die natürliche ordnung der wissenschaften

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Besprechungen 473 P a u I 0 p p e n h e i m : D i e natiirliche Ordnung der Wissenschaiten. Grund- gesetze der vergleichenden Wissenschal~slehre. Gustav Fischer, Jena, i9z6. 288 S. Mit 25 Abb. im Text. Der Verfasser vertritt die Ansicht, dat~ die Gesamtheit der Wissenschafien ein einheitliches, zusammenh~ingendes Ganzes bilde, das ledigtich aus Griinden arbeits- technischer, psychologischer und historischer Art in eine Reihe yon Einzeldiszi- p!inen aufgeteilt werde. Es muf daher als unbefriedigend erscheinen, wenn eine Ordnung der Wissenschafien durch eine Zerschneidung des Ganzen in Natur- und Geisteswissenschafien oder durch eine ~,ihnliche summative Klassifikation versucht wird. Der Verfasser stellt sich daher die Aufgabe, ein rationales, kontinuierllches Ordnungsprinzip zu finden, das die Stellung der Wissenschaften zueinander ad~iquat abzubilden gestattet, ohne durch kiinstliche Schnittbildungen dem gegen- seitigen Zusammenhang der Wissenschaften Gewalt anzutun. Die Methode, mit der die L~sung dieser Aufgabe in Angriff genommen wird, ist im wesentlichen deskriptiv und vergleichend, und nicht in erster Linie kritisch- erkenntnlsloglsch. Die ganze Reihe der heute im [iblidaen Gebrauch als Wissen- schafien bezeichneten Disziplinen wird als Ausgangsmaterial fiir diese, wie der Verfasser selbst sie nennt, induktive Untersuchung gew~ihlt. Durch dies Verfahren soll eine m~glichst weitgehende ,,metaphysische Neutralit~it" den Einzelwissen- sdmfien gegeniiber gewahrt werden. Freilich ist diese Toleranz mit dem Nachteil verkniipf~, dab in der Reihe der zur Untersuchung gelangenden Wissenschafien auch die Metaphysik -- die aller- dings im wesentlichen schon auf die Erkennmlstheorie beschr~inkt wird -- und gewisse normative Teildisziplinen, etwa der National~konomie und der Geschlchts- wissenschaf~ aufireten. Den fundamentalen logischen Unterschied zwischen Diszi- plinen dieser Art und etwa den ,,Naturwissenschafken" deutet der Verfasser frei- lich mehrfach an. So sagt er z. B., dab ,,der Kulturphilosoph ... besonders h~iufig Behauptungen aufstellt, bei denen giinstigstenfalls weder bewiesen werden kann, daf sie richtig, noch dab sie falsch sind"; und bei Besprechung der Metaphysik wird auf ,,eine gewisse logische Verwandtschaf~ mit der Theol0gie" m die nicht zu den betrachteten Wissenschat~en geh~rt -- treffend und klar hingewiesen; aber diese Einsidat fiihrt bei der mehr deskriptiven Tendenz des Buches nicht zu der m. E. unvermeidlichen Konsequenz, daft ,,normative" und logisch verwandte Disziplinen als Systeme von Scheins~itzen aus der Reihe der zu untersuchenden echten Wissenschat~en -- es handelt sich hier ja nicht um eine Frage der Termino- logie -- gestrichen werden. Das Resultat der Untersuchung, das hler nur in den Grundziigen angedeutet werden kann, besteht in einer zweidimenslonalen Anordnung aller Wissenschaften, die anschaulich-geometrisch gedeutet wird als Verteilung der die Wissenschat~en darstellenden Fl~ichenstiicke innerhalb eines Quadrates, der sogenannten ,,Denk- fl~iche". Die Anordnung geschieht nach gewissen formallogischen Prinzipien; die wichtigsten Ordnungsmethoden sind die Anordnung nach der sogenannten rela- tiven Begriffs- und relativen Merkmalzahl, die den ,,Systemspitzen" der einzelnen Wissenschaf[en eindeutig zuzuordnen sind, sowie die Ordnung nach dem Grade der Abstraktlon und der Typisierung. Fiir beide Parameterpaare wlrd eine nume- rische Festsetzung getroffen, die natiirlich innerhalb gewisser Grenzen wiUkiirlich ist, und die Grundeigentlimlichkeiten der damlt errelchten Anordnung werden in drei statischen und zwei dynamischen Gesetzen ausgesprochen. Diese Resultate werden zum Schluf des Buches noda in einer von den iib- lichen logistlschen Formalismen abweichenden Symbolik formuliert, die einerseits den Obergang zur Metrik der Parameter erm~glichen und andererselts grlJf~t- m~gliche Klarheit in die Defnltion der sonst h~iufig mlteinander verwechselten Ordnungsgesichtspunkte bringen soU. -- Die loglschen Untersuchungen dieses Ab- 32 Erkenntnis II

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Page 1: Die natürliche Ordnung der Wissenschaften

Besprechungen 473

P a u I 0 p p e n h e i m : D i e n a t i i r l i c h e O r d n u n g d e r W i s s e n s c h a i t e n . Grund- gesetze der vergleichenden Wissenschal~slehre. Gustav Fischer, Jena, i9z6. 288 S. Mit 25 Abb. im Text.

Der Verfasser vertritt die Ansicht, dat~ die Gesamtheit der Wissenschafien ein einheitliches, zusammenh~ingendes Ganzes bilde, das ledigtich aus Griinden arbeits- technischer, psychologischer und historischer Art in eine Reihe yon Einzeldiszi- p!inen aufgeteilt werde. Es muf daher als unbefriedigend erscheinen, wenn eine Ordnung der Wissenschafien durch eine Zerschneidung des Ganzen in Natur- und Geisteswissenschafien oder durch eine ~,ihnliche summative Klassifikation versucht wird. Der Verfasser stellt sich daher die Aufgabe, ein rationales, kontinuierllches Ordnungsprinzip zu finden, das die Stellung der Wissenschaften zueinander ad~iquat abzubilden gestattet, ohne durch kiinstliche Schnittbildungen dem gegen- seitigen Zusammenhang der Wissenschaften Gewalt anzutun.

Die Methode, mit der die L~sung dieser Aufgabe in Angriff genommen wird, ist im wesentlichen deskriptiv und vergleichend, und nicht in erster Linie kritisch- erkenntnlsloglsch. Die ganze Reihe der heute im [iblidaen Gebrauch als Wissen- schafien bezeichneten Disziplinen wird als Ausgangsmaterial fiir diese, wie der Verfasser selbst sie nennt, induktive Untersuchung gew~ihlt. Durch dies Verfahren soll eine m~glichst weitgehende ,,metaphysische Neutralit~it" den Einzelwissen- sdmfien gegeniiber gewahrt werden.

Freilich ist diese Toleranz mit dem Nachteil verkniipf~, dab in der Reihe der zur Untersuchung gelangenden Wissenschafien auch die Metaphysik - - die aller- dings im wesentlichen schon auf die Erkennmlstheorie beschr~inkt wird - - und gewisse normative Teildisziplinen, etwa der National~konomie und der Geschlchts- wissenschaf~ aufireten. Den fundamentalen logischen Unterschied zwischen Diszi- plinen dieser Art und etwa den ,,Naturwissenschafken" deutet der Verfasser frei- lich mehrfach an. So sagt er z. B., dab ,,der Kulturphilosoph . . . besonders h~iufig Behauptungen aufstellt, bei denen giinstigstenfalls weder bewiesen werden kann, daf sie richtig, noch dab sie falsch sind"; und bei Besprechung der Metaphysik wird auf ,,eine gewisse logische Verwandtschaf~ mit der Theol0gie" m die nicht zu den betrachteten Wissenschat~en geh~rt - - treffend und klar hingewiesen; aber diese Einsidat fiihrt bei der mehr deskriptiven Tendenz des Buches nicht zu der m. E. unvermeidlichen Konsequenz, daft ,,normative" und logisch verwandte Disziplinen als Systeme von Scheins~itzen aus der Reihe der zu untersuchenden echten Wissenschat~en - - es handelt sich hier ja nicht um eine Frage der Termino- logie - - gestrichen werden.

Das Resultat der Untersuchung, das hler nur in den Grundziigen angedeutet werden kann, besteht in einer zweidimenslonalen Anordnung aller Wissenschaften, die anschaulich-geometrisch gedeutet wird als Verteilung der die Wissenschat~en darstellenden Fl~ichenstiicke innerhalb eines Quadrates, der sogenannten ,,Denk- fl~iche". Die Anordnung geschieht nach gewissen formallogischen Prinzipien; die wichtigsten Ordnungsmethoden sind die Anordnung nach der sogenannten rela- tiven Begriffs- und relativen Merkmalzahl, die den ,,Systemspitzen" der einzelnen Wissenschaf[en eindeutig zuzuordnen sind, sowie die Ordnung nach dem Grade der Abstraktlon und der Typisierung. Fiir beide Parameterpaare wlrd eine nume- rische Festsetzung getroffen, die natiirlich innerhalb gewisser Grenzen wiUkiirlich ist, und die Grundeigentlimlichkeiten der damlt errelchten Anordnung werden in drei statischen und zwei dynamischen Gesetzen ausgesprochen.

Diese Resultate werden zum Schluf des Buches noda in einer von den iib- lichen logistlschen Formalismen abweichenden Symbolik formuliert, die einerseits den Obergang zur Metrik der Parameter erm~glichen und andererselts grlJf~t- m~gliche Klarheit in die Defnltion der sonst h~iufig mlteinander verwechselten Ordnungsgesichtspunkte bringen soU. - - Die loglschen Untersuchungen dieses Ab-

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sdmittes ffihren zu sehr interessanten Gesi&tspunkten and Fragestellungen; m- dessen sind sie inhaltlich noch merklich an den Begriffsbildungen der traditionel- len Logik orientiert und in der vorliegenden Form gewissen Bedenken ausgesetzt; sie bediirt~en z. T. einer genaueren Rechtfertigung in Gestalt einer eingehenderen logischen Analyse der wissenscha~ichen Begriffsbildung.

Ihre ,,induktive Begriindung" finden die soeben angedeuteten Ordnungsprin- zipien in dem umfassenden mktleren Tell des Werkes, in der die wi&tigsten der im iiblichen Gebrauch unterschiedenen Einzelwissenschaf~en in systematischer Reihenfolge durdunustert werden. Hier wird an Hand einer erstaunlich reichen Fiille von Belegmaterial aus allen Gebieten gezeigh wie sich in der einzelwissen- scha~idaen Arbelt jeweils Spannungen zwisdaen gewissen gegens~itzlichen Ten- denzen geltend machen, die als die Tendenzen zur typisierenden und zur indi- vidualisierenden Abstraktion, bzw. als die Tendenzen zur Konkretisierung und zur Abstraktion bezeidmet werden.

Diese Betrachtungen fiihren zu der Einsicht, da~ gewisse ot~ als sachhaltig angesehene Streiffragen - - meist yore Typ der Wertprobleme - - in Wahrheit keine wissenschafUidaen Fragen sind, sondern sich psychologisch aus dem Wider- streit der verschiedenen Tendenzen in wissenschafilicher Arbeits- und Interessen- rid,tung erkl~ren. Und die Vermittlung dieser Einsicht in die theoretische Ge- haltlosigkeit zahlreidaer solCher Fragestellungen, die als ein wichtiges Ziel die Untersud~ungen des Verfassers leitero erscheint mir als eines der schSnsten Resul- t-ate dieses gedankenreichen und anregenden Werkes.

C. G. H e m p e 1, Berlin-Buda.