beitrag bezieht sich auf den Forschungsstand von Dez. 2012. Zu diesem Zeitpunkt waren einige Hss.

noch nicht zugänglich, so hk1, Hz1, Kn1. Der Beitrag wird regelmäßig auf den neuesten Stand gebracht und

versteht sich insofern als dynamisch. 1 Die Literatur zu diesem ‚Text‘ ist durchaus überschaubar und basiert auf unterschiedlichen, immer aber

unvollständigen Textsammlungen: Bergmann (1986); Cepkova (1969), (1982); de Haan (1968); Eggers

(1955), (1978); Graffunder (1893); Jellinghaus (1882); Lisch (1858); Lübben (1869a), (1869b), (1893);

Patera (1886); Ruh (1956); Stammler (1953a), (1953b); Schade (1870); Schröder (1871); (1872); Steer

(1977); Traunbauer (1955); Zeller (1943). Die leider kaum noch zugängliche Dissertation von Zeller bietet

die bisher solideste Darstellung.

Das Bochumer DFG-Projekt zur Edition und Erschließung der Überlieferung basiert auf einer Sammlung des

früh verstorbenen Detmar Grubert im Vorfeld seiner nicht fertiggestellten Dissertation in den 1980er Jahren.

Die Sammlung wurde erweitert, insbesondere um die Hss., die Grubert seinerzeit nicht zugänglich waren,

Lokalisierung und Datierung neu vorgenommen und mit den neueren Forschungsergebnissen in Einklang

gebracht. Die Hss. und Drucke wurden diplomatisch transkribiert, digitalisiert, lemmatisiert und – zumindest

teilweise – grammatisch annotiert. Sie stehen demnächst unter www.rub.de/wegera/sanktanselmus für

weitere Forschungen zur Verfügung. 2 Die Sammlung von Grubert, erweitert um die Angaben bei Cardelle de Hartmann (2007) sowie eigene

Recherchen, ergeben eine vorläufige Zahl von 162 Überlieferungsträgern im (ehemaligen) deutschsprachigen

Raum. 3 Prosa: Le1 Leiden Ms. Ltk. 226 (15. Jh.); Am1 Amsterdam UB IG 41 (14. Jh.); B1523 Druck Utrecht 1523

bei Jan Berntsz (Den Haag Kgl. NB). Vers: ma1 Maastricht Rijksarchief Manuscripten collectie nr. 167-III-

13 (15. Jh.). Das von De Haan (1968) als weitere St. Anselmus-Hs. transkribierte Fragment Groningen UB.

hs. 405 ist kein Exemplar der Interrogatio St. Anselmi. 4 Da die Überlieferung bisher nicht komplett aufgearbeitet ist und im o.g. Forschungsvorhaben zum ersten Mal

eine auf Vollständigkeit bedachte Sammlung angelegt wurde, konnten neue einheitliche Siglen vergeben

werden: Großbuchstaben (nach dem aktuellen Aufbewahrungsort) für vollständig überlieferte Hss.

(Volltexte), Kleinbuchstaben für Fragmente; die Drucke werden (abgekürzt) nach dem Drucker und dem

Druckjahr angeführt (etwa KJ 1499 für den Kölner Druck von 1499 des Druckers Johann Koelhoff d.

Jüngeren).

Page 2: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

2

Übersicht über die deutschsprachige (bekannte) Überlieferung5

Handschriften: au1 Staats- und StB Augsburg 2° Cod 438 (Federprobe); B1 Staatsbibliothek

zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz Ms germ. octav 183; b1 Staatsbibliothek zu Berlin -

Preußischer Kulturbesitz Fragm. 4; b2 Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz

Ms. germ. fol. 736; B2 Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz Ms. germ. qu.

2025; b3 Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz Ms. germ. fol. 1714; Ba1

Staatsbibliothek Bamberg Msc. Lit. 176; Ba2 Staatsbibliothek Bamberg Msc. Lit. 176; Be1

Burgerbibliothek Bern Mss.h.h. X.50; D1 Anhaltische Landesbücherei Dessau Hs. Georg.; D2

Anhaltische Landesbücherei Dessau Hs. Georg 73.8°; D3 Anhaltische Landesbücherei Dessau

Hs. Georg. 24.8° (4°); D4 Anhaltische Landesbücherei Dessau Hs. Georg. 65.8°; f1

Dombiblithek St. Marien Fürstenwalde [Fgmt.o.Sgn.]; H1 Universitäts- und Landesbibliothek

Sachsen-Anhalt Halle Qu. Cod. 141; hb1 Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Cod. in

scrin. 17, Frgm. 15; Hk1 Bibliothek des Zisterzienserstiftes Heiligenkreuz Cod. 339; hk1

Bibliothek des Zisterzienserstiftes Heiligenkreuz Cod. 541; Hz1 Stiftsbibliothek

Herzogenburg Cod. 69; Ka1 Badische Landesbibliothek Karlsruhe Cod. Donaueschingen

116; Kh1 Det Kongelige Bibliotek Kopenhagen Cod. Thott. 109,4°; Kn1 Stiftsbibliothek

Klosterneuburg Cod. 1242; M1 Bayerische Staatsbibliothek München Clm 23371; M2

Bayerische Staatsbibliothek München Cgm 839; M3 Bayerische Staatsbibliothek München

Cgm 485; M4 Bayerische Staatsbibliothek München Cgm 484; M5 Bayerische

Staatsbibliothek München Cgm 4698; M6 Bayerische Staatsbibliothek München Cgm 486;

M7 Bayerische Staatsbibliothek München Cgm 473; M8 Bayerische Staatsbibliothek

München Cgm 134; M9 Bayerische Staatsbibliothek München Cgm 4701; M10

Staatsbibliothek München Clm 14945; Me1 Stiftsbibliothek Melk Cod.55 (178; D 15); (N1

Stadtbibliothek Nürnberg Cent. VI, 44)6; n1 Stadtbibliothek Nürnberg Cent. VII, 55; N2

Stadtbibliothek Nürnberg Cent. VI, 46f; N3 Stadtbibliothek Nürnberg Cent. VI, 86; N4

Germanisches Nationalmuseum Nürnberg Hs. 23212; O1 Landesbibliothek Oldenburg Cim.

I.74; Sa1 Benediktiner-Kollegium Sarnen Cod. chart. 125; sa 1 Benediktiner-Kollegium

Sarnen Cod. membr. 33; Sb1 Bibliothek der Bendiktinerinnenabtei Nonnberg Cod. 23 A 22;

s1 Landeshauptarchiv Schwerin [Fgmt.o.Sgn.]; SG1 Stiftsbibliothek St. Gallen Cod. Sang.

1006; sl1 Pfarrarchiv St. Leonhard, Passeiertal/Südtirol [Fgmt.o.Sgn.]; SP1 Russische

Nationalbibliothek St. Petersburg Fond 955 op. 2 Nr. 51; St1 Bibliothèque Nationale et

Universitaire de Strasbourg Ms. 2267; St2 StB Straßburg Cod. A 100 (Ms 489 Abschrift aus

dem 18. Jh.); Stu1 Württembergische Landesbibliothek Stuttgart Cod. bibl. 2° 35; T1 Slezské

Museum Opava (Troppau) RA-6; W1 Österreichische Nationalbibliothek Wien Cod. 2969;

We1 Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar Cod. Oct. 4; Wo1 Herzog August Bibliothek

Wolfenbüttel Cod. Guelf. 1082 Helmst.; Verluste: Br1 StB Wroclaw Cod. M 1374; fb1

Andreas-Möller-Bibliothek Freiberg VIII 2° 72

Drucke: StA1495 Lübeck 1495 bei Steffen Arndes (Exemplar Halle ULB Ink Il 2196, 4º (7),

ehemals Quedlinburg Stifts-und Gymnasialbibliothek o.Sg.) und HA1521 Lübeck 1521 bei

Hans Arndes (Exemplar Hamburg SuUB Inc. App. A/106); KÄ1492 Köln 1492 bei Johann

Koelhoff d. Älteren (Exemplar Paris BN Res-D 9903); KJ1499 Köln 1499 bei Johann

Koelhoff d. Jüngeren (Exemplar Darmstadt ULB Inc. I/2); N1509 Köln 1509 bei Heinrich von

Neuss (Exemplar Göttingen SUB 8° Poet. Germ. II, 2019 Inc. Rara); N1514 Köln 1514 bei

5 Bei dem von E. Schröder (1931) abgedruckten Frgm. aus dem 13. Jh.s handelt es sich nicht wie Schröder

vermutet um eine frühe Anselmus-Hss., sondern wohl um ein Fragm. des Planctus Bernhardi (vgl. Zeller

1943, I). Zeller weist a.a.O., IIf. auf die Nähe des Anselmus-Stoffes zum Planctus Bernhardi hin, der nicht

nur in der modernen Forschung, sondern bereits „auch im Mittelalter zur Verwechslung (und eben auch zu

Kompilation und Kontamination) geführt hat.“ (II). 6 S. dazu die Ausführungen weiter unten.

Page 3: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

3

Heinrich von Neuss (Exemplar Köln UStB ADbl

155); N1500 Köln nach 1500 bei Heinrich

von Neuss (Exemplare Berlin SBBPK Inc. 709 Nr. 5 und Kopenhagen Kgl. NB 21,274);

s1495 Augsburg 1495 bei Hans (Fro)schaur T1 (Goslar Marktkirchenbibliothek Nr. 1606; T2

Abtei Maria Laach Bibliothek der Abtei FF 14); s1496/7 Augsburg 1496/97 bei Johann

(Fro)schaur (Basel ÖBU Wack 562 Nr. 2); verschollen: K1522 Köln 1522 bei Servais

Kruffter (Aachen Stiftsbibliothek, Nr. 163).

Die überlieferten deutschsprachigen Textzeugen verteilen sich über das gesamte Sprachgebiet

vom Ripuarischen bis zum Schlesischen, vom lübischen Mittelniederdeutschen bis zum

Südbairischen (vgl. Karte 1 im Anhang; dazu auch weiter unten zur Lokalisierung).

Schieb7 fasst – allerdings noch ausgehend von einer Überlieferung von etwa „zwei Dutzend“

lateinischer und „etwa ebenso zahlreichen deutschsprachigen Handschriften des 14. und 15.

Jahrhunderts“ (IX) – diese Überlieferungssituation im Vorwort zur Dissertation von Cepkova

(1982, IXf) zusammen: „Es wird wohl kaum jemand den Mut aufbringen, den gesamten so

ungeheuer weit verzweigten Komplex der „Interrogatio Anshelmi“ aufzuarbeiten, der

verschiedene Sprachen und mehrere Jahrhunderte überspannt, so notwendig das auch wäre.“

Ihr ist nur zuzustimmen: Ohne die Sammlungen von Grubert8, ohne finanzielle Unterstützung

durch die DFG9 und ohne die heutigen Möglichkeiten der Internet-Recherche wäre es nahezu

unmöglich gewesen, in einer überschaubaren Zeit wenigstens erste Ergebnisse für die weitere

Forschung zur Verfügung zu stellen. Zudem bietet die Digitalisierung einen ganz anderen

Zugriff auf Texte, als dies früher möglich war. Dabei konzentriert sich die Arbeit auf die

deutschsprachigen Textzeugen, bezieht die ndl. nur am Rande ein und berücksichtigt einen

Teil der lateinischen Hss. nur dort, wo es für das Verständnis der deutschsprachigen

notwendig erscheint. Mit anderen Worten, die Erschließung der riesigen lat. Überlieferung

bleibt noch zu leisten.10

Die Überlieferung bietet eine Reihe von Herausforderungen, von denen im Folgenden die drei

aus Sicht der historischen Sprachwissenschaft bedeutendsten unter methodologischen

Aspekten beleuchtet werden sollen.

7 Gabriele Schieb, Vorwort zur Dissertation von Cepkova (1982, IX-XX) [vgl. Anm.1]. 8 Vgl. Anm.1. 9 Geschäftszeichen SCHU 2524/2-1. An dieser Stelle möchte ich mich bei Simone Schultz-Balluff und den

Mitarbeiterinnen für die Grundlagenarbeit der mühevollen Digitalisierung bedanken, ohne die der Artikel

nicht hätte geschrieben werden können. 10 Die (uns bekannte) engl. Hss. (Oxford, Bodleian Library MS. Laud. Misc. 38 (ehem. 549)) spielt ebenfalls

nur am Rande eine Rolle.

Page 4: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

4

I Die Herausforderung der Textüberlieferung

Radikaler noch als in anderen Fällen stellt sich bei der beschriebenen Überlieferungslage die

Frage nach dem ‚Text‘. Gemeinsam ist allen Hss. und Drucken das Grundgerüst: Es handelt

sich um einen virtuellen Dialog (eigentlich ein ‚Interview‘)11

zwischen Anselm von

Canterbury und Maria zur Passion Christi. Dabei geht es nur vordergründig um das

eigentliche Passionsgeschehen – das kann als hinlänglich bekannt vorausgesetzt werden –

sondern vielmehr um die compassio Mariae als subjektive Leidenserfahrung und

Trauerarbeit. Dieser allen Texten gemeinsame ‚Plot‘ wird immer wieder neu ‚erzählt‘, in je

eigener regionaler Schreibsprache niedergeschrieben und mit jeder Niederschrift neu in Worte

gefasst. Der lateinische Text (auch dieser zeigt Variation) geht zeitlich voran, aber nur die

frühen deutschsprachigen Hss. dürften stärker durch die lateinischen beeinflusst sein. Exakte

wörtliche Übersetzungen eines kompletten lat. Textes finden sich nicht12

, wohl aber

Übersetzungen kompletter lateinischer Passus. Bei der Entstehung der meisten, insbesondere

der späteren Hss. sowie der Drucke kann man davon ausgehen, dass immer ein

deutschsprachiges Exemplar oder mehrere deutschsprachige Exemplare und/oder ein

Exemplar oder mehrere Exemplare der lateinischen Überlieferung als Grundlage zur

Verfügung stehen, eingebettet in ein weites literarisches und religiöses Umfeld von

Marianklagen, Passionsliteratur und Passionsspielen, wobei dem Planctus Bernhardi eine

wichtige Bedeutung zukommt.13

Manche Klöster verfügen gleich über mehrere Exemplare

des St. Anselmus, wie etwa das St. Katharinenkloster in Nürnberg.

11 Zur Typisierung von Dialogen s. Cardelle de Hartmann (2007, 29ff). Die deutschsprachigen Hss. verzeichnen

im Titel keinen Genre-/Gattungsbegriff. Zumeist steht hier nur ' (Anselmus) frage' bzw. unspezifisch

buoch/buechel. In den lateinischen Hss. dagegen findet sich eine breite Variation von inhaltlichen oder

formalen Spezifikationen: interrogatio, dyalogus, questiones, tractatus, sermo, colloquium, lamentatio,

planctus Anselmi, visio et reuelacio. In der mittelenglischen Hs. steht dyalog. 12 Rebecca Wache hat in ihrer Masterarbeit (Überlieferungs- und literaturgeschichtliche Untersuchungen zur

Interrogatio Sancti Anselmi de Passione Domini, masch. Bochum 2010) gezeigt, dass auch der

deutschsprachige Textzeuge M1, der zusammen mit einem lat. Exemplar in der gleichen Hs. (Bayerische

Staatsbibliothek Clm 23371) steht und den Vermerk des Schreibers trägt: Daz pch hat gemacht Latein v

Deutze ein brder der hait brder Fridreich (138v,32f), keine Übersetzung des deutschen Textes aus dem

lateinischen darstellt. 13 Vgl. Zeller (1943, Xf). Die nd. Prosa-Hs. Wo1 vermischt beide Texte auffällig stark (vgl. ebd.).

Page 5: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

5

Der jeweilige Text wird nicht schlicht abgeschrieben, sondern immer ein Stück weit neu

erzählt und variiert.14

Die Geschichte wird je nach Bedarf oder Vorlieben gekürzt, erweitert,

verändert; die Textexemplare unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Länge erheblich (zwischen

rund 4500 und über 9000 Wortformen). Die Motive für die Veränderung sind vielfältig und

nicht immer leicht zu erkennen. Neben schlichten Regionalismen werden zahlreiche

theologisch motivierte Varianten eingebracht.15

Noch nicht hinreichend erhellt ist die Frage

nach der Rezeption des ‚Textes‘ (Lesetext für das stille Lesen, Tischlektüre im Kirchenjahr,

Grundlage von Predigten16

) sowie der Zusammenhang anderer Marienklagen und der

Passionsliteratur mit der Interrogatio St. Anselmi.17

Die Variation des Textes erinnert an

Muster mündlicher Texttradierung, die hier vielleicht im Hintergrund wirksam gewesen sein

kann. Kein Textzeuge entspricht exakt einem anderen, doch alle verfügen sie über eine

gewisse Familienähnlichkeit im Sinne der Prototypentheorie. Die Merkmale der Ähnlichkeit

werden damit zu Signalen für Handschriften- und Überlieferungszusammenhänge, eventuell

sogar für Abhängigkeiten und Zuordnungen zu bestimmten Ordens- bzw. Klosterkulturen.

Über eine große Ähnlichkeit verfügen die gedruckten und die handschriftlichen

niederdeutschen Versformen, die man – trotz gelegentlicher inhaltlicher Variation – mit

einigen Bedenken durchaus als sehr eng miteinander verwandt ansehen kann, deren einzelne

Exemplare sich allerdings durch eine starke regional bedingte graphische Variation

voneinander unterscheiden. Die übrige Textüberlieferung, insbesondere die

Prosaüberlieferung, funktioniert dagegen auf weiten Strecken modular. Auf der oben

beschriebenen Basis des gemeinsamen ,Plots‘ können verschiedene Elemente – aus anderen

deutschsprachigen oder lateinischen Versionen der Interrogatio St. Anselmi oder anderer

Passionsliteratur – wie Bausteine eingefügt werden, die dann wiederum selbst modifiziert

werden können.

Eine so geartete Überlieferung lässt sich nur schwer mit dem Repertoire bisheriger

mediävistischer Methoden, Kategorien und Begrifflichkeiten wie Fassung, Redaktion,

Bearbeitung, Version fassen. Die Art der Überlieferung legt eine Anwendung von

Begrifflichkeiten der Typologie und der Varietätenforschung nahe. Typologisch handelt es

sich um einen ‚Text‘, der in unterschiedlichen Varietäten18

vorliegt, die wiederum jeweils

eine unterschiedlich ausgeprägte Variationsbreite aufweisen: Einige stehen sich näher und

können zu Überlieferungsbündeln zusammengefasst werden, andere stehen isoliert und zeigen

nur hie und da Anklänge an andere Gruppen, einige scheinen unikal überliefert.

14 Schiewer (2005, 41) bezeichnet solche Wiedererzählungen als sage. 15 Hierzu sind noch detailliertere Ergebnisse durch die inhaltlichen Auswertungen im Forschungsvorhaben zu

erwarten. 16 Zeller (1943, IVf) verweist auf eine nd. Passionspredigt des 15. Jh.s, die die Interrogatio St. Anselmi

verarbeitet. 17 Eine Auflistung der Herkunft und Bedeutung einzelner Motive findet sich in Zeller (1943, XXXVIIff). 18 Der Begriff bezeichnet ein System (hier einen Text), das mehrere/ zahlreiche Abweichungen (Varianten) von

anderen, vergleichbaren Systemen aufweist. In der Linguistik stellen etwa Dialekte je eigene Varietäten des

Deutschen dar.

Page 6: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

6

Problematisch erscheint die Abgrenzung: Wie weit darf sich ein Exemplar von den übrigen

entfernen, um nicht mehr als Exemplar der Interrogatio St. Anselmi zu gelten? Ernsthaft in

Frage gestellt wird in diesem Sinne bei der vorliegenden Überlieferung lediglich die

Nürnberger Hs. N1 (Stadtbibliothek Nürnberg Cent. VI, 44), die stark von der übrigen

Überlieferung abweicht. In summa kann man zu dem Schluss kommen, dass es sich um einen

nah verwandten, aber doch um einen anderen Text handelt, einen Hybridtext mit einem

einmaligen Umfang von über 13000 Wortformen aus Passion, Marienklage und einigen

Bausteinen der Interrogatio St. Anselmi. Allerdings folgt der Text dem zentralen definiens der

Interrogatio St. Anselmi, dem Dialog zwischen St. Anselmus und Maria über die Passion

Christi. Die Hs. wird unter (N1) als möglicher Überlieferungsträger, jedenfalls aber als

entfernter Verwandter, mitgeführt.

Die Überlieferung soll im Folgenden – entsprechend dem oben formulierten Ansatz – nicht

(primär) genealogisch, d.h. stemmatisch, sondern typologisch anhand verschiedenr

typenunterscheidender Merkmale betrachtet werden.19

Dies sind 1. die Gestaltung des

Schlusses, 2. die Textlänge (gemessen in Wortformen) und 3. markante Erweiterungen in

deutschsprachigen Handschriften, die die lat. Hss. so nicht aufweisen und die jeweils

mehreren Hss. gemeinsam sind (lexikalische Marker); hierbei beschränkt sich die Analyse auf

die Formulierung des Beginns des Berichts Marias. Eine weitergehende Verfeinerung dieser

Methode der philologischen Abstandsmessung kann in naher Zukunft noch zu (leichten)

Veränderungen bei der Gruppenbildung führen.

*

Zeller (1943)20

unterscheidet zwei Haupttypen aufgrund des unterschiedlichen Schlusses.21

- Typ I endet mit der Zerstörung Jerusalems durch Titus und Vespasian und den

Verkauf von 30 Juden zu je einem Pfennig als Rache für die 30 Pfennige, die Judas für

seinen Verrat erhalten hat (sog. Rache-Schluss wie in B2 oder ähnlich), häufig in

Verbindung mit der Josephus-Legende:

[…] Da

qwamen zwen heren von Rome der eyne hieze

Titus der ander hieze Verperianüs die zu to(=)

reten jherüalem vnd fingen da alo viel jüden

daz man ye dryzig jüden gap vmb eynen phen(=)

nig Alo ie drizig phennige vmb myn kint

hatten gegeben vnd da mydde rachen ie my=

nes kindes doid vnd yne martele etc. (B2 66r,11-18)

19 Dies schließt Aussagen zu vermuteten Stemmabildungen keinesfalls aus. Die stemmatischen Zusammen-

hänge werden – soweit dies möglich ist – an anderer Stelle vorgestellt. 20 Vgl. S. XIXff, bes. XXXII. 21 Der Schluss ist nicht erhalten in den Fragm. au1, b1, b2, b3, f1, hb1, s1, sa1, s1495, s1496/7, sl1.

Page 7: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

7

- Bei Typ II fehlt dieses Motiv; die Darstellung endet (mit wenigen Ausnahmen) mit

dem sog. Mitleidmotiv, bei dem alle Umstehenden in das Klagen Marias einstimmen

und Johannes Trost spendet (so wie in N3 oder ähnlich):

Do nam

mich Johes uber mein

danck furt er mich in die

tat do mich nu daz volcke

alo betrebt mit dem plut

ach als mir was gechech vnder

dem crewcz do chrir ie

alle mit lauter gemaner

tie /o/ we vnrecht heut

hiezu Jherualem geche(=)

chen it an der chonten

frawn vnd an irem liben

kind vnd hulffen mir alle

clagen Amen Amen (N3 47r,12-47v,11)

Zu Typ I gehören:

B1, B2, Be1, D4, H1, Hk1, Ka1, M1, M2, M3, M4, M6, N2, N4, SG1, St2, Stu1, T1, W1,

We1 sowie die mnl. Exemplare Am1, Le1 und der Druck B1523.

Zu Typ II gehören:

Ba1, Ba2, D1, D2, D3, SP1, Kh1, M5, M7, M8, M9, M10, Me1, n1, N3, O1, Sa1, St1,

Wo1 und Kölner und nd. Drucke.22

Zur Verteilung der beiden Schluss-Typen s. Karte 2 im Anhang.

Die Unterscheidung nach dem Schluss ist jedoch mit nur zwei Typen viel zu ungenau, um die

Textvielfalt zu erfassen. Grubert23

geht einen Schritt weiter und unterscheidet (mit einem

noch unkritischen Fassungsbegriff)24

verschiedene Fassungen: Neben den Versfassungen

zwei Prosafassungen eine sog. Prosa-Langfassung und eine sog. Prosa-Kurzfassung,

dazwischen eine Fassung mittlerer Länge (Prosa-Mischfassung), die sich nicht nur durch ihre

Länge, sondern auch inhaltlich stark unterscheiden. Auch diese Gruppenbildung ist noch viel

zu ungenau, da die Umfänge auch bei gleichen Fassungen stark variieren. Keine zwei

Textzeugen sind bezüglich der Anzahl der Wortformen exakt gleich lang. Die Länge der

einzelnen Exemplare25

differiert zwischen knapp 4500 und über 9000 Wortformen. Es lassen

22 Auch die lat. Hss. zeigen etwa jeweils zur Hälfte den einen bzw. den anderen Schluss. 23 Vgl. Anm. 1. 24 Zur Diskussion des Begriffs im Anschluss an Bumke (1996) vgl. Schiewer (2005). 25 Gezählt werden alle vollständig bzw. nahezu vollständig erhaltenen Textzeugen.

Page 8: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

8

sich jedoch einige Gruppen hinsichtlich der Länge mit zumindest ähnlich langen Textzeugen

finden, die den von Grubert festgestellten ‚Fassungen‘ recht nahe kommen.

Über ~ 4500 WF verfügen:

M5, M6, M7, M9, M10, B1, Me1, N3; dies entspricht mehr oder weniger genau der 'Prosa-

Kurzfassung' sowie die mnd. Prosa-Hs. Wo1, die Grubert als 'Prosa-Kurzfassung' mit Zusatz

der Marienklage wertet (PKF/M).

Über ~ 6000 WF verfügen:

b3, Ba1, Ba2, D4 und M4; dies entspricht der von Grubert angesetzten Mischform.

Über ~ 7000 WF verfügen:

die Vers-Hss. D1, D2, Kh1, O1, SP1 sowie die Drucke, die allerdings eine Streuung

zwischen ~ 6400 und ~ 7500 zeigen;

die Prosa-Hss. N2, Sb1, St1, We1.

Zwischen ~ 8000 und ~ 9000 WF verfügen:

B2, Be1, H1, Hk1, Ka1, M1, M2, M3, M8, N4, n1, W1, Sa1, sa1, SG1, St2, Stu1; dies

entspricht mehr oder weniger der 'Prosa-Langfassung'.

D3 ist mit knapp 6000 WF ist solitär.

Vgl. dazu die Karte 3 im Anhang.

Grubert hat die stemmatischen Abhängigkeiten der verschiedenen ‚Fassungen‘ der

volkssprachlichen Überlieferung von den verschiedenen Formen der lateinischen

Überlieferung gut herausgearbeitet.

Page 9: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

9

Für die Unterscheidung der deutschsprachigen Überlieferung bedarf es jedoch eines noch

feineren Instrumentariums. Mit Hilfe sog. lexikalischer Marker soll versucht werden, einen

ersten Zugriff auf die verschiedenen Varietäten und deren Bündelungen zu Untergruppen zu

erhalten. Allen Textzeugen ist gemein, dass der eigentliche Beginn des Berichts Marias zur

Passion Christi mit dem Abendmahl eröffnet wird, und zwar mit wenigen Worten, die eine

starke Variation aufweisen, aber doch zugleich deutliche Gruppenbindungen zeigen.

In den meisten lateinischen Hss. beginnt der Bericht der Passion mit den Worten Marias:

Qando filius meus a cena ((iam) (facta)) cum diciplis uis urrexit […]. Dieser (Teil-)Satz

wird (mit wenigen Ausnahmen) nur geringfügig variiert:

(Respondit maria).

Qando dilectus filius meus a cena (facta) cum diciplis uis urrexit […]

Qando filius meus a cena facta urrexit cum diciplis uis […]

Qando filius meus urrexit a cena facta cum diciplis uis […]

Qando filius meus urrexit a cena cum diciplis uis (iam) (facta) […]

Der (Teil-)Satz in den deutschsprachigen Hss. ist in einigen wenigen Fällen sehr nahe an der

lat. Version, so in B1, Sb1, B2, Wo1, D4 und sl1.

B1 do myn ly=|bes kynt das obent brot | hatte geen myt ynen | iungeren vf getanden | was

noch dem een (2v,08-12)26

Sb1 do mein kindt mit einen Iungern | das abent e vol pracht het vnd do i von dem | tich af

tnd. (97v,19-21)

B2 Da myn kint hatte gezen | mit ynen jungern daz jungte maze daz da | heizet daz abend

ezen vnd da ie von dem | die vff tünden (48v,08-11)

Wo1 Do m leue one de auent pie gheten hadde | mit inen iungher (72r,13-14)

D4 Do mein lieber n genomen | het das nach mal / Vnnd | aüff tund mit einen Jungern

(110v,11-13)

sl1 Do mein kind mi[t] [sein]en iungeren von dem abentessen auf=|s<...>27 (01,11-12)

Von den genannten zeigen B1, Sb1 und Wo1 den ‚Mitleid‘-Schluss und B2 und D4 den

Rache-Schluss (in sl1 fehlt der Schluss). Diese Varietäten scheinen jeweils einer lat. Version

nahe zu stehen.

26 Die Zeilenschreibung wurde zur besseren Vergleichbarkeit mit dem lat. Text aufgelöst und das jeweilige

Ende durch eine senkrechten Strich markiert. 27 Zählung nach Ottenthal (1890).

Page 10: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

10

Während diese Handschriften mithilfe dieser Sequenz kaum mit anderen Textzeugen/

Gruppen in Beziehung gesetzt werden können, um sie damit bestimmten

Überlieferungszusammenhängen zuzuordnen, ist dies bei Hss., die vom lat. Text durch

vergleichbare Erweiterungen abweichen, weitaus einfacher. Es lassen sich jeweils

verschiedene Varietäten zu Bündeln zusammenführen.

- Varietätenbündel Mnd. V (= mittelniederdeutsche Versüberlieferung)

Alle Exemplare haben in dem eröffnenden Satz einen nahezu gleichen Wortlaut und zeigen

die gleichen Reimwörter sat : at (u.ä.). Die Lübecker und Kölner Drucke zeigen einen eng

verwandten Wortlaut; es ist anzunehmen, dass die Kölner und die Lübecker Drucke auf einer

(oder mehreren?) nd. Vers-Hs(s). beruhen. Die Einheitlichkeit wird durch die Abweichung

vom lateinischen Text mit einem temporalen Adverbials guden donnerstag unterstrichen, die

fast alle nd. Exemplare aufweisen (Kh1 und HA1521 haben nur donerstag).28

Alle weisen

zudem das Adv. lefliken29

auf.

Kölner Drucke (mit leichter graphischer Varianz der Nachdrucke gegenüber dem Druck von

1492):

KÄ1492 Idt gechach vp eynen gueden donredage

Dat he by ynen dicipelen as

Ind liefflichen mit yn as

He gaff yn yn vleich vnd ouch yn bloit

Durch yrre alre goit

He dede me durch yne guede

He woie yn allen yr voee

(AIIIr,14-20)

Lübecker Drucke (mit stärkerer graphischer Varianz des Nachdrucks 1521 gegenüber dem

Druck von 1495):

StA1495 Dat chach an eynem guden donredaghe

Do he myt ynen iungheren at.

Lefliken dat he dar myt en at

He gaff en yn vlech vnde yn blodt

Dat he odder vor e godt.

He dede noch mher dorch yne ghute

He woch en alle ere vte

(AIIIv,06-12)

28 Neben guter Donnerstag sind für der ‚Gründonnerstag‘ allgemein Bezeichnungen wie Antlastag (vgl. dazu

weiter unten), grüner Donnerstag, hoher Donnerstag und Mendeltag, Mandeldonnerstag üblich. Mendeltag,

aus ahd. mend, mhd. mende ‚Freude‘ oder diminuierend zu mandat; vgl. engl. mounty-thursday; dazu

Schäfer 1956, bes. 107ff). Zu Gründonnerstag s. auch Wanzeck (2003, bes. 168f). 29 Vgl. Schiller/ Lübben (1876), s.v. lêfliken.

Page 11: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

11

HA1521 yd chach an ei=

ne dornedage.

Do he myt inen

yngeren ath

Leefliken dat he dar mit en ath

He ghaff ene in flech vnd in bloet

Dat he odder vor vnz goet

He dede noch meer dorch ine gte

He woech ene alle ere vte

(AIIIr,20-AIIIv,04)

Bei den Drucken ist der stemmatische Zusammenhang der einzelnen Exemplare etwas

deutlicher als bei den Hss. erkennbar: Der Druck 1492 bei Johann Koelhoff d. Ä. ist der

älteste, der von seinem Nachfolger Johann Koelhoff d. J. 1499 mit leichter Überarbeitung

nachgedruckt wird. Die Drucke von Heinrich von Neuss, der einen Teil der Koelhoffschen

Offizin übernimmt, basieren auf den Drucken Koelhoffs und stellen lediglich spätere

Nachdrucke dar, wobei der letzte stärker abweicht. Die Lübecker Drucke folgen den Kölnern

wohl, unterscheiden sich von diesen jedoch hinsichtlich der graphischen Präsentation, einigen

Lexemen und sonstigen inhaltlichen Abweichungen. Möglicherweise liegen hier weitere Hss.

als Quelle zugrunde.

Bei den Handschriften wird die gegenseitige Abhängigkeit zwar ebenfalls deutlich, ist jedoch

schwer stemmatisch nachzuzeichnen.

D1 Id chude an deme guden duerdage

dar he mit in t

lifliken mit em At

(3r,19-21)

D2 dit chach an deme guden dunerdaghe

dar he mit ynen at

lipliken met em at

(69r,13-15)

O1 dat chude an dem guden donerdaghe

dat he mit inen jgheren aat

Lepliken dat he mit on aat

(2r,16-18)

Kh1 id chach an deme dnersdage

Dat he mit inen jungeren at

lefliken he mit en at

(233r,26-233v,01)

Page 12: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

12

SP Id chude an deme gud donner dage

Dat he mid ynen igheren $ad

Lefliken dat he mid ene ad

(143r,14-16)

f1 Dath cach an den guden donredaghe

Dath he meth ynen iüngheren ath

De leffliken meth em ath

(2,15-17)

Zeitlich werden D1, D2 und O1 noch in das 14. Jh. datiert, SP1, f1 und Kh1 in das 15. Jh.

- Varietätenbündel Mnl (= mittelniederländische Prosaüberlieferung)

Die drei vollständig erhaltenen mnl. Textzeugen30

bilden wohl eine eigene Redaktion. Sie

verfügen über einen nahezu gleichen Wortlaut und wiederholen den Begriff für ‚Abendmahl‘

in der Fußwaschungsszene noch einmal, im Druck B1523 mit der Unterscheidung von auont

maeltijt (AIIv,01) und auont mael (AIIv,13f). Alle Textzeugen mit erhaltenem Schluss zeigen

den Rache-Schluss. Grubert vermutet, dass diese Überlieferung auf eine lat. 'Prosa-

Langfassung' zurückgeht.

Am1 Doe miin alre

liefte kint vp tont met

inen iongheren e dat

auontmael was gheda

doe […]

(296va,28-32)

Le1 Doe mijn alre

liefte kint optont mit inen i=

gheren e t|auont mael ghedaen

was Doe […]

(58v,05-08)

30 Bei dem Versfragment (ma1) fehlt der Beginn. Das Fragment bildet eine eigene Varietät, die auch nicht von

den nd. Hss. abhängig ist (vgl. dazu de Haan (1968)). Grubert vermutet, dass die Hs. auf eine lat. Prosa-

Kurzfassung zurückgeht.

Page 13: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

13

B1523 do mijn alder lyefte

kijnt op tont e den auont maeltijt was

gedaen. doen […]

(AIIr,21-AIIv,02)

- Varietäten md. R (= mitteldeutsch, gereimt D3 und b1)

Bei D3 handelt es sich um eine nicht in Versform, sondern fortlaufend geschriebene, hd.

(ostmitteldeutsche) Vers-Hs. Diese zeigt einen weit geringeren Umfang als die mnd. Hss. (~

6000 Wortformen, aufgelöst = 977 Verse). Eine von Cepkova vermutete wmd.

(niederrheinische) Vorlage von D3 ist nicht überliefert.31

D3 do

m kint mit der gemeyne Sy(=)

nir igir gemeyne das abint

ein as Czu hant Judas das

nicht vorgas […]

(104v,07-11)

b1 ist als Fragm. überliefert, in dem die Beschreibung der Abendmahlstelle als Verlust fehlt.

Auch b1 unterscheidet sich erheblich von der mnd. und der gedruckten Fassung und steht in

keinem erkennbaren Zusammenhang mit D3.

Bei den oberdeutschen Prosa-Hss. ist die Gruppenbildung schwieriger, aber durchaus

möglich. Die meisten zeigen mehr oder weniger enge verwandtschaftliche Beziehungen

(Familienähnlichkeit). Alle Hss. verfügen in der Abendmahlstelle eine Erweiterung durch

temporale Adverbiale. Dabei lassen sich zwei Großgruppen unterscheiden. Eine Gruppe nennt

das Datum an dem antlaz tag, das dem (guden) donerstag der mnd. Textzeugen entspricht,

ansonsten aber keine Verwandtschaft begründet. Die andere Gruppe nennt den Zeitpunkt

direkt vor der eigentlichen Passion: vor siner marter.

- Varietätenbündel A (temporale adverbiale Erweiterung an dem antlaz tag)

Das Varietätenbündel A zeichnet sich durch einen sprachlich einheitlichen Beginn der

Ausführungen Marias aus:

31 Vgl. dazu die Edition von Cepkova (1982) und weiter unten.

Page 14: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

14

Do (Konj. = linke Klammer) mein kind (Subjekt) + Temporaladverbial an dem antlaz tag.32

Es

folgt eine geringe Variation, wobei alle Hss. das Abendmahl mit das letzte ezzen bezeichnen,

lediglich in M7 findet sich abent ezzen. Es folgt eine Variation der Informationsstruktur durch

die Abfolge der PP (Modaladverbial) mit seinen Jüngern und dem Verb(komplex): Die

Abfolge Modaladverbial + Verb(komplex) zeigen Ba1, Ba2, M10, N2, Me1, N3, b3; die

Abfolge Verb + Modaladverbial zeigen M5, M9; in M7 fehlt dieses Modaladverbial. Der

Verbteil besteht entweder aus einem finiten Verb: het (M5, M9), tet (N3, M10) oder aus

einem Komplex aus Part.Prät. geezzen + het (Ba1, Ba2, b3, Me1, N2).33

Alle Hss. außer N2 ergänzen den Folgesatz und von dem tisch gieng. N2 hat erkennbar

mehrere Vorlagen: Neben dem antlaz-Typ gibt es mindestens eine weitere Quelle, da die Hs.

als einzige des Varietätenbündels den Rache-Schluss zeigt, während alle anderen den Mitleid-

Schluss aufweisen.

An späterer Stelle benutzen Ba1, Ba2, Me1, b3, N3, M5 und M9 den Begriff mandat34

für die

Zeremonie der Fußwaschung. In b3 ist die Stelle verderbt; es ist nur noch das m zu erkennen,

der Kontext legt aber mandat nahe. Die Hss. mit der Erweiterung an dem antlaz tag und dem

Begriff mandat scheinen als Gruppe (auch räumlich) besonders eng zusammen zu gehören. In

M10 und M7 fehlt die Fußwaschung.

Anhand des Merkmals mandat, des Umfangs, des Schlusses und der Topologie35

lässt sich

eine Kerngruppe ausmachen von M5, M9, M10, N3 und Me1, wobei sich N3 und Me1 von

den drei anderen Überlieferungsträgern hinsichtlich der Topologie unterscheiden. Entfernter

stehen M7 (ohne mandat), N2 (mit Rache-Schluss) sowie Ba1, Ba2 und b3, die jeweils einen

größeren Umfang aufweisen.

M5 Do me

chint an dem antliz tag das letz een het

mit einen jungeren vnd von dem tich

gien do […] (1r,21-24)

32 Kirchenrechtlich gilt der Tag vor Karfreitag (Gründonnerstag) als Ablasstag, Tag des Schulderlasses, vgl.

ahd. antlzen (‚erlassen‘). 33 B3 zeigt eine interessante Verschreibung: Hinter das leczt een will der Schreiber/die Schreiberin das Verb

setzen und beginnt mit g und einem unleserlichen halben Buchstaben (hier hätte geen stehen können), lässt

dies stehen und fährt fort mit ein Jungern. 34 Mandat erscheint als Neutr. das mandat (lat. mandatum; mhd. mandt) in Ba1 und (b3), als Fem. die mandat

~ mantat (lat. mandata; mhd. mandte) in Ba2, N3, M5 und M9 für die Fußwaschung am Gründonnerstag

(vgl. auch Lexer, Mhd. Wb, s.v. mandâte. Dazu ausführlich Schäfer (1956). 35

Die Bedeutung der Satztopologie zur Bestimmung der Verwandtschaft der einzelnen Hss. ist unklar. Da die

Satz(glied)topologie einer diachronen Entwicklung unterliegt, könnte eine jeweils ältere bzw. modernere

(d.h., der nhd. näher stehende) Abfolge Hilfe bei der Datierung und damit zur Bestimmung potentieller

Abhängigkeiten bieten. Der gewählte Textausschnitt ist hierfür zu klein. Erst eine auf der Basis kompletter

Hss./Drucke statistisch ermittelte Verteilung von Varianten könnte hier zu gesicherten Ergebnissen führen.

Page 15: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

15

M9 Do mein chind an dem ant=

loz tag daz leczt ezzen het

mit ein iungern vnd von

dem tich gie Do […]

(254v,12-15)

N3 do mein kind an d

Antlaz tag das leczt e

mit einen jungern thet

vnd von dem tich gieng

do […]

(18r,04-08)

M10 do mein kint an

dem antlaz tag daz leczt

ezzen mit ein Jungern

tet vnd v d tich gie

Do […]

(60r,06-10)

Me1 do

mein chind an dem Antlas tag daz let e=

en mit einen jüngern geeen het vnd v

dem tich gie do […]

(347,19-347,22)

N2 da meint (!) kint an dem antlaz tag

das leczt een mit enen iungern geen

het / do […]

(195r,22-24)

Ba1 do mein kind an dem ant=

lastag das letzt een mit

einen iungern geen ht

vnd von dem tich gieng

Do […]

(14v,03-07)

Ba2 do mein kind an dem antlaz tag

das leczt een mit einen iunger<n>

ge een het vnd vom dem tich

ging Da […]

(92v,03-06)

Page 16: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

16

b3 do mein kint an dem antlatag

das leczt een ge mit ein Jungern geen het

vnd von dem tich ging do […]

(119r,20-22)

M7 Do mein kind

an dem antloz tag das abent

een geeen het vnd von d

tich gieng Do […]

(01v,08-11)

Diese Gruppe zeigt noch eine weitere Gemeinsamkeit: St. Anselm wird in allen Hss. dieser

Gruppe (und darüber hinaus in W1, D3 und We1)36

im Implicit als hoher lerer

(Kirchenlehrer), in W1 nur lerer, bezeichnet – im Gegensatz zu den anderen Hss. und

Drucken, in denen er mit dem Amtstitel ‚Bischoff‘ bzw. als ‚heiliger Mann‘ bezeichnet wird

oder Sanct Anselm(us) genannt wird (vgl. Karte 5 im Anhang).37

- Varietätenbündel M (temporale adverbiale Erweiterung vor iner marter)

Die Varietät M ist weit weniger deutlich ausgeprägt, zeigt jedoch ebenfalls auffällige

Gemeinsamkeiten. Alle Hss. dieser Gruppe flechten das Temporaladverbial vor iner marter

ein. Alle Hss. (außer Sa1und M4) beginnen mit dem gleichen Wortlaut: do min kint hat38

gezzen […] (Konj. = linke Klammer + Subjekt = Mittelfeld + Vfin + Vinfin = rechte

Klammer). Sa1 und M4 ziehen das Modaladverbial in das Mittelfeld. Der nachfolgende (Teil-

)Satz ist bei allen (mit leichter Variation) gleich: vnd (do) y von dem tich auf tunden

(tund, tundent).

Variation besteht hinsichtlich der Bezeichnung des gemeinsamen Essens (jüngest maz Be1,

Ka1, sa1, Stu1, St2), jüngest mal (Hk1, M1, M2, N4, T1), iüngte een (M3, M4), let mal

36 Vgl. dazu unten. 37 Vgl. dazu auch Zeller (1943, XXXVIIff). Die Oxforder Hs. (Merton College, Ms. 13, 191ra-194vb) weist

eine komplexe Bezeichnung auf: Sanctus Anselmus Cantuariensis Archiepiscopus Doctor theologie eximius. 38 hatt ~ hatte ~ het ~ hette ~ hiet.

Page 17: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

17

(W1) sowie in der Stellung der Satzglieder im Nachfeld: 1. PP1 = Modaladverbial mit einen

jüngern; 2. PP2 = Temporaladverbial vor iner marter und 3. Akk.Obj. = die jeweilige

Bezeichnung für das ‚Abendmahl‘. Die Abfolge 3,1,2 zeigen lediglich Be1 und Ka1. Die

Abfolge 1,2,3 haben N4, s1496/7, Hk1, M1, M2, W1, Stu1, St2, T1, We1 und M4. Eine

Abweichung zeigt die Hs. We1, die den gleichen Wortlaut wie die übrigen hat, aber das

gemeinsame Essen durch das, was gegessen wird, das oterlamp, ersetzt. Im Falle von M3

und St1 ist unklar, ob es sich um eine Verschreibung von maz oder um einen Relativsatz

handelt. Beide Hss. ähneln sich hier, obgleich sie räumlich weit auseinander liegen.

Die Abfolge 1,3,2 hat Sa1. Die Abfolge 3,2 ohne 1 zeigt sa1.

Be1 Do min kint hatt

geen das jung maz mit

inen jungren vor iner

marter vnd do von dem

tich tůndent do […]

(20a,24-28)

Ka1 […] Do min

kint hatte gezen daz ivngete

maz mit inen ivngern vor iner

marter. v do vo dem tihe

vf tvnden. Do […]

(138v,03-07)

N4 do min kint het geen mit inen Jungern

vor iner marter daz iungt mal v i von dem

tich vff tnd do […]

(56r,23-56v,01)

Page 18: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

18

s1496/7 Do mein

kind hat geeen mit ein iungern

vor einer marter das iüngt ma(=)

le vnd do y von d tich auff ton(=)

den do […]

(AIIv,09-13)

Hk1 da mein kind het geen mit

einen iunger vor einer

marter des iungten mal

vnd da y von dem tich auf(=)

tund da […]

(118v,15-19)

M1 Do mein chind

hiet geezzen. mit einen Jungern. Vor einer marter.

daz iungit mal. v daz i v dem tiche ouf tunden.

Do […]

(126v,22-25)

M2 Do

mein chind het geen mit einen jgern

vor einer marter daz jungte mal vnd

da i von dem tiche auff tünden

Do […]

(199v,08-12)

T1 Do mein chint het geezzen

mit einen igern. vor einer

marter daz iungit mal vnd

daz i von dem tiche auff tuen-

den. do […]

(122r, 11-15)

W1 da mein libs chind het geeenn

mit einen Jungern vor einer marter daz

let mal und da y von tich auf tunden

da […]

(154v,22-155r,03)

Stu1 do min kint het geen

mit inen iungern vor iner marter daz

Jungt ma daz er nam vnd do i von

dem tich vff tnden do […]

(96va,25-28)

Page 19: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

19

St2 da min kint hette gesen mit inen

ivngern vor iner martel daz ivngeste maz

vnn da i von dem tiche vftundent da […]

(37r,19-21)

We1 Do

mein kint het gegeßen mit ein=

en yungern vor einer martter

das oterlamp vnd do y von dem

tich auf tunden do […]

(01v,11-15)

St1 Do m kynt hatte gezen myt yn jungeren

vor yner marter das Jungete was Vnd y v dem dyche vff

tunden Do […]

(32r,27-29)

M3 Do mein chind het

geeen mit einen Jungern das

vor der marter das Jwngit was

vnd do y von dem tiche tnd

do […]

(89v,11-15)

M4 Do me

kint mit ein iunger het ge een vor

einer marter das iüngt een vnd do

ie von dem tiche auf tunden do […]

(2v,03-06)

Sa1 do min kind m<...>

iungren a da iungt m<...>

vor iner marter vnd <do i>

von tichi vf tnden <...>

(2r,01-04)

sa1 do min kind hatt geen das

iüngt maz vor iner marter. Vnd

y von dem tisch vff tndent. Do[…]

(1v,14-16)

Der überwiegende Teil der Hss. zeigt das Rache-Motiv; lediglich Sa1 und St1 haben das

Mitleid-Motiv. Der Umfang der Hss. bewegt sich zwischen 8000 und 9000 Wortformen.

Page 20: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

20

- Varietäten J (lieber Sohn Jesus (Christus))

Nicht eindeutig ist der Zusammenhang von M8, H1, und SG1. Diese Hss. zeigen keine

räumliche Nähe, sondern verteilen sich über den hd. Sprachraum. Auffällig ist lediglich die

Gemeinsamkeit der von der übrigen Überlieferung abweichenden Phrasen mein lieber on

(Jesus (Christus)) und der Variante nacht mal (die H1 und SG1 nur noch mit D4 gemein

haben). H1 und SG1 wiederholen den Begriff für das Abendmahl (nacht mal) in der

Fußwaschungsszene, was ansonsten außerhalb der Gruppe nur noch in D4, B1 und in den ndl.

Textzeugen belegt ist. H1 und SG1 haben zudem als einzige den Hinweis auf den heiligen

grün donerstag gemeinsam, der ansonsten typisch für die mnd. Überlieferung ist. Die Hss.

dieses Varietätenbündels zeigen in der Abendmahlszene einen ‚modernen‘ voll ausgebauten

Satzrahmen.

H1 Do mein lieber Son Jheuz

Daz nachtmal mit ienen iün(=)

gern am heiligen grün dorn

tage geen hatte v ie von

dem tiche vf waren getan(=)

den Do […]

(2r,02-07)

Page 21: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

21

SG1 do m lieber

ün Iheus dz nacht mal mitt in

iungeren am hailgen grnen

dontag geen hett vnd y von

dem tich vff warend getanden

do […]

(408,03-08)

- Varietät M8 (liebe Jünger)

Die auf 1494 datierte Prachthandschrift M8, geschrieben für Herzog Sigmund von Bayern,

weist einige Besonderheiten auf, die sie als Hybridhandschrift ausweisen. Der Beginn lautet

zwar wie bei den Varietäten J, weist aber abweichend abent een auf. Die Hs. zieht zudem

die Beschreibung des gemeinsamen Essens und der Fußwaschung – wie die nd. Hss. –

zusammen und steht so deutlich abseits der übrigen hd. Überlieferung. Während H1 und SG1

das Rache-Motiv teilen, zeigt M8 das Mitleid-Motiv. Außerdem erweitert M8 das modale

Adverbial mit einen jüngern um das Adjektiv lib.

M8 do mein liber on

jhesus Christus das abent e=

en mit einen lib ig=

ern geen het vnd yn yr

fz gewach. do […]

(07v,09-08r,02)

- Varietät M6 (er)

M6 ergänzt als einzige Hs. die temporale Konj. da im Vorfeld durch An der zeit und spricht

über Jesus als er (auf die Frage Anselmus‘: wie was dem anfang der marter deins liben kinds).

M6 An der zeit da

er het geen mit ei

jungern da […]

(215v,07-09)

Zur Verteilung der lexikalischen Marker auf die Textexemplare s. Karte 4 im Anhang.

Page 22: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

22

- Der verwandte Text (N1)

N1 hat einen Sonderstatus innerhalb der Überlieferung inne. Dieser Text verbindet ein

Passionstraktat, das bereits am Palmsonntag mit der Interrogatio St. Anselmi beginnt.

Dadurch hat die Hs. nicht nur einen erheblich größeren Umfang als die übrigen, sondern

verfügt auch über die meisten inhaltlichen Besonderheiten. Der Text erwähnt in der

Abendmahlstelle als einziger den Ort des Abendmahls (muz huz) und kombiniert letzt und

abent ezzen. Auch der sprachliche Befund ist nicht eindeutig: Neben nordbair.-nürnbergischen

Elementen finden sich md.-thüringische wie her (‚er‘) und häufigeres Nebensilben-i.39

N1 min kint ging mit ein igern in daz muz h=

uz daz her in hatte gewizit v do az her ein lecztiz obt

ezen wen her az dez elbigin molez vleich daz her vor

ny mer geen hatte (167v,02-05)

Führt man dies alles zusammen, ergeben sich folgende Familienähnlichkeiten:

Sehr eng beieinander stehen alle mnd. Versexemplare; sie lassen sich jedoch weiter mehreren

Unterformen zuordnen. Bei den übrigen Textzeugen gibt es jeweils engere und weitere

Familienähnlichkeiten. Bei dem Varietätenbündel A ergibt sich ein engerer Kern mit N3,

M10, M5, M9, Me1; mit etwas Abstand folgen Ba1, Ba2, M7, N2, b3.

Das Varietätenbündel M bildet einen engen Kern mit M1, M2, M3, N4, Hk1, s1496/97, Stu1,

St2, T1, Be1, Ka1, W1 und wohl sa1; mit etwas Abstand folgen We1, M4, Sa1, St1, n1 und

mit größerem Abstand Hs. B2, die nicht in diese engere Gruppe gehört. Die Varietät J wird

gebildet von H1 und SG1. Solitär sind (vorerst) die mnd. Prosaversion Wo1 und die md.

Versversion D3. Textzeugen, deren Zusammenhang mit anderen noch genauer zu prüfen sein

wird, sind B1, B2, M6, M8, sl1, Sb1, D4. Auch die mnd. Prosafragmente b2 und s1 sowie das

nd. Versfragment f1 lässt sich noch nicht genau zuordnen.

Das gewählte Verfahren zur Bestimmung von Familienähnlichkeiten muss nun noch durch

weitere inhaltliche Elemente ergänzt und Zuordnungen gegebenenfalls korrigiert werden.

Dass das gewählte Verfahren erfolgreich arbeitet, zeigt sich u.a. in der Tatsache, dass Zeller

(1943) auf der Basis von 22 Hss. aufgrund genauer und detaillierter inhaltlicher Analysen

‚Fassungen‘ herausarbeitet, die die oben angeführte Gruppenbildung weitgehend bestätigen. 40

39 Interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis von Schneider (1965, 139), dass die vermögende

Nürnberger Witwe Katharina Niklasin (Schreiberin) bei ihrem Eintritt in das Nürnberger Katharinenkloster

die Hs. als privaten Besitz mitgebracht hat. 40 vgl. bes. Zeller (1943, XXXIVff, LXVIII).

Page 23: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

23

Page 24: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

24

II Die editorische Herausforderung der Überlieferung

Ein solches Überlieferungskonvolut zu edieren stellt eine weitere Herausforderung dar. Bisher

sind sieben vollständig erhaltene Exemplare und einige Fragmente des Textes ediert.41

Da die

Editionen veraltet und schwer zugänglich sind, liegt es nahe, eine moderne kritische und

kommentierte Edition herauszugeben. Dies soll in absehbarer Zeit in Form einer Print-Edition

realisiert werden. Eine digitale Präsentation im Internet bietet gegenüber einer Buchedition

eines Textexemplars oder auch mehrerer Textexemplare vielfältigere Möglichkeiten. Das o.g.

Bochumer Editions- und Erschließungs-Projekt42

wird alle deutschsprachigen und die vier

bekannten mnl. Exemplare vorerst in verschiedenen ‚Aggregats‘-Zuständen im Internet

präsentieren: Es wird jeweils eine handschriftennahe Transkription und ein edierter Lesetext

eingestellt. Die Digitalisate werden mithilfe von Metatexten (sog. Headern) erschlossen und

mit den Scans ihrer Originale verlinkt, sofern diese bereits online zugänglich sind und die

Bibliotheken/Archive die Erlaubnis erteilen. Es wird die Möglichkeit eröffnet, mehrere

Textzeugen parallel nebeneinander anzusteuern.

Zur maschinellen Weiterverarbeitung wird zunächst ein kodierter Transkriptionstext

hergestellt. Dieser enthält u.a. Kodierungen von Elementen der Makrostruktur wie

Überschriften, Rubrizierungen, Unterstreichungen, Marginalien etc. sowie Kommentierungen

zu Besonderheiten der Hs. wie Streichungen, Ergänzungen, etc.

M1_126v,04 +Ü Daz i$t An$helmus Deutze @Ü M1_126v,05 *(S*3)and An$helm der pat vn$er vrowe\- vo\- himelreich lan= M1_126v,06 ge zeit. mit grozzer gier. mit va$ten vn\- mit wachen M1_126v,07 Vnd mit andechtigem gepet. Vn\- mit h'tzenleichen M1_126v,08 trechten. Daz $i im chund#te\^t. ir%es aingepornes chindes mar= M1_126v,09 ter. Wie ez vo\- dem anegenge ergienge. Vntz an daz ende. M1_126v,10 Vn\- do er des lange het gepeten. do wart er gew't. Do M1_126v,11 er$chain im vn$er vrowe ze|einem mal. vn\- $prach. zv\e M1_126v,12 im An$helme. Mein liewes chind. hat als manichvaltige M1_126v,13 vn\- als grozze marter erliten. Daz ez niement vollechliche\- M1_126v,14 ge$agen chan Die ougen mu\ezzen mit $einen zechern M1_126v,15 des h'tzen pitt'chait erwainen. Ich pin auer $o gro\ezleich M1_126v,16 gehochet. mit meinem chind. Vber allez himeli$ches M1_126v,17 her. Vn\- vber die creatur. die got i\^e pe$chu\ef. So en= M1_126v,18 mag ich noch en|$chol nicht mer wainen. Vn\- dar#nach M1_126v,19 allz du mich frage$t. da#nach $ag ich di\er wie ez ergie. M1_126v,20 *(S*2)and An$helm +K An$helm: < {An$halm} @K waz vo\- h'tzen vro. Vn\

$p%%ach $ag mi\er lie= M1_126v,21 weu vrow. wie waz d' aneuanch der marter deines M1_126v,22 liewen chindes […]

41 Schade (1854) = N1514; Lübben (1869b) = O1; Ottenthal (1890) = sl1; Walther (1890) = HA1521; Zeller

(1943) = Wo1 und Ka1; Cepkova (1969) = T1 und D3; Cepkova (1982) = D3. Zu O1 gibt es eine

normalisierende Abschrift von 1817 (Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt Halle Cod. Stolb.-

Wernig. Zb 3m.); diese ist lediglich aus fachgeschichtlicher Sicht von einigem Interesse. Zu den mnl.

Handschriften De Haan (1968) = ma1. Textproben von W1 in Traunbauer (1955). 42 Vgl. Anm. 1.

Page 25: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

25

Aus dieser Version wird u.a. automatisch eine handschriftennahe Transkription erzeugt.43

Textprobe: handschriftennahe Transkription

M1_126v,04 Daz iſt Anſhelmus Deutze

M1_126v,05 an An elm e at nſe himel ei h lan=

M1_126v,06 e zeit mit zze ie mit a en mit a hen

M1_126v,07 n mit an e hti em e et mit h

tzenlei hen

M1_126v,08 t e hten Daz ſi im hun t t i s ain e nes hin es ma =

M1_126v,09 te ie ez em ane en e e ien e. Vntz an daz ende.

M1_126v,10 e es lan e het e eten a t e e t. Do

M1_126v,11 e ſ hain im nſe e ze einem mal a h z

M1_126v,12 im Anſhelme Mein lie es hin hat als mani h alti e

M1_126v,13 als zze ma te e liten Daz ez niement lle hli h

M1_126v,14 eſa en han Die u en mu zzen mit ſeinen ze he n

M1_126v,15 es h

tzen itt hait e ainen h in aue ſ zlei h

M1_126v,16 gehochet. mit meinem chind. Vber allez himeliſ hes

M1_126v,17 her. e ie eatu ie t e eſ hu . So en=

M1_126v,18 ma i h n h en ſ h l ni ht me ainen a nach

M1_126v,19 allz u mi h a eſt. da na h ſa i h ie ez e ie.

M1_126v,20 an An elm az h

tzen

a

h ſa m lie=

M1_126v,21 eu ie az

aneuan h e ma te eines

M1_126v,22 liewen chindes

Es bleibt ein Desiderat, auch wenigstens einen Teil der lat. Textzeugen zu edieren. Im o.g.

Portal44

wird exemplarisch eine lat. Hs. (Clm 23371, 120v,30-126v) in kodierter Form und

einer Lesefassung mit aufgelösten Kürzel- und Abbrechungszeichen präsentiert.45

Textprobe Latein (kodierte Transkription)

Clm23371 +Ü *h*oc e$t an$elmus%. @Ü

*(S*5)anctus *a*n$helmus cu\- lac%%imis &7 or\-onib%9 ac ieiuniis

rogabat bt%-am v%%igi\-em Mariam ut ei reuelaret

qual\/r pa$$us e$t fili%9 ei%9. Tand\/e bt%-a v%%igo ap_p\_uit

$ibi &7 dixit. Tanta &7 talia pa$$us e\- fili%9 m\-s di=

lectus qd\/ nll\/s $ine lac%%ima&4 effu$ione exp%%im'e pt%-. Tame\-

q%ia gl\/ificata $um. ampli%9 flere no\- po$$u\-. tn\- pa$$ione\- vnici

mei p\_ordine\- tibi ex#planabo. Bt%-s g%i *a*n$helm%9 p\_|$ingula

que$iuit. &7 bt%-a v%%igo ad $ingl\/a rn\-dit. Que$iuit g%o $ic. Dic dn\-a +K arR:

von anderer Hand{dn\-e ih\-u xp\-e} @K

mea kari$$ima qual\/r fuit pa$$io filii tui inchoata. Rn\-dit *m*%a.

(120v,30-121r,02)

43 Stefanie Dipper and Martin Schnurrenberger (2011). OTTO: A Tool for Diplomatic Transcription of

Historical Texts. In: Zygmunt Vetulani (ed.): Human Language Technology: Challenges for Computer

Science and Linguistics. 4th Language and Technology Conference, LTC 2009. Revised Selected Papers, pp.

456-467. Lecture Notes in Computer Science. Springer PDF. 44 Vgl. Anm. 1. 45 Transkription und editorische Umsetzung verdankt sich Rebecca Wache und Daniel Pachurka.

Page 26: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

26

Leseversion mit aufgelösten Kürzel- und Abbrechungszeichen:

Clm23371 Hoc est Anselmus

Sanctus Anshelmus cum lacrimis et orationibus ac ieiuniis

rogabat beatam virginem Mariam ut ei reuelaret

qualiter passus est filius eius. Tandem beata virgo apparuit

sibi et dixit. Tanta et talia passus est filius meus di-

lectus quod nullus sine lacrimarum effusione exprimere potest. Tamen

quia glorificata sum. amplius flere non possum. tamen passionem vnici

mei per ordinem tibi explanabo. Beatus igitur Anshelmus per singula

quesiuit. et beata virgo ad singula respondit. Quesiuit ergo sic. Dic domina

mea karissima qualiter fuit passio filii tui inchoata. Respondit Maria.

(120v,30-121r,02)

Jede Edition beruht ein Stück weit auf Interpretationen und beinhaltet u.a. auch eine

Einstellung zur historischen Sprachentwicklung. Die Diskussion der Editionsphilologie ist in

diesem Punkt breit geführt worden und soll hier nicht erneut referiert werden. Eine Edition ist

auch immer unter dem Aspekt der antizipierten Zielgruppe zu reflektieren. Aus der Sicht der

historischen Linguistik gibt es Bedingungen für eine brauchbare Edition, die in der

Vergangenheit in aller Regel nur unzureichend erfüllt wurden.

Einmal abgesehen davon, dass die graphische Präsentation frühneuzeitlicher Hss. und Drucke

mit modernen Schrifttypen bereits einen – meist unreflektierten, aber dennoch tiefgreifenden

– Eingriff darstellt, hat jede editorische Entscheidung Einfluss auf die historiolinguistische

Brauchbarkeit einer Edition.

Kaum Probleme bereitet die Aufgabe des bei Editoren umstrittenen Schaft-, das – bes. in

älteren Editionen – häufig durch das runde s ersetzt wird. Obgleich es sprachhistorisch eine

nicht uninteressante Verteilung der verschiedenen s-Formen gibt, hat die Variation der

Graphien bisher keine erkennbare sprachfunktionale Bedeutung gezeigt. Dies gilt ebenso für

die Aufhebung der Verteilung v und u (in geringerem Maße auch w) als Schriftzeichen für /u/

/u:/ bzw. /f/ und /v/ und i, j und y als Schriftzeichen für /i/ /i:/ bzw. /j/ durch einheitliche

Schriftzeichen. Ihre editorische Überführung in einheitliche Zeichen kann als mehr oder

weniger störender, die Authentizität des Textes schmälernder Schönheitsfehler angesehen

werden.

Kürzelzeichen werden in Editionen häufig aufgelöst und die Auflösung in besseren Fällen als

Eingriff kursiviert oder kommentiert. Im Falle des er-Kürzels, das weit überwiegend für <er>

steht, seltener für <r> oder für <re>, ist dies zum Zwecke besserer Lesbarkeit vertretbar, doch

beruht jede Entscheidung bereits auf einer Interpretation. Schwieriger gestaltet sich die

Auflösung des Nasalstrichs, da er für verschiedene, jeweils häufig vorkommende Graphien

Page 27: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

27

und Kombinationen stehen kann: für n, en, ne, m oder den möglichen Vokal in Verbindung

mit einem Nasal bzw. für d (in u).

Superskribierte Vokalzeichen sollten beibehalten werden: , , , , , , etc. Sie sind

sprachhistorisch wichtig, da sie Lautmodulationen (Umlaut, Diphthongierungen) markieren

(können), zugleich aber zum Teil vieldeutig sind, so dass ihre Auflösung einen zu starken

Eingriff bedeuten würde.46

Vielfach sind die Superskripte nicht eindeutig zu erkennen (etwa e

und halboffenes o). Hier wird häufig das graphisch wahrscheinlichste Zeichen gewählt – auch

dies ist eine Interpretation. Ehrlicher ist hier der Verzicht auf eine Festlegung zugunsten eines

allgemeinen Zeichens (im o.g. Projekt als \* kodiert).

Eine besondere Herausforderung stellt die Groß-/Kleinschreibung dar. Eine Vereinheitlichung

nach einem bestimmten Muster (etwa alle Namen mit nhd. Majuskeln zu versehen oder gar

nach einer modernen Orthographie zu entscheiden) erscheint aus sprachhistorischer

Perspektive nicht zulässig. Da die Großschreibung als Hervorhebung bis in das 17. Jh. hinein

als schreiberintentional genutzt wird, verbietet sich ein vereinheitlichender bzw.

modernisierender Ansatz. Ein besonderes Problem stellen dabei großgeschriebene oder

anderweitig (etwa durch Rubrizierung) hervorgehobene Minuskeln dar. Sie sollten nicht

einfach in Majuskeln überführt werden.47

Vielmehr sollte ihr Hervorhebungscharakter in

irgendeiner Form (evtl. durch Fettdruck) berücksichtigt werden. Allerdings besteht hier eine

große Unsicherheitsmarge.

Das wohl größte Problem aus sprachhistorischer Sicht stellen modernisierende Eingriffe in die

Interpunktion dar. Die Interpunktion vieler frühneuzeitlicher Hss. folgt nicht modernen

satzlogischen Gesichtspunkten, sondern ist weitgehend – wenn auch keinesfalls ausschließlich

– noch rhetorisch (nach dem sog. rhythmisch-intonatorischen Prinzip) organisiert, das

zusätzlich auch durch Großschreibung mitgestaltet werden kann. Diese Form der Alterität

durch eine moderne satzlogische Interpunktion zu überdecken, verändert einen Text in

unzulässiger Weise. Auch diese vorsichtigen Veränderungen stellen streng genommen einen

starken Eingriff dar, da die autor- bzw. schreiberintentionale Informationsstruktur des Textes

bei der Wahrnehmung durch den modernen Leser aufgelöst, verdeckt oder verdreht und eine

andere suggeriert wird.48

Hier bietet sich das Verfahren an, dass die Originalinterpunktion

privilegiert erhalten bleibt und diese – als Zugabe für das erleichterte Leseverstehen heutiger

Rezipienten – um eine nhd. modernisierte Interpunktion, z.B. durch Klammern als Eingriff

markiert, ergänzt wird.

46 So können Superskripte über u Umlaut oder einen Diphthong markieren oder lediglich dazu beitragen, das u

von anderen Buchstaben der Umgebung (vor allem n) zu unterscheiden. 47 Bisher fehlt in der historischen Sprachforschung ein akzeptiertes theoretisches Konzept zur Beschreibung der

Groß-/ Kleinschreibung in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Hss. 48 Es wäre durchaus lohnend, einmal zu prüfen, inwieweit editorische Eingriffe in mhd. Ausgaben die

Interpretation der Texte (unzulässig) beeinflusst haben.

Page 28: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

28

Die Gestaltung der Spatien und der Worttrennung ist ein weiteres Problemfeld editorischer

Eingriffe. Auch hier verbietet sich die einfache modernisierende Umgestaltung aus

sprachhistorischer Sicht. Für die Entwicklung der Wortbildung ist die Getrennt- bzw.

Zusammenschreibung von Lexemen (abent brot) bzw. von Präfixen und Verben (vff gap)

erheblich. Sie sagt viel über die jeweils zeitgenössische kognitive Verankerung bestimmter

Worteinheiten aus. Für die automatische Textverarbeitung und ihre Programme ist es häufig

wichtig, durch Spatien getrennte Einheiten zusammenzufassen und (künstlich) durch

Sonderzeichen wie etwa ein Rautengitter zu verbinden (abent#brot, vff#gap); in den

Versionen einer Edition können (sollten) diese wieder ersatzlos wegfallen. Ähnlich verhält es

sich auch bei Einheiten, die umgekehrt eine Trennung in zwei oder mehrere Einheiten

nahelegen (ober czugemich ‚überzeuge mich‘). Solche Zusammenschreibungen sind oft

einfache Schreiberversehen oder sind auch nur durch etwas engeres Schreiben bedingt. Sie

werden für die maschinelle Verarbeitung durch einen senkrechten Strich getrennt

(ober#czuge|mich), der ebenfalls in Editionsfassungen wegfallen und durch ein Spatium

ersetzt werden kann.

Die Worttrennung kann in frühneuzeitlichen Hss. an jeder Stelle eine Wortes erfolgen:

ou=gen, Johan=nes, na=ch. Sie wird in den Hss. entweder durch ‚=‘ markiert oder bleibt

unmarkiert. Um das Textlesen und -verstehen zu erleichtern, bietet sich in Fällen unmarkierter

Trennung allerdings eine editorische Markierung der Trennung mit Hilfe eines

Interpretationszeichens (=) an.

Online-Editionen können abweichend verfahren, da die Voraussetzungen grundlegend anders

als bei einer Print-Edition sind. Die als didaktisch notwendig angesehenen Eingriffe in der

‚Leseversion‘ sind aus sprachhistorischer Perspektive unbedenklich, da jederzeit sowohl auf

die textnahe Transkription (beide Varianten lassen sich parallel anzeigen) als auch auf die

verlinkten Scans der Original-Hss. zurückgegriffen werden kann.49

49 Der sog. Ordnungsteil vor den Texten (Textsigle, Seiten-, Zeilenzahl) bezieht sich zeilengenau auf die

Hss./Drucke.

Page 29: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

29

Textprobe Lesetext:

M1

126v,04 Daz ist Anshelmus Deutze

126v,05 Sand Anshelm, der pat vnser vrowen vom himelreich lan=

126v,06 ge zeit mit grozzer gier, mit vasten vnd mit wachen

126v,07 vnd mit andechtigem gepet vnd mit hertzenleichen

126v,08 trechten, daz si im chund têt ires aingepornes chindes mar=

126v,09 ter, Wie ez von dem anegenge ergienge vntz an daz ende.

126v,10 Vnd do er des lange het gepeten, do wart er gewert. Do

126v,11 erschain im vnser vrowe ze einem mal vnd sprach z

126v,12 im: „Anshelme, mein liewes chind hat als manichvaltige

126v,13 vnd als grozze marter erliten, daz ez niement vollechlichen

126v,14 gesagen chan. Die ougen mzzen mit seinen zechern

126v,15 des hertzen pitterhait erwainen. Ich pin auer so grzleich

126v,16 gehochet mit meinem chind vber allez himelisches

126v,17 her vnd vber die creatur, die got îe peschf. So en=

126v,18 mag ich noch enschol nicht mer wainen. Vnd dar nach

126v,19 allz du mich fragest, da nach sag ich dr, wie ez ergie.“

126v,20 Sand Anshelm waz von hertzen vro vnd sprach: „sag mr lie=

126v,21 weu vrow, wie waz der aneuanch der marter deines

126v,22 liewen chindes. [...]

III Die sprachhistorische Herausforderung der Überlieferung

Die Form der Überlieferung macht den Text in seiner Vielfalt zu einer herausragenden

Grundlage für sprachhistorische Analysen.50

Das Frühneuhochdeutsche wurde in raum-

/zeitlichen Gesamtdarstellungen bisher vornehmlich anhand von Drucken, Editionen oder

über das Material, das die Sekundärliteratur bietet, erarbeitet. Das Mnd. ist umfassend bisher

nur anhand einer Textsorte (Urkunden) aufgearbeitet. Das räumlich breit gestreute, zeitlich

quasi synchrone und unmittelbar in die vorreformatorische Zeit datierte Material der

Interrogatio St. Anselmi ist gut geeignet, hier eine große Lücke auszufüllen.

Die sprachhistorische Herausforderung beginnt bereits mit der Lokalisierung und Datierung

der einzelnen Exemplare. Bei der Lokalisierung ist zusätzlich zu unterscheiden zwischen dem

vermuteten Entstehungsort/-raum und der sprachräumlichen Einordnung, was nicht

deckungsgleich sein muss.

50 Die Variationsbreite der Texte ist gewaltig. Allein der Name Anselm wird in über 20 verschiedenen

graphischen Varianten wiedergegeben: anhelm, anhelmus, anelm, anelmus, anzhelmus, ancelme,

elmus, aunhalm, Anhelmüs, Anzhelmus, Anylmus, Anzhelme ANcelmus etc.

Page 30: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

30

Bei den Drucken ist die Lage überschaubar; sie sind entweder datiert oder können anhand der

Offizinen einigermaßen gut datiert und lokalisiert werden.51

Für die Handschriften lagen

bisher nur für einen kleineren Teil Vorschläge einer Lokalisierung vor. Die Münchner und

Nürnberger Hss. sind insbes. durch Karin Schneiders Arbeiten52

recht zuverlässig verortet; der

sprachliche Befund stimmt – bis auf wenige Fälle53

– mit dem jeweils angegebenen

vermuteten Entstehungsort überein. Zu anderen Hss. gibt es lediglich Angaben zu

Großräumen. Die Lokalisierungen wurden überprüft und konnten, von wenigen Ausnahmen

abgesehen, zumindest für den jeweiligen Großraum bestätigt werden;54

einige

Überlieferungsträger konnten aufgrund des sprachlichen Befundes kompletter Hss.

computergestützt genauer lokalisiert werden; nur in wenigen Fällen wurde die bisherige

Lokalisierung angezweifelt.55

Die mnd. Textzeugen wurden von Robert Peters (Münster) und

zusätzlich mit Hilfe eines automatischen Lokalisierungsprogramms für niederdeutsche Texte

lokalisiert.56

Die in Karte 1 im Anhang symbolisierten Textexemplare sind alle raumgenau

verortet: Die Hss. gehören sprachlich in den angegebenen Großraum (oobd., wobd., wmd.,

omd., nd.) und bis auf wenige Ausnahmen auch in den angegebenen Unterraum (mbair.,

hochalem., nordbair.-nürnb., thür., ofäl. etc.). Die Lokalisierungen sind allerdings nicht

ortspunktgenau. Die genauere Verortung der Hss. in der Karte erfolgt mithilfe

außersprachlicher Kriterien auf der Basis der Sekundärliteratur, die in einigen Fällen relativ

gut gesicherte Provenienzen angibt, wie z.B. das Nürnberger Katharinenkloster, das

Regensburger Kloster St. Emmeram, Kloster Tegernsee oder das Kloster Hermetschwil. In

einigen wenigen Fällen wurde der Ortspunkt auf den rezenten Aufbewahrungsort (etwa Me1

nach Melk) gelegt, sofern dieser in dem für die Hs. festgestellten engeren Sprachraum liegt.

Hier könnten sich bei besserer Datenlage noch unbedeutendere Verschiebungen der Symbole

in der Karte ergeben. Schwierig ist die Verortung der Münchner Hs. M7, die von der

Forschung nur ganz allgemein ins Mbair. lokalisiert wird. Er wurde kartographisch in das

Zentrum des Mbair. platziert. Ähnlich wurde auch mit einigen Hss. verfahren, die nur

51 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Johann Koelhoff d. Ä. aus Lübeck stammt, in

Köln den ersten Anselmus-Druck herstellt, der dann in Lübeck wenige Jahre später mit einigen

Veränderungen ebenfalls gedruckt wird. Die übrigen Kölner Drucke gehen auf den ersten zurück. Etwas

schwieriger ist die sprachliche Beurteilung der Augsburger Drucke, da Schauer (alias Froschauer) als

Wanderdrucker aus München zuzieht. Inwieweit dies die sprachliche Form beeinflusst, ist schwer

auszumachen. 52 Schneider (1973), (1983), (1984), (1994), (1996). 53 Der von Schneider (1996, 359) nach St. Emmeram lokalisierte Text M9 weist sprachliche Merkmale des

südlicheren Mbair. auf, was auch auf einen Schreiber/eine Schreiberin aus diesem Raum deuten könnte. M3

ist wohl in den südlichsten Teil des Mbair. zu platzieren. 54 Für tatkräftige Unterstützung bei der Lokalisierung danke ich Nina Bartsch und Cornelia Johnen. 55 Die von Cepkova (1982) edierte und sprachlich analysierte Dessauer Hs. (D3) ist wohl eher in das südliche

Thüringische einzuordnen. Eine von Cepkova vermutete wmd. (niederrheinische!) Vorlage erscheint mehr

als fraglich, da alle von ihr als wmd. angesehenen Eigenheiten sich so auch im Omd. finden, echte wmd.

Merkmale wie nit, unverschobene Konsonanten, fehlende Diphthongierung u.a. aber niemals erscheinen.

Auch der starke Anteil von Nebensilben-i deutet eher in das Thüringische. 56 Das Programm wurde von Sarah Kwekkeboom (Bochum) und Christian Fischer (Münster) entwickelt. Es

basiert auf den Daten des Atlas spätmittelalterlicher Schreibsprachen des niederdeutschen Altlandes und

angrenzender Gebiete (= AsnA) und bestätigt die traditionell vorgenommenen Lokalisierungen von Peters.

Page 31: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

31

allgemein in das Nordbair. lokalisiert werden wie We1 und M8. Hier können sich bei

verbesserter Datenlage noch größere Verschiebungen der Symbole in der Karte ergeben. Bei

einigen wenigen Hss. ergibt sich ihre ungefähre Stellung in der Karte durch sprachliche

Grenzlinien; dabei lässt sich etwa N4 nahe an der alem.-bair. Sprachgrenze platzieren, vertikal

ist die Verortung aber schwieriger. St1 wiederum lässt sich gut an die rhfrk./mfrk. Grenze

platzieren, nicht aber genau auf einer West-/Ostlinie; ebenso D4, die in den schwäb./rhfrk.

Übergangsraum gehört, deren genaue Position aber nicht ausgemacht werden konnte. Auch

hier können sich noch Verschiebungen ergeben.

Nur wenige der Textexemplare enthalten eine eigene Datierung: Hz1 (1462), Be1 (1465), O1

(1427), SG1 (1516), M8 (1491), M7 (1487); einige lassen sich in einen kurzen begrenzten

Zeitraum einordnen: M4 (1458-62), M3 (um 1458), M5 (1459/1469), sl1 (um 1465), Be1 (um

1450), hk1 (1478/1482). Die meisten der übrigen Hss. können zumindest in eine

Jahrhunderthälfte eingeordnet werden, bei einigen wenigen Hss. des 15. Jh.s reicht es nur zur

Angabe des Jahrhunderts. Auf der Basis genauerer sprachlicher Analysen der Gesamttexte

wird man vereinzelt noch etwas genauer datieren können.

*

Das sprachliche Potential und die methodologischen Probleme der Überlieferung der

Interrogatio St. Anselmi sollen im Folgenden anhand der Übersetzung des lateinischen Wortes

cena (‚Abendmahl‘)57

dargestellt werden. Das lat. Wort cena wird mit 12 verschiedenen

lexikalischen Varianten übersetzt bzw. wiedergegeben. Diese wiederum finden sich jeweils in

unterschiedlicher graphischer Variation.

abent-ezzen

abent een M7, M8

abint ein D3

abent e Sb1

jüngest ezzen iünst een M4

letzt ezzen

letzt een Ba1

leczt een Ba2, b3

leczt een N3

leczt ezzen N2, M10

letz een M5

let een Me1

jüngest mal

iungt mal N4, T1

iungeten mal HK1

jungte mal M2

iüngit mal M1

iüngtmale s1496/7

jüngest maz jüngt maz sa1

ivngete maz Ka1, St2

57 Die genauere Bedeutung des lat. Wortes als Bezeichnung für die Hauptmahlzeit bleibt hier unberücksichtigt.

Page 32: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

32

Jungt ma Stu1

iung maz Be1

jungte maze B2

nacht mal

nach(t) mal (2x) D4

nachtmal (2x) H1

nacht mal (2x) SG1

letzt mal let mal W1

abent brot obent brot (2x) B1

abent spise auent pie Wo1

abent mal auontmael (2x)

auont mael (2x)

Am1

Le1

abent malzit auont maeltijt/auont mael B1523

letzt abent ezzen lecztiz obt ezen (N1)

Die Verteilung auf die einzelnen Textexemplare zeigt regionale Schwerpunkte (vgl. Karte

5).58

Kombinationen mit ezzen sind vermehrt im Oobd. (bairisch, nürnbergisch) belegt;

Kombinationen mit maz sind ausschließlich wobd. (hochalemannisch bis in Rheinfränkische

auf der Höhe von Mainz) vertreten. Die Kombination von abent und mal, die sich später

durchsetzt, ist (noch) ausschließlich in den mnl. Textzeugen belegt. Die Kombination jungest

und mal ist mbair., die Kombination naht und mal ist (in nur drei Textzeugen) räumlich

verstreut belegt; andere wie abentbrot oder abent spise finden sich nur vereinzelt.59

Dieser Befund dürfte einmalig sein. Besch (1967, 134ff mit Karte 31) belegt für 68 Hss. der

nahezu gleichzeitigen Überlieferung der Vierundzwanzig Alten Ottos von Passau lediglich

zwei Varianten: Im gesamten Sprachraum abentessen (abentessen, aventeten) und – nur

viermal in drei ndl. Hss. des 16. Jh.s und einer Kölner Hs. von 1483 – abentmal (avent mail,

avontmael, avontmale). Die weitestgehend einheitliche Form zeigt einen völlig anderen

Verbreitungsweg der Vierundzwanzig Alten, eine andere Gebrauchssituation und eine andere

Art von ‚Text‘ als die Interrogatio St. Anselmi.

Die Verteilung der verschiedenen Formen stimmt nur zum Teil mit der (rezenten) regionalen

Verteilung der verschiedenen Varianten60

überein. Die Kombinationen mit ezzen in bair. und

Nürnberger Hss. passen gut zur heutigen Verbreitung von Abendessen. obent brot in B1 passt

ebenfalls gut in das Abendbrot-Gebiet. Die Kombinationen mit mal passen einigermaßen gut

zur heutigen Verteilung von Nachtmahl. Die drei Belege nacht mal (H1, D4, SG1) allerdings

stehen regional weit außerhalb dieses Gebiets. Auffällig abweichend verhalten sich die

hochalem. Hss., die alle (bis auf SG1) das im Mhd. gut belegte, zum Nhd. hin aber

schwindende maz (für Mahlzeit)61

verwenden. Die heute im Alem. üblichen Varianten Znacht

58 (N1) Stadtbibliothek Nürnberg Cent. VI,44 hat an der entsprechenden Stelle lecztiz obt ezen. 59 Zu anderen Bezeichnungen s. Macha (2012, 103). 60 Vgl. Eichhoff (1977, Karte 38 ‚Abendmahlzeit‘). 61 Ahd. maz, n., mhd. maz (Speise, Essen); vgl. got. mats m. (Speise), vgl. dazu auch Grimm, DWB, 12,

Sp.1721; http://woerterbuchnetz.de/DWB s.v. masz. Zeitgenössisch zu den Anselmus-Hss. finden sich

Belege etwa in Sebastian Brandt ‚Narrenschiff‘. Druck Basel 1495, 110a, 211; Michael Vehe Gesangbuch 67

Page 33: Die Überlieferung der Interrogatio St. Anselmi de Passione

33

und Nachtessen erscheinen dagegen nie. Inwieweit maz in den beiden wmd. Hss. noch eine

sprachhistorische Basis hat, bleibt offen. Während St1 maz wohl aus der/einer Vorlage

übernimmt, kommentiert B2 das fremde Wort und fügt das vertrautere (und regional

passende) ezzen an: daz Iungte maze daz da heizet daz abend ezen.62

Die Bedeutungsverschiebung von ‚Abendmahl‘ als (gemeinsames) Abendessen hin zum

Altarsakrament ist anhand des Materials nicht einfach nachzuzeichnen. Die meisten Hss.

trennen die Erwähnung der letzten gemeinsamen Abendmahlzeit (Agape) Jesu mit seinen

Jüngern von der eigentlichen Abendmahlszene mit Fußwaschung, Brotbrechen und Predigt,

die die Grundlage des Altarsakraments (Eucharistie) darstellen. Allerdings steht das

zeitgenössische Wissen um dieses Sakrament einer völlig wertfreien (d.h. religiös

unmarkierten) Verwendung entgegen. Die Wortwahl scheint jedoch unterschiedlich stark

durch das Wissen um das Sakrament beeinflusst. Abendbrot und Abendspeise zeigen eine eher

alltägliche Bedeutung. Der nl. Druck unterscheidet abendmahlzeit von abendmahl. Interessant

ist in diesem Zusammenhang, dass die drei Hss., die nachtmal verwenden, dies an beiden

Stellen tun, ebenso die beiden nl. Hss., die das Wort abendmahl in der Fußwaschungsszene

wiederholen. Die Versfassungen kombinieren das gemeinsame Essen und die Fußwaschung

zu einer Textstelle; durch die Verwendung des Adv. lêfliken wird jedoch eine sprachliche

Vordergrundierung von Agape ( ursprünglich Liebesmahl) nahegelegt.

Das ältere aus dem Germ. stammende Substantiv maz und das substantivierte ezzen können

sowohl ‚die Tatsache, dass jmd. isst‘ als auch ‚das, was jmd. isst‘ (Speise) bedeuten. Der

verbale Kontext mit gessen, genommen verweist eher auf die Speise. Dies ist in der Mehrzahl

der Fälle so; besonders deutlich bei der Ersetzung von ‚Abendessen‘ durch Osterlamm (We1).

Das Ereignis des Essens liegt näher im Kontext mit thet (M10) het (N3, M9, M5) oder

volbracht (Sb1). mal verweist eher auf das Ereignis, da mal im Spätmhd., ausgehend von der

Bedeutung ‚Zeitpunkt‘ über den ‚Zeitpunkt des Essens‘ (mal zeit), zunächst auf das Ereignis

selbst und von da auf ‚Speise‘ übertragen wird. Es ist schwer auszumachen, wie stark die

Bedeutung ‚Zeitpunkt‘ in den Belegen noch durchscheint. Die Verwendung von maz betont

möglicherweise die Gemeinsamkeit beim Essen.63

Die Kombination von ezzen, mal und maz mit letzt und jüngst ist ebenfalls nicht eindeutig,

obwohl hier der Zeitpunkt noch deutlich zutage tritt. letzt und jüngst können beide synonym

zu abend/nacht verwendet werden, im Sinne von ‚letzte Mahlzeit des Tages‘, sie können aber

auch bereits auf das ‚letzte gemeinsame Essen Jesu mit seinen Jüngern vor seinem Tod‘

(Belege vgl. Grimm, DWB, 12, Sp. 1721). Das Wörterbuch der elsässischen Mundarten von Ernst Martin

und Hans Lienhard, Straßburg 1899-1907 kennt masse (Speise) nur noch in einem Phrasem (vgl. s.v.). 62 Man könnte in dieser Formulierung allerdings auch eine Unterscheidung von Agape und Eucharistie sehen. 63 Vgl. Grimm, DWB, 12, Sp.1721 „[…] die zugemessene ausgetheilte kost für die herdgenossen bezeichnende

wort,“ Für die angelsächsische Entsprechung mete belegt Liebermann, Die Gesetze der Angelsachsen. Halle

1903, 186, den Rechtscharakter des Wortes als gemeinsames Mahl einer Rechts- bzw. Hausgemeinschaft.

Vgl. dazu auch http://drw-www.adw.uni-heidelberg.de/drw/ s.v. mass.

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referenzieren. jungestez maz in der Bedeutung ‚letzte Mahlzeit vor dem Tode‘ ist mhd. in

Meier Helmbrecht64

belegt.

Die Verwendung eines einheitlichen deutschsprachigen Begriffes für das Sakrament wird erst

im Zuge der Reformation und der entsprechenden reformatorischen Abendmahldiskurse

bedeutsam. Werner Besch hat anhand seines Materials bereits zeigen können, dass das spätere

lutherische ‚Dominanzwort‘ Abendmahl aus dem Westen übernommen wurde. Die Belege bei

Besch (1967, 134ff) und das Material der Interrogatio St. Anselmi legen einen Import aus dem

Nl. nahe. Zur weiteren Entwicklung – insbesondere das Nebeneinander von Nachtmahl und

Abendmahl s. Kretschmer (1918, 600); Besch (2008, 212f); Macha (2012,103).

64 Wernher der Gartenaere: Helmbrecht. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Hrsg., übersetzt und mit

einem Anhang versehen von Helmut Brackert, Winfried Frey, Dieter Seitz. Frankfurt am Main 1972. Vers

1572.

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