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Die Unmoral des Intellekts. Der Typus des listigen Helden in der mittelhochdeutschen epischen Literatur von König Rother bis zu Strickers Pfaffe Amis von Rainer Sigl

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Der Typus des listigen Helden in der mittelhochdeutschen epischen Literatur. Diese Diplomarbeit beschäftigt sich mit der im 12. Jh. in der mhd. epischen Literatur jener Zeit auftauchenden Figur des "listigen Helden". An den Beispielen von "König Rother", "Salman und Morolf", Gottfrieds von Strassburg "Tristan", Strickers "Daniel" und "Pfaffe Amis" wird das listige, intellektuelle, aber moralisch immer zweideutiger werdende Bild des literarischen Helden untersucht.

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Page 1: Die Unmoral des Intellekts

Die Unmoral des Intellekts. Der Typus des listigen Helden in der mittelhochdeutschen

epischen Literatur von König Rother bis zu Strickers Pfaffe Amis

von Rainer Sigl

Page 2: Die Unmoral des Intellekts

Diese Arbeit steht unter einer Creatice Commons Lizenz: Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 Unported

http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/legalcode (Diplomarbeit aus Deutsche Philologie

zur Erlangung des akademischen Grades des Magisters der Philosophie)

Eingereicht an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien bei

Prof. Dr. Helmut Birkhan Universität Wien, Mai 2000

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Inhaltsverzeichnis

I. Allgemeines 4

1. Einleitung 4 2. Heldentum und klassisches Heldenbild 6 2.1. Heldentum 6 2.2. Das Ideal des kriegerischen Helden und der Wandel im 12. Jh. 7 2.3. Der Held des Volksmärchens 10 2.4. Der literarische Held 11 3. Tugend und Klugheit 14 3.1. Tugend 14 3.1.1. Herrschertugend 14 3.1.2. Rittertugend 16 3.2. Klugheit und Weisheit; List 21 II. Listige Helden 27 1. Die Wurzeln des listigen Helden 27 1.1. Mythische Vorläufer: Der Trickster und die List der Götter 27 1.2. Literarische Vorläufer der Antike: Odysseus und Alexander 29 1.3. Literarische und volkstümliche Vorläufer: Unibos 32 1.4. Listige Antagonisten 33 2. Allgemeine Definition des listigen Helden. Zur Auswahl der Texte. 35 III. Listige Helden in der epischen Literatur von 1150-1250 37 1. König Rother 37 NB: Zur „Spielmannsepik“ 37 1.1. Zum Werk 37 1.2. Rother, der ideale König 46 2. Salmân und Môrolf 57 2.1. Zum Werk 57 2.2. Môrolf, der dunkle Held 63 3. Tristan 74 3.1. Zu Autor und Werk 74 3.2. Tristan, der Künstler 84 4. Der Stricker: Daniel von dem Blühenden Tal 99 4.1. Zum Autor 99 4.2. Zum Werk 101 4.3. Daniel, der perfekte Artusritter 107

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5. Der Stricker: Der Pfaffe Amis 116 5.1. Zum Werk 116 5.2. Amis, die Unmoral des Intellekts 121 6. Spätere listige Helden 128 6.1. Der Pfarrer vom Kahlenberg 130 6.2. Neidhart Fuchs 133 IV. Typologie und Eigenschaften des listigen Helden 139 1. Eigenschaften des listigen Helden 139 1.1. Motivation zur Listanwendung 139 1.2. Beschreibung des listigen Helden 143 1.3. Weltklugheit und Realitätsblindheit 145 2. Grundelemente der Listanwendung 148 2.1. Lüge 148 2.2. Verkleidung und Verstellung 152 2.3. Kampflist 156 2.4. Magische Gegenstände und Trickobjekte 158 V. Der Wandel des listigen Helden 162 1. Vom König zum Schelm 162 2. Das Phänomen des listigen Helden 167 2.1. Die List als Gewalt der neuen Zeit: der bürgerliche Held? 167 2.2. Prudentia und Weltklugheit in der philosophisch-theologischen Diskussion 172 2.3. Vom Volksmärchen zum Volksbuch: der Weg des listigen Helden durch die Gattungen 176 VI. Abschluß und Zusammenfassung 182 VII. Bibliographie 186 1. Primärliteratur 186 2. Sekundärliteratur 187 Abkürzungen: ABÄG Amsterdamer Beiträge zur Älteren Germanistik PA Der Pfaffe Amis DVjS Deutsche Vierteljahres-Schrift SM Salmân und Môrolf Fs. Festschrift WdF Wege der Forschung GAG Göppinger Arbeiten zur Germanistik ZfVk Zeitschrift für Volkskunde KHM Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm ZfdPh Zeitschrift für deutsche Philologie KR (RI/RII) König Rother ZfdA Zeitschrift für deutsches Altertum

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I. Allgemeines 1. Einleitung

Bei Betrachtung der mhd. epischen Literatur des späten 12. und 13. Jahrhunderts erkennt

man unschwer die zahlreichen Neuerungen und Innovationen, die diese Epoche mit sich

brachte. Neue Gattungen wurden erfunden, andere aus ausländischen, meist französischen

Quellen ins Deutsche übertragen. Gewiß waren es die äußeren, geschichtlichen

Zeitumstände dieser Epoche der „Nachklassik“, die derartige Veränderungen

hervorbrachten und nötig machten. Das zuvor festgefügte, „gottgewollte“ Ständesystem

von Nährern, Wehrern und Lehrern begann seine Gültigkeit zu verlieren. Der vierte Stand

des städtischen Bürgertums aus Kaufleuten und Handwerkern und mit ihnen das

erstarkende Kapital, drängte den Adel in Einfluß und Macht zurück, während Adel und

Rittertum durch Ministerialisierung und Verarmung immer weniger glanzvoll und höfisch

wurde.

Diese Zeit des Umbruchs und der politischen, geistigen und sozialen Unsicherheit trug

folglich auch zur Neuorientierung und Umgestaltung der Literatur und der Künste

insgesamt bei; das Publikum und die Mäzene der Literaten mögen sich wohl nicht so

schnell geändert haben wie der Zeitgeschmack und die Vorlieben für bestimmte Stoffe.

Eine der Neuerungen des späten 12. und des 13. Jhs. war unter anderem das vermehrte

Auftreten eines anderen Typus von Heldenfigur, die zwar zu Beginn noch durchaus im

traditionellen Sinn „Held“ war, aber doch durch andere Handlungsweisen, Eigenschaften

und letztlich auch moralische Beweggründe definiert werden kann: der Typus des listigen

oder „intellektuellen“ Helden. Das Auftreten diese Typus beschränkt sich nicht nur auf

eine Gattung; tritt der listige Held in der epischen Literatur zunächst in der

„Spielmannsepik“ auf, so findet er sich dann im Laufe des 13. Jahrhunderts auch in

durchaus gehobener, höfischer Dichtung, um später mit dem Pfaffen Amis des Strickers die

neue Gattung des deutschen Schwankromans zu konstituieren.

Das Ziel dieser Untersuchung soll es sein, diesen nicht neu erfundenen, aber wohl erneut

gefundenen Typus von literarischer Heldenfigur anhand ausgewählter Werke dieser

Epoche zu definieren und zu charakterisieren; zu Beginn soll demnach auch eine genauere

Definition der Bedeutung von Heldentum, List und dem „klassischen“ Helden der epischen

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Literatur, der Heldendichtung und auch des Volksmärchens1 unternommen werden.

Anhand der Charakteristika, die diesen Typus von dem des listigen Helden unterscheiden,

wird dann die „Sonderform“ des listigen Protagonisten in der epischen Literatur des 13.

Jahrhunderts genauer zu definieren sein.

Weiters soll untersucht werden, wie sich dieser Typus nach seiner Einführung verändert

und weiterentwickelt hat. Der König Rother des Spielmannsepos, eine der frühesten

Erscheinungsformen des listigen Helden in der dt. Literatur, oder auch noch der Tristan

Gottfrieds von Straßburg entsprechen durchaus noch den Anforderungen, die einen

klassischen Helden ausmachen; der Pfaffe Amis des Strickers, der vielleicht durchaus als

die „Listigste“ der behandelten Figuren gelten kann, hat mit dem klassischen Typus der

Heldendichtung weit weniger gemeinsam.2 Im Zusammenhang damit soll auch die Frage

gestellt werden, inwieweit der Grad der Listigkeit denjenigen der Heldenhaftigkeit

beeinflußt oder etwa beeinträchtigt. Daran anschließend wird sich auch die Frage nach

dem Weg stellen, den die Figur und das Motiv des listigen Helden durch die

Literaturgattungen genommen haben.

Das Thema dieser Arbeit ist demnach die Untersuchung eines Figurentyps, der scheinbar

unvermittelt in der deutschen epischen Literatur des 13. Jahrhunderts erscheint; weiters

eine Suche nach möglichen Erklärungen für dieses Erscheinen; und letztlich der Versuch,

die Wurzeln, die Weiterentwicklung und den Weiterbestand dieses Typs zu definieren.

1 Zur Frage der hypothetischen „Datierbarkeit“ des Volksmärchens siehe Aarne, A.: Ursprung der Märchen. In: Wege der Märchenforschung. WdF 255. Hrsg. von F. Karlinger. Darmstadt 1973. S.42-60. 2 Natürlich muß dieser Vergleich innerhalb zu definierender Grenzen erfolgen, da immerhin auf Gattungsspezifika und unterschiedliche Absicht des Autors Rücksicht genommen werden muß. Diese Arbeit kann und will in dem Sinn auch keine „Bewertung“ des Grads der Listanwendung im Sinne von Fortschrittlichkeit vornehmen, sondern beschränkt sich auf die Untersuchung einer Entwicklung des Heldentypus „listiger“ Held.

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2. Heldentum und klassisches Heldenbild

2.1. Heldentum

Was ist eigentlich ein Held? Eine gültige Definition ist vielleicht die C.M. Bowras: Die

Helden (der Heldendichtung) sind

„[..]Menschen mit überragenden Fähigkeiten...[..]Menschen, die größer sind als andere Menschen..[..]. Ein Held unterscheidet sich von anderen Menschen durch das Maß seiner Fähigkeiten. In den meisten Heldendichtungen sind diese spezifisch menschlicher Natur, wenn sie auch über die normalen menschlichen Beschränktheiten hinausragen. [..] Er erweckt Bewunderung vornehmlich dadurch, daß er in verschwenderischer Fülle Gaben besitzt, über die andere Menschen nur in sehr geringem Ausmaße verfügen.“3

Helden sind demnach Menschen, die sich vor allem durch das Übermaß an menschlichen

Tugenden von ihren Mitmenschen abheben. Diese Definition läßt sich zwar hervorragend

auf die meisten Helden der mittelhochdeutschen Epik anwenden, doch läßt sie außer acht,

daß sich vor allem in den archaischen Helden der Mythologie und des Märchens sehr wohl

noch eine große Affinität zum Übernatürlichen und somit "Übermenschlichen“ feststellen

läßt. Diese Helden sind entweder selbst von göttlicher Abstammung (wie etwa Herakles,

Achilles oder CuChullain), oder sie bedienen sich übermenschlicher Mittel wie der

Zauberei, um ihre Gegner zu bezwingen. Die „klassischen“ Helden der mittelalterlichen

Heldendichtung können im allgemeinen durch diese Definition erfaßt werden; der „listige

Held“ nimmt jedoch auch hier eine gewisse Sonderstellung ein. Obwohl es tatsächlich

menschliche Eigenschaften sind, die er im Übermaß besitzt – nämlich Klugheit und die

Kühnheit, diese unkonventionell anzuwenden –, so erinnern manche Listen, wie etwa seine

erstaunlichen Verkleidungen oder Hilfsmittel, doch an Magie.4

Eine allgemein gültige Definition des mythischen und popularliterarischen Helden stößt

auf grundsätzliche Probleme; jeder Heldentypus (abgesehen von der für diese Arbeit

besonders relevanten Unterscheidung in "listige Helden" und konventionell klassische

Helden sind vor allem in der Volkskunde unterschiedliche grundsätzliche

3 Bowra, C.M.: Heldendichtung. Stuttgart 1964. S.98 4 Besonders deutlich wird diese Tendenz an Môrolf, dessen Verkleidungen dem Leser eher wie übernatürliche Kunststücke erscheinen müssen.

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Heldentypologien erarbeitet worden5) bekleidet historisch und sozial wandelbare

Funktionen, wenn auch „seine jeweilige Gestalt anthropologisch konstante Züge

aufweist“6. Jede Epoche, jede Gesellschaft prägt einen eigenen Heldenbegriff. Dessen

Ursprung ist somit nicht so sehr ästhetischen als vielmehr soziologischen und ethischen

Idealen verpflichtet. Der epische Held ist der idealisierte Vertreter der Gruppe und daher

allen Veränderungen unterworfen, die die hervorbringende Gesellschaft betreffen; ein

bedeutender Gesichtspunkt, der auch das plötzliche Auftauchen anderer, neuartiger

Heldentypen erklärt.

2.2. Das Ideal des kriegerischen Helden und der Wandel im 12. Jh. Das ursprüngliche Ideal des Helden war das kriegerische der Heldensage – „stark und

tapfer zu sein, alle Gegner zu überwinden und damit das Lob nachfolgender Geschlechter

zu erwerben.“7 Damit „ist auch bereits die Spezifik des feudalen Begriffes der Heroik

gekennzeichnet: es geht um den Nachweis höchster kämpferischer Qualitäten im

Waffengang."8 Dieses Ideal des Kriegers erfuhr im 12. und 13. Jahrhundert in der

Literatur einige signifikante Veränderungen, die nicht auf das Auftauchen des Typus des

listigen Helden beschränkt sind. Vielmehr war bereits im 12. Jahrhundert das altertümliche

Ideal des kriegerischen Helden, das auch mit dem Stilwollen eines „romanischen“ Geistes

in Verbindung gebracht wurde, starken Veränderungen unterworfen. Das Heldenideal

früherer Dichtung – wie etwa des Rolandslieds – ist noch ein betont kriegerisches;

maßloser Kampfesmut, gepaart mit heroischer Tollkühnheit und unbedingtem Gehorsam

gegen den Kriegsherren werden in keiner Weise von weicheren Regungen wie Mitleid und

Barmherzigkeit gemildert. Auch Lamprechts Alexander gewinnt erst in der Bearbeitung

des Fortsetzers um 1170 an sozialem Empfinden, die Barmherzigkeit gegenüber den

5 O.E. Klapp etwa klassifiziert verschiedene Heldentypen in seiner Untersuchung zum „Universal Hero“ durch eine Typologie: er beschreibt den siegreichen, den klugen, den unscheinbaren Helden, sowie den Verteidiger und Befreier, den Wohltäter der Menschheit, den Kulturbringer und den Märtyrer. T.C. Carlyle, der Verfasser der ersten Heldentypologie aus dem Jahre 1841 bezieht wiederum alle Heldenerzählungen auf die Gottheite(en) als Urform des Helden, wobei der Begriff der Geschichte sich aus den Lebensgeschichten großer Männer entwickelt habe. Er typisiert demnach in Gottheit, Prophet, Dichter, Priester, Schriftsteller und König. Klapp, O.E.: The Folk Hero. In: JAFL 62 (1949) 17-25. Carlyle, T.C.: Über Helden, Heldenverehrung und das Heldentümliche in der Geschichte. 5.Auflage. Berlin 1917. 6 Horn, K.: Held, Heldin. In.: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 7. Hrsg. von R.W. Brednich. Berlin/New York 1996. Sp. 721-745. 7 De Vries, J.: Heldenlied und Heldensage. Bern/München 1961. S.243. 8 Spiewok, W.: Funktion und Gestalt der Heroik in der deutschen Literatur um 1200. Wieder in: Spiewik, W.: Mittelalterstudien. (GAG 400). Göppingen 1984. S.151-168.

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Schwachen (Witwen und Waisen, Arme und Gefangene und auch unterlegene

Kriegsfeinde) ist hier bereits zur Tugend des Heldenideals erhoben worden.

Dieser Wandel, den kriegerischen Helden durch soziales Ethos zu erweitern, findet sich

auch im König Rother und in Heinrichs von Veldeke Eneide in der Unterweltszene: Eneas

empfindet Mitleid mit den Qualen der Selbstmörder (92,2ff) und den gleich nach der

Geburt verstorbenen Kindern (99,18f.). Die ältere französische Quelle berichtet von

solchen weichen Regungen nichts; hier ist noch das alte Ideal des kriegerischen Helden zu

spüren.

Bei Hartmann von Aue schließlich wird dieses neue soziale Ethos des Helden zu zuvor

unerreichter Wichtigkeit erhoben: Barmherzigkeit und Mitleid werden zu den

entscheidenden Triebkräften des Helden, etwa wenn Erec aus Mitleid mit den achtzig

trauernden Frauen das schwere Abenteuer auf Brandigan auf sich nimmt. 9 Auch Iwein

entspricht durchaus diesem neuen Ideal des erbarmungsvollen epischen Helden, der allen

wernden vrouwen um der einen willen dient. Schwietering bringt diese Veränderung des

Heldenideals ursächlich mit den Laienbewegungen, die durch die gregorianische Reform

entstanden, in Verbindung. Diese, nach aktiver Betätigung drängende Frömmigkeit stehe

auch mit den späteren Bettelorden in innerem Zusammenhang, und sei „für die Erkenntnis

der Zeitgesinnung weit wichtiger als die [...] Reformbewegung der aristokratisch

gebundenen, für das eigene Seelenheil sorgenden Orden.“10 Die von der Kirche seit dem

10. Jh. propagierten religiösen Ideale der milites Christi, die ins Heilige Land ziehen, um

„reinen Herzens Gott zu dienen“, haben als ebenfalls bedeutender Faktor ihren

Niederschlag auch in der Literatur gefunden.

Nachdem bei Hartmann nun das soziale Empfinden eine derart prominente Rolle im

Heldenideal seiner Epoche zugeteilt bekommt, entsteht nun auch in logischer

Weiterführung des eingeschlagenen Weges jene Dichtung, „die die Barmherzigkeitsfrage

zum Angelpunkt macht und Verfehlungen gegen angebornes menschliches Mitgefühl als

9 Z.B. Erec V 9793ff: „ez enwart nie man sô vreuden rîch, dem doch iht erbarmen sol, ich enwizze daz benamen wol, hæte er die nôt ersehen, im wære ze weinnende geschehen. im (Erec, Anm.) erbarmte diu ellende schar.“ 10 Schwietering, J.: Der Wandel des Heldenideals in der epischen Literatur des 12. JH.s. In: Philologische Schriften. Hrsg. von F. Ohly und M. Wehrli. München 1969. S. 310.

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schwere Schuld bejaht. Diese Dichtung ist der Parzival.“11 In Wolframs Helden zeigt sich

nun der konsequenteste Vertreter des erbarmungsvollen Ritterideals; die Mitleidsthematik,

die bei Hartmann vorbereitet wurde, ist im Parzival Wolframs konsequent als Mittelpunkt

der Geschichte und der Moral angelegt. Das alte Heldenideal des Kriegers findet wohl in

alle diese Heldentypen Eingang – Erec, Iwein und vor allem Parzival sind allesamt

hervorragende Krieger und treue Vasallen ihres Herren – aber der Schwerpunkt verlagert

sich auf andere Akzente. Das Kriegertum wandelte sich, und mit ihm das Bild des

idealtypischen Helden.

Der klassische, höfische Heldentyp der mittelhochdeutschen Epik, der nun durch das

Erscheinen des listigen Helden wiederum erweitert und verändert wird, ist ein Held der

herrschenden feudalen Klasse, für die er auch ersonnen wurde. Natürlich konstituieren

etwa die Helden der Kreuzzugsdichtungen und besonders die Helden der Artusdichtungen

– durch ihre Läuterung und „Perfektionierung“ im Verlauf des doppelten cursus – einen

vorbildhaften Typus. Dieser klassische Held zeichnet sich durch ritterliche Tugenden wie

Stärke, Tapferkeit und Treue (zum Lehensherren), Barmherzigkeit gegenüber Schwachen,

Glaube an Gott sowie durch mâze und staete aus12 – der Held ist der idealisierte Ritter, der

dem Tugendkanon der militärischen Kaste, die ihn letztlich hervorgebracht hat, verpflichtet

ist. Die meisten der „listigen Helden“, die hier untersucht werden sollen, stehen durchaus

noch in der Tradition dieses idealisierten höfischen Ritterhelden, aber sie erweitern ihn um

charakteristische Nuancen, die ihn letztlich mehr und mehr von jenem Ideal entfernen.

11 Ebd., S.311. 12 Im folgenden Kapitel wird näher auf die Tugenden unter besonderer Berücksichtigung der Klugheit eingegangen.

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2.3.Der Held des Volksmärchens

Ein weiteres Heldenbild, das dem des listigen Helden in gewisser Weise näher steht, ist

das der Volksdichtung, vor allem des Märchens. Obgleich es aufgrund der

Überlieferungslage13 problematisch sein mag, das Märchen oder gar einen bestimmten

Typus von Märchenhelden zeitlich einzuordnen, spricht doch vieles dafür, deren Existenz

bereits in der behandelten Epoche anzunehmen. Viele Motive in den Märchen der

europäischen Völker spiegeln alte Glaubensvorstellungen und Bräuche wider, was die

These stützt, daß sich Märchen bereits vor dem Mittelalter herausgebildet hatten. In Europa

scheint das Mittelalter eine Epoche gewesen zu sein, die besonders viele Märchen

hervorbrachte; besonders die im Vergleich zum Zaubermärchen jungen Schwankmärchen

dürften in diese Epoche zu datieren sein.14

Aufgrund der Fülle an Volksmärchen erscheint es natürlich schwieriger, eine konkrete

Typologie des Märchenhelden zu erstellen. Im allgemeinen entspricht dessen Charakter

einer idealen Anschauung, die nur selten die Grenzen des Typischen übersteigt. Den

meisten Märchenhelden werden Klugheit, Mut und Tapferkeit so selbstverständlich

13 Der Grundstein (nicht nur )der deutschen Märchenforschung sind bekanntlich die 1812/14 erschienenen Kinder- und Hausmärchen der Brüder J. und W. Grimm (KHM), die als erste die Volkserzählungen ohne absichtliche Veränderungen beibehielten. Die Vorstellung, Märchen seien „wunderliche Erzählungen, wie sie sich Mütter und Wärterinnen erdenken, um damit die Kinder zu unterhalten“ wurde noch lange danach, u.a.1864 von J.G. von Hahn vertreten. Märchen seien demnach „leichte, regellose Machwerke einer spielenden Einbildungskraft. Ein jeder kann dergleichen machen, wenn er diese Kraft besitzt.“ Hahn, J.G. v.: Griechische und albanische Märchen I. Leipzig 1864. S.1. Diese Auffassung der totalen Geschichtslosigkeit und willkürlichen Neuschaffung der Märchen wurde längst durch umfangreiche Forschungen widerlegt; die ältesten, ägyptischen Märchen (bzw. deren unmittelbare direkte Vorformen als Mythe) etwa sind bereits 1300 v. Chr. belegt. „Wann und wo diese Märchen entstanden, ist dann eine Frage, die wir wohl nie beantworten werden können, da ihre Entstehungszeit oft in eine Zeit zurückreichen mag, in die der Menschengeist nicht vordringen kann. Speziell die Märchen mit all ihren wunderbaren Geschehnissen reichen vielleicht noch in die Zeit, da die Menschheit sich noch im ersten Kindesalter befand und von ihr alle Naturobjekte als beseelte und belebte Wesen aufgefaßt wurden und wo die Märchen, so wie heute noch für unsere Kinder, die erste Form der Erzählung waren.“ Rittershaus, A.:Die neuisländischen Volksmärchen. Halle/Saale 1902. S. XLIII. 1414 Vgl. Aarne, A.: Ursprung der Märchen. In: Wege der Märchenforschung. WdF 255. Hrsg. von F. Karlinger. Darmstadt 1973. S.42-60. „Die künftige Forschung wird wahrscheinlich viele von den in Europa entstandenen Märchen als mittelalterlich erweisen. Der abergläubische Geist des Mittelalters, das Geheimnisvolle und der Mystizismus desselben sind geeignet gewesen, das Enstehen [..] der Märchen zu begünstigen.“ Ebd. S. 56 Inzwischen scheint es jedoch eher so, daß die Entstehungszeit der Märchen, bzw. der sie hervorbringenden Mythen sogar noch weiter in die Vergangenheit versetzt werden muß!

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zugesprochen, daß sie nicht als besondere Züge anzusehen sind; je nach Märchen werden

gewisse dieser Eigenschaften abgeschwächt oder besonders betont. Dennoch erhebt das

Märchen, anders als die Heldenepik, keinen Anspruch darauf, daß alle seine Helden sich so

durch Tugendhaftigkeit auszeichnen; Neugier, Unfolgsamkeit, Prahlsucht und

Skrupellosigkeit gegenüber dem Antagonisten werden selten als moralische Defekte

betrachtet. Märchenhelden können starke Krieger sein, häufig sind sie auch die berühmten

Königssöhne; das Heldenideal ist jedoch weder ein kriegerisches noch ein höfisches. Der

Held des Märchen erscheint weniger idealisiert als die fast übermenschlich idealen Helden

der Heldensage und höfischen Literatur. Er ist der Vertreter des Volkes, der oft recht- und

mittellosen Bauern und des Handwerkers, und dadurch weniger an ständischen

Tugendforderungen orientiert.

In den meisten Märchen ist die Klugheit, wie erwähnt, eine Tugend unter anderen, ein

weiteres Attribut einer idealen Heldenfigur. In zahlreichen anderen Märchen jedoch ist die

Klugheit gesteigert zu einer Schlauheit und Listigkeit, und der „Höhepunkt“ der Erzählung

fällt mit der Überwindung des Gegenübers durch eine List zusammen. Am häufigsten

findet sich dieser Typ, der sich auf die Bewährung der geistigen Fähigkeiten konzentriert,

in den Schwankmärchen, die sich auch zeitlich am besten in den Rahmen dieser Arbeit

fügen. 15 Entweder der listige Märchenheld überwindet seine menschlichen Gegenspieler –

wie das Bürle in KHM 61 oder der Meisterdieb in KHM 192–, oder er besiegt

übermenschliche und auch übermächtige Gegner wie Riesen, Hexen oder Monstren durch

seinen überlegenen Intellekt –wie etwa der Däumling (KHM 37) und das tapfere

Schneiderlein (KHM 20, 114). Im Volksmärchen, und besonders im Typ des

Schwankmärchens, existiert demnach ebenfalls ein Ideal des listigen Helden; wie dieses

mit dem listigen Helden der epischen Literatur in Verbindung zu setzen ist, soll später

untersucht werden.

2.4. Der literarische Held

Eine letzte, für diese Arbeit aufschlußreiche Definition des Wortes „Held“ soll allerdings

nicht unberücksichtigt bleiben, nämlich der „Held als literarischer Held“, d.h. als

Hauptprotagonist eines Werkes der Literatur. „held, der den mittelpunkt einer begebenheit,

einer handlung bildende mann, zunächst in der dichtersprache. Es musz diese bedeutung

15 Vgl. dazu Löwis of Menar, A. v.: Der Held im deutschen und russischen Märchen. Jena 1912. S.46ff.

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auf jene literaturepoche zurückgehen, in der die hauptperson eines dramas oder epos ein

held sein muszte.“16 Tatsächlich ist es genau jener Zeitraum, dem die zu behandelnden

Werke entstammen, in der zum ersten Mal die gewohnte Übereinstimmung der beiden

Definitionen von „Held“ in Zweifel gezogen werden kann – „der durch tapferkeit und

kampfgewandtheit hervorragende krieger“17 einerseits und die qualitativ unbestimmte

Figur, die als literarischer Held Mittelpunkt des Werkes ist, andererseits.

Die „Heldenhaftigkeit“, die der althergebrachten Wortbedeutung immanent ist, fällt in

der Definition des literarischen Helden eigentlich zur Gänze weg. Ohne Frage sind die

meisten Helden mittelalterlicher Literatur nicht nur im literarischen, sondern auch im

tatsächlichen Sinne „Helden“ nach der Definition. Mit dem Auftauchen des listigen Helden

stellt sich jedoch mehr und mehr die Frage einer moralischen Ambivalenz, die zum

Beispiel den Pfaffen Amis laut dieser Definition nur mehr zum literarischen Helden

werden lassen.

Die klassischen Bedeutungsbereiche des Wortes „Held“ nehmen wieder auf einen

Wertbegriff Bezug, wobei dieser stets ein Mensch ist, der eben aufgrund

„außergewöhnlicher Kühnheit, Entschlossenheit, Standhaftigkeit oder Seelengröße“ sich

von seinen Mitmenschen positiv oder beeindruckend abhebt. Es ist auffällig, daß sich in

diesen speziellen Begriffsdefinitionen die Tugend der Klugheit nicht wiederfindet. Der

ursprünglich als Held Bezeichnete errang sich seine Bezeichnung und auch den

Heldenruhm nicht durch Beweise seines Intellekts, sondern durch Stärke, Tapferkeit und

ehrbare Gesinnung – alles Eigenschaften, die wie bereits ausgeführt traditionellerweise als

Tugenden einer Kriegerkaste oder eines feudalen Standes gelten. In der Definition des

literarischen Helden ist jedoch der Gedanke an eine Wertbestimmung anhand von

Tugendvorstellungen aufgegeben. Das Wort „Held“ bezeichnet demnach einfach eine

Position innerhalb jener literarischen Welt, die der Autor vor dem Publikum aufbaut. Der

Held ist hier das Individuum, das den Mittelpunkt des Werkes einnimmt.18

16 Deutsches Wörterbuch. Hrsg. v. J.u.W. Grimm. Fotomechan. Nachdruck der Erstausgabe v. 1877. Bd.4. München 1984. Sp.934. 17 ebd., Sp.931. 18 „[..](der) Held der ersten Kategorie hat immer Anspruch auf diesen Titel, denn sein Heldsein ist schlechthin eine Folge seiner Seinsweise als Mensch. Er ist ein Held, weil er eben so und nicht anders geartet ist. Der Held der zweiten Kategorie ist nur dann ein solcher, wenn der Autor ihn in den Mittelpunkt der Handlung stellt.“ Salinas, P.: Der literarische Held und der spanische Schelmenroman. In.: Pikarische Welt. Wege der Forschung 163. Darmstadt 1969. S.194.

13

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Ohne Zweifel ist diese Begriffsabstufung gerade bei der Bearbeitung eines so

vielschichtigen Heldentyps, wie es der "listige Held" ist, von großer Bedeutung; wie weit

kann die Listanwendung betrieben werden, bevor sie in ehrlose und somit nicht mehr

heldenhafte Betrügerei umschlägt? Ist der listige Held demnach nur mehr literarischer

Held? Der listige Held muß nicht zwingend die Bedingungen der „Heldenhaftigkeit“

erfüllen; in den behandelten Beispielen freilich sind die "listigen Helden" wie erwähnt zum

Großteil noch zugleich tatsächlich Helden im früheren Wortsinne. Rother, Môrolf, Tristan

und Daniel sind ohne Zweifel von den Autoren als mächtige, tapfere und lobenswerte

Krieger intendiert, die eben noch zusätzlich die entscheidende Eigenschaft der List

besitzen.19 Problematisch wird dieser Heldenbegriff erst bei Neidhart Fuchs, dem Pfaffen

Amis, dem Pfaffen vom Kahlenberg und natürlich besonders bei den effektiven Erben und

letzten Manifestationen des listigen Helden, den Schelmen und Narren späterer

Jahrhunderte.

Der "listige Held" dieser Untersuchung nimmt somit wiederum eine Zwischenstellung

ein. Obwohl es durchaus einzigartige Fähigkeiten und „Tugenden“ (wenngleich solchen,

die beim klassischen Helden teilweise weniger wichtig sind) sind, die ihn über das

Normalmaß zu Ruhmestaten befähigen, hat er eigentlich erst als „literarischer“ Held den

vollen und uneingeschränkten Anspruch, als solcher bezeichnet zu werden.

Vermutlich ist es letztendlich eine weitere Definition C.M. Bowras, die sämtlichen

Aspekten des Heldentums gerecht werden kann:

„Helden sind die Leitbilder menschlichen Ehrgeizes und Strebens nach der Überwindung der niederdrückenden Grenzen menschlicher Schwachheit und nach einem volleren, lebendigeren Leben, nach der weitestmöglichen Verwirklichung einer vollkommeneren Menschennatur, die es ablehnt einzugestehen, daß etwas zu schwierig für sie sei, und die selbst noch im Versagen Genüge findet – vorausgesetzt, daß wirklich jede Anstrengung gemacht worden ist.“ 20

19 Es sei unbestritten, daß dennoch auch bereits Môrolf und ganz besonders Tristan in dieser Hinsicht auf keinen Fall „Eindimensionalität“ oder ethische Perfektion zugeschrieben werden kann! Möglicherweise kann tatsächlich Tristan als einer der ersten „literarischen“ Helden der deutschen Literatur bezeichnet werden, vor allem im Hinblick auf die Haltung des Autors zum Kriegshandwerk und die Problematik des Ehebruchs. 20 Bowra, C.M.:Heldendichtung. Stuttgart 1964. S.4.

14

Page 15: Die Unmoral des Intellekts

3. Tugend und Klugheit

3.1.Tugend

Der klassische Held – das heißt, der kriegerische Held der Heldenepik, der später zum

höfischen Helden wurde – definiert sich durch das Tugend- und Wertesystem der ihn

hervorbringenden Gesellschaft. An dieser Stelle soll eine Definition des Tugendbegriffs

und der sich verändernden Bedeutung und Anwendbarkeit dieses Begriffes im 12. und 13.

Jh. unternommen werden, gefolgt von einer genaueren Untersuchung der Bedeutung der

Klugheit in diesem Tugendsystem.

3.1.1. Herrschertugend

Der Begriff der Tugend ist ebenso zentral wie komplex, bezeichnet er doch eine sich

geschichtlich wandelnde Reihe von Eigenschaften, die als Tugenden den jeweiligen

Lastern gegenüberzustellen sind. Das neuhochdeutsche Wort Tugend (mhd. tugent, ahd.

tugund(i), germ. *dugunÞi-) ist „seit alters her an taugen angeschlossen, was wohl die

Bedeutungsentwicklung mit beeinflußt hat. Ursprünglich ist das Wort wohl abgeleitet aus

dem in anord. dyggr („aufrecht, zuverlässig“) vorliegenden Adjektiv, sodaß von germ.

*duwnÞi- auszugehen ist; die Herkunft des nordischen Adjektivs ist unklar.“ 21 Das mhd.

Wort tugent bezeichnet die Tüchtigkeit, Kraft, die Tauglichkeit, Brauchbarkeit und auch

den feinen Anstand.

Der ursprünglichen platonischen Definition der Tugend fehlten religiöse Akzente. Die

klassischen vier Tugenden Platos waren Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit/Maß und

Gerechtigkeit. Erst bei Plotin und besonders in der christlichen Scholastik treten die drei

„theologischen“ Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe hinzu.22 Diese sieben Tugenden

werden nun im 13. Jahrhundert von Thomas von Aquin aufgenommen und in einem

komplexen Tugendsystem zu zehn Tugenden erweitert. So unterscheidet er zwischen den

drei intellektuellen (oder dianoetischen) Tugenden Weisheit, Wissenschaft und Erkenntnis,

21 Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Hrsg. v. Friedrich Kluge. 23.Aufl., Berlin 1995. S.840. 22 Vgl. Wörterbuch der Religionen. Begr. Alfred Bertholet in Verb. mit Hans Freiherrn von Campenhausen. 3.Aufl. neu bearb. u. hrsg. von Kurt Goldammer. Stuttgart 1976. S. 607ff.

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Page 16: Die Unmoral des Intellekts

den moralischen vier Kardinalstugenden Gerechtigkeit, Klugheit, Mäßigung und Mut, und

den theologischen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung.23

Diese philosophisch-theologischen Traditionen, die in Thomas von Aquin einen

wichtigen Zeitvertreter finden, prägten natürlich auch das traditionelle christliche

Herrscherideal mit. Dieses Ideal ist literarisch vielfältig belegt: in der lateinischen

Geschichtsschreibung des Mittelalters ebenso wie in den Krönungsordines der Kaiser und

Könige, in Herrscherakklamationen und liturgischen Gebeten, in Mahnschreiben von

Päpsten und Bischöfen, in der panegyrischen Dichtung und vor allem in den

Fürstenspiegeln. Letztere entstanden meist aus den praktischen Erfordernissen der

Prinzenerziehung und sollten den zukünftigen Regenten über seine Aufgaben und Pflichten

belehren; nach ersten Werken dieser Art am karolingischen Hof des 9. Jhs. gelangte die

Gattung ohne Kenntnis der Vorläufer im 12. Jh. zu neuer Bedeutung. 24 Während einerseits

diese Fürstenspiegel den Wandel des Herrscherideals vom frühen Mittelalter bis in die

Neuzeit belegen, wurden dennoch auch gewisse Aspekte des Herrscherbildes fast

unverändert weitergegeben.

Die wichtigsten Forderungen an den Herrscher waren, daß seine Herrschaft gerecht sei,

daß er die Verbrecher bestrafe und die Würdigen erhebe, daß er die Schwachen beschütze,

die Armen beschenke, die Kirche verteidige, im Kampf tapfer und im Urteil weise sei, gute

Ratgeber bestelle und auf Gott vertraue. Dieser Kernbestand an Forderungen, die den Rex

iustus vom Rex iniquus unterscheiden, blieb viele Jahrhunderte gültig; die Grundlage auch

des höfischen Herrscherbildes war der gerechte und friedensstiftende König. Eine weitere

Herrschertugend war die Freigebigkeit (liberalitas, largitas), die seine Tugend und seine

Majestät nach außen hin unterstrich, sei es durch Almosen und kirchliche Stiftung oder

aufwendige Bewirtung und Geschenke an seine Vasallen und Gäste.

23 Vgl. Kircher’s Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe. Hrsg. v. Carl Michaelis. 3. Neub. 6. Aufl. Leipzig 1911. S.1027ff. 24 Karolingische Fürstenspiegel sind etwa Via Regia von Smaragd von St. Mihiel, De institutione regia von Jonas von Orleans, das Liber de rectoribus Christianis von Sedulius Scottus sowie verschiedene Werke von Hincmar von Reims. Am Anfang der späteren Fürstenspiegel des 12. Jhs. steht der Policraticus von Johannes von Salisbury, der enormen Einfluß auf die Fürstenspiegel des späten 12. u. 13. Jhs. hatte – zu diesen gehören De principis instructione von Giraldis Cambrensis, De bono regimine principis von Helinand von Froidmont, Eruditio regum et principium von Gilbert von Tournai und De eruditione filiorum regalium von Vinzenz von Beauvais. Erst an der Wende vom 13. zum 14. Jh. begann auch in Deutschland die Fürstenspiegelliteratur mit den Schriften des Abtes Engelbert von Admont, De regimine principium und Speculum virtutum regalium. Vgl. Bumke, J.: Höfische Kultur. 5. Aufl. München 1990. S.382f.

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Page 17: Die Unmoral des Intellekts

Die Fürstenspiegel richten sich fast ausnahmslos an Mitglieder königlicher Familien; im

12. Jh. allerdings übertrugen sich diese traditionellen Attribute der königlichen

Vorbildhaftigkeit zunehmend auf die weltlichen Fürsten. Durch die faktische Verschiebung

der Machtverhältnisse zugunsten der Fürsten konnten diese mehr und mehr bis dahin

königliche Hoheitsrechte auch für sich selbst in Anspruch nehmen.25 So verwundert es

wenig, daß die höfischen Dichter ihre fürstlichen Auftraggeber und Gönner mit den

vorzüglichsten Herrschertugenden ausstatten und ihre Fürsten literarisch fast den Königen

gleichstellen. In der Artusepik hat dieser neue Gedanke von Gleichrangigkeit zwischen

Fürsten und König eine noch größere Signifikanz erreicht: die runde Tafel der Artusritter

betont die Gleichberechtigung aller, unabhängig von königlicher oder fürstlicher Abkunft.

Die königlichen Herrschertugenden sind zu allgemeinen Adelstugenden geworden.

3.1.2. Rittertugend

Die höfische Gesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts, für die die hier relevanten Werke

verfaßt wurden, findet ihr Heldenideal am häufigsten in der Figur des adligen Ritters. Die

Helden der höfischen Epik sind wohl große Fürsten oder sogar selber Könige, aber es ist

meist der Dienst für einen König, der die Handlung in Gang setzt. Es sei eingestanden,

daß die oben besprochenen Tugenden, die nunmehr vom Herrscher auf den Fürsten

übergegangen waren, nicht ohne weiteres zum Begriff des Ritters gestellt werden können.

Der Begriff des Ritters bezeichnete eben ursprünglich nicht den Adeligen, sondern einfach

den Soldaten oder Krieger, der vor allem durch seine Dienstgebundenheit an seinen Herrn

gekennzeichnet war. Das Wort rîter oder ritter26 ist in der ahd. und mhd. Literatur vor

1060 nicht zu finden, vielmehr sind es Wörter wie recke, wigant, degen, krieger oder

striter, die den kämpfenden, kriegerischen Helden bezeichnen. Die nüchterne, keinesfalls

heldenhaft gefärbte Verwendung des Wortes rîter beschreibt bis zum Ende des 12. Jhs.

sowohl Kriegsleute zu Pferd als auch das Fußvolk und wurde sogar vom Kriegsdienst

losgelöst als Bezeichnung für einen wehrbaren Diener am Hofe eines Herrn verwendet.

Eine Loslösung von der bloßen militärischen Bedeutung ist zuerst für das Adjektiv

rîterlich zu beobachten, das schon um 1170 in der Bedeutung „stattlich, schön, prächtig“

25 Bumke, J.: Höfische Kultur. 5. Aufl. München 1990. S.389. 26 Das ursprüngliche Wort rîter wird ab 1175 neben der neuen Form ritter ohne Bedeutungsunterschied verwendet. Vgl. Bumke, J.: Studien zum Ritterbegriff im 12. u. 13. Jh. Heidelberg 1964.

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Page 18: Die Unmoral des Intellekts

zu finden ist.27 Erst die Rezeption der Epen Chretiens de Troyes veränderte den höfischen

Ritterbegriff in der deutschen Literatur, und seit den Werken Hartmanns war jeder Fürst

und jeder König, von dem die höfische Dichtung erzählte, „der allertiureste man, der

rîters namen ie gewan.“ 28 Das Phänomen des adeligen Rittertums ist somit nicht so sehr

sozialgeschichtlich als vielmehr ideologisch zu erfassen.

Von 1180 bis 1250 zählt Joachim Bumke in seiner Arbeit zum Ritterbegriff des

12./13.Jhs in der deutschen epischen Literatur dann allerdings mehr als sechstausend

Erwähnungen des Wortes rîter oder seiner Komposita!29 Diese Untersuchung belegt

eindrucksvoll den Wandel, den der Begriff des Ritters zu dieser Zeit erfuhr: „die

auffallende Beliebtheit, die das Wort Ritter zwischen 1180 und 1250 gewann, kann nur

durch eine Veränderung des Gefühlswertes infolge einer vollkommen neuen

gesellschaftlichen Einschätzung der Ritterschaft erklärt werden. Ein Wort, das zunächst

nur ganz nüchtern „Soldat“ bedeutete, nahm den Gefühlswert all dessen an, was tapfer,

edelmütig, vornehm und höfisch war, und wurde fortan zur Benennung von Königen und

Adligen benutzt.“30

Das Wort rîter, ursprünglich ein wertneutraler militärischer Begriff, wird im späten

Mittelalter zum Adelsprädikat.31 Diese deutliche Wandlung steht auch im Zusammenhang

mit der moralischen Rechtfertigung des Waffengebrauchs von kirchlicher Seite – als

milites Christi in Kreuzzügen oder in der Gottesfriedensbewegung. 32 „Erst als man

begann, den Gebrauch der weltlichen Waffen moralisch zu rechtfertigen, wurde aus dem

adeligen „Krieger“ ein „Ritter“.“33 Dieser Wandel auch der theologischen Sichtweise des

Kriegshandwerkes berührt auch die besprochene Veränderung des Heldenbildes im 12. Jh..

Das Ideal des kriegerischen Helden wandelt sich zum Bild des Ritters, dem auch

Barmherzigkeit und soziales Empfinden ein Anliegen sind, und zugleich verändert sich die

Bezeichnung dieses Helden. Es fand in dieser Epoche offensichtlich nicht nur ein Wandel

27 Bumke, J.: Höfische Kultur. 5. Aufl. München 1990. S.67. 28 Hartmann von Aue: Iwein 1455-56. 29 Bumke, J.: Studien zum Ritterbegriff im 12. U. 13. Jh. Heidelberg 1964. S.?? 30 Winter, J.v.: Rittertum. Ideal und Wirklichkeit. München 1969. S.18. 31 Aber: „Der Rittertitel, den man mit der Schwertleite erwarb, war für die Söhne aus hochadeligem Geschlechtern keine Rangbezeichnung, sondern ein Ehrenname.“ Bumke, J.: Höfische Kultur. 5. Aufl. München 1990. S.69. 32 Bernhard von Clairvaux bediente sich in einem Kreuzzugsaufruf an die Ostfranken und Bayern im Jahre 1146 des beliebten Wortspiels militia-malitia, das die „Ritterschaft Christi“ der „weltlichen Schlechtigkeit“ der gewalttätigen, sich gegenseitig bekriegenden Ritterschaft gegenüberstellt. Vgl. Bumke, J.: Höfische Kultur. 5. Aufl. München 1990. S.405. 33 ebd.. S.68.

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Page 19: Die Unmoral des Intellekts

der Wortbedeutung statt, in dem Sinne, daß ein konstanter topos – ein lobenswerter Held –

mit einem neuen, früher wertneutralen Wort als „Ritter“ bezeichnet wird; vielmehr

wandelte sich auch das Idealbild des Heldentyps selbst, das zuvor als kriegerisches Ideal

jahrhundertelang relativ konstant geblieben war.34

Man steht also bei der Untersuchung des Heldenbegriffs und seiner Tugenden des 12.

und 13. Jhs. vor einigen Herausforderungen, bevor noch der weitere Wandel zum listigen

Helden untersucht werden kann. Trotz aller Komplexität kann aber doch geschlossen

werden, daß es wohl die Rittertugenden gewesen sein dürften, die am ehesten die Helden

der epischen Literatur des späten 12. u. 13. Jhs. definieren können. Fast ausnahmslos sind

die Helden der epischen Literatur dieser Epoche „Ritter“, wie erwähnt zwar meistens selbst

Fürsten, aber doch weit entfernt vom statisch ruhenden Ideal des Herrschers wie König

Artus. Der „Heldenkönig“35, der nach vergangenen Heldentaten und Erringung seines

Reiches als ruhender Pol mit seinem Hof Ausgangs- und Bezugspunkt der Abenteuer des

„Junghelden“, oder sogar eines auserwählten „Königshelden“ darstellt, eignet sich auch

nur begrenzt als agierende Hauptperson erzählender Heldenepik. Der frühe König Rother

stellt wegen seiner Entstehungszeit und des Genres des „Spielmannepos“ bei den

behandelten Werken eine Ausnahme davon dar, es sei auch erwähnt, daß auch der König

Artus im Daniel des Strickers als späterer Vertreter in seiner Aktivität ganz und gar nicht

dem tradierten Motiv des statischen Königs entspricht. Der Pfaffe Amis des Strickers

nimmt hier natürlich ebenfalls eine Sonderstellung ein, aber immerhin kann das Werk als

„Anti-Ritterroman“36 zumindest als Kontrafaktur auf dieses Genre miteinbezogen werden.

Erklärbar wird das Phänomen des Auftretens des „Ritters“ in der Epik natürlich durch

den Bedeutungszuwachs, den der niedere Adel und die Ministerialität in der Zeit um 1200

erfährt; es treten nicht nur mehr und mehr Mitglieder dieser Gruppen als Mäzene und

Literaturförderer auf, sondern teilweise sind es sogar Angehörige dieses sozialen Standes,

die als Autoren in Erscheinung treten. Man denke an Hartmann von Aue und Wolfram von

Eschenbach, die sich selbstbewußt als Ritter titulieren und für ein entsprechendes

Publikum schreiben.

34 Vgl. Schwietering, J.: Der Wandel des Heldenideals in der epischen Literatur des 12. JH.s. In: Philologische Schriften. Hrsg. von F. Ohly und M. Wehrli. München 1969. S. 304-313.. 35 Vgl. Birkhan, H.: Germanen und Kelten bis zum Ausgang der Römerzeit. Wien 1970. S.578. 36 Vgl. Rosenhagen, G.: Der Pfaffe Amis des Strickers. In: Festgabe für Gustav Ehrismann. Berlin-Leipzig 1925. S.149. Außerdem: Könneker, B.: Strickers Pfaffe Amis und das Volksbuch vom Ulenspiegel. In: Euphorion 64 (1970) S.245.

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Page 20: Die Unmoral des Intellekts

Der Tugendkanon, dem ein Ritter folgen sollte, definiert sich demnach stark aus dem

theologischen Konzept des miles Christi. Vor allem Barmherzigkeit und der Schutz der

Schwachen, der sprichwörtlichen Witwen und Waisen, zählen zu den wichtigsten

Voraussetzungen. Im deutschen Sprachraum ist Thomasin von Zirklaere einer der

bedeutendsten Verfasser einer späten Tugendlehre: „Der Waelsche gast“, verfaßt um 1215.

Er zeichnet, wie die Kreuzzugsprediger vor ihm, ein düsteres Bild des status quo der

Ritterschaft: Faulheit, Prunksucht und sinnlose Fehden kennzeichneten den Ritter, der

seine Ritterpflichten vergessen habe:

„Wil ein rîter phlegen wol des er von rehte phlegen sol, sô sol er tac unde naht arbeiten nâch sîner maht durch kirchen und durch arme liute. Der rîter ist vil lützel hiute Die daz tuon: wizzet daz, swerz niht entuot, ez wære baz daz er ein gebûre wære, er wære got niht sô unmære. Ir sult daz für wâr wizzen, im wirt sîn rîterschaft verwizzen, swer sîn rîterschaft sô hat daz er nien gît helfe unde rât. Er wird dar umbe ouch gemuot, der dem man unrehte tuot. Dâ bî muget ir wizzen wol Waz ouch dem geschehen sol Der selbe unrehte tuot: Ich wæn er wirt noch mêr gemuot. (V.7801-7820)37

Vereinfacht gesprochen ist es das Fundament der Nächstenliebe und christlichen Gebote,

das die Grundlage des ritterlichen Tugendsystems darstellt. Passend zum Status des Ritters

als Dienender war die Demut die höchste Rittertugend, die eben auch Barmherzigkeit und

Mitleid einschloß. Zugleich ist es die damit verbundene triuwe, die Treue und Bindung an

den Lehensherren, die den Dienst des Ritters am Mitmenschen im allgemeinen und an

seinem Herren im besonderen kennzeichnet. Die triuwe bezeichnete die Aufrichtigkeit und

Festigkeit der Bindungen zwischen Menschen überhaupt, das Einhalten sittlicher

Verpflichtungen und Regeln – also ein Punkt, den der Typ des listigen Helden mehr und

mehr in Frage stellen wird. Weiters waren es die sittlichen Tugenden der kiusche (nicht

Keuschheit, sondern Reinheit des sittlichen Verhaltens) und die allgemeinen, vom antiken

37 Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria. Hrsg. von H. Rückert. Berlin 1965. S.212f.

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Page 21: Die Unmoral des Intellekts

Tugendkanon geläufigen Begriffe der mâze und staete – temperantia und constantia –, die

für den Ritter wichtige Eckpfeiler ehrhaften Verhaltens darstellen sollten. Es braucht nicht

besonders erwähnt zu werden, daß zu diesen religiösen Tugenden auch die Anforderungen

kommen, die seit jeher an die Kriegerkaste gestellt wurden. Die „religiösen“

Ritterpflichten sollten möglichst gut mit höfisch-weltlichen Motiven des Rittertums wie

Frauendienst und hövescheit im allgemeinen in Einklang gebracht werden; wenn dies in

der Realität auch schwierig war, so ist dieses hehre Ziel doch in den Idealhelden der

höfischen Dichtung verwirklicht. „Der eigene Charakter des höfischen Ritterbildes wird

besonders deutlich in der Verbindung von Tugendforderungen mit Vorschriften des

gesellschaftlichen Verhaltens. Der Ritter sollte nicht nur Weisheit, Gerechtigkeit,

Mäßigung und Tapferkeit besitzen, er sollte nicht nur vornehm, schön und geschickt in den

Waffen sein, sondern er sollte auch die feinen Sitten des Hofes beherrschen, die Regeln des

Anstands und der Etikette, die richtigen Umgangsformen, den guten Ton, vor allem

gegenüber den Damen. Die Dichter haben die höfische Anstandslehre mit den Begriffen

zuht und vuoge umschrieben.“38

Aus diesen Anstandsbegriffen, aus dem Befolgen all dieser Tugendvorschriften

resultierte die êre, ein Zentralbegriff der höfischen Literatur, der behelfsmäßig etwa mit

„gesellschaftlichem Ansehen“ übersetzt werden kann. In der Welt der höfischen Helden

erfordert es die êre, daß der Ritter sowohl den Geboten der christlichen Religion als auch

den Erwartungen der Gesellschaft gerecht werden muß. So ist es denn auch meist ein

spezifisch gearteter Tugenddefekt des jeweiligen Epenhelden, der die Wiederherstellung

der verlorenen êre verlangt, wofür die Form des doppelten cursus das entsprechende

literarische Schema vorlegt – der Held macht sich eines Verstoßes gegen die Rittertugend

schuldig, seine êre ist beschädigt, im Verlauf der âventiure erringt er wieder den Anspruch

auf êre und kehrt als Besserer, als Idealtyp des höfischen Ritters zurück. In der Welt des

klassischen höfischen Helden funktioniert dieses System; der listige Held nimmt eine in

Bezug auf den Begriff der êre problematischere Position ein, da mit ihm eine Tugend in

das System aufgenommen wird, die das klassische Heldenideal nicht derart zentral

berücksichtigt: die Klugheit.

38 Bumke, J.: Höfische Kultur. 5. Aufl. München 1990. S. 425.

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Page 22: Die Unmoral des Intellekts

3.2. Klugheit, Weisheit, List

„Die Klugheit steht zwischen Einsicht (Verständigkeit, Wissen um das Richtige und

Zweckmäßige) und Weisheit. [..] Sie ist nicht so theoretisch wie die Einsicht, aber auch

nicht so abgeklärt wie die Weisheit.“39 Thomas von Aquin, bei dem die Klugheit

(prudentia) eine besondere Stellung einnimmt, sagt sogar: „Jede Tugend ist notwendig

klug.“ Klugheit, von mhd. kluchheit, klukeit von kluoc (<12.Jh., übernommen aus mndd.

klōk, mndl. cloec, vorauszusetzen ist germ. *klōka-, das aus *klokka- vereinfacht sein

könnte40) in der eigentlichen Bedeutung „fein“, „zart“, von Wolfram v. Eschenbach schon

als „behend“, „gewandt“, „listig“, „gescheit“ ausgelegt41, ist allgemein „..die natürliche

Begabung, zur Erreichung eines Zweckes die geeigneten Mittel zu erkennen und

anzuwenden. [..] Klugheit ist nicht dasselbe wie Bildung, wohl aber eine von deren

Voraussetzungen.“42

Der Philosophie war die Klugheit seit Aristoteles ein deutliches Strukturelement,

insofern, als das Gute das Kluge ist; seit Augustinus wird bis zum Hochmittelalter vor

allem der „supernaturale“ Charakter der Klugheit hervorgehoben.43 Im Hochmittelalter

nehmen Bonaventura und Thomas von Aquin bestimmende Rollen in der Untersuchung

der Tugend der Klugheit ein. Während Bonaventura den entscheidenden Auftrag der

Klugheit in der Betrachtung der göttlichen Dinge in ihrem Licht und im Ausrichten allen

Denkens allein auf das Göttliche sieht, bezieht sich Thomas von Aquin mehr auf Bereiche

der konkreten Wirklichkeit menschlichen Handelns. Demnach ist sie eine vorausblickende

Fähigkeit, welche „die erst noch kommenden oder eintreffenden Unsicherheiten und

Fraglichkeiten des Lebens sorgsam zu erwägen sucht. [..] Demzufolge kann auch der

Mensch als klug bezeichnet werden, der „bene ordinat actos suos ad finem“. [..]

Wichtigstes Element der Tugend ist die Befähigung zur Vorausschau, insofern ja die

39 Wiedmann, F./Biller, G.: Klugheit. In.: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von J. Ritter u. K. Gründer. 4. Aufl. Basel/Stuttgart 1976. 857. 40 Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Hrsg. v. Friedrich Kluge. 23.Aufl., Berlin 1995. 452. 41 Stoeckle, B.: Klugheit. In.: Lexikon des Mittelalters. Hrsg. von R.-H. Bautier u. R. Auty. Bd. 5. München, Zürich 1991. S.1229. 42 Klugheit. In: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 1955 S. 349. 43 Stoeckle, B.: Klugheit. In.: Lexikon des Mittelalters. Hrsg. von R.-H. Bautier u. R. Auty. Bd. 5. München, Zürich 1991. Sp.1229.

22

Page 23: Die Unmoral des Intellekts

künftigen Möglichkeiten und kontingenten Handlungen mit dem menschlichen Lebensziel

zusammenhängen.“44

Die Klugheit ist als Thema und Motiv im populären und didaktischen Erzählen seit jeher

weit verbreitet; in einigen Gattungen dienen die Texte selbst als Vehikel für die

Vermittlung von Klugheit, etwa in den Sprichwörtern und Fabeln – anhand eines Beispiels

soll der Leser oder Zuhörer an Lebensklugheit gewinnen. In den Volksmärchen, im

Schwank und Schwankmärchen, im Tiermärchen und auch im Witz aber besitzt die

Darstellung klugen Handelns auch kompensatorischen Charakter; meist ist der Kluge der

ansonsten Unterlegene, der Schwächere, der den Starken und Mächtigen durch seine

Klugheit überwindet. Am bildhaftesten ist dieser Gedanke der ausgleichenden

Gerechtigkeit, der Korrektur der ungerechten Verhältnisse in der Figur des Däumlings und

seiner Abwandlungen45 ausgeprägt. Der Held ist hier tatsächlich ein körperliches Nichts,

nur seine überlegene Klugheit läßt ihn letztendlich siegen. Die Unterlegenheit des sozial

Schwächeren wird im Volksmärchen durch die Körpergröße des Protagonisten besonders

anschaulich gemacht; bekannterweise sind es auch dementsprechend meist die Riesen und

Unholde, die trotz ihrer Kraft und wegen ihrer Dummheit dem Helden unterliegen. Oft

sind es auch Frauen und Kinder, als familiär und sozial auch innerhalb der bäuerlichen und

bürgerlichen Gesellschaft Schwache, die durch ihre Klugheit hervorstechen.

In den volkstümlichen Gattungen des Märchens und des Schwanks ist die Klugheit des

Schwächeren ein weitverbreitetes und beliebtes Thema; das Publikum dieser Botschaft, das

Volk weitab von Fürstenhof oder Besitz, sah sich ja auch in der Situation des sozial und

politisch Schwächeren. Die aufmunternde Botschaft dieser Geschichten war es

folgerichtig, daß Klugheit standesungebunden sei und daß der, der klug ist, auch die

Starken und Mächtigen überwinden kann – nicht im Sinne sozialer Revolution, sondern im

Kontext der alltäglichen Lebensbewältigung. So ist es denn auch die sprichwörtliche

„Bauernschläue“ eines Markolf, dessen derbe Alltagsklugheit im Dialog mit den

hochgestimmten Weisheiten des Salomon die Lacher auf ihrer Seite hat.46

Die Weisheit nimmt zwar einen ethisch höherstehenden Rang als die Klugheit ein, muß

sich aber, nicht nur im Falle des erwähnten Dialogs zwischen Salmân und Markolf, den

44 ebd., Sp.1230 45 KHM 37, KHM 45 46 Zum Dialogus Salomonis et Marcolfi später mehr.

23

Page 24: Die Unmoral des Intellekts

Vorwurf einer gewissen Weltfremde und Abgeklärtheit gefallen lassen. Weisheit ist im

Unterschied zur Klugheit die menschliche Grundhaltung, die auf einer allgemeinen

Lebenserfahrung und einem umfassenden Verstehen und Wissen um Ursprung, Sinn und

Ziel der Welt und des Lebens gründet. Wer Weisheit besitzt, muß demnach klug sein und

ethisch gebildet; der Kluge hingegen kann sehr wohl ohne diese ethischen Schranken

Nutzen aus seiner Begabung ziehen, wird aber ohne diese nicht zum Weisen. Diese

Divergenz von Klugheit und Ethik, oder spezifischer: liste und êre, ist es auch, die später

im Schwank- und Schelmenroman bisweilen geradezu zu einer Unmoral des höheren

Intellekts führt.

In diesem ambivalenten Bereich eröffnet sich, nach Definition Max Webers, der

Unterschied zwischen wertrationalem und zweckrationalem Handeln:

„Wertrational handelt, wer ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen handelt im Dienst seiner Überzeugung von dem, was Pflicht, Würde, Schönheit, religiöse Weisung, Pietät oder die Wichtigkeit einer „Sache“ gleichviel welcher Art ihm zu Gebote scheint. Stets ist [..] wertrationales Handeln ein Handeln nach „Geboten“ oder gemäß „Forderungen“, die der Handelnde an sich gestellt glaubt. [..] Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen [....] gegeneinander rational abwägt. Die Entscheidung zwischen konkurrierenden und kollidierenden Zwecken und Folgen kann dabei ihrerseits wertrational orientiert sein: dann ist das Handeln nur in seinen Mitteln zweckrational. Oder es kann der Handelnde die konkurrierenden und kollidierenden Zwecke ohne wertrationale Orientierung an „Geboten“ und „Forderungen“ einfach als gegebene subjektive Bedürfnisregelung in eine Skala ihrer von ihm bewußt abgewogenen Dringlichkeit bringen und darnach sein Handeln so orientieren, daß sie in dieser Reihenfolge nach Möglichkeit befriedigt werden.“47

Bei den zu untersuchenden listigen Helden der epischen Literatur des 12./13. Jhs. finden

sich nun beide Typen des zweckrational Handelnden; die unbedingte Forderung des wert-

rationalen Handelns im Dienste der êre wird differenziert. Deshalb versagt zum Beispiel

im Daniel des Strickers auch Parzival beim Kampf mit dem Alten, weil er, dem ritterlichen

Ehrbegriff folgend, sein Glück im Zweikampf versuchen will, anstatt wie Daniel die

spezifischen Schwächen seines Gegenspielers zu erkennen und dementsprechend zu

handeln – der Stricker demonstriert somit die Überlegenheit des listigen Helden über den

klassischen Helden der höfischen Literatur schlechthin. Man könnte vereinfachend sagen:

der Zweck heiligt die Mittel. Denn meist sind es noble, ehrhafte Zwecke, aber die ethische

47 Weber, M.: Soziologische Grundbegriffe. In: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Hrsg. von J. Winkelmann. Bd. 1. Berlin 1964. S.18. Hervorhebungen von mir.

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Page 25: Die Unmoral des Intellekts

Ambivalenz des listigen Helden verstärkt sich in der Literatur bis hin zum

Schelmenroman immer mehr. Listigkeit, und mit diesem Begriff soll jenes zweckrationale

Handeln nun umrissen werden, hat bereits früh auch eine negative Konnotation – durch sie

kann zwar ohne direkte Gewalt operiert werden, aber unter Umständen wirkt sie weit

vernichtender. „Die breite Seite der Gewalt wird durch die Spitze der List angegriffen.“48

Von der Klugheit unterscheidet sie, daß mit ihr oft die „Freude am Bösen“49 zu

Skrupellosigkeit und Betrug ausartet; mit einer vereinfachenden Formel kann festgehalten

werden, daß Klugheit zwar Voraussetzung für Weisheit als auch List ist, aber mit jeweils

umgekehrten ethischen Vorzeichen. Natürlich wird sich an den listigen Helden, die im nun

folgenden untersucht werden sollen, diese Einteilung nur graduell nachweisen lassen,

immerhin handelt es sich bei den zu untersuchenden Figuren noch um Helden im

allgemeinen, denen die List als weitere Tugend zugedacht wurde. 50

Das neuhochdeutsche Wort List läßt sich nun aber keinesfalls als Synonym zu mhd. liste

setzen; heute bezeichnet „List“ eine „Eigenschaft, die darin besteht, daß zur

Verwirklichung von Plänen und Absichten geschickte Täuschung eingesetzt wird“, oder

einen „geschickt ausgeklügelten Plan, mit dem durch Täuschung eines anderen ein

bestimmtes Ziel erreicht werden soll.“51 Schon bei Konsultierung des Deutschen

Wörterbuchs der Brüder Grimm zeigt sich, daß der heutige Sinn eine

Bedeutungsverengung erfahren hat:

„List, das was man kann, Kenntnis einer Sache und Fertigkeit sie anzuwenden; mit dem alten Kunst identisch und namentlich auch in der Bedeutung der heutigen Wissenschaft gebraucht. [..] List, in engerem sinne, der einzelne Kunstgriff, kluge Anschlag, die kluge Maßregel [..] List, die Klugheit, Weisheit selbst, auch die göttliche [..] häufiger aber die Schlauheit, das hinterhaltige rechnen zu Gunsten eines eigenen Vorteils, eine Bedeutung, die schon in der alten Sprache Boden gewinnt [..]“

48 Hegel, G.W.F.: Jenenser Realphilosophie 2. Hrsg. von J. Hoffmeister. Leipzig 1932. S. 199. 49 So der Titel einer Arbeit W. Röckes zum Schwankroman. Röcke, W.: Die Freude am Bösen. München 1987. 50 Der verblüffend einfach erscheinenden Lösung Gudula Dinsers, daß die List „genau einer der wichtigsten mittelalterlichen Tugenden: der mâze“ entspreche, kann ich mich nur sehr bedingt anschließen. Dinser zieht in ihren Untersuchungen zu König Rother den durchaus einsichtigen und offensichtlichen Schluß, daß die List einer „vernunftgemäßen und realistischen Einschätzung von Situation und gegebenen Umständen“ entspringt – stellt dies anschließend allerdings als „Mittelweg zwischen zwei Lastern“, und somit als die Tugend der mâze dar. Meines Erachtens ist diese Interpretation als Vereinfachung sowohl des Begriffes der mâze als auch des listigen Handelns zu ungenau. Listiges Handeln bewegt sich nicht nur zwischen abzulehnenden Extremen – das trifft auch auf allgemein umsichtiges, weises und kluges Handeln zu – sondern berechnet schon im Vorhinein die zu erwartenden und erwünschten Reaktionen in Bezug auf einen zu erfüllenden Zweck. Vgl. Dinser, G.: Kohärenz und Struktur. Köln 1975. S.16. 51 Bockhaus Wahrig. Deutsches Wörterbuch in 6 Bänden. Bd. 4. Hg. v. Gerhard Wahrig, Hildegard Krämer und Harald Zimmermann. Stuttgart 1982. S.498.

25

Page 26: Die Unmoral des Intellekts

Und weiters:

„Das Wort „List“ ist eine Bildung zu dem starken Verbum got. leisan, erfahren und bedeutet zunächst allgemein das Erfahren, Kennen oder die Kenntnis; wenn aber, wie vermutet ward, jenes Verbum leisan die ursprüngliche Bedeutung des Nachgehens, Spürens hatte, so ist List, got. lists, in der Entwicklung seines Sinnes wie das griech. methodos verlaufen, welches auch von dem Begriffe des Nachgehens und Nachspürens zu der Forschung, der Kunst und schließlich der Schlauheit und Täuschung gelangte.“ 52

Bis 1200 wird auch das Maskulinum liste synonym mit kunst verwendet und es

umschließt somit im allgemeinen das erlernte Wissen, etwa auch zur Technik, der

Kriegsführung und zu Kult und Zauber. Gleichzeitig existierte aber auch die Bedeutung,

die heute dem Wort List zugeordnet wird, wobei die positive Bedeutungsebene aber ab

1200 mehr und mehr von kunst vereinnahmt wird. In den zu behandelnden Werken wird

das Wort liste und sein Wortfeld zum größten Teil in bedeutungsneutraler, meist sogar

positiver Akzentuierung verwendet, wobei der Aspekt der Täuschungsabsicht in vielen

Fällen die Synonymität zu kunst durchaus bereits in Frage stellt.53 Wolfgang Jupé stützt

seine Untersuchung des Listmotivs im Tristan auf die Definition in Meyers Konversations-

Lexikon von 1896:

„List. Die Geschicklichkeit, seine Zwecke durch sorgfältig versteckte Mittel zu erreichen, ist dann zu rechtfertigen, wenn sie durch erlaubte Mittel einen erlaubten Zweck, keineswegs aber, wenn sie einen erlaubten Zweck durch unerlaubte Mittel (Hinterlist), oder einen unerlaubten Zweck durch unerlaubte Mittel (Arglist) herbeizuführen sucht.“54

Diese weitere Unterteilung des Begriffes zeigt auch hervorragend den ethisch

ambivalenten Charakter des Grundwortes, das sich in seiner Mehrdeutigkeit auch noch in

den zu behandelnden Werken noch als bedeutsam herausstellen wird. In den meisten

Fällen ist allerdings festzuhalten, daß sich eine derartige Trennung in „erlaubten“ und

„unerlaubten“ Zweck bzw. Mittel in den Werken als durchaus komplex herausstellen wird;

die Frage der ethischen Beurteilung der Listhandlung ist in den einzelnen Werken zu

heterogen, um eine als allgemeingültig anzunehmende Grundauffassung zur Recht- oder

Unrechtmäßigkeit der Listanwendung zuzulassen. Es soll versucht werden, gerade den

52 Grimm, J. u. W.: Deutsches Wörterbuch. Bd.6. Leipzig 1885. Sp.1065ff. 53 Vgl. dazu vor allem die grundlegende Untersuchung Jost Triers, aber auch die kritische Bezugnahme Paula Scheidweilers. Trier, J.:Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes. Die Geschichte eines sprachlichen Feldes I. (Germanische Bibliothek 2, 31.) Heidelberg 1931. Scheidweiler, P.: Kunst und List. ZfdA 78 (1941) S.62-87. 54 Meyers Konversations-Lexikon, Bd.11, 5. Auflage, Leipzig 1896. Zitiert nach Jupé, W.: Die List im Tristanroman Gottfrieds von Straßburg, Heidelberg 1976. S.29, Anm.25.

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Page 27: Die Unmoral des Intellekts

Wandel der ethischen Grundhaltung zu Belangen der Klugheit und Listigkeit in der

epischen Literatur um 1200 an den ausgewählten Figuren zu zeigen.

List, so mag die für diese Arbeit relevante Definition lauten, ist der umsichtige Einsatz

von Klugheit und Täuschung, um eine Absicht durchzusetzen. Die kluge Planung und

Voraussicht ermöglicht das Vorhersehen beabsichtigter Reaktionen, aus denen dem listig

Handelnden ein Vorteil erwächst. Der Überlistete wird vom listigen Helden durch

Manipulation und Täuschung in eine Situation gebracht, die der Held vorausberechnen und

daher kontrollieren kann.

27

Page 28: Die Unmoral des Intellekts

II. Listige Helden

1. Die Wurzeln des listigen Helden

Die Freude am Gestalten von Handlungsmodellen und Figuren, die durch List definiert

sind, ist selbstverständlich und wie schon angesprochen keine Erfindung des 12. oder 13.

Jahrhunderts, listige Figuren sind vermutlich so alt wie das Erzählen selbst. Im folgenden

soll auf typologische Vorgänger und Vorbilder des listigen Helden eingegangen werden.

1.1 Mythische Vorläufer: der Trickster und die List der Götter

Bereits in den ältesten Schichten der Überlieferung, den Mythen, finden sich

Protagonisten, bei denen im Gegensatz zu den geläufigeren Typen des kriegerischen

Heldenideals der Klugheit, List und auch Verschlagenheit und Hinterlist große Bedeutung

zukommt. Die Mythen, Sagen und Märchen aller Völker kennen in der einen oder anderen

Form den Typus des Tricksters, ein „übernatürliches listiges Wesen und Personifikation

einer unberechenbaren, schelmenhaften und oft heimtückischen Macht..“55 Die Figur des

Tricksters, wie sie der amerikanische Anthropologe Paul Radin bei der Untersuchung der

Mythen nordamerikanischer Indianer auch für andere Mythenkomplexe gültig definiert

hat,56 ist weniger Gottheit als Elementarwesen, das nur zum Teil in die menschliche

Gesellschaft integriert ist.

Die Schlußfolgerungen Radins beziehen sich zwar hauptsächlich auf die Mythen der

Winnebago-Indianer Nordamerikas, lassen sich jedoch auf Trickster-Figuren aller

Mythologien anwenden: „Offensichtlich befinden wir uns hier vor einer Gestalt und einem

Thema oder Themen, die einen besonderen und dauernden Reiz und eine ungewöhnliche

Anziehungskraft für die Menschen seit den Anfängen der Zivilisation besitzen. In der

Form, die sich bei den nordamerikanischen Indianern erhalten hat und die als seine 55 Bellinger, G.J.: Lexikon der Mythologie. München 1989. S.477.

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Page 29: Die Unmoral des Intellekts

früheste und archaischste Erscheinung betrachtet werden muß, ist der Schelm in ein und

der selben Zeit Schöpfer und Zerstörer [...]. Und doch strebt er nie bewußt nach irgend

etwas. Jederzeit ist er durch Impulse, die er nicht zu beherrschen vermag, gezwungen, sich

so zu benehmen, wie er es tut. Er kennt weder Gut noch Böse, ist jedoch für beides

verantwortlich. Er kennt weder moralische noch soziale Werte, ist seinen Lüsten und

Leidenschaften ausgeliefert, und doch werden alle Werte durch seine Taten ins Leben

gerufen.“57 Der Trickster verstößt gegen die heiligsten Tabus der Gesellschaft in einer Art,

wie sie für gewöhnlich nicht einmal im Mythos in Betracht kommt. Er wirkt in seiner fast

anarchistischen Unbekümmertheit als Zerstörer, wird gelegentlich gar zum Mörder, und

doch bringt ihn sein wacher Geist, seine rasche Auffassungsgabe dazu, seinen

Mitmenschen gegenüber als Kulturbringer zu fungieren: er zeigt ihnen, wie man den

Feuerstein benutzt oder wie man Unterkünfte baut. Der Trickster erscheint so einerseits als

kulturbringender Wohltäter, andererseits aber auch als hinterlistiger Possenreißer, dessen

Späße ungeachtet menschlicher Ethik auch Schaden und Spott über seine Opfer bringen. In

der mythologischen Figur des indianischen Tricksters wird ein Wesen beschrieben, das

nicht gerade göttlich, aber dennoch übermenschlich und übernatürlich ist – „der Trickster

ist das Abbild des Menschen, der einzeln und gemeinsam mit anderen die Bruchstücke

seiner Erfahrungen aufgreift und in ihnen eine Ordnung entdeckt, die eben wegen ihrer

Ganzheit heilig ist.“58

Bei aller Komplexität, die die Götterwelten des uns eher vertrauten europäischen

Altertums von den Mythen Nordamerikas scheidet, hat sich dennoch diese uralte Figur des

Tricksters in den Aspekten einiger Götter erhalten. Trickster-Gottheiten sind ambivalente

Figuren, die wegen ihrer Hinterlist berüchtigt sind. Von den übrigen Göttern unterscheidet

sie ihre Listigkeit, die auch oft dazu verwendet wird, Zwietracht unter den Göttern zu säen

oder den Sterblichen oft grausame Streiche zu spielen. Der germanische und prominenteste

Trickster-Gott ist Loki, eine Gottheit von durchaus ambivalentem Charakter: „... er hatte

eine schöne Gestalt, aber ein böses Herz und war aller Schadenfreude voll. List und

Schlauheit zeichneten ihn vor allen anderen aus. Die Asen brachte er oft in große

Verlegenheiten, aber oft war ihnen seine Verschmitztheit nützlich.“ 59 Aber auch Odin, die

56 Radin, P.: The Trickster. A study in American Indian Mythology. London 1956. Zitate nach der dt. Ausgabe: Radin, P.: Der göttliche Schelm. Zürich 1954. 57 Ebd., S.7. 58 Pelton, D.: The Trickster in West Africa – A Study of Mythic Irony and Sacred Delight. Los Angeles 1980, S.255. Zit. nach Tolstoy, N.: Auf der Suche nach Merlin.München 1988. S.457, Anm.1. 59 Vulpius, C.A.: Handwörterbuch der Mythologie. Leipzig 1987 (Reprint der Originalausgabe von 1826). S.210.

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Page 30: Die Unmoral des Intellekts

oberste Gottheit des nordischen Pantheons, ist bekannt für seine Listigkeit, die sich

allerdings wegen seiner göttliche Weisheit weniger destruktiv als bei Loki äußert.

Immerhin galt Odin als Meister der Verkleidung und Rätselspiele, dem die Raben Huginn

und Muninn, die schlechthin listigsten Vögel, als Boten und Späher dienen.60 Der

Trickster des hellenischen Pantheons ist Hermes, Gott der Kaufleute und Reisenden, aber

auch der Schelme und Diebe; die Rolle des Kulturbringers wird in der komplexeren

griechischen Mythologie Herakles und Prometheus übertragen.61 C.G. Jung wies bereits

auf die bemerkenswerten Analogien der Tricksterfigur zum römischen Merkur hin, die

dem urtümlichen Tricksterbild sogar noch näher kommen als dies beim griechischen Gott

Hermes der Fall ist: bemerkenswert sind seine Affinität zum Gestaltwandel, seine

Zwienatur (halb tierisch, halb Gott) und seine Rolle als Heilsbringer, als Erlöser.62

Im Christentum, dessen Weltordnung eigentlich nur wenig Platz für eine Figur wie den

göttlichen Schelm des Tricksters zuläßt, finden sich Aspekte des Tricksters im Bild des

Teufels, der im Volksmärchen als listenreicher Versucher geschildert wird, der aber

natürlich wiederum durch List oder festen Glauben überwunden werden kann. Es scheint,

als wäre die Gestalt des Tricksters ein „Psychologem“, eine archetypische psychische

Struktur von höchstem Alter,63 die in den verschiedensten Manifestationen mehr oder

weniger ausgeprägt wieder und wieder erfunden und verwendet wird.

1.2. Literarische Vorläufer aus der Antike: Odysseus und Alexander

Neben den mythischen Vorläufern des listigen Helden der Literatur um 1200 gibt es

natürlich auch literarische Vorbilder, die das Bild des intellektuellen Helden mit

beeinflussen. Der prominenteste listige Held der Weltliteratur ist zweifellos Odysseus, der

göttliche Dulder der homerischen Epen. Odysseus, der Erfindungsreiche und Listbegabte,

ist in vielen Aspekten der mythischen Tricksterfigur ähnlich. „Unter den wegen ihrer

Findigkeit und Geistesgegenwart berühmten Helden ist Odysseus der vollkommenste.

Auch er ist ein großer Krieger und Führer, der sich der Listen bedient, um sich

60 Vgl. dazu auch den Raben Oswalds, der als eigentlich listiger Helfer dem Helden beisteht! 61 Vgl. dazu Kerény, K.: The Trickster in Relation to Greek Mythology. In: Radin, P.: The Trickster. London 1956. S.: 171-191. 62 Vgl. Jung, C.G.: Zur Psychologie der Tricksterfigur. In: Radin, P.: Der göttliche Schelm. Zürich 1954. 63 Ebd., S.200.

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Page 31: Die Unmoral des Intellekts

Schwierigkeiten zu entziehen, in die ihn seine eigensinnige Vorliebe für Abenteuer

gebracht hat. Das klassische Beispiel für seine Findigkeit ist sein Verhalten bei den

Kyklopen. Der einäugige Riese, der Odysseus in seiner Höhle gefangen hält und sich

endlich entschließt, ihn zu verzehren, ist ein Gegner, gegen den jede List gerechtfertigt

scheint. Aber Odysseus‘ schlimme Lage ist nur die Frucht seiner unersättlichen Neugier

und seiner Begier nach neuen Erfahrungen. Es bestand durchaus nicht die Notwendigkeit,

die Höhle zu betreten, aber Odysseus möchte gern wissen, wer auf dieser verlassenen Insel

wohnt, und er erhofft sich ein Geschenk von dem Besitzer. Nachdem er einmal gefangen

ist, zieht er das ganze Register seiner Talente, und seine Flucht ist ein Meisterstück

phantasievoller Improvisation.“64 Obwohl seine Taten im Kampf denen der großen Helden

der Ilias, Achilles und Hektor nicht gleichkommen, ist es doch die List des trojanischen

Pferdes, die den Krieg um Troja beendet, und seine Heimfahrt nach Ithaka, die in der

Odyssee geschildert wird, wäre ohne die sprichwörtliche Listigkeit des Helden nicht zu

meistern.

Odysseus, der Prototyp des klugen Menschen in der epischen Literatur und „das exemplum

schlechthin für List in antiker Mythologie“65, hat die Autoren des 2. bis 5. Jhs. zu der

Literaturgattung des Reiseromans inspiriert, wobei allerdings häufig der gerissene Berater

als Helfer des Protagonisten die listige Rolle des antiken Heroen übertragen bekam,

während die Hauptfigur einzig zum leidenden, edlen Helden gemacht wird. Von diesen

Werken ist besonders die „Aithiopika“ Heliodors66 bedeutsam, in der dem Helden als

Nebenfigur der gerissene Kalasiris beigestellt wird, sowie die „Kallirhoe“ Charitons und

Achilleus Tatios‘ „ Leukippe und Kleitophon“.67 Interessanterweise bleiben aber diese

Reiseerzählungen und auch der Odysseus als direkte Vorbilder für die listigen Helden der

mittelhochdeutschen Literatur relativ unbedeutend. Nur der Apollonius-Stoff wird ins

Mittelhochdeutsche übertragen (auch relativ spät, um 1300 verfaßt von Heinrich von

Neustadt) und auch inhaltlich und motivisch, etwa im Orendel, finden sich deutliche

Hinweise auf die Bekanntheit des Romans auch im Mittelalter. Die große Figur des

Odysseus selbst allerdings verliert in den Übertragungen des antiken Stoffes deutlich an

64 Bowra, C.M.: Heldendichtung. Stuttgart 1964. S109f. 65 Pingel, R.: Ritterliche Werte zwischen Tradition und Transformation. Zur veränderten Konzeption von Artusheld und Artushof in Strickers Daniel von dem blühenden Tal. Frankfurt 1994. S.187. 66 Vgl. dazu Winkler, J.J.: The mendacity of Kalasiris and the narrative strategy of Heliodoros‘ Aithiopika. In: Yale Classical Studies 27 (1982). S. 93-158. 67 Neuere Textausgaben dieser Werke vgl.: Im Reiche des Eros. Sämtliche Liebes- und Abenteuerromane der Antike. Hrsg. von Bernhard Kytzler. 2 Bde. München 1983.

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Page 32: Die Unmoral des Intellekts

Wichtigkeit.68 Perseus und Prometheus, zwei weitere antike Heldenfiguren, denen große

Klugheit und Listigkeit zugeschrieben wurde, blieben für die mittelalterliche Epik

weitgehend unbedeutend; lediglich der Daniel des Strickers übernimmt Teile der Perseus-

Sage. 69

Hingegen erlangte Alexander von Makedonien im Mittelalter große Bedeutung als

vorbildliche Herrscherfigur, an der auch die Klugheit besonders hervorgehoben wurde - die

berühmte Episode des gordischen Knoten zeigt immerhin geradezu exemplarisch

zweckrationales Verhalten. Alexander der Große, „eine der vielfältigsten, häufigsten

Bezugsfiguren des ganzen mittelalterlichen Denkens“,70 ist sowohl in der französischen als

auch der deutschen Epik der erste heidnisch-weltliche Held, aus Deutschland allein gibt es

bis zum 15. Jh. gegen ein Dutzend Alexander-Dichtungen. Die älteste davon ist das

Alexanderlied des Pfaffen Lamprecht um 1150, das in zwei späteren Werken, dem

Straßburger (um 1160) und dem Basler Alexander (erhalten in einer Handschrift des 15.

Jh.) wiederaufgenommen und erweitert wurde. Bedeutsam ist weiters die große

Ausgestaltung des Stoffes durch Rudolf von Ems, weiters der Große Alexander des 14.

Jhs. und die Prosafassungen, deren Beliebtheit noch Jahrhunderte überdauerte. Die

Alexanderdichtungen statten den als vorbildlich geschilderten Herrscher in auffälligem

Maße mit curiositas, Forscherdrang, einem wachen Geist und großer staatspolitischer

Klugheit aus, lassen ihn aber schließlich an seiner Hybris scheitern, das Paradies und den

Himmel zu erreichen– nach seinem unrühmlichen Tod durch Gift bleibt ihm nicht mehr

Land als sein 7 Fuß langes Grab. Neben dem vanitas-Motiv begeisterte den

mittelalterlichen Zuhörer an der Thematik wohl vor allem die Schilderung des idealen

Herrschers, des homo universalis, des Forschers, der die Welt mit unermüdlicher Neugier

durchschreitet und auslotet. Vor allem im Straßburger Alexander wird die Klugheit und

der Listenreichtum des Makedoniers hervorgestellt. Großen Raum nimmt weiters die

Beschreibung der vorbildlichen Erziehung des jungen Alexander ein, dessen Lehrer

68 In der Eneit Heinrichs von Veldeke wird zwar die Listigkeit, aber auch die Verwerflichkeit des Odysseus betont: „da mîte verriet uns der warch/ her was listich unde karch.“(V. 1137f) Im Liet von Troje des Herbort wird die List des hölzernen Pferdes überhaupt einem anderen, einem Crisius, zugeschrieben. Erst bei Konrad von Würzburg wird in einer viel späteren Bearbeitung des Troja-Stoffes den klugen Aktionen des Odysseus mehr Bedeutung zugewiesen. Als Exempelfigur hingegen wird in den Poetiken des 12. und 13. Jhs., so z.B. bei Matthäus von Vendome, Odysseus als Beispiel für die Schilderung eines klugen Menschen angeführt. Vgl. dazu Kuhn, H.: Minnesangs Wende. Tübingen 1967. S.23. Weiters: Semmler, H.: Listmotive in der mittelhochdeutschen Epik. Berlin 1991. S.9f. u. Anm.3. 69 Vgl. dazu Lecouteux, C.: Das bauchlose Ungeheuer. In: Euphorion 71 (1977). S. 272ff. 70 Wehrli, M.: Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter. 3. Aufl. Stuttgart 1997. S.193.

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Page 33: Die Unmoral des Intellekts

immerhin Aristoteles war, ein Motiv, das etwa bei der Beschreibung der Erziehung

Tristans wahrscheinlich noch mitschwingt.71

1.3. Literarische und volkstümliche Vorläufer: Unibos

Ein listiger Held, der weniger heroischer, aber umso mehr schwankhafter Natur ist, ist

der Bauer Einochs, der aufgrund des glücklichen Umstandes der schriftlichen Tradierung

exemplarisch als Vorläufer des listigen Helden in der ansonsten weitgehenden nicht

tradierten volkstümlichen mündlichen Erzähltradition genannt werden soll. Bei der

Schwanknovelle von „Unibos“, überliefert in einer einzigen Handschrift72, handelt es sich

um ein mittellateinisches Werk von 216 Versen; die Handschrift, in der uns das Werk

überliefert ist, entstammt dem 11. Jahrhundert, vermutlich ist das Werk selbst aber schon

ins 10. Jahrhundert zu datieren. Entstanden ist das Werk vermutlich im niederländisch-

flämischen Gebiet, der Verfasser dürfte ein Geistlicher oder geistlich Gebildeter gewesen

sein. Die Fabel des schlauen Einochsbauern, der wegen seiner Armut spöttisch Unibos

genannt wird, ist in zahlreichen Varianten als Schwankmärchen mündlich im

niederländischen und niederdeutschen Raum vorauszusetzen; das Verdienst des Autors

besteht also darin, daß er das Märchen aus der Form mündlicher Tradition in die

buchliterarische erhob und ausweitete. Die in den Märchen-Vorformen vorhandenen Züge

wurden episch herausgearbeitet und im gesamten mit starken antiklerikalen Untertönen

versehen, ein Zug, der auch in den ebenfalls von Geistlichen verfassten Tierschwänken

begegnet.

Im Werk werden nun vier Schwänke vom Bauern Einochs erzählt, in denen er sich durch

seine Bauernschläue und Listigkeit seiner Neider, vor allem der Dorfvorstände in Gestalt

des Vogtes (prepositus), des Meiers (ville maior) und des Pfarrers (templi sacerdos),

erwehren kann. Weil der arme Bauer durch den Fund eines Silberschatzes den Neid seiner

Umwelt erregt, greift er zur List: er habe im Nachbardorf die große Summe für den

Verkauf seines einzigen Ochsenfells erhalten. Natürlich wollen es ihm die mißgünstigen

Mitmenschen gleich tun; wegen ihrer unverschämten Forderungen bekommen sie im 71 Zur Alexanderdichtung vgl. besonders Cary, G.: The Medieval Alexander. Cambridge 1967.

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Page 34: Die Unmoral des Intellekts

Nachbardorf allerdings nur Schelte und Strafe und müssen ohne Geld und Felle

heimziehen. Als sie deswegen auf Mord sinnen, lenkt sie Unibos dadurch ab, daß er seine

Frau sich scheintot stellen und durch das Blasen einer wundersamen Flöte schöner als je

zuvor wieder auferstehen läßt. Die drei Vorstände des Dorfes kaufen dem Bauern die

vermeintlich magische Flöte für viel Geld ab und erschlagen ihre Frauen – natürlich

können sie sie aber nicht mehr zum Leben erwecken. Als sie wiederum dem Betrüger nach

dem Leben trachten, präsentiert er ihnen eine Stute, die Silbermünzen ausscheidet – wieder

lassen sie sich blind vor Gier das vermeintliche Wundertier zu einem hohen Betrag

verkaufen. Nach diesem letzten Streich soll es dem Bauern aber endgültig ans Leben

gehen; er stimmt der Todesstrafe selbst zu, bittet sich aber aus, seine Todesart selbst zu

bestimmen. In eine Tonne eingeschlossen werfen sie den Bauern ins Meer; er überredet

sie noch, um sein letztes Geld ins Wirtshaus zu gehen, und versteht es, einen

vorbeiziehenden Schweinehirten zum Tausch mit ihm zu überreden. Dieser stimmt zu,

ertrinkt, und Unibos zieht mit der Schweineherde zurück nach Hause. Dort erklärt er den

erstaunten drei Feinden, er habe die Schweine am Grunde des Meeres in einem

paradiesischen Reich erhalten – worauf sich diese selbst ins Meer stürzen und damit

ertränken. Das dem mittellateinischen Werk zugrundeliegende volkstümliche Schwankmärchen

erfreute sich bereits im 10. Jahrhundert und auch noch später großer Beliebtheit, ein

Umstand, der auch durch die teilweise Aufnahme und Erweiterung des Stoffes in die

Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm als Nr. 61, „Das Bürle“, erwiesen scheint.

Mit der Figur des Unibos stellt sich uns exemplarisch also bereits beträchtliche Zeit vor

den epischen listigen Helden ein listiger Held vom Schlage eines Amis oder Môrolf dar,

der aus der märchentypischen Situation des Schwachen und Unterdrückten allein durch

seine Listigkeit und sein Wissen um die Berechenbarkeit seiner Gegenspieler erfolgreich

bleibt. Es kann als gesichert angenommen werden, daß sich zahlreiche weitere listige

Schwankhelden zur selben Zeit im Volksmärchen und in der volkstümlichen mündlichen

Erzähltradition ähnlicher Beliebtheit erfreuten.

72 Dabei handelt es sich um die Brüsseler Hs. 8176 Bl. 38b bis 42b. Zum folgenden vgl. auch Langosch, K.: Unibos. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hrsg. v. K. Langosch. Bd. IV, Berlin 1953. Sp.634-638.

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Page 35: Die Unmoral des Intellekts

1.4. Listige Antagonisten

Zusammenfassend läßt sich vorab feststellen, daß die listigen Helden des zu

behandelnden Zeitraumes um 1200 auf zahlreiche mythische, literarische und

volkstümliche Vorläufer zurückblicken können. Es scheint, als wäre die gesellschaftliche

und historische Situation um 1200 besonders geeignet gewesen, dem bekannten, in den

eben erwähnten Figuren präfigurierten Typ des listigen Helden auch in der

mittelhochdeutschen Epik als Novum zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen. Weit häufiger als das moralisch stets erklärungsbedürftige Modell des listigen Helden

erscheint allerdings schon zuvor das Bild des listigen Bösewichtes, der mit heimtückischer

List und Hinterlist dem Helden in Märchen und Epos gegenübergestellt wird. Hierbei wird

das listige Vorgehen stets als Makel, als böswilliges Umgehen der von Ehre und Ethos

gesetzten Regeln betrachtet, meistens im Gegensatz zum klassisch heldenhaften Verhalten

des Protagonisten des Kriegerideals – man denke nur an den listigen, aber dennoch

diabolisierten Genelun des Rolandsliedes des Pfaffen Konrad. Während also der Held in

der Regel als ehrbarer Krieger ohne Falsch dargestellt wird, dem sein strenges

Tugendsystem die Zuhilfenahme von List selbstverständlich verbietet, so bestärkt gerade

diese Anwendung der List das negative Bild des Antagonisten: die List als der

Gleichmacher, der die natürliche Unterlegenheit des Bösen auf heimtückische Weise

wieder wettmacht. Hierbei fällt auch die Bedeutung des mhd. Wortes liste als Zauber und

Zauberkunst wieder ins Gewicht, da die Antagonisten, die als listec beschrieben werden,

oft durchaus als Magier oder Zauberer gelten – man denke an die Märchengestalten des

bösen Zauberers und der Hexe, die mit Mut und „reinem Herzen“ bezwungen werden

können.73 Die magisch begabten Bösewichte in Volksmärchen und Heldenepik mögen

zwar nicht pauschal als „listig“ gelten können, aber ihr Handeln ist typologisch dem von

listigen Helden nicht unähnlich. Diese enge Verbindung von Zauberei und List findet sich

ja teilweise auch auf Seite der Protagonisten, besonders stark in der Figur des Môrolf, der

dämonische bzw. magische Züge trägt; aber auch im hochhöfischen Tristan zeigt sich ein

Reflex jener Wirkung, die List auf andere ausüben kann, wenn die Königin Isolde, als ihre

Tochter ihr das Anagramm Tantris – Tristan erläutert, zurückscheut und angesichts dieser

73 Vgl. als Beispiele im Märchen etwa Brüderchen und Schwesterchen KHM 11, Rapunzel KHM 12, Hänsel und Gretel KHM 15, Das Rätsel KHM 22 und Fitchers Vogel KHM 46, um nur einige zu nennen. Auch in der Heldenepik finden sich listige Magier, etwa die Kirke der Odyssee oder Klingschor im Parzival .

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Page 36: Die Unmoral des Intellekts

List sogar Gott anruft.74 Jede Listanwendung hat für jene, die überlistet werden, den

Anschein des Übernatürlichen, Wunderbaren; die Wortbedeutung von liste als Zauber zeigt

diese Konnotation am deutlichsten.

Es stellte sich zu Beginn der Arbeit die Frage, ob die prominenten Figuren des Siegfried

und Hagen des Nibelungenliedes in die Reihe der behandelten listigen Helden

aufgenommen werden sollten. Siegfried bedient sich immerhin einiger –letztendlich

fataler, siehe die Problematik des eigen man-Komplexes!– Listen, um Gunther bei der

Werbung zu helfen, und auch der dunkle Hagen läßt durchaus vorausschauende und auch

hinterlistige Verhaltensweisen erkennen. Dennoch ist keiner von beiden in besonderem

Maße durch diese Listigkeit definiert; Klugheit ist nur eine der hervorragenden Tugenden,

die den Helden zugeschrieben werden. Im Grunde sind die Helden des Nibelungenliedes

von heroischem Fatalismus geprägt, eine Einstellung, die dem Charakter des listigen

Helden fremd ist. Jene „Schicksalsgläubigkeit“, das grimmige Zusteuern auf den eigenen

Untergang wiegt schwerer als die zweckrationalen Entscheidungen, die immerhin nie die

unausweichliche Katastrophe umgehen können oder auch nur wollen. Die Figur des Hagen

von Tronje wie auch Siegfrieds – bedingt auch durch die Gattung des Heldenliedes – ist

klar dem älteren kriegerischen Heldenideal weit näher verwandt als dem ethischen

Ritterbild der Artusdichtung oder dem Ideal des listigen Helden vom Schlag eines Môrolf

oder Tristan.75 Die listigen Helden der Tierepik, insbesondere Heinrichs Reinhart Fuchs

vom Ende des 12. Jahrhunderts, sollen aus Platzgründen ebenso beiseite gelassen werden.

74 Vgl. dazu:

Diu muoter segenete sich. „got“ sprach si „der gesegene mich! Von wannen kam dir ie der sin?“V10624ff.

75 Vgl. dazu auch Bowra, C.M.: Heldendichtung. Stuttgart 1964. S.128f.

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Page 37: Die Unmoral des Intellekts

2. Allgemeine Definition des listigen Helden. Zur Auswahl der Texte Bevor nun die Textquellen und ihre Protagonisten näher untersucht werden, soll nur kurz

eine erste Definition dessen versucht werden, was später noch im Detail beleuchtet werden

soll: der listige Held. Aufgrund dieser ersten Definition wird auch die Auswahl der

gewählten Texte begründet sein, die selbstverständlich keinen Anspruch auf

Ausschließlichkeit und Vollständigkeit erheben kann. Die listigen Helden dieser Arbeit

stellen meiner Meinung nach allerdings die charakteristischsten und wichtigsten Vertreter

des Typus „listiger Held“ in der epischen Literatur um 1200 dar. Die Reihung der Texte

erfolgt in chronologischer Ordnung, die gleichzeitig auch den Wandel des Heldentyps vom

frühesten Vertreter, dem König Rother, bis zum spätesten behandelten listigen Helden,

dem Pfaffen Amis, augenscheinlich machen soll. Teilweise soll innerhalb der Kapitel zu

den wichtigsten Vertretern dabei auch auf thematisch und typologisch verwandte Texte

Bezug genommen werden. Im nun Folgenden sollen die relevanten Werke in Gattung,

Autor und Inhalt kurz vorgestellt werden.

Das Kriterium, das an die Heldentypen der vorliegenden Texte angelegt wurde, ist

grundsätzlich das der Klugheit und des zweckrationalen Handelns als

handlungsentscheidendes oder strukturelles Element. Obwohl Klugheit als eine der

Kardinals- und Herrschertugenden immer positiv bewertet wurde, so spielt sie doch als

Mittel zur Konfliktlösung in den meisten Dichtungen, die von Helden berichten, eine

relativ bescheidene Rolle. Wie bereits geschildert, ist es für das Heldenideal etwa des

Rolandslieds ursprünglich weitaus bedeutender, stark, tapfer, siegreich im Kampf und

damit den nachfolgenden Generationen ein verehrungswürdiges Vorbild zu sein. Es wird

dem Helden keineswegs Dummheit vorgeworfen, aber die Klugheit wird in diesen Texten

in bezug auf den Protagonisten einfach wenig thematisiert, es ist ganz das Ethos des

Kriegers, das in diesem Bild zum Ausdruck kommt. „Klug“ im Sinne von „absichtsvoll

und hinterlistig planend“ werden höchstens die Antagonisten, also etwa Genelun,

geschildert. Auch das besprochene „neue“ Ideal des barmherzigen Helden umfaßt nicht

zwingend das Gebot nach vorausschauendem, klugen Handeln, vielmehr ist es die

Aufforderung, durch Erfüllung der christlich-ethischen Pflichten von Barmherzigkeit und

Nächstenliebe weise zu handeln – also ein von den Rittertugenden geprägtes wertrationales

Handeln zu zeigen.

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Page 38: Die Unmoral des Intellekts

Den listigen Helden definiert das kluge Handeln nach pragmatischer Ausrichtung, das

eine neue, flexible Haltung gegenüber generellen Problemstellungen betont. Klugheit und

Listigkeit kann somit als Fähigkeit zu situationsspezifischem und damit

„realitätsgerechtem“ Interpretieren und Handeln aufgefaßt werden. Listiges Verhalten

anderer epischer Helden im einzelnen Fall erfüllt nicht die Anforderung an den listigen

Helden (oder das Werk), wesensmäßig maßgeblich durch dieses Listhandeln beschrieben

und definiert zu sein. Obwohl eine derartige Abgrenzung naturgemäß schwierig und

sicherlich auch von subjektiver Interpretation abhängig ist, sind doch die Figuren des

König Rother, des Môrolf, des Tristan, des Daniel und des Pfaffen Amis sicher diejenigen,

bei denen die Bezeichnung als „listiger Held“ ohne Einschränkung angebracht ist.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß die erwähnten Heldenfiguren zwei

bedeutende Voraussetzungen erfüllen:

– Ihr Wesen ist maßgeblich durch vernunftbetontes, abwägendes und zweckrationales

Verhalten bestimmt, d.h. List wird nicht nur vereinzelt, sondern regelmäßig und

systematisch als Manifestation des Charakters des Helden angewendet. Das Handeln wird

bewußt auf eine zu erreichende wünschenswerte Lösung abgestimmt.

– Es handelt sich bei den Figuren um die unbestrittenen Hauptfiguren des Werkes, die als

Protagonisten im Zentrum des Interesses stehen. 76

76 Was z.B. beim listigen Raben des Oswald etwa nicht der Fall ist.

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Page 39: Die Unmoral des Intellekts

III. Listige Helden der epischen Literatur des 12./13. Jhs.

In den folgenden Kapiteln sollen, nach einem knapp gehaltenen allgemeinen Überblick

zu Werk und Inhalt, die jeweiligen Helden näher untersucht und hinsichtlich ihrer

spezifischen Ausprägung des Typs "listiger Held" beschrieben werden. Ausgehend von

diesen wird im Anschluß daran eine allgemeine und systematischere Typologie des

"listigen Helden" versucht.

1. König Rother

NB. Zur Gattung der „Spielmannsepik“

Die Werke, die gemeinhin der „Spielmannsepik“ zugeordnet werden, finden ihren Platz

zwischen dem höfischen Roman und der geistlichen Epik; der problematische Kanon von

Werken umfaßt die Epen König Rother, Herzog Ernst, Salmân und Môrolf, Oswald und

Orendel; 77 die ersten beiden können als historisch-politische, die drei letzteren als

legendarische Dichtungen bezeichnet werden. Aus stilistischen Gründen können letztere

ins 12. Jh. datiert werden; die schriftliche Überlieferung beginnt allerdings erst im 15./16.

Jh. Der König Rother und Herzog Ernst sind durch Handschriften bereits im 12. Jh.

gesichert. Bei allen diesen Werken ist eine große Affinität zu Täuschungshandlungen und

zur Hervorhebung auch listigen Handelns gegeben; der wundersame und kluge Rabe

Oswalds muß sehr wohl als listige Figur in diesem Kontext erwähnt werden, obwohl der

eigentliche Held des Epos, König Oswald, selbst nicht primär durch listiges Handeln

charakterisiert werden kann.78 Wie oben ausgeführt sind es aber vor allem König Rother

77 Die früher der Gattung zugeordneten Werke Alexanderlied, Rolandslied, Graf Rudolf, Reinhart Fuchs, Dukus Horant und Flôre und Blanscheflûr werden heute im allgemeinen nicht mehr zur „Spielmannsepik“ gezählt. Vgl. Curschmann, M.: Spielmannsepik. Stuttgart 1968. S.5. 78 Der Rabe ist sicherlich neben Oswald die „Hauptattraktion“ des Werkes, das sich vor allem im Münchner Oswalt durch stark humoristische Färbung auszeichnet. Die komplexe Figur des spielmännisch anmutenden Raben erinnert so nicht nur an eine „Karikatur des Spielmannes“, sondern auch und vor allem frappant an einen weiters zu behandelnden listigen Helden, nämlich Môrolf: er ist listic, beherrscht feine Sitte und fremde Sprachen – sogar die Sprache der Meerweiber, eine weitere interessante Parallele zum Salmân und Môrolf! - genießt höchstes Ansehen bei Hof und ist, trotz seiner eindeutigen Definition als guter Christ (!), als moralisch ambivalente Figur angelegt. (Zitat aus Birkhan, H.: Geschichte der altdeutschen Literatur im Überblick II. Frühmittelhochdeutsche und vorhöfische Literatur. (Skriptum) Wien 1998. S.163.) Hier zeigt sich noch deutlich das Motiv des listigen, weltklugen Dieners und des ehrenhaften, aber listunbegabten Herren; in der „Spielmannsepik“ findet sich, wiederum einen Schritt weitergehend, im Salmân und Môrolf ein ähnliches Grundgerüst, in dem allerdings die Abenteuer des listigen Halbbruders und „Dieners“

39

Page 40: Die Unmoral des Intellekts

und Môrolf, die im Rahmen der sogenannten „Spielmannsepik“ als listige Helden par

excellence besprochen werden sollen.

Ein grundsätzliches Problem der Gattung ergibt sich nämlich bereits aus dem Namen,

wobei Curschmann sogar klagt, „daß nichts die Erforschung dieser Gruppe von Epen so

behindert hat wie ihr Name.“79 Denn die Bezeichnung des anonymen Autors als Spielmann

ist an sich so undeutlich, allgemein und mißverständlich, daß sie als Berufsbezeichnung

eigentlich ungeeignet ist. Spätestens seit Hans Naumanns „Versuch einer Einschränkung

des romantischen Begriffs Spielmannsdichtung“ (1924) sucht die Forschung, die so

heterogene Gruppe von Epen unter einer neuen Gattungsbezeichnung zu vereinen, oder

sogar diese Gattungszusammengehörigkeit in Frage zu stellen.80 „Unter „spilman“ (nach

lat. ioculator gebildet) und einem ganzen Rattenschwanz von wechselnd gebrauchten

Bezeichnungen wie „mimus“, „scurra“, „histrio“, „cantor“, „sprecher“, „videler“ usw.

[...], ist durchaus Verschiedenes und Heterogenes gemeint, wobei als gemeinsamer Nenner

nur noch der Begriff weltlich-berufsmäßiger Unterhalter bleibt.“81 Mit dieser unklaren und

unglücklich eingebürgerten Bezeichnung meinte die ältere Literaturgeschichte den dritten

dichterischen Stand neben Klerus und Adel, den man als unerläßlich für die Entstehung

eines eingeschränkten Kanons an „Spielmannsepen“ betrachtete. Die Kanonisierung

einiger Werke aufgrund (vermeintlicher?) stilistischer Gemeinsamkeiten – wie etwa der

Neigung zum Phantastischen und Burlesken, der wichtigen Rolle, die Spielmänner oft

darin einnehmen, und der charakteristischen Hinwendung an den Zuhörer – wird aber

durch die Heterogenität und den „zwischenständlichen“ Charakter des Phänomens

Spielmann in Frage gestellt. Andererseits stellt sich aber natürlich die berechtigte Frage,

welchen Zweck die „Sangbarkeit“ etwa des Salmân und Môrolf erfüllen sollte, wenn nicht

die tatsächliche Aufführung und der Vortrag – wohl oder übel durch einen Spielmann –

stattgefunden hat.

Somit bietet sich uns die Gattung und der Begriff der „Spielmannsepik“ als Problem der

Forschung dar; handelt es sich im Grunde um erzählende Literatur auf Basis mündlicher

des Königs, Môrolf, endgültig in den Mittelpunkt der Handlung rücken. Vgl. dazu auch weiter unten Kap. IV, 1.3. 79 Curschmann, M.: Spielmannsepik. Stuttgart 1968. S. 2. 80 Vgl. Naumann, H.: Versuch einer Einschränkung des romantischen Begriffs Spielmannsdichtung. Wieder abgedruckt in: Schröder, W.J.(Hrsg.): Spielmannsepik. Darmstadt 1977. S.126-144. Und: De Boor, H.: Die deutsche Literatur von Karl dem Großen bis zum Beginn der höfischen Dichtung (770-1170). 9. Aufl. bearb. v. H. Kolb. München 1979, S. 248ff. 81 Wehrli, M.: Literatur im deutschen Mittelalter. Stuttgart 1984. S. 80.

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Page 41: Die Unmoral des Intellekts

Überlieferung82, oder müssen einzelne Werke, etwa Salmân und Môrolf doch eher mit den

Legendenromanen in Verbindung gebracht werden? Es scheint als wäre es auch und

besonders die von der älteren Forschung statuierte Zusammengehörigkeit dieser fünf

heterogenen Epen unter dem unglücklichen Begriff der „Spielmannsepik“, die auch zu

ihrer literaturgeschichtlichen Isolation geführt und andere Positionierungen der einzelnen

Werke erschwert hat. Es scheint, als hätte sich die Forschung aber mangels Alternativen

dazu entschlossen, den Begriff der „Spielmannsepik“, trotz der längst erkannten

Unzulänglichkeit als Terminus weiter zu verwenden – allerdings im allgemeinen Gebrauch

unter Anführungszeichen gesetzt.

Möglicherweise fließen im nebulösen „Spielmann“ genetisch zwei Wurzeln zusammen,

einerseits das „niedere“ Volk der Mimen, die sich nach dem Untergang des römischen

Theaters in Europa verbreitet hätten, und andererseits die ursprünglich aristokratischen

germanischen Hofsänger, die als Erschaffer und Vortragende der Heldendichtung

anzusehen wären. Zu diesen Mischtypen hätten sich dann noch „Randfiguren wie

vagierende Studenten und Kleriker oder verarmte Ritter“83 gesellt. Die jüngere Forschung

allerdings vermutet für die meisten Spielmannsepen geistliche Autoren, lediglich der

Herzog Ernst wird in seiner Urfassung als Werk eines vagierenden Heldensängers

betrachtet. Dennoch waren es mit größter Wahrscheinlichkeit Spielleute, die die

abenteuerlichen Epen zum musikalischen Vortrag brachten; darauf deuten auch die

erwähnten Hinwendungen zum Publikum hin.

So kann der Spielmann als kreativer „Stand“, als Autor der „Spielmannsepik“ eigentlich

nur sehr eingeschränkt angenommen werden; die Verbreitung und vermutlich zumindest

teilweise rein mündliche Überlieferung der Werke bis zur Niederschrift wird dennoch

durch jene Spielleute geschehen sein. Wie bei mündlicher Überlieferung üblich stellt sich

die Frage nach dem schöpferischen oder rein reproduzierenden Anteil des Sängers am

Werk; die Anonymität des Dichters jedoch erklärt sich durch das Gattungsphänomen der

anonymen Überlieferung.84

82 Vollman-Profe, G.: Wiederbeginn volkssprachlicher Schriftlichkeit im hohen Mittelalter (1050/60-1160/70). (Geschichte der dt. Literatur von den Anfängen bis zu dem Beginn der Neuzeit Bd. 1). 2. Aufl., Tübingen 1994. S. 170ff. 83 Wehrli, M.: Literatur im dt. Mittelalter. Stuttgart 1994. S.82. 84 Nach Höfler erklärt sich dieses Tabu der Namensnennung in der Heldendichtung aus dem Glauben an die Wirklichkeit der alten mære. Der Dichter betrachtet sich nicht als Schöpfer, sondern nur als Wiedererzähler tatsächlich geschehener Ereignisse. Dies belegen etwa auch die Bemühungen des Autors des König Rother,

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Page 42: Die Unmoral des Intellekts

1.1. Zum Werk

Die Überlieferungslage des König Rother (5197 Verse) ist mit der Heidelberger

Handschrift H vom Ende des 12. Jhs. und einigen Fragmenten aus derselben und späteren

Zeit relativ günstig. Die Sprache des Werkes ist ein Konglomerat aus mittelfränkisch und

bairisch; diese vermutlich zweite Überarbeitung der um die Mitte des 12. Jhs. im

Rheinland entstandenen Dichtung legt ein bairisches Publikum nahe. Gab die scheinbare

Uneinheitlichkeit des Textes zu Spekulationen Anlaß, der Text sei das Werk mehrerer

unterschiedlicher Autoren,85 so ist die neuere Literaturwissenschaft inzwischen allgemein

der Meinung, daß wir es mit nur einem Autor zu tun haben.86

Während die ältere Forschung hauptsächlich die Disparität und scheinbare Inkohärenz

des Textes bemerkte, erwiesen weitere Untersuchungen im Gegenteil durchaus reflektierte

Strukturierung des Aufbaus, sowie der Geschehens-, Raum- und Figurengestaltung;

insgesamt werden dem Werk inzwischen „die Qualitäten zügigen, aktionsbetonten,

emotions- wie spannungserregenden Erzählens“ zugesprochen, „dem auch Humor, Komik

und Drastik nicht fehlen.“87

Zunächst soll eine kurze Zusammenfassung des Inhalts gegeben werden.

Der Inhalt des Werks besteht aus zwei Brauterringungsepisoden, auf die ein Anhang folgt. Die erste Brauterringung, kurz RI (1-2942), beginnt mit dem Beschluß König Rothers, dem römischen Kaiser mit Residenz in Bari, um die Hand der Prinzessin von Konstantinopel anzuhalten. Rother, dem 72 Könige unterstehen, schickt auf Anraten seines Gefolges 12 Grafen mit je 12 Rittern an den Hof des oströmischen Kaisers Konstantin, der aber alle Werber gewohnheitsmäßig hinrichten läßt. Konstantin kerkert die vorsichtig anfragenden Boten Rothers ein, und so macht sich Rother mit einem Heer auf nach Konstantinopel, um seine Gefolgsleute zu befreien und die Hand der Prinzessin selbst zu erringen. Hier setzt die erste Listanwendung ein: Vor Konstantin gibt er sich als Dietrich aus, der von König Rother vertrieben worden sei. Zu Rothers/Dietrichs Gefolge gehört

durch den Hinweis auf Pippin, den Vater Karls des Großen, die Dichtung als Wahrheit zu legitimieren: König Rother, V. 3480ff und 4779ff. 85 Vgl. die Einleitung in der Ausgabe von de Vries, J.: Rother. Heidelberg 1922. 86 Vgl. Schröder, W.J.: König Rother. Gehalt und Struktur. In.: DVjS 29 (1955), S.301-322, wieder abgedruckt in Schröder, W.J.(Hrsg.): Spielmannsepik. WdF 385. Darmstadt 1977. S. S.323-350 87 Stein, P.K.: „do newistich weiz hette getan. Ich wolde sie alle ir slagen han.“ Beobachtungen und Überlegungen zum „König Rother“. In: Festschrift für Ingo Reiffenstein. Göppingen 1988. S. 309-338. Hier S.312 Außerdem bereits bei de Boor,H.: Die deutsche Literatur von Karl dem Großen bis zum Beginn der höfischen Dichtung. 770-1170 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd.1), München 1949, 6. Aufl. 1964. S.256. und Gellinek, C.: König Rother. Studie zur literarischen Deutung, Bern und München 1968. S.74-105, die beide ein sehr positives Bild des Werkes und seiner Strukturierung geben.

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Page 43: Die Unmoral des Intellekts

auch eine Schar von Riesen, die mit ihrem Anführer Asprian, Grimme und dem berserkerhaften Witold für großes Aufsehen in Konstantinopel sorgen. Konstantin nimmt den vermeintlichen Flüchtling auf, der sich in Konstantinopel mit großzügigen Geschenken an die Bevölkerung und Ritterschaft bald beliebt machen kann, unter anderem beim Grafen Arnolt und seinem Gefolge. Konstantin mißtraut Dietrich und beginnt gleichzeitig, seinen Entschluß, die Boten Rothers einzukerkern, zu bereuen. Wenn Rother die Macht besäße, den mächtigen und reichen Dietrich zu vertreiben, dann wäre die Abweisung seines Werbens eine gefährliche Angelegenheit, wie auch Konstantins Frau rügend bemerkt (1060ff). Die Prinzessin, neugierig geworden, lädt Dietrich in ihr Gemach, was er zwar abschlägt, aber ihr dafür einen goldenen und silbernen Schuh schicken läßt, die jedoch beide an den selben Fuß passen. Die Prinzessin läßt nach den beiden fehlenden Schuhen schicken, und Rother bringt sie und legt ihr die Schuhe an. Während sie dabei vertrauensvoll und übermütig88 den Fuß in seinen Schoß stellt, entdeckt er ihr, in Wahrheit Rother zu sein.89 Sie ist beglückt, von der Identität Dietrichs und Rothers zu hören, da sie zu beiden bereits Zuneigung verspürte, und verspricht, Rother bei der Befreiung seiner Boten zu helfen; sie sind auch die einzigen, die zweifelsfrei die Identität Rothers beweisen können. Die Prinzessin erreicht durch eine List, daß die eingekerkerten Boten auf drei Tage und auf persönliche Verantwortung Rothers/Dietrichs freigelassen werden. Dazu verkleidet sie sich als Pilgerin und gibt vor, in einem Traum von ihrer drohenden Höllenfahrt erfahren zu haben; nur eine Pilgerreise oder die christliche Bewirtung der eingekerkerten Boten könne sie erretten. Rother gibt sich seinen Leuten heimlich durch drei Melodien zu erkennen, die sie als Erkennungsmerkmal vor deren Abreise vereinbart hatten. Zu diesem Zeitpunkt fällt der heidnische König Ymelot von Wüsten-Babylon mit einem großen Heer ins Land Konstantins ein. Rother bittet Konstantin um die gefangenen Boten, die an seiner Seite gegen den Heiden in den Kampf ziehen sollten, und reitet mit seinem Heer gemeinsam mit Konstantin und dessen Streitmacht dem Angreifer entgegen. Anstatt aber frontal anzugreifen, umreitet Rother mit seinen Anhängern von Konstantin unbemerkt das feindliche Lager und nähert sich von der Rückseite. Er gibt sich als verspäteter Mitstreiter Ymelots aus, der sich jetzt mit seinen Truppen dem Heer anschließen wolle, und gelangt so mit seinem Gefolge zum Zelt des Heidenkönigs. In einem Handstreich nehmen sie Ymelot gefangen und kämpfen sich mit ihm den Weg zurück zu den ahnungslos schlafenden Männern Konstantins. Somit ist das Heer Ymelots führerlos und ohne Feldschlacht geschlagen, und Konstantin bittet hocherfreut Dietrich/Rother, die Nachricht an seine Königin und die Prinzessin zu überbringen. Dietrich/Rother reitet mit seinem Gefolge zurück nach Konstantinopel und verkündet dort, daß Ymelots Streitmacht Konstantin und den Großteil seines Heeres erschlagen hätte; sie allein seien entkommen und wollten nun übers Meer den herannahenden Heiden entfliehen. Die Königin und die Prinzessin bitten darum, sich Dietrich anschließen zu dürfen; dieser lichtet aber, sobald die Prinzessin an Bord ist, die Anker und offenbart der am Ufer zurückbleibenden Königin die ganze Wahrheit. Dann fährt Rother mit seiner Braut und seinem Gefolge zurück nach Bari.

88 V2269ff:

„mich hat min ubermot bedrogen, daz ich mine voze satte in dine schoze.“

89 Zum Motiv der Schuhe und der Verwandtschaft zum kymrischen Mabinogi vgl. de Vries, J.: Die Schuhepisode im König Rother. In: ZfdP 80 (1961), S.129-141wieder abgedruckt in Schröder, W.J.(Hrsg.): Spielmannsepik. WdF 385, Darmstadt 1977. S. 398-412.

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Die zweite Brauterringung, kurz RII (2493-4995), wird nötig, als es Konstantin gelingt, mit einer List die Prinzessin zurück nach Konstantinopel zu schaffen. Ein Spielmann landet mit einem Kaufmannsschiff in Bari und behauptet, mittels magischer Kieselsteine Gelähmte heilen zu können; dazu müßte allerdings die Königin selbst den Stein auf die erkrankten Stellen legen. Als die Königin in guter Absicht das Kaufmannsschiff betritt, läßt der listige Spielmann die Segel setzen und kehrt zurück nach Konstantinopel. Als Rother von der Entführung hört, erweist er sich wiederum als vorbildhafter König, indem er die verzweifelten Bürger und den Grafen Lupold, die seinen Zorn fürchten, in keiner Weise bestraft und auch nicht für das Mißgeschick verantwortlich macht. Rother rüstet erneut für eine Fahrt nach Konstantinopel und schifft sich mit seinem Heer ein. Dort bedrängt der entflohene Ymelot erneut Konstantin, und dieser muß sich verpflichten, seine Tochter Basilistius, dem Sohn Ymelots, zur Frau zu geben. Rother läßt sein Heer versteckt in einem Wald zurück und wandert, als Pilger verkleidet, mit Lupold und Ratgeber Berchter nach Konstantinopel. Dort dringt er mit List bis zur Tafel Konstantins vor, wo gerade Hochzeit gefeiert werden soll und versteckt sich mit seinen Begleitern unter dem Tisch. Seiner Frau übergibt er heimlich als Zeichen seiner Anwesenheit einen Ring; ihr Lachen wegen der frohen Nachricht läßt allerdings Ymelot mißtrauisch werden, und schließlich müssen sich Rother und seine Begleiter zu erkennen geben. Rother bittet sich aus, in den Wäldern vor Konstantinopel erhängt zu werden; auf dem Weg zur Richtstätte greift der getreue Graf Arnolt das überlegene Heer der Heiden an und schafft es, Rother zu befreien. Dieser ruft mit seinem Horn die versteckte Heerschar mit den furchterregenden Riesen herbei, und in einer großen Schlacht besiegt Rother die Heiden. In seiner Milde entschließt sich Rother, Ymelot laufen zu lassen und Konstantinopel und den verräterischen Konstantin zu verschonen. Graf Arnolt erhält Griechenland als Lehen aus Rothers Hand, und siegreich macht sich Rother mit seinem Heer auf den Weg zurück nach Bari. Die Prinzessin gebiert Rother einen Sohn, der Pippin getauft wird, und der später der Vater Karls des Großen sein wird.90

Der Anhang (V.4990-5197) berichtet vom weiteren Leben Rothers; bei Pippins Schwertleite in Aachen, 24 Jahre nach den Ereignissen der 2. Konstantinopel-Fahrt, übergibt Rother seinem Sohn die Herrschaft. Rother und seine Gemahlin gehen in ein Kloster, um ihr Leben gottesfürchtig zu beschließen. Pippin ist ein gerecher Herrscher, aus dessen Ehe mit Bertha Karl der Große und die hl. Gertrud von Nivelles hervorgehen.

Die erste Brauterringung, RI, findet eine sehr genaue Entsprechung in der Osanctrix-

Geschichte der Vilkinga saga. In der in der Mitte des 13. Jhs. kompilierten Þidreks saga, in

der sich die Osanctrix-Version findet, sind allerdings entscheidende Unterschiede zu

bemerken, vor allem, was die Listigkeit des Protagonisten betrifft: König Osanctrix wirbt,

ganz der Rother-Handlung entsprechend, um die Tochter des Königs Melias von

Hunaland. Die Boten werden eingekerkert und Osanctrix geht unter falschem Namen in

Riesenbegleitung an Melias‘ Hof und erwirbt sich durch seine Freigebigkeit viele Freunde. 90 Diese Genealogie wird zugleich als Wahrheitsversicherung der Dichtung herangezogen: V.4785ff

„ von du ne sulit ir dit lit Den anderen gelichen nit. Wandit so manich recht hat

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Page 45: Die Unmoral des Intellekts

Als Melias Osanctrix nicht als Vasallen aufnimmt, bricht eine Schlacht aus, die mit Hilfe

der Riesen gewonnen wird. Melias flieht, und die Prinzessin ergibt sich dem Helden, als er

ihr in einer ähnlichen Schuhszene einen goldenen und silbernen Schuh anlegt. Er gibt sich

zu erkennen, versöhnt sich mit Melias und führt die Prinzessin Oda in seine Heimat. Aus

der Ehe entsteht die Tochter Erka, die spätere Gemahlin Attilas.91

Man sieht, daß die Osanctrix-Erzählung wesentlich einfacher als die entsprechenden

Stellen des König Rother aufgebaut sind. „Ein Herrscher setzt sein Verlangen nach

Verschwägerung mit Hilfe der Macht seines Heeres gegenüber einem böswilligen Gegner

durch.“92 Wohl bedient sich auch Osanctrix der List, unter fremdem Namen an Melias‘

Hof zu erscheinen, aber weil diese List eben nicht zu dem gewünschten Ziel führt –

nämlich dem Ziel, das Vertrauen des unwilligen Schwiegervaters zu erringen – kommt es

zum militärischen Schlagabtausch, in dem Osanctrix der Stärkere bleibt. Im König Rother

hingegen ist es diese gelungene Listanwendung, die ermöglicht, daß das ganze

Unternehmen der ersten Brauterringung ohne größere brachiale Gewalt gegenüber dem

Schwiegervater auskommt. Es reicht, die Macht Dietrichs und damit Rothers zu

demonstrieren – sei es durch die Freigebigkeit und Herrlichkeit Dietrichs, sei es durch die

furchterregenden Riesen, die sogar Konstantin in Angst und Schrecken versetzen.93 Die

Macht Rothers, am Hof Konstantins gegenwärtig durch die mächtigen „Vertriebenen“

Dietrich und seiner Leute, bleibt „eine Macht in potentia“94; das Hoffest, zu dem

Konstantin seine Vasallen unter Strafandrohung lädt, ist lediglich die Reaktion auf die

Anwesenheit der prachtvoll auftretenden Fremden. Durch die konsequente Anwendung der

List verschiebt sich auch die Anwendung militärischer Gewalt an eine andere Front: der

Danne ime die warheit instat.“ 91 Zur Inhaltsangabe vgl.Hünnerkopf,R.:Die Rothersage in der Thidrekssaga. In: Beiträge zur Geschichte der dt. Sprache und Literatur 45 (1921). S.291-297, wieder abgedruckt in Schröder, W.J.(Hrsg.): Spielmannsepik. WdF 385. Darmstadt 1977. S. S.85-91. Es wird in der neueren Forschung allgemein angenommen, daß die Saga eine verderbte Nacherzählung einer Quelle, aus der auch der erste Teil des König Rother schöpft, sein müsse. De Vries‘ Meinung von 1922, die Saga sei der ursprünglichere Text, ist durch jüngere Strukturanalysen widerlegt worden. Vgl. de Vries, J.: Rother. Heidelberg 1922, S.5. 92 Schröder, W.J.: König Rother. Gehalt und Struktur. In.: DVjS 29 (1955), S.301-322, wieder abgedruckt in Schröder, W.J.(Hrsg.): Spielmannsepik. WdF 385. Darmstadt 1977. S. S.340 93 Als Schlüsselstelle ist jene Episode anzusehen, in der Asprian den Löwen Konstantins mühelos gegen die Wand schleudert und tötet. (V.1151ff). Konstantin muß sich ja sogar zuvor schon gegenüber dem wütenden Asprian herausreden, er sei bereits zu betrunken und habe deshalb mit der Einkerkerung der Boten Rothers geprahlt (V1018ff):

„die rede die ich han getan Die sulder nicht zo nide han. Mich machent getrunkin mine man, daz ich hute alse en tore gan.“

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Heidenkönig Ymelot wird eingeführt. Der größte Unterschied, der sich infolge der

konsequenten Ausgestaltung des List-Motivs im König Rother ergibt, ist der Schluß von

RI: Konstantin ist nicht besiegt, sondern überlistet, zugleich aber in der Gewißheit, daß

Rother ihm überlegen ist, aber nicht beabsichtigt, seine Macht an sich zu reißen.95

Dennoch entspricht es Konstantins konsequent gezeichnetem „Charakter“, aus dieser

Einsicht keine Lehre zu ziehen; vielmehr entscheidet er sich nun, in RII ebenfalls mit List

gegen Rother zu handeln.

Die historischen Wurzeln, aus deren sagenhafter Bearbeitung sowohl die Osanctrix-Saga

als auch RI entstanden sein müssen, können entweder normannischen oder

langobardischen Ursprungs sein. Der Langobardenfürst Authari (584-590) warb um die

bayrische Prinzessin Theudelinde, die Tochter König Garibalds. Die Werbung wird

wohlwollend aufgenommen, aber Authari reist dennoch incognito an Garibalds Hof, um

unerkannt seine Braut zu sehen. Unbemerkt vom Hof streicht er ihr über Gesicht und

Hand, was Theudelindes Amme richtig als Kühnheit deutet, die nur Authari selbst

zuzutrauen ist. Theudelinde flieht vor den Franken nach Verona, wo sie Authari heiratet.

Der Name Autharis wurde später wohl durch den des berühmteren Langobardenfürsten

Rothari (636-653) ersetzt, dessen Name durch seine Tätigkeit als Gesetzgeber

hervorragend überliefert ist . Die zweite geschichtliche Parallele betrifft die Person des

Normannenfürsten Roger II, der um eine byzantinische Prinzessin warb und 1143-49

mehrere Kriegszüge nach Konstantinopel unternahm. Obwohl es, schon wegen der

Anbindung an Karl den Großen, sehr unwahrscheinlich ist, daß die Figur des Rother direkt

mit Roger II. in Verbindung zu stellen ist, so ist es doch möglich, daß die Darstellung des

Byzantinerhofes auf Berichten aus diesem oder zuvorgegangenen Kreuzzügen aufbaut.96

94 Schröder, W.J.: König Rother. Gehalt und Struktur. In.: DVjS 29 (1955), S.301-322, wieder abgedruckt in Schröder, W.J.(Hrsg.): Spielmannsepik. WdF 385. Darmstadt 1977. S. S.341 95 In diesem Licht erscheint vor allem das Motiv der Tochterverweigerung. Konstantin will in seiner Hybris keinen anderen als ranggleich anerkennen; das Prinzip der Auswahl der Braut ist aber die Ebenbürtigkeit. Für Rother kann nur die Tochter des oströmischen Kaisers würdig genug sein, da er Herr über das weströmische Reich ist. Die Verweigerung der Tochter beinhaltet also gleichzeitig eine starke politische Aussage, nachdem Konstantin Rother nicht als ebenbürtig betrachtet. Die Verweigerung, die Tochter zu verehelichen, ist im König Rother demnach m.E. nach nicht nur auf inzestuöses Verhalten nach Art Karls des Großen bezogen, sondern auch in der Literatur greifbarer Ausdruck des gespannten Verhältnisses zwischen den römisch-katholischen Fürsten und dem östlich-orthodoxen Kaisertum. „Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Heldensage, daß das politische Geschehen in „privates“ umgesetzt wird. Die Weltgeschichte wird zu einem Familienzwist.“ Schröder, W.J.: König Rother. Gehalt und Struktur. In.: DVjS 29 (1955), S.301-322, wieder abgedruckt in Schröder, W.J.(Hrsg.): Spielmannsepik. WdF 385. Darmstadt 1977. Anm 14. 96 Vgl. dazu besonders die gegenteilige Meinung Panzer, F.: Italische Normannen in deutscher Heldensage. XXX 1925. und den kurzen Aufsatz von Frings, T.: Rothari-Roger-Rothere. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 67 (1944), S. 368-370, wieder abgedruckt in Schröder, W.J.(Hrsg.): Spielmannsepik. WdF 385. Darmstadt 1977. S.245-248. Frings bringt die von Panzer abgelehnte Verbindung zu

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Page 47: Die Unmoral des Intellekts

Inhaltlich konzentriert sich der erste Teil auf die zu werbende Prinzessin, die nicht nur

das Ziel Rothers Handelns ist, sondern ebenfalls listig an der erfolgreichen Werbung

mitwirkt; im zweiten Teil richtet sich das Hauptaugenmerk des Erzählers fast

ausschließlich auf Person und Handlungsweise des Königs.97 Die zweite Brauterringung ist

zum großen Teil nach Motiven der Salomo-Sage, wie sie uns noch bei Salmân und Môrolf

begegnen wird, entwickelt. Dennoch ist diese zweite Ausfahrt typologisch eng auf RI

bezogen, wobei sich allerdings ein bemerkenswerter Gegensatz zu RI feststellen läßt.

Rother zieht in RII nicht mit wenigen Getreuen, sondern sogleich mit einem großen Heer

nach Konstantinopel; er tritt als Pilger statt als Krieger auf; er versteckt sich, anstatt offen

aufzutreten; er wird im Gegensatz zu RI frühzeitig erkannt; er besiegt Ymelot nicht mit

List, sondern in offener Schlacht und er entführt seine Gattin nicht wieder, sondern erhält

sie von ihrem Vater. Es handelt sich bei RII also um eine Wiederholung der Struktur bei

gleichzeitiger Umkehr der Motive.98

Das Motiv der List ist von dieser Umkehrung in besonderer Weise betroffen; glückt in RI

die List Rothers ohne größere Schwierigkeiten, so erscheint dem Hörer in RII die

Verkleidung und folgende Entdeckung Rothers am Hochzeitstisch Ymelots als

bestürzender Fehlschlag der Vorausplanung. Doch bei näherer Betrachtung des Ausganges

erscheint es so, als wäre selbst dieses Versagen, die Entdeckung bei Tisch, ein wichtiger

Teil des Plans Rothers gewesen – nur durch sein Auftreten in Konstantinopel konnte

Rother die Aufmerksamkeit des Grafen Arnolt auf sich lenken und zugleich die

ahnungslosen Heiden in den Hinterhalt in den Wäldern führen. Die List, so kann gefolgert

werden, war demnach nicht die Verkleidung, sondern die Gefangennahme Rothers; der

Gegner erkennt nicht, daß das scheinbare Mißglücken der List die eigentliche List erst

Rothari wieder auf, nimmt aber ein bewußtes Anknüpfen des normannischen Reiches an die langobardische Tradition an. 97 „Die Zweiheit Mann-Frau schafft hier schon ein natürliches Gliederungsprinzip.“ Bach, A.: Der Aufbau des König Rother. Diss. Jena 1945. S.28. 98 Natürlich: „Zweiteiligkeit und motivische Umkehr ist auch das Strukturprinzip des Herzog Ernst, des Erec Hartmanns, des Parzival Wolframs und anderer [..] Denkmäler.“ Schröder, W.J.: König Rother. Gehalt und Struktur. In.: DVjS 29 (1955), S.301-322, wieder abgedruckt in Schröder, W.J.(Hrsg.): Spielmannsepik. WdF 385. Darmstadt 1977 S.343. Nur erwähnt sei der m.E. fragwürdige Ansatz Gudula Dinsers, den Rother im Gegensatz zur vorherrschenden Meinung als dreiteilig anzusehen, mit der Gliederung in die Handlungsteile „Werbungsfahrten“, „Gewinn und Verlust der Braut“ und „Wiedergewinnung und Heimkehr“, innerhalb derer die Doppelung nur als eines unter anderen Strukturprinzipien Bedeutung hat. Dinser, G.: Kohärenz und Struktur. Textlinguistische und erzähltechnische Untersuchungen von König Rother. Köln 1975.

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ermöglicht. „Das Listmotiv erfährt also in der Tat ebenso wie die anderen Motive eine

Umkehrung und damit eine Vertiefung.“99

Im Licht dieser Strukturanalysen, die die Komplexität und strukturelle wie formale

Durchdachtheit des Epos im Ganzen erwiesen haben, verliert die alte Trennung des Werks

in zwei von verschiedenen Autoren verfaßten Teilen, die nur mangelhaft aneinandergefügt

wären100, ihre Berechtigung. Die Fortsetzung der Handlung in RII war im Werk von

Anfang an intendiert; die Osanctrix-Sage stellt wohl lediglich die Bearbeitung einer

gemeinsamen Quelle dar, die im König Rother von einer Hand aufs reichste erweitert und

zur Zweiteiligkeit umgeformt wurde. Diese Zweiteiligkeit ist nun nicht nur formal, sondern

durchdringt wie erwähnt auch die Figuren und ihre Handlungen, und zwar im Sinne einer

Weiterentwicklung: in der Umkehrung der Motive, wo etwa Rother erweisen muß, daß er

nicht nur mächtig, sondern auch demütig ist, „wird so ein germanisch-heldischer Stoff

christianisiert.“101 Die Zweiteiligkeit des Epos ergibt sich aus der Notwendigkeit des 12.

Jhs., die Helden ihrer Dichtung in einer Dualität von „Welt und Überwelt“102 darzustellen–

nachdem der zugleich Herrschende und Demütige noch nicht im selben Akt dargestellt

werden kann, wird nacheinander aufgezeigt, was ineinander ist.103

1.2. Rother, der ideale König

Bereits ganz zu Beginn des Epos wird uns Rother als der ideale Herrscher vorgestellt:

Er was der aller heriste man, der da zu Rome ie intfinc die cronen. Ruother was ein here, sine dinc stunden mit erin

99 Schröder, W.J.: König Rother. Gehalt und Struktur. In.: DVjS 29 (1955), S.301-322, wieder abgedruckt in Schröder, W.J.(Hrsg.): Spielmannsepik. WdF 385. Darmstadt 1977 S.343. 100 Vgl. zu dieser Meinung besonders die Einleitung von Jan de Vries zu de Vries, J: Rother. Heidelberg 1922. und Woelker, E.-M.: Menschengestaltung in vorhöfischen Epen des 12. Jhs. Berlin 1940. S.203ff. 101 Curschmann, M.: Spielmannsepik. Stuttgart 1968. S. 74. 102 Schröder, W.J.: König Rother. Gehalt und Struktur. In.: DVjS 29 (1955), S.301-322, wieder abgedruckt in Schröder, W.J.(Hrsg.): Spielmannsepik. WdF 385. Darmstadt 1977 S.344. 103 ebd., S.345. Und weiters S.338: “Scharf treten die Dualismen heraus..[...] Die Gestalten und Vorgänge werden jeweils durch nur ein Attribut bestimmt, und es kümmert den Dichter nicht, daß ihnen dadurch an formaler Einheit mangelt, denn diese ist an ganz anderer Stelle zu suchen: im Wissen um die christliche Lebens- und Weltordnung, deren Dualität auf die dichterischen Geschehnisse naiv übertragen wird. [..] Es wird [mit den Riesen; Anm.] nicht ein starker und frommer Mensch dargestellt, sondern Stärke und Frömmigkeit bei einem Menschen. Nur im Nacheinander schließt sich der Mensch zur Persönlichkeit zusammen.“

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unde mit grozen zuhtin an sinen hove, iz ne haben die boche gilogen, daz ime da an gote nichtes nigebrach, wene daz ane vrowen was. (V.10-18)104

Nach dieser Einleitung wird die positive Akzentuierung Rothers konsequent fortgesetzt:

er ist wunderschön105, von höchstem Adel (siehe oben V.10ff), ungeheuer reich106 und übt

Herrschaft über 72 Könige und Riesen aus. Sein großes Ansehen, die Herrlichkeit und der

Glanz seiner Erscheinung ist so groß, daß er sogar inkognito an Konstantins Hof so großes

Aufsehen erregt, daß Konstantin, um dem Glanz des Flüchtlings auch etwas

entgegenzusetzen, zu einem großen Fest aller seiner Untergebenen rufen läßt.

Selbstverständlich beherrscht er alle Umgangsformen und die höfische Etikette, und seine

Sitten werden wiederholt gelobt.107

Neben all diesen Attributen besitzt er aber, was den Bereich all dieser äußeren Vorzüge

noch verblassen läßt: die êre, und zwar bereits im höfischen Sinne. Gemeint ist nicht die

Ehrhaftigkeit des tapferen Kriegers, sondern vielmehr die christlich sublimierte Ethik, die

vom Herrscher Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Treue zu seinen Lehnsleuten und eine fast

verschwenderisch anmutende Freigebigkeit fordert. Indem Rother all diesen

Anforderungen entspricht, stellt er sich dem Leser als Idealbild des Königs oder Kaisers

dar und kann hier auch mit dem Begriff des „Heldenkönigs“ beschrieben werden.Die

triuwe und die milte sind die prominentesten Eigenschaften des Königs: er zögert nicht,

zur Rettung seiner Boten nach Konstantinopel zu reisen, wobei bemerkenswert ist, daß zu

diesem Zeitpunkt keine Rede mehr von der Prinzessin ist, sondern für Rother eindeutig das

Wohl seiner Leute im Vordergrund steht. Seine milte wiederum läßt ihn selbst an

Konstantins Hof tausende mittellose Ritter unter dem Grafen Arnolt und sogar Konstantins

eigene Vasallen für seine Sache gewinnen.

Auffälligerweise fehlen dem so tugendhaft dargestellten König aber alle Züge

persönlicher Tapferkeit, kein Hinweis auf Mut, Kraft oder Gewandtheit im Kampf oder in 104 Alle Zitate aus: König Rother.Nach der Ausgabe v. Th. Frings u. J. Kuhnt. Halle/S. 1954. 105 294f:

Der ist der aller schoniste man Der ie von wibe ge quam.

106 1441f: Got hat vil wole zo dir getan mit grozeme gote.

107 Oben, V.15, oder V.1944: doch pflegit er sulicher zuchte

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Page 50: Die Unmoral des Intellekts

der militärischen Führung wird gegeben. „Rother kämpft nicht, er regiert. Es soll nicht der

Held, sondern der König oder Kaiser dargestellt werden.“108 Die Tapferkeit und

militärische Befähigung Rothers zeigt sich indirekt, wenn er etwa furchtlos nach

Konstantinopel in die Höhle des Löwen zieht; dennoch werden nirgends eigens jene

Eigenschaften erwähnt, die normalerweise dem ritterlichen Helden grundeigen sind. Im

König Rother erfüllen diese Funktion die Riesen Asprian, Grimme und Witold, die in ihrer

übermenschlichen Wildheit, dicht gefolgt von den menschlichen tapferen Mitstreitern, den

kriegerischen Gegenpol zum ruhenden Mittelpunkt des kriegerisch passiven Rother bilden.

Wenn im König Rother kein Wert auf die Darstellung des Königs als Krieger gelegt

wird, so kommt dennoch der „Optimierung der Vernunftgrundlage seines Handelns“109

eine hervorragende Bedeutung zu. Jede einzelne der Aktionen Rothers wird zuvor

genauestens durchdacht und auf etwaige Vor- und Nachteile abgewogen. Den Ratgebern

Berchter und Luppold und somit dem consilium kommt hier auch entscheidende

Bedeutung zu, denn, wie Rother in V500ff selbst bemerkt:

Ja hortich minen vater hi bevoren sprechen, so wer were ein got recke, daz her unrechte tete, so man ime goten rat gebe, daz er des nicht ne neme.

Am augenscheinlichsten ist dieses dauernde Abwägen und Beraten der nächsten

Handlung in RII, wenn Rother und seine Berater unter dem Tisch entdeckt werden; trotz

der drohenden Anwesenheit der mordlustigen Heidenkönige berät sich Rother über 30

Verse (3930-60) mit Berchter, bevor er sich zu erkennen gibt.110 Dieses bewußt

reflektierende, abwägende Handeln, nach eingehendem consilium mit seinen Ratgebern,

läßt Rother auch zum ersten bedeutenden Protagonisten zweckrationalen Handelns der

daz wir sin waren ane laster.

108 Schröder, W.J.: König Rother. Gehalt und Struktur. In.: DVjS 29 (1955), S.301-322, wieder abgedruckt in Schröder, W.J.(Hrsg.): Spielmannsepik. WdF 385. Darmstadt 1977 S.329. 109 Dinser, G.: Kohärenz und Struktur. Köln 1975. S.14. 110 Daß diese Stelle gewisser Situationskomik nicht entbehrt, hat Peter Stein hervorgehoben: „Wie andere Texte aus seinem Umfeld stellt der König Rother dieses Motiv [des consiliums; Anm.] deutlich über die Schematypik hinausgehend heraus. [...] Nicht nur wird eine Szene gestaltet, deren Situationskomik dem Publikum nicht entgehen konnte; nicht nur zielt diese Komik ins Zentrum eines ideologisch konstitutiven Bereichs – der Erzähler macht auf beides auch noch ausdrücklich aufmerksam. Das Lexem ermeliche läßt sich kaum anders auffassen, denn als gezielter Hinweis auf eine ans Groteske grenzende Übererfüllung der consilium-Maxime, über die sich der Autor humorvoll lustig macht: man kann’s auch zu weit treiben! Das dies wohl auch auf den religiösen Gehalt der Rede Berkers ausstrahlt, ist zu erwähnen.“ Stein, P.: „Do newistich weiz hette getan/ich wolde si alle ir slagen hanc.“ Beobachtungen und Überlegungen zu König Rother. In: Festschrift für Ingo Reiffenstein. Göppingen 1988. S.328.

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Page 51: Die Unmoral des Intellekts

deutschen Epik werden. Mit durch lange Beratung gefundener Präzision wird jene Lösung

gesucht, die dem Ziel am ehesten entspricht, und diese Lösungen führen oft über den Weg

der List.

Tatsächlich ist gegenüber der verlorenen Quelle, die in der Osanctrix-Episode noch

gegenwärtig sein mag, die gesamte Handlungsstruktur des Epos dem Listmotiv

unterworfen. Durch das Gelingen der List, die in der Saga mißglückt – nämlich dem

Gewinnen des Vertrauens des Schwiegervaters – wird erst möglich, daß sich der

kämpferische Konflikt, der zur Erringung der Braut führt, vom Vater derselben auf den zu

diesem Zweck neu erfundenen Heidenkönig Ymelot verlagert. Die List bedingt, daß der

Sieg über den unwilligen Konstantin ein gewaltfreier Vorgang bleibt, der Konstantins

Macht unberührt läßt und lediglich den legitimen Wunsch Rothers nach Vermählung

realisiert. Durch die Täuschung, nicht Vernichtung Konstantins wird auch erst der zweite

Teil der Handlung möglich gemacht; im Osanctrix verbietet sich eine Fortsetzung, da der

Protagonist mit dem Sieg über den Brautvater die Saga de facto enden läßt. Erst die

Unterordnung der Handlung unter die wichtig gewordene Komponente der klugen,

diplomatischen Listanwendung bringt 1. die Notwendigkeit nach einem äußeren Feind

(Ymelot) und 2. die Möglichkeit der Fortführung des Epos in den typologisch relevanten

zweiten Abschnitt.

Zweifelsohne ist die Konfliktlösung des „Spielmannsepos“ die elegantere Lösung; es

sind immerhin nur die Heiden, gegen die Rother kämpft, der ebenfalls christliche König

Konstantin wird trotz all seiner negativen Seiten immerhin als gleichberechtigtes

Gegenüber gesehen, dem als König von Ostrom und Schwiegervater dennoch Achtung und

Barmherzigkeit gebührt.111 Freilich ist Konstantin als negatives Gegenüber Rothers

gezeichnet: er ist nicht besonnen, sondern triebhaft, er ist geizig, furchtsam, prahlerisch

und dumm. „Er wirft fremde Gesandte in den Kerker, rühmt sich seiner Macht und

111 Vgl. hierzu auch V4618ff, Berchter zu Rother:

„Dar komit din leyde suagir. Du salt in wol intfahen. Gedenke der aldin zuchte unde erin, wie hie beuoren die herren ir leit liezin durc got. Nu ne mache der werlde necheinen spot An deme godin knecte; Daz komit dir rechte, nu der koninc Constantin ridit zu intgegin die, daz du ime lazis den lif.“

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Page 52: Die Unmoral des Intellekts

entschuldigt sich, als er üble Folgen seines Verhaltens befürchtet, mit Trunkenheit. [...]

Nicht Treue und Milde, sondern Gewalt ist das Band zu seinen Vasallen.“112 Sein ganzes

Verhalten ist von unüberlegter, impulsiver Triebhaftigkeit und gleichzeitiger

Überheblichkeit gezeichnet; das jeweils auftretende Bedürfnis, etwa nach Repräsentation

durch ein Hoffest, wird mit allen Mitteln ohne Rücksicht auf die Folgen befriedigt, etwa

wenn er seinen Vasallen das Erscheinen zu diesem selbstherrlichen Anlaß bei Todesstrafe

anbefiehlt.

Die didaktische Absicht des Gegenübers Rother-Konstantin ist deutlich: hier der König,

wie er sein soll, da das abschreckende Beispiel. „Sie repräsentieren in naiver Typik das

abendländische, auf christlicher Basis ruhende Herrscherideal und die orientalische

Despotie.“113 Konstantin ist geizig, sein Verhältnis zu seinen Untergebenen ist von

Abneigung geprägt, es fehlt ihm an höfischer Sitte (wie sonst kann sich ein König mit

Trunkenheit entschuldigen?) und allgemein an mâze und temperantia, was sich in Jähzorn,

Ohnmacht und Prahlerei äußert. Während Rother der rational abwägende Kluge ist, ist

Konstantins Handeln ganz emotional-affektiv motiviert. Die späte Einsicht Konstantins,

das kleinlaute Einlenken in RII wird auch nicht durch eine etwaige charakterliche

Fortentwicklung bedingt, sondern durch die Sachzwänge, die Rothers überlegtes Handeln

geschaffen hat. Lediglich die Königin von Konstantinopel ist es, die ihrem Gatten bei allen

Gelegenheiten sein unrechtes Handeln vor Augen führt – der Dichter gibt als antithetisches

Gegenüber des klugen consiliums vor einer Handlung die höhnische Schelte nach einer

unüberlegten Handlung. Die Königin ist es auch, die am Ende von RII Konstantin wieder

seine Verfehlungen vorhält:

Von du mach du wol uerstan, daz nechein dinc dem man grozeren scaden dut, dan der leyde ouermut, dar uon der tueuel gewan.(V4560ff)

Konstantin bleibt stets das Objekt in Rothers klug geplanten Schachzügen; während

Rother agiert und die Situationen durch kluge Vorberechnung zu seinen Gunsten

herbeiführt, ist Konstantin durch seinen selbstgefälligen ouermut der Dumme, der zur

vorberechneten Reaktion auf diese Situationen gezwungen wird. Rother bleibt der „Herr

112 Schröder, W.J.: König Rother. Gehalt und Struktur. In.: DVjS 29 (1955), S.301-322, wieder abgedruckt in Schröder, W.J.(Hrsg.): Spielmannsepik. WdF 385. Darmstadt 1977 S.329. 113 ebd., S.330.

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Page 53: Die Unmoral des Intellekts

selbstgeschaffener oder sich ergebender Situationen“114, er ist der listige man, der

Konstantin durch seinen vorausdenkenden Intellekt immer um einen Schritt voraus ist.

Dennoch ist die Listanwendung Rothers nicht die „Waffe des Schwachen der auf Betrug

angewiesen ist“115, sondern vielmehr die umsichtige Klugheit des Starken, die seine

Stärken im Optimum zur Geltung kommen läßt. Konstantins Versuch der Listanwendung,

seine Tochter wieder zurückzugewinnen, mangelt es nicht nur an der rationalen

Begründung, sondern außerdem zeigt sie auch sein kurzsichtiges und damit unkluges

Vorausdenken. Obwohl bereits in RI die überlegene militärische und politische Macht

Rothers offenbar ist, verleitet Konstantins Hybris und Uneinsichtigkeit ihn zur

Rückentführung seiner Tochter. Die Vorausplanung dieses Handelns endet mit der

gelungenen Listanwendung; ein Reagieren Rothers auf die Entführung wird in Konstantins

Überlegungen gar nicht erst eingeschlossen. Überdies wird der Entführungsplan von einem

spilman erdacht und ausgeführt. So zeigt sich auch die militärische und persönliche

Hilflosigkeit Konstantins, als der entflohene Ymelot mit Heeresmacht zurückkehrt – erneut

muß Konstantin seine Tochter einem ungeliebten Schwiegersohn abtreten, da er sonst

sogar um Leib und Leben fürchten muß.

Die Listigkeit Rothers (bzw. seines Handelns116) bestimmt die ganze Struktur des

Werkes und wird eigentlich als prominentestes Mittel zum Erreichen der jeweiligen Ziele

beschrieben. Listigkeit wird als positive Eigenschaft geschildert, deren Einsatz nicht als

einzig mögliche, aber doch beste Option zum Ziel führt. Im Werk selbst ist nirgends von

einem Verlust der êre durch Anwenden dieser Mittel die Rede; vielmehr kann geschlossen

werden, daß es gerade diese staatsmännische, „außenpolitische“117 Klugheit ist, die dem

König zur Ehre gereicht. Mit der die gesamte Handlung von RI konstituierenden List, sich

in der Rolle des vertriebenen Dietrich an Konstantins Hof zu begeben, vermeidet Rother

die offene Auseinandersetzung mit Konstantin – und verhindert somit einerseits für seine

ihm anvertrauten Lehensmänner verlustreiche Schlachten und andererseits auch den Tod

114 Neuendorff, D.: Studie zur Entwicklung der Herrscherdarstellung in der deutschsprachigen Literatur des 9.-12. Jhs. Stockholm 1982. S.194. 115 Schröder, W.J.: König Rother. Gehalt und Struktur. In.: DVjS 29 (1955), S.301-322, wieder abgedruckt in Schröder, W.J.(Hrsg.): Spielmannsepik. WdF 385. Darmstadt 1977 S.336. 116 Da Rother, wie oben erwähnt, das consilium vor allen seinen Aktionen einholt, scheint es angemessener, bevorzugt das Handeln Rothers und erst in weiterer Folge Rother selbst als listig zu bezeichnen; die Vorschläge, die Berchter, Luppold und seine Ratgeber ihm unterbreiten, sind wohl von großer Listigkeit gekennzeichnet, in Rothers Eingehen auf diese zeigt sich strenggenommen eher seine Klugheit als seine eigentliche Listigkeit. 117 Schröder, W.J.: König Rother. Gehalt und Struktur. In.: DVjS 29 (1955), S.301-322, wieder abgedruckt in Schröder, W.J.(Hrsg.): Spielmannsepik. WdF 385. Darmstadt 1977 S.329.

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Page 54: Die Unmoral des Intellekts

der gefangenen Boten 118. Überdies ist nicht zu vergessen, daß Konstantin, trotz seiner

negativen Zeichnung, dennoch ein christlicher König und kein dahergelaufener Heide ist!

Nirgends wird jedoch angedeutet, daß Rother eine derartige militärische Konfrontation

nicht siegreich überstehen würde.

Aus diesem Grund erscheint etwa die Interpretation Rita Zimmermanns, diese

Listanwendung sei eine Handlung gegen Rothers êre, recht fragwürdig. Ihrer

Argumentation zufolge ist der Verzicht auf die öffentliche Deklaration als weströmischer

König und die Annahme des niedrigen Status des Vertriebenen „Selbstbetrug“, der

„tendenzielle Degradierung und Ehrminderung“119 bedeutet; die Listanwendung erfolge

„weder willkürlich noch freiwillig“, sondern wird gleichsam durch die mächtige Position

Konstantins erzwungen – die List Rothers sei hier also lediglich die einzige

Handlungsmöglichkeit des Schwachen. Im Gegenteil erscheint mir gerade und

ausgerechnet der König Rother die Antithese zu dieser auf andere listige Helden

womöglich zutreffende Aussage darzustellen, denn trotz seiner Stärke, trotz der ihm

offenstehenden Möglichkeit der erfolgversprechenden, aber sicher verlustreichen

Gewaltanwendung entscheidet sich Rother für die List als Handlungsmöglichkeit. Gerade

diese Umsicht, in der Anwendung der ersten List auf seinen Titel zu verzichten und als

Vertriebener statt als gleichberechtigter König an Konstantins Hof zu erscheinen, diese

Umsicht ist es, die Rother als idealen Herrscher erscheinen läßt und im Gegenteil zu seiner

êre beiträgt.120

118 V590ff, der Ratsbeschluß, Rother solle keinen Feldzug gegen Konstantin führen:

wande soche wer die Kriechin, daz wizzestu werliche, sie tun uns uil zo leide unde lebit der boden sichenir, sie mozen alle kiesen den tod.

119 Zimmermann, R.: Herrschaft und Ehe: die Logik der Brautwerbung im König Rother. Berlin 1993. S.85. 120 Nach Zimmermann beruht Rothers Listigkeit außerdem „weder auf kluger Überlegung noch auf Intelligenz, sondern ist wie alle scheinbar individuellen Eigenschaften oder Werte, über die er verfügt, ein Statusmerkmal, Kennzeichen seines Ranges und Adels und damit auch seiner Abstammung. [..]Zu (den) notwendigen geblütseigenen Herrscherfähigkeiten gehört u.a. auch die List.“ Und weiters: „List entspricht einem herrengemäßen Dasein und der Fähigkeit Herrschaft auszuüben [...].“ Ebd. S.87 u. Anm. 174. (Hervorhebungen von mir.) Ich stimme damit überein, daß Rother als Typusdarstellung des idealen Königs vom Autor mit allen „Herrscherfähigkeiten“ ausgestattet wird; wenn allerdings die List tatsächlich im allgemeinen so selbstverständlich zu diesen Fähigkeiten hinzugerechnet würde, wäre ebendiese Darstellung des Königs als "listiger Held" im König Rother in dieser Epoche nicht so singulär, sondern wohl fixer Bestandteil des Handlungs- und Tugendrepertoires in anderen literarischen Königs- oder sogar Heldendarstellungen. Eher ist wohl die didaktische Absicht des Autors anzunehmen, die Vorteile überlegten Handelns darzustellen – so erklärt sich auch die Opposition zum triebhaften Wesen Konstantins und die auffällige Betonung des consiliums, dessen Wichtigkeit durchaus in den Fürstenspiegeln betont wird. Dazu paßt auch Hedda Ragotzkys Auffassung, die Listigkeit Daniels, der ja ebenso als Angehöriger des Adels dargestellt wird, sei „die Fähigkeit, Gebote höfischen Verhaltens situationsspezifisch zu interpretieren“. In durchaus didaktischer Art und Weise soll das soziale Leistungsvermögen der List demonstriert und als überlegen dargestellt werden. Diese ausdrückliche Betonung

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Page 55: Die Unmoral des Intellekts

An einem anderen Beispiel von gelungener Listanwendung verdeutlicht sich dies noch

besser: durch die listige Entführung Ymelots aus der Mitte seines Heeres in RI verhindert

Rother, daß in der drohenden Schlacht des nächsten Tages seine und Konstantins Vasallen

ihr Leben riskieren müssen. Im Vorfeld der geplanten Entführung ist, in weiterer

Argumentation gegen Zimmermann, auch weniger die Rede von einer ausweglosen

Notsituation, die die Kriegslist notwendig machen würde, sondern vielmehr vom großen

Ruhm, den dieser Handstreich mit sich bringen würde. V2670:

wilich ere in daz were, ob sie den kuninc meren ane Constantinis schadin gevahen mochtin odir slan.

Abgesehen davon ist die Entführung Ymelots aus seinem eigenen Zelt von

kämpferischem Einsatz geprägt. Hier erscheint die angewandte List sogar als weitaus

riskanterer Weg, da sich Rother mit seiner kleinen Gruppe den Weg aus dem Lager der

Heiden wiederum freikämpfen muß. V2736ff:

Dietherich unde sine man Begundin deginliche gan Under eine dicke schare; Dar valtin sie daz herre gare.

Als es in RII schließlich doch zur offenen Schlacht gegen Ymelot kommt, zeigt sich, daß

Rother auch die direkte miltärische Konfrontation nicht scheuen braucht. Die

Listanwendung zeigt sich demnach nicht als der erzwungen einzig mögliche, unter

Umständen ehrbeschädigende Weg, sondern im Gegenteil als zweite, effizientere

Möglichkeit, ein Ziel zu erreichen und dadurch vielleicht sogar noch größere êre zu

erlangen. Rother handelt zweckrational, um wertrationale Ziele – etwa die durch die triuwe

gebotene Befreiung seiner Boten – durchzusetzen; diese Zweckrationalität entspringt aber

nicht dem Zwang, in einer schwierigen Lage nicht wertrational handeln zu können,

sondern freier Entscheidung.

des listigen Handelns, das in den meisten der hier untersuchten Werke, so auch im König Rother, zu bemerken ist, läßt somit die Feststellung, List sei lediglich Ausdruck „herrengemäßen Daseins“ zumindest als fragwürdig wenn nicht unsinnig erscheinen. Zitat aus Ragotzky, H.: Das Handlungsmodell der list und die Thematisierung der Bedeutung von guot. In: Literatur-Publikum-historischer Kontext. Hrsg. von G. Kaiser. Bern, Frankfurt/M., Las Vegas 1977. S. 193.

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Page 56: Die Unmoral des Intellekts

Die weiteren Listanwendungen in RI ordnen sich dem Schema der zweckrationalen

Handlung aus wertrationalen Überlegungen unter: das durch die List mit den Schuhen

eingefädelte Treffen mit der Prinzessin, das außerdem durch das Ablenkungsmanöver der

Riesen noch zusätzlich gedeckt wird, versetzt Rother in eine von ihm vorausberechnete

Situation, die er aufgrund dieser Berechenbarkeit auch optimal zu seinem Nutzen gestalten

kann. Die vertrauliche Situation des Schuhanlegens, das sorgsame Verbergen des Treffens,

all das zeigt, wie sehr die kluge Voraussicht Rothers nicht nur in „außenpolitischer“,

sondern auch intimer Belange erfolgreich bleibt. So ist auch eine der „kleineren“

Listanwendungen Rothers, nämlich das mit den Boten vereinbarte Erkennungszeichen der

drei Melodien Beweis für den Nutzen vorausschauenden Handelns.

Ebenso stellt die Entführungslist nach gewonnener Schlacht am Ende von RI in großer

Deutlichkeit noch einmal die Vereinbarkeit von list und êre dar: Dietrich/Rother berichtet

von Konstantins Tod und bringt die Prinzessin an Bord seines Schiffes- während mit dieser

geglückten List beide Ziele der Ausfahrt, nämlich Rettung der Boten und Brauterringung,

abgeschlossen sind, wendet sich Rother an die zurückbleibende Königin und offenbart ihr

seine wahre Identität: (V2915ff)

Ir mogit eme (Konstantin; Anm.) werliche sagin, sin tochter si mit Rothere gevaren westene ouer mere. Nu gebut mir urowe herlich. Jone heizich niwit Dietherich.

Wäre die Listanwendung tatsächlich mit dem Verlust von êre verbunden, so wäre es in

Rothers bestem Interesse, seine Identität mit Dietrich zu verheimlichen. Durch seine

Deklaration, die weniger Schadenfreude als Trost für die Mutter darstellen soll, offenbart

sich nun auch ganz Konstantinopel die Klugheit und Listigkeit Rothers – und wie der

Bericht des Pilgers in RII zeigt (V3720ff), werden diese Taten sehr wohl als hervorragend

und lobenswert aufgenommen. Zudem gibt Rother damit Konstantin das eindeutige Signal,

daß er nicht beabsichtigt, seinen Machtbereich einzuschränken – mit der Gewinnung der

Tochter, so scheint in Rothers Deklaration mitzuschwingen, möge nun wieder Frieden

zwischen Ost- und Westrom einkehren. Die List schmälert nicht Rothers êre – im

Gegenteil vermehrt sie sein Ansehen noch. Hierbei von „Ehrminderung“ oder einer

gleichsam verzweifelten, einzig möglichen Ausweghandlung zu sprechen, verfehlt nicht

nur die Aussage des Epos sondern verleugnet auch den außerordentlich positiven

Stellenwert der List, den ihr der Autor als Tugend eindeutig zuspricht.

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Im Licht dieser glorreich-erfolgreichen Listigkeit des RI muß dem Zuhörer der

typologisch gewandelte Rother des RII im ersten Moment bestürzend unklug erscheinen:

die Entdeckung unter der Tafel bei Basilistius‘ Hochzeitsbankett muß unvermeidlich

erfolgen, das Lachen der Prinzessin ist nur ein beliebiger Anlaß zu dieser vermeintlichen

Katastrophe. Bei näherer Untersuchung erkennt allerdings der Zuhörer, genau wie der

Leser, daß es eben dieses vermeintliche Scheitern der List ist, das die eigentliche

Listanwendung – den Hinterhalt beim Galgen und die Mithilfe Arnolts– erst ermöglicht.

Wie oben auch schon angesprochen ist es eine „List der List“121, die dem Gegner schon im

Moment seines vermeintlichen Sieges wieder um einen entscheidenden Schritt voraus ist.

Schon die Tatsache, daß Rother das Horn mit sich trägt, daß sein Heer versteckt vor

Konstantinopel lagern soll, beweist, daß Rother wiederum die Handlungen seines Feindes

zuvor bedacht und rechtzeitig Gegenmaßnahmen ergriffen hat; das muß auch Ymelot am

Ende zu spät erkennen.122

Insofern mag auch die fast absurd langwierige Beratung unter dem Hochzeitstisch sogar

als Täuschung des Feindes deutbar sein, den man durch die vermeintliche Ratlosigkeit

Rothers – gemeinsam mit dem Leser – im Glauben belassen will, daß diesmal die

Listigkeit versagt hätte.123 Jedenfalls übertrifft die einzige List Rothers in RII an

Komplexität und Effektivität jene aus RI bei weitem, und mit ihr wird auch das Epos und

die zweite Brauterringung Rothers seinem glücklichem Ende zugeführt. Die moniage ganz

zu Ende unterstreicht noch zusätzlich das Idealtypische, das der Autor in der Figur des

Rother zuvor ausgearbeitet hat.

Rother ist aber nicht der einzige, der zur Listanwendung fähig ist: auch die Prinzessin

erreicht mit Hilfe einer List, daß die Boten Rothers freigelassen werden. Auch sie überlegt

ihre Handlung genauestens124, und auch ihr gelingt es, das Verhalten Konstantins

121 Schröder, W.J.: König Rother. Gehalt und Struktur. In.: DVjS 29 (1955), S.301-322, wieder abgedruckt in Schröder, W.J.(Hrsg.): Spielmannsepik. WdF 385. Darmstadt 1977 S.343. 122 V4230ff:

Imelot irkande Rotheres sinne; He wolde gerne intrinnen.

123 Diese Möglichkeit der Interpretation hätte auch den Vorzug, daß der hohe Stellenwert des consiliums dann nicht durch eine vermeintlich absurd-überzogene, an Komik gemahnende Übertreibung in Frage gestellt würde, wie sie im Zitat Peter Steins in Anm. 81 angesprochen wurde. Wie angemerkt ist es aber diskutabel, ob man eine derartige „Finte“, die sich auch gegen die Zuhörer ríchtet, tatsächlich dem Rother-Autor unterstellen kann und soll. 124 V2324f:

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Page 58: Die Unmoral des Intellekts

vorherzusagen. Es ist bemerkenswert, daß der Autor nicht nur dem bekannt listigen Rother

die Fähigkeit zur List zuspricht. Im Gegenteil wird gerade die Eigenständigkeit der

Handlung der Prinzessin hervorgehoben, Rother liefert weder die Idee noch die Methode,

die schließlich zur Freilassung der Boten führt. Allein das rationale Denken, die kluge

Voraussicht sind es, die einen zur List befähigen – der triebhafte, dumme Konstantin hat

diese Gaben nicht. Denn es wird auch nicht als seine Idee geschildert, die Prinzessin

Rother wieder zu entführen: V.3061ff

Do die grozze menie Gerumde deme koninge, do sprac ein spileman: „Herre, du salt dich wol gehan. Lonis du mir, Constantin, ich brenge dir die tochtir din.“

Es spricht wiederum gegen die Klugheit Konstantins, daß er auf diesen Vorschlag

eingeht; wohl gelingt die List, weil der spileman durch seine Lügen über die wundertätigen

Kieselsteine die Prinzessin in eine Situation bringt, die für ihn günstig ausgehen muß, doch

Konstantin müßte, wäre er der klugen Voraussicht fähig, klar sein, daß Rother seine

Tochter, nun da sie sogar seine Ehefrau ist, wieder zurückholen wird. Die Irrationalität von

Konstantins Handeln zeigt seinen Mangel an Weisheit; die fehlende Weitsicht, die

Konsequenzen dieses Handelns zu erkennen, seinen Mangel an Klugheit. Der Spielmann

hingegen ist nur auf Lohn aus – seine Verantwortung endet mit der Übergabe der

Prinzessin, weitere Folgen seines Handelns hat Konstantin zu tragen. Der Autor, so scheint

es, zeigt damit, daß Listigkeit mehr sein muß als die Anwendung listiger Mittel. Rother

und die Prinzessin sind ihrer klugen und vorteilhaften Anwendung fähig, weil sie jeweils

ihren Handlungen eingehende Überlegungen vorausgehen lassen; Konstantin hingegen

fehlt es an dieser Voraussicht. Wer seine Handlungen unüberlegt und ohne Rücksicht auf

ihre Konsequenzen setzt, bringt sich nicht nur selbst in Gefahr, sondern setzt auch seine

êre aufs Spiel.

Im König Rother zeigt sich der älteste Typ des listigen Helden der deutschen epischen

Literatur. List ist konsequent als struktur- und handlungsbildendes Element verwendet, um

in zweifellos didaktischer Absicht eine Grundaussage zu verdeutlichen: der ideale

Die iuncvrowe lac uber nacht; We groz ire gedance was.

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Herrscher muß nicht nur triuwe, mâze, rehte und milte zeigen, sondern auch klug,

manchmal listig sein; nur dann gereicht ihm sein Handeln zur êre.

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2. Salmân und Môrolf

2.1. Zum Werk

In fünf vollständigen Handschriften (eine davon das 1870 verbrannte „Straßburger

Heldenbuch“), einem verlorengegangenen Fragment und zwei Drucken aus dem 15. Jh. ist

uns das nächste zu besprechende Spielmannsepos, Salmân und Môrolf, entstanden wohl

um 1190, in 783 fünfzeiligen Strophen überliefert. Obwohl keine Melodie erhalten ist,

deutet die strophische Struktur (5-zeilige Strophen mit einer Waise im 4. Vers, bzw. 6-

zeilig mit 2. und 5. Vers als Waisen) – die sog. Môrolf-Strophe – doch darauf hin, daß das

Werk vermutlich wirklich von Spielleuten gesungen und vor Publikum rezitiert wurde– ob

das Werk tatsächlich auch von einem Spielmann zunächst in niederrheinischer Sprache

gedichtet wurde, bleibt Spekulation. Ebenso offen, aber um vieles bedeutsamer bleibt die

Datierungsfrage; die Meinungen reichen von der Untergrenze „vor 1150“125 bis hin zu

neueren Datierungsversuchen von „nicht nach 1300“126; in dieser Arbeit sei das Werk

vorerst der methodischen Einfachheit halber an die Seite des „König Rother“, und damit

auch zur Gattung der „Spielmannsepik“ gestellt.127

Für die ältere Forschung stellte das Werk quasi den Prototyp des Spielmannsepos dar;

Gustav Ehrismann bezeichnet es als einen „Höhepunkt“ der niederen „Spielmannsepik“,

betont aber zugleich „den Mangel an Sorgfalt der Behandlung von Stoff und Form:

Komposition, Sprache und Verskunst sind nachlässig.“ 128 Während De Boor und Wehrli

das Werk zu den Legendenromanen zählen129, bezeichnet Wolfgang Spiewok den Salmân

und Môrolf als ersten deutschen Schelmenroman130; und Lydia Miklautsch kommt in ihrer

struktur-analytischen Untersuchung des Werkes schließlich zu folgendem Schluß: „Man

kann es drehen und wenden wie man will: der Salmân und Môrolf entzieht sich sämtlichen

literaturgeschichtlichen Einteilungskriterien und paßt in kein herkömmliches

125 De Boor, H.: Die deutsche Literatur von Karl dem Großen bis zum Beginn der höfischen Dichtung. 770 bis 1170. München 1949. S.251. 126 Spiewok, W.: Geschichte der deutschen Literatur des Spätmittelalters. (Bd.1) (Wodan 64). Greifswald 1997. S.360. 127 Zur Frage der wahrscheinlichsten Datierung siehe weiter unten. 128 Ehrismann, G.: Geschichte der dt. Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters. Bd. 1; Teil II. München 1922. S.327. 129 De Boor, H.: Die deutsche Literatur von Karl dem Großen bis zum Beginn der höfischen Dichtung (770-1170). 9. Aufl. bearb. v. H. Kolb. München 1979, S. 248ff. Und: Wehrli, M.: Geschichte der dt. Literatur vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 16. Jh. Stuttgart 1980, S. 229. 130 Spiewok, W.: Geschichte der deutschen Literatur des Spätmittelalters. (Bd.1) (Wodan 64). Greifswald 1997. S.351ff.

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Page 61: Die Unmoral des Intellekts

Gattungsmuster. Letztlich stellt ein Werk wie der Salmân eine

Literaturgeschichtsschreibung, die auf Gattungen aufbaut, in Frage.“131

Zunächst zum Inhalt.

Salmân, der als christlicher König Jerusalems und Sohn Davids vorgestellt wird(!), ist mit der wunderschönen Salmê, der Tochter des Heidenkönigs Cyprian von Endian verheiratet, nachdem er diese ihrem Vater entführt und getauft hat. Dem Heidenkönig Forê vom Wendelmeer, der eine ebenbürtige Gemahlin sucht, wird von einem alten Reisenden von der Schönheit Salmês erzählt. Er rüstet sich zum Kampf gegen Salmân, wird aber in einer großen Feldschlacht besiegt und gefangen genommen. Môrolf, der Bruder Salmâns, rät dem König ab, Forê der Königin als Gefangenen zu überlassen und empfiehlt, den Gefangenen töten zu lassen; dennoch bestimmt Salmân, zur weiteren Demütigung Forês, Salmê zur Wächterin über den gefangenen Heiden. Dieser zwingt sie allerdings mittels eines verzauberten Ringes, dessen Kraft auch Môrolf nicht erkannte, sich in ihn zu verlieben, und sie verhilft ihm zur Flucht. Ein Spielmann Forês überläßt Salmê ein zauberkräftiges Kraut, das sie in eine totenähnliche Starre versetzt. Der ganze Hof betrauert den Tod der schönen Königin, nur Môrolf bleibt mißtrauisch; heimlich gießt er ihr flüssiges Gold in die Hand, das diese durchdringt, ohne sie zu wecken. Als Salmân, voll Zorn über die Schändung der vermeintlichen Toten, Môrolf verbannen will, kriecht dieser in einen Kamin und zeigt dem König seinen Hintern– damit dieser, wie gewünscht, Môrolfs Antlitz nicht mehr sehen müßte. Mit diesem Streich versöhnt sich Salmân wieder mit seinem Bruder. Kurz darauf bricht der Spielmann den goldenen Sarg Salmês und nimmt sie mit sich ins Reich Forês. Môrolf wird, als der fehlende Körper Salmês entdeckt wird daraufhin von seinem Bruder ausgesandt, die untreue Königin wieder zu finden. Dazu bedient er sich einer außergewöhnlichen Verkleidung: er ersticht den alten Juden Berman, zieht ihm die Haut ab und macht sich aus dessen Oberkörper und Kopfhaut eine Maske. In dieser Verkleidung tritt er vor Salmân und bittet diesen um eine milde Gabe; als er dem König danach den dem vermeintlichen Juden geschenkten Ring wieder zeigt, bewundert dieser die listenreiche Verkleidung seines Bruders und sendet ihn aus, Salmê zu suchen. Als weiteres Hilfsmittel nimmt Môrolf ein kleines Boot aus Leder mit, das man zusammenfalten und auf dem Rücken tragen kann. Nach sieben Jahren im Heidenland angekommen, versteckt er sein Boot; ein Heide, der ihm kurz darauf begegnet, wird als Mitwisser ermordet. Als Bettler verkleidet gelangt er an die Burg Wendelsee, und trifft dort auf Forê und Salmê, die ihn neugierig um Nachricht aus Jerusalem fragen. Eine Dienerin bemerkt allerdings Môrolfs Panzer unter seiner Verkleidung; mißtrauisch bittet ihn Salmê zu sich, um ihn beim Schachspiel auszufragen – als Einsatz bietet Môrolf seinen Kopf. Dabei erblickt er außerdem die durchlöcherte Hand der Königin und läßt scheinbar verwirrt einen langen Furz fahren. Außerdem lenkt er die Königin, die ihn beim Schachspiel bedrängt, durch einen Ring ab, der einen singenden Vogel-automaten birgt. Schließlich summt er eines der Lieder Davids, und daran erkennt sie trotz der Verkleidung ihren verhaßten Schwager. Er wird gefangen gesetzt, aber mittels

131 Miklautsch, L.: Salmân und Môrolf – Thema und Variation. In: Ir sult sprechen willekomen. Grenzenlose Mediävistik. (Festschrift Helmut Birkhan). Bern-Berlin.. 1998. S. 305.

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einer List kann er entkommen. Den zwölf Wachen, die in der Nacht bei ihm sind, erzählt er kurzweilige Geschichten; als sie müde werden, löscht er mit einem Husten die Kerze und schüttet heimlich Schlaftrunk in die Becher der Wachen. Als sie alle benebelt eingeschlafen sind, schert er ihnen aus Spott noch Mönchstonsuren und flieht aus der Burg, indem er den Torwächter, dem er verspricht, weiszusagen, herbeilockt und ihn dann niederschlägt. Am Morgen ist Môrolf schon auf See in seinem Boot, doch die Königin schickt ihre Soldaten, die ihn tatsächlich einholen und wieder gefangennehmen, nachdem er es gerade noch geschafft hat, wiederum sein Boot im Schilf zu verbergen. Wiederum übertölpelt Môrolf die zwölf Wachen mit demselben Schlaftrunk und schert diese ebenso. Dann verkleidet er sich als Kämmerer der Königin und tritt so vor Salmê und Forê, um von der geglückten Gefangennahme Môrolfs zu berichten. Nachdem er das Königspaar und die anwesenden Geistlichen wiederum mittels des Schlaftranks betäubt hat, schert er den König und legt ihn zu einem jungen Priester ins Bett; zu Salmê legt er den alten Kaplan. Als Forê am Morgen schlaftrunken seinen Bettgenossen minnen will, erhält er eine schallende Ohrfeige von dem jungen Kaplan. Als sich der morgendliche Tumult gelegt hat, ist Môrolf selbstverständlich schon auf dem Weg nach Jerusalem zurück. Den nacheilenden 24 Galeonen entkommt Môrolf, indem er mitsamt seinem Boot 14 Tage lang untertaucht und mittels eines langen Rohres Atemluft holt. Danach fährt er heim nach Jerusalem, um Salmân zu unterrichten. Bald macht sich dieser mit seinem Heer auf, die ungetreue Gattin zurückzuholen. Der König läßt Môrolf mit dem Heer versteckt in einem Wald zurück und betritt als Pilger verkleidet den feindlichen Hof – wie im König Rother wird er entdeckt und soll gehenkt werden, wobei ihm allerdings Forês Schwester die Nacht vor dem Tod versüßt. Natürlich ist am nächsten Morgen Môrolf mit dem Heer zur Stelle, um Salmâns Hinrichtung zu verhindern – die Heiden, unter König Forê und seinem Neffen Isolt, werden geschlagen, Forê gehenkt. Obwohl Môrolf dagegen rät, verzeiht Salmân seiner untreuen Frau, und alle kehren nach Jerusalem zurück, auch die Schwester Forês, die auf den Namen Affer getauft wird. Salmê und Princian. Im zweiten Teil des Epos erscheint sieben Jahre später der Heidenkönig Princian von Akkon, der ebenfalls die vielgerühmte schöne Salmê als Frau gewinnen will. Mit List und einem weiteren Zauberring gewinnt er ihre Liebe, und wieder flieht sie mit diesem über das Meer. Wiederum reist Môrolf ihr nach, um sie zu suchen, allerdings unter der Bedingung, daß ihr Leben dann in seiner Hand sei. Môrolf verkleidet sich als Krüppel und reist an den Hof Princians. Dort fragt er geschickt die Wachen nach dem geheimen Versteck Salmês aus. Als der König selbst erscheint, bittet Môrolf ihn flehentlich um etwas Geld, um seine Krankheit zu heilen, und um ein Wahrzeichen, das ihn unter den Schutz des Königs stellen solle. Princian überläßt Môrolf Gold und einen Ring. Am Abend fragt Salmê, wo der Ring sei und weiß aus der Antwort, daß ihr Feind Môrolf in der Nähe sein muß. Als sie Princian und seine Männer ausschickt, den Krüppel zu finden, hat sich Môrolf bereits längst als ein Pilger verkleidet und schickt den König und die Soldaten in die Irre. So geht das Spiel einige Male: immer, wenn Môrolfs Verkleidung von Salmê durchschaut wurde, hat er sich schon längst als ein anderer verkleidet und läßt die Suchenden ins Leere gehen. So verkleidet er sich nacheinander als Spielmann, als Fleischer und als Händler. Immer ist es Salmê, die die Verkleidung Môrolfs im Nachhinein entlarvt und ihre Männer wiederum auf die Suche schickt.132 Nachdem er

132 Dieses Motiv entspricht auch einem Typus der magischen Flucht im Märchen; ein Paar, meist ist das Mädchen die Magiebegabte, verwandeln sich auf der Flucht vor der Hexe, dem Räuber etc. in menschenunähnliche Gestalten z.B. zu einem Rosenstock mit Blüten, zum Teich mit einer Ente etc. (KHM 51, Fundevogel). Der Handlanger des Bösewichts erkennt die beiden nicht und kehrt zurück, um erneut ausgeschickt

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Page 63: Die Unmoral des Intellekts

so den Suchtrupps mehrmals entkommen ist, reist er mit seinem Schiff zurück nach Jerusalem. Salmân will anfangs die Untreue wegen der Gefahr gar nicht mehr holen, aber Môrolf überzeugt ihn, doch mit einem Heer zu Princian zu ziehen. Unter der Burg Princians lebt eine alte Wasserfrau, eine mereminne, die Môrolf am Geruch seiner Rüstung erkennt; sie sendet den Zwerg Madelger, ihren Sohn, mit einer Tarnkappe aus, seinen Oheim Môrolf zu einem Gespräch herbeizuholen. In dieser seltsamen Episode begrüßt Môrolf die mereminne als seine můme, d.h. seine Tante mütterlicherseits (allerdings kann der Begriff můme wohl auch als allgemeine Bezeichnung für eine weibliche Verwandte aufgefaßt werden133.) Offensichtlich ergibt sich aus dieser Verwandtschaft eine Beziehung Môrolfs zu den dämonischen Meerwundern – nachdem er aber im Text als Bruder Salmâns bezeichnet wird, besteht höchstens noch die Möglichkeit, daß Môrolf eher der Halbbruder Salmâns, also der Sohn Davids und eines Dämonenwesens ist. 134 Diese Verbindung Môrolfs zum Reich des Übernatürlichen soll uns weiter unten noch genauer beschäftigen. Die Wasserfrau sagt Môrolf bereitwillig ihre Hilfe bei der Einnahme der Burg zu; ihre Zwerge würden den unterirdischen Fluchtweg aus der Burg zerstören, um Princian und Salmê die Flucht unmöglich zu machen. Am nächsten Morgen wirft Môrolf den von Princian erhaltenen Ring durch das Fenster und kündigt an, Môrolf sei zurückgekehrt. Mit seinem Heer dringt er in die Burg ein, läßt aber Princian wegen seiner Barmherzigkeit gegenüber dem vermeintlichen Krüppel Môrolf wegreiten. Dieser flieht zu seinem Bruder Belian, und gemeinsam führen sie ein riesiges Heer von Heiden gegen Môrolf und sein Heer. Nach einem Tag der Schlacht, an dem Môrolf Belian, den Bruder Princians, tötet, besucht Môrolf am folgenden Morgen Princian in seinem Zelt und fordert ihn zum Zweikampf. Mit Gottes Hilfe enthauptet er den Heiden und führt Salmê zurück nach Jerusalem. Bevor allerdings Salmân sich erneut in die untreue Salmê verlieben kann, führt sie Môrolf zum Bade und läßt sie zur Ader, wobei er sie sanft drückt und damit unmerklich verbluten läßt. Nach der anfänglichen Trauer Salmâns vermählt er sich aber wenig später mit der tugendhaften Affer, der Schwester Forês.

Inhaltlich bezieht sich das Epos, ebenso wie der RII, auf die ältere Salomo-Sage, die

jedoch signifikant erweitert und ausgeschmückt wurde. Die Sage, deren Kernfabel die

Geschichte der untreuen Frau ist, die sich als Scheintote entführen läßt und wieder

gewonnen wird, ist wohl orientalischen Ursprungs und über Byzanz nach Deutschland

gelangt, möglicherweise über slawische Vermittlung. Die biblische Tradition, die König

Salomo als weisen Herrscher zeigt, hat sich in der Sage mit der des Talmud und der

Kabbala vermischt, in der Salomo als Dämonenkönig dargestellt wird. Diese Überlieferung

knüpft an den älteren Stoff des Streites Salomos mit dem Geisterfürsten Aschmedai an, der

wiederum in der byzantinischen Version der Sage bereits zum Bruder Salomos wird. Somit

zu werden. Im anderen Typus werfen die Verfolgten Gegenstände hinter sich, die zu Hindernissen heranwachsen, z.B. Bürstenberg aus Bürste, Spiegelberg aus Spiegel etc. (KHM79, Die Wassernixe). 133 Spiewok, W./Guillaume, A.: Salmân und Môrolf (Wodan 60). Greifswald 1996. S. 93, Anm. 35. 134 Vgl. dazu Birkhan, H.: Môrolfs Geheimnis. (Manuskript) Wien 1999.

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Page 64: Die Unmoral des Intellekts

ergibt sich bereits mythologisch eine komplexe Beziehung zwischen Salmân und seinem

(Halb-?) Bruder Môrolf.

Der Name Môrolf selbst hat die Forschung vor einige Fragen gestellt, vermag er doch

vermutlich auch mit Auskunft über seinen Träger zu geben. Der ursprüngliche Name

Marcolf entstammt einer von der Entführungssage unabhängigen talmudischen Tradition,

nach der Salomo seine Weisheit in einem dialogischen Wettstreit mit anderen

Dämonenfürsten unter Beweis stellt. An die Stelle des hebräischen Dämonennamens ist

wohl schon auf der orientalischen Stufe der Name des hebräischen Abgottes Marcolis (aus

lat. Mercurius) getreten, der in der späteren Bearbeitung dann zu Marcolfus/Môrolf wurde.

Andere Interpreten bringen den Namen wiederum in Zusammenhang mit dem Häher, der

als bekannter Wach- und Spähvogel die Namensvorlage für Markolf geliefert haben

mag.135

Das Spielmannsepos Salmân und Môrolf, das das Objekt dieser Untersuchung ist, steht

außerdem in interessantem Verhältnis zum Dialogus Salomonis et Marcolfi, einem

lateinischen Spruchgedicht des 12. Jhs., bzw. zu dessen mittelhochdeutscher Übertragung

und Bearbeitung, dem „Spruchgedicht von Salomon und Markolf“. Dieses strophische

Gedicht ist in fünf Handschriften des 15. Jhs. überliefert und wurde wohl von einem

unbekannten moselfränkischen Geistlichen verfaßt; in einer Handschrift, der inzwischen

leider verlorenen Eschenburger Handschrift von 1479, erscheint es überdies mit Salmân

und Môrolf gemeinsam. Das deutsche Spruchgedicht folgt dem lateinischen Vorbild nur im

zweiteiligen Aufbau in dialogischem Spruchteil und erzählendem Schwankteil.136 Der Sinn

dieser Contradictio Salomonis, deren Wurzeln bis ins 5. Jh. zurückverfolgt werden

können, ist das Gegenüberstellen von salomonischer Weisheit und derbem

„Hausverstand“, verkörpert durch den häßlichen Bauern Markolf.137

Das Spruchgedicht unterscheidet sich in der Beziehung Salmân-Môrolf sehr deutlich von

Salmân und Môrolf, behält aber einige konstante Züge der Figurendarstellung bei. An den

Hof des weisen Königs Salomo kommt der Bauer Markolf mit seiner Frau, die beide

135 Christmann, E.: Der Häher in den pfälzischen Mundarten. ZfVk N.F. 2 (1930). S.217-224. 136 Für die Entstehung der späteren Schwankliteratur ist eben dieses deutsche Spruchgedicht von großer Bedeutung gewesen, der Backofenschwank des Salomom und Markolf etwa führt weiter zur derben Komik eines Till Eulenspiegel. Zu den Bezügen des Volksbuchs vom Ulenspiegel zur früheren mittelalterlichen Schwankliteratur, insbesondere zu Salmon und Markolf und dem Pfaffen Amis, vergleiche Röcke, W.:Die Freude am Bösen. München 1987. 137 Vgl. hierzu Birkhan, H.: Morolfs Geheimnis. (Manuskript) Wien 1999.

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Page 65: Die Unmoral des Intellekts

Ausgeburten von unglaublicher Häßlichkeit sind.138 Salomo verwickelt den Bauern in ein

Wechselgespräch, wobei ersterer mit lehrhaft-moralischen Sprüchen beginnt, die aus der

Bibel oder auch den Sprüchen Salomos stammen. Der gewitzte, aber derb-obszöne

Markolf antwortet darauf regelmäßig mit unflätig-realistischem, oft auch zynischem Witz,

in dem Kot und Rüpelhaftigkeit die vorherrschenden Merkmale bleiben. Markolf zerstört

mit seinen Repliken die heile Welt der (platten) salomonischen Weisheiten und entlarvt die

eigentliche Hohlheit und Phrasenhaftigkeit der herrschenden Ideologie, ohne jedoch direkt

gegen die gesellschaftliche Mißordnung zu protestieren. Das Streitgespräch verkörpert

somit den Widerstreit zwischen den Idealen formender und hochgestimmter Geistigkeit

einerseits und dem derben Naturalismus alltäglicher Welterfahrung andererseits. Und das

Derbe, aber Welterfahrene behält die Oberhand, oder, um bei Begriffen dieser

Untersuchung zu bleiben: die Weisheit muß sich der Klugheit, der Listigkeit geschlagen

geben139.

Der zweite Teil des Spruchgedichts ist als Schwankreihe gegeben und kehrt die

Anfangssituation um: nun kommt Salomo zu Markolfs Behausung im Wald, und nun ist es

Markolf, der dem weisen König statt weiteren Antworten scheinbar bedeutungsschwere

Rätsel zu lösen gibt, die dieser wieder wegen seiner Unfähigkeit, die allgegenwärtige

Realität hinzunehmen, nicht durchschauen kann. Der irritierte König wird durch Markolfs

Schwänke, die oft genug das eulenspiegelsche absolute Wörtlich-Nehmen beinhalten,

zunehmend gereizt, und als Markolfs Schwänke drohen, das Herrscherideal und die

gesellschaftliche Ordnung in Frage zu stellen, bedroht Salomo den Bauern sogar mit dem

Tod. Der aus Salmân und Môrolf bekannte Backofenstreich läßt Salomo schließlich das

Todesurteil aussprechen: doch Markolf, seinen letzten Wunsch äußernd, überlistet auch

hier den König, indem er keinen geeigneten Baum als seinen Galgen bestimmen kann. Als

Epilog ist noch eine Bearbeitung der Entführungssage in einer älteren Form als in Salmân

und Môrolf angefügt.

138 Vgl. hierzu besonders Röcke, W.: Die Freude am Bösen. München 1987. S.92 ff. Diese Beschreibung der außergewöhnlichen Häßlichkeit kann als erste derartige Schilderung des Häßlichen in der deutschen Literatur gelten; möglicherweise liegt hier auch Einfluß der Sage vom häßlichen, aber schlauen Sklaven Äsop vor. 139 Als kennzeichnender Wortwechsel etwa V.252ff:

S:„Du solt mit listen noch mit lugen niemancz leichen noch betriegen.“ M:“Wer einen andern essen sicht, den hilfet rede fur hunger nicht.“

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Page 66: Die Unmoral des Intellekts

Die Doppelung der Handlung im Epos Salmân und Môrolf, ein die Spielmannsepen

strukturell mitbestimmendes Element, die ebenso wie im König Rother das

Handlungsgerüst trägt, ist hier weniger leicht auf typologischer Ebene zu erklären.

Vielmehr scheint es, als wäre es die reine Lust an der Wiederholung, die den Autor nicht

nur die Entführung, sondern auch die Motive verdoppeln läßt. So wird die zweite

Entführung Salmês wieder mit Hilfe eines magischen Ringes bewerkstelligt, obwohl

diesmal die zusätzliche List des Scheintodes ausgespart bleibt. Im Forê-Teil überrascht den

heutigen Leser die Aneinanderreihung zweier fast ident ablaufender Befreiungen Môrolfs

mittels des Schlaftrunks, und auch das Motiv des Tonsurierens wird wiederholt, wenn auch

beim zweiten Mal sogar auf den König angewendet. Ebenso uneinsichtig mag heutigen

Lesern die Einführung der Heidenkönige Isolt und Belian sein, die Princian bzw. Forê vor

der letzten Schlacht gegen die christlichen Heere zur Hilfe kommen, dann aber, ohne

größeren Anteil an der Handlung gehabt zu haben, getötet werden. Das Element der

Verdoppelung scheint also nicht nur strukturell, sondern auch motivisch bevorzugt

verwendet zu werden.

Die Geschmacksunterschiede, die derartige Wiederholungen als erwünscht erscheinen

lassen und den heutigen Leser vom Zuhörer des Mittelalters trennen, erstrecken sich auch

auf das Gebiet des Humors. Die mittelalterliche Komik, die wohl im oftmaligen Furzen

Môrolfs, in der Maskierung mit der Judenhaut oder dem Kahlscheren der Soldaten zu

suchen ist, weicht häufig gravierend von uns als „komisch“ akzeptablen Vorstellungen ab,

was auch die Bestimmung einzelner Motive – als entweder besonders relevant oder als

komisches Beiwerk – erschwert. Die Doppelung der Handlung, die im König Rother noch

als Notwendigkeit, die ganze Person des Helden darzustellen, plausibel erklärbar ist, gerät

im Salmân und Môrolf zur Fortsetzung des ersten Handlungsteiles, in dem Môrolfs neue

Listen wiederum zum Ziel führen; die Figur Môrolfs gewinnt durch die zweite

Entführungshandlung keine neuen Aspekte hinzu – es ist vermutlich einfach die Lust des

Autors und des Publikums an dieser Figur, die die strukturelle Tradition der

Handlungsdoppelung als befriedigend und erwünscht erscheinen läßt.

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Page 67: Die Unmoral des Intellekts

2.2. Môrolf, der dunkle Held

Die Figur des Môrolf stellt den Interpreten vor einige grundsätzliche Probleme. Wie

bereits angesprochen stellt sich das Verwandtschaftsverhältnis Môrolfs zu Salmân140

scheinbar nicht so eindeutig dar, wie es die eigentliche Vorstellung Môrolfs in Strophe 55

(V276-281)141 glauben macht:

Fur wâr solt ir wizzen daz: Salmân saz ûf sîm palas, bî im saz die edele kunigîn; dô saz im ze der andern sîten Môrolf der liebe bruoder sîn.

Dieser „liebe Bruder“, der sogar gleichberechtigt neben der Königin an Salmâns Seite

sitzen darf, scheint nun aber verwandtschaftlich nicht wirklich auch der Sohn Davids und

Bath-Shebas (wie Salmân) zu sein; daß diese Verwandtschaft eben nicht so eindeutig ist,

beweist die Strophe 142, in der sich Salmân über Môrolf beklagt, der gerade in den

Backofen gekrochen ist (V731-736):

„Wêrest dû der bruoder mîn, dû liezest dîn spotten sîn, mîn grôzer jâmer wêr dir leit: du enwurde nie mîn bruoder; mîn hulde sî dir gar verseit.“

Auch an anderer Stelle offenbart sich dem Leser, daß auch das hohe Ansehen, das er als

Bruder des Königs bei Hof genießt, wohl eigentlich mehr auf Salmâns Zustimmung und

Wertschätzung als auf tatsächlicher Geschwisterschaft beruht (Str. 158, V.817-822)

Dô sprach Môrolf der listige man „rîcher kunig Salmân, sît dû mîn zuo bruoder hâst verjehen, waz dû mir dan gebûtest daz sol allez beschehen.“

140 Zum folgenden vgl. Birkhan, H.: Morolfs Geheimnis. Wien 1999. (Manuskript) 141 Zitate nach Salman und Morolf. Hrsg. v. A. Karnein. (Altdeutsche Textbibliothek 85) Tübingen 1979.

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Im Hinblick auf die bereits angesprochene mögliche Verwandtschaft Môrolfs mit der

mereminne, also einem übernatürlichen, dämonischen Wesen, erscheint die

Schlußfolgerung möglich, Môrolf wäre höchstens der Halbbruder Salmâns. Dem

mythischen König David, Salmâns Vater, wurde wohl leicht ein Fehltritt mit einer

dämonischen mereminne zugetraut, und aus dieser übernatürlichen Genealogie wären dann

einige der Kunststücke Môrolfs leichter ableitbar. Die Möglichkeit, daß Môrolf aufgrund

seiner treuen Dienste, seiner Nützlichkeit und seiner Freundschaft zu Salmân von diesem

im Sinne einer Ehrbezeichnung als „Bruder“ tituliert würde, wird vom Text, trotz all der

Ungereimtheiten, die ein tatsächliches Verwandtschaftsverhältnis in Frage stellen, eher

widerlegt; so wird Môrolf oft ausdrücklich als lieber bruoder mîn oder Salmânes drût

bezeichnet.

Auch die Tradition des Spruchgedichtes von Salman und Markolf zeigt noch einige

Hinweise darauf, daß in der verbäuerlichten Figur des Markolf noch einiges vom

dämonischen Marcolis der kabbalistischen und talmudischen Tradition steckt. Denn die

Schilderung des Bauern, diese einzigartige früheste Beschreibung des Häßlichen, trägt

nicht nur (aber natürlich auch!) die Züge des tierhaften dörpers, sondern verweist vielmehr

ausdrücklich auf das „Widergöttliche und Diabolische als den latenten Ursprung der

Häßlichkeit zurück.“142 Die Dämonen der talmudischen Tradition, mit denen Salomo

Zwiesprache hält, sind „meist als scheußliche Mißgestalten geschildert, die zum Teil aus

menschlichen und tierischen Bestandteilen zusammengesetzt sind“143; Aspekte dieser

tierhaften Existenz zeigen sich auch in der Beschreibung des Bauern Markolf und seiner

Frau. Die Beschreibung des häßlichen Bauern im Dialogus läßt sich mühelos in

Teufelsdarstellungen des Hochmittelalters wiedererkennen.144 Es ist offensichtlich, daß

sich die Tradition des Dämonendialogs in der Figur des Bauern Markolf in einer

realistischeren, handfesteren Darstellungsvariante manifestiert; der Markolf des Dialogs

hat mit dem mächtigen Dämonenfürsten, der mit Salomo disputiert, nur mehr das

abstoßende, tierhaft-menschliche Äußere gemeinsam; und auch seine „Klugheit“ ist sehr

auf die realistisch-alltägliche Welt des Diesseits bezogen. An Markolf ist, abgesehen von

seiner Häßlichkeit, nichts Übernatürlich-Außergewöhnliches mehr geblieben.

142 Jauss, H.R.: Die klassische und die christliche Rechtfertigung des Häßlichen. In: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur . Hrsg. v. H.R. Jauss. München 1977. S.394. 143 Vogt, F.: Salman und Morolf. (Die deutschen Dichtungen von Salomon und Markolf, Bd. I). Halle 1880. Zitat aus dem Vorwort. S.XLVI. 144 Vgl. dazu Röcke, W.: Die Freude am Bösen. München 1987. S. 94 und Abb. S. 96f.

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Der Môrolf des Salmân und Môrolf hingegen trägt sehr wohl noch Hinweise auf seine

dämonischen Wurzeln mit sich, während sein Aussehen nirgends besonders hervorgehoben

wird. Abgesehen von dem seltsam anmutenden Verwandtschaftsverhältnis zur mereminne

besitzt Môrolf auch durchaus Fertigkeiten, die sehr an dämonische Begabungen oder

magische Praktiken denken lassen. So macht es dem Helden scheinbar nichts aus, zwei

Wochen am Meeresgrund zu verharren (Str. 342ff, V.1818-1832), um seine Verfolger

abzuschütteln – die Verwandtschaft zu einem Meerwunder erklärt diese erstaunliche

Fähigkeit viel eher, als die mechanistische Erklärung des Textes, Môrolf atme mit Hilfe

eines „Schnorchels“. Selbstverständlich ist die lange Dauer dieses Verbergens als epische

Übertreibung zu übersetzen, aber auch das Lederboot Môrolfs erinnert eher an ein

magisches Wunderding als an ein realistisch denkbares Utensil. Dasselbe trifft auch auf

den mechanischen Ring zu, den Môrolf beim Schachspiel zu Salmês Ablenkung einsetzt

(Str.248, 1301-1306). Der Schlaftrunk und die Wurzel, die Môrolf als blatternnarbigen

Krüppel erscheinen läßt (Str.618, V. 3321-3326), sind ebenfalls Hilfsmittel, die eher an

magische Utensilien etwa des Zaubermärchens denken lassen, und auch die Gegner

Môrolfs verfügen über derartige Hilfsmittel: Salmê wird immerhin zweimal mittels eines

zauberkräftigen Ringes zur Untreue gezwungen, und es ist ebenfalls eine Zauberwurzel,

die sie in scheinbare Totenstarre sinken läßt.

Das fast unheimliche Geschick Môrolfs sich zu verkleiden, ist eine weitere beinah

übermenschliche Fähigkeit, die der Protagonist als Hauptlist wieder und wieder einsetzt.

Während im weiteren Textverlauf diese Verkleidungen auf herkömmliche Weise

vorgenommen werden – in liebevoll geschilderten Details wird erzählt, welche Gewänder

und Utensilien Môrolf dafür verwendet – ist die allererste „Verkleidung“ von anderer, eher

sinistrer Natur. Môrolf sucht in Str. 159 den alten Juden Berman auf, scheinbar, um ihn um

Rat zu fragen. Anstatt diesen Rat aber abzuwarten, tötet er den Alten völlig unvermittelt

und zieht ihm die Haut ab – ein seltsam blutiges Motiv, das interessanterweise im ganzen

Epos einzig die Funktion zu besitzen scheint, Salmân seine wunderlîchen liste zu

demonstrieren!145 Diese „Verkleidung“, die aus der abgezogenen und einbalsamierten

Haut des Oberkörpers und Kopfes des alten Juden Berman besteht, wird außerdem nie

wieder verwendet, denn der Heide, den Môrolf nach seiner siebenjährigen Fahrt nach

145 Im vermutlich um 1220 entstandenen Karlsepos Morant und Galie zeigt sich eine interessante motivliche Parallele: der Verleumder Ruhart, Gegenspieler der beiden titelgebenden Protagonisten, tötet einen Pilger und verkleidet sich mit dessen Haut und Bart, um unkenntlich neue Vorwürfe bei Karl vorzubringen. Hier ist das seltsame Motiv des Häutens und Verkleidens allerdings eindeutig dem Antagonisten zugesprochen, der noch dazu als Teufelsbündler ohnehin mit bösen Mächten in Verbindung gebracht wird!

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Wendelsee am Strand trifft, spricht Môrolf als ritter lobesan an – eine Anrede, die Môrolf

nicht zustünde, wäre er nach wie vor als Berman verkleidet. Die Episode scheint deshalb

auch überflüssig, weil Salmân bereits vor diesem Mord Môrolf zum Boten und

Kundschafter bestimmt hat – es besteht eigentlich kein Anlaß, die Eignung zu dieser

Aufgabe durch die Berman-Episode unter Beweis zu stellen. Somit verbleibt diese grausige

„List“ als eigentlich handlungs-irrelevantes Detail einzig als Demonstration der liste

Môrolfs, des stolzen degen guot, bestehen; es ist wohl anzunehmen, daß für das

zeitgenössische Publikum gerade diese Episode Anlaß zu Gelächter und Schadenfreude

gab.146

Abgesehen von dem für die Epoche typischen Antisemitismus ist unter anderem dies ein

Aspekt der Figur Salmâns, die Maria Dobozy von „dämonischen und dunklen

Elementen“147 in der Figur Môrolfs sprechen lassen. Es ist offensichtlich, daß diese

Rudimente „magischen“ Wissens und Handelns wohl von der Figur des Dämonen

Marcolis – der wiederum auf der Figur des Dämonenfürsten Aschmedai der

Salomomythologie beruht – auf Môrolf übertragen wurden. Dobozy geht sogar so weit, die

list Môrolfs als wichtigstes „Erbstück“ dämonischer Provenienz zu deuten: „From the evil

demon of the legend, Môrolf has inherited many demonic characteristics, the most

prominent being list „craft“, an ambiguous term which characterizes the manner in which

he deals with every task set before him.“148 Im Gegenteil wird im Werk aber ständig

versucht, eben dieses Dämonische der List Môrolfs weniger zu betonen oder sogar zu

kaschieren.

Während tatsächlich an einigen Stellen Môrolf in Verbindung mit unheimlichen,

magischen Kräften oder Praktiken gebracht werden kann (das Hautabziehen des Juden, die

Verwandtschaft zur mereminne), so legt der Autor sonst überall großen Wert darauf, die

146 Während in dieser Episode wohl die Komik als Erklärung herhalten muß, gibt es dennoch im Salmân und Môrolf einige blinde oder, besser gesagt, funktionsreduzierte Motive. So ist das Erkennungsmerkmal der durchlöcherten Hand insofern funktionsreduziert und redundant, als Morolf Salme ohnehin wiedererkennt- obwohl die Handlung des Goldgießens in Salmes Hand sie zuvor nur aus ihrer Totenstarre wecken sollte, wird es dennoch später als entscheidendes Merkmal extra erwähnt. Auch das Motiv des (scheinbar magischen!)Ringes, den Morolf in seiner Verkleidung als Krüppel von Princian erhält, erscheint eher im Sinne einer weiteren Verdoppelung, hier zur Berman-Episode, zu stehen, da Morolf den Ring nirgends benutzt, um freies Geleit, das er sich damit ja erbittet, zu erhalten. Stattdessen wirft er den Ring am Morgen des Angriffs in die Schlafkammer Princians und Salmes und kündigt zusätzlich sein Kommen lautstark an. 147 Dobozy; M.: The Function of Knowledge and Magic in Salman and Morolf. In: The Dark Figure in Medieval German and Germanic Literature. Hrsg. von E.R. Haymes und S.C. Van D’Elden. (GAG 448) Göppingen 1986. S.27-41. 148 Zitat und im folgenden vgl. ebd., S. 28. Ob allerdings die list in diesem Zusammenhang wirklich als „demonic characteristic“ bezeichnet werden kann, ist m.E. insofern zweifelhaft, nachdem die Listigkeit im Salmân und Môrolf eher als Attribut des Rationalen und Realistischen Morolfs im Gegensatz zum irrational Magischen der Heiden betrachtet werden kann.

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möglicherweise als „magisch“ auslegbaren Komponenten von Môrolfs Handeln

herunterzuspielen: während etwa die magischen Ringe Fores und Princians eindeutig als

zouber (Str.96) bezeichnet werden, so erzählt der Autor vom Vogelsangring Môrolfs

lediglich, daß mit spehen listen eine Nachtigall darin verwirket sei. (Str. 248). Bei den

wundersamen Wurzeln verhält es sich ähnlich: als zouberwurze (Str. 120) gilt Fores Mittel,

Salmê zu betäuben, aber Môrolf verwendet zu seiner Verkleidung als Aussätziger nur eine

wurze (Str. 618).

Im allgemeinen bemüht sich der Autor sehr, technische Erklärungen oder zumindest

Hinweise auf die theoretische Realisierbarkeit von Môrolfs Listanwendungen zu geben; am

Meeresgrund atmet Môrolf mit einem „Schnorchel“, das Boot wird recht genau

beschrieben und erklärt und die Verkleidungen Môrolfs erfolgen stets unter genau

nachvollziehbarer Beschreibung der Gewandstücke und Utensilien, die Môrolf für seine

Verfolger unkenntlich machen. Dennoch bleiben diese Handlungen so wundersam und

außergewöhnlich in ihrer Effektivität, daß sie von grundsätzlich magischer Natur stammen

müssen – der Autor bemüht sich jedoch, Magie nur den Heiden zuzuschreiben und für den

Christen Môrolf dessen außergewöhnliche Geschicklichkeit und eben liste als Erklärung

anzuführen. Wenn also die Listigkeit der Heiden auf Magie beruht, dann bleibt Môrolf als

einziger, der im heutigen Wortsinne als „listig“ bezeichnet werden kann: wiederum ist es

ein vorausplanender Intellekt, der sein Handeln zweckrational gestaltet und somit

überlegen bleibt. So ist dies folgerichtig auch die Bezeichnung, die der Autor im Werk

wieder und wieder als stereotypes Synonym für den Helden verwendet: Môrolf, der listige

man.

Zweifellos stellte Môrolf auch für das zeitgenössische Publikum einen zwiespältigen

Charakter dar: als eindeutige Hauptfigur und Held des Epos ist er sowohl tugendsamer

Ritter, guter Christ, glänzender degen und Stratege, kluger Ratgeber und gebildeter

Hofmann als auch gerissener Spion, gewissenloser Meuchelmörder und primitiver Schelm

und Possenreißer. Obwohl er als mächtiger Kämpfer und durchaus tapfer geschildert wird,

so fällt doch auf, wie oft Môrolf fast ängstlich um sein Leben fürchtet, vor allem in der

direkten Gewalt Salmês. Es ist klar, daß dies nicht aus Feigheit geschieht, sondern aus der

durchgehend sehr rationalen und realistischen Einschätzung seiner Lage, einer Fähigkeit,

die ihn ja als listigen Helden auszeichnet. Die Vieldeutigkeit der Figur läßt Môrolf zur

ersten Gegenfigur des großen ernsten Helden werden – es erscheint fast so, als wäre im

71

Page 72: Die Unmoral des Intellekts

Salmân und Môrolf eine jener genretypischen, und sicher beim Publikum sehr populären

komischen Rand- und Helferfiguren des Spielmannsepos – wie etwa im König Rother die

Riesen, im Oswald der Rabe – zur unbestrittenen Hauptfigur eines eigenen Werkes

geworden, während die eigentliche Vorbildgestalt des weisen Salmân zur fast

unbedeutenden Nebenfigur wird. Môrolf ist dennoch zweifellos als Held, als stolzer degen

guot (Str.168) dargestellt; die Reste dämonischer Attribute und sein oft ethisch

ambivalentes Handeln lassen ihn jedoch als „dunklen Helden“ erscheinen.149

Salmâns Rolle im Salmân und Môrolf ist jener des Salomo im Dialogus nicht unähnlich;

voll der hochgestimmten Ideale und realitätsfremder Weisheit, braucht der betrogene

König doch den Realisten Môrolf, der an Klugheit, Weltgewandtheit und Gerissenheit

selbst den Heiden und der klugen Salmê noch bei weitem überlegen ist.

Das ungleiche Verhältnis zwischen dem „schwachen“ Salmân und dem gerissenen und

deshalb erfolgreichen Môrolf zeigt sich am ausdrücklichsten zu Ende der ersten

Entführungsepisode. Hier verkommt Salmân fast zur weinerlichen Parodie des Königtums

im König Rother, wenn Môrolf ihn erst mühselig dazu überreden muß, er solle sich – wie

im König Rother – ruhig als Pilger verkleidet an Fores Hof wagen:

Dô sprach der kunig Salmân „Môrolf, waz han ich dir getân, daz dû mich wilt senden ûf mîn leben? Hân ich den zorn umb dich verdienet, daz lâz varn, ûzerwelter degen.(Str. 386, V. 2050.2055) [...] „het ich ez gewist zuo Jerusalê, ich gibe dir des mîn trûwe, ich wêr nie komen uber sê.“ (Str. 388, V. 2061ff)

Wie Môrolf den widerwilligen König in den folgenden Strophen einkleidet und ihm

wiederholt sein Vorgehen einbleut, steht in komischem Kontrast zur entsprechenden Stelle

im König Rother. Die „List der List“, Kernstück des RII, nämlich die gewollte

Gefangennahme des verkleideten Königs, wird im Salmân und Môrolf noch

ausgeschmückt und um einige Elemente – so die fromme Begründung, Salmân wolle dem

St. Michael durch seinen Stoß ins Horn seine Seele empfehlen – erweitert, verliert aber

doch an Konsequenz im erzählerischen Gefüge, da im Salmân und Môrolf kein Graf Arnolt 149 Vgl. dazu Haymes, E.R.(Hrsg.): The Dark Figure in Medieval German and Germanic Literature. Göppingen

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Page 73: Die Unmoral des Intellekts

auf Salmâns Seite gezogen werden muß. Daß diese List möglicherweise als „Zitat“

verwendet wird, scheint auch deshalb diskutabel, weil Salmê die List, anders als

Konstantin im König Rother, sofort durchschaut und Fore warnt; dieser jedoch tut die

Ängste seiner Königin mit dem berechtigten Einwand ab, selbst wenn Môrolf käme,

Salmân müsse doch als erster sterben. (Str. 448ff). Als der Angriff schließlich erfolgt,

verteidigt sich Salmân mit dem stabeswert, das Môrolf in seiner Krücke versteckt hat – ein

Motiv, das im König Rother nicht vorkommt. Obwohl Môrolf in diesen Szenen nicht

zugegen ist, wird doch deutlich, daß es dennoch seine Voraussicht und Listigkeit waren,

die Salmân erretten. Bei der erwähnten Einkleidung zeigt sich bereits, daß Môrolf sogar

weiter denkt, als es im König Rother der Autor tut – das im Salmân und Môrolf eingeführte

Stabschwert ist tatsächlich der einzige vernünftige Grund, der den Königsmord lange

genug verhindern kann. Die „Lorbeeren“ für die gelungene List kann also wiederum

Môrolf für sich verbuchen; Salmân kämpft zwar wie ein Löwe, doch erst die kluge

Vorausplanung Môrolfs macht Rettung möglich. Obwohl Môrolf eindeutig der Held des

Epos ist, so ist Salmân dennoch als Motivator der Geschichte relevant. Er ist es, der Môrolf

ausschickt, und es ist seine Liebe zu Salmê, die das Geschehen motiviert. Môrolf scheint

im Gegensatz zu ihm nicht zur Liebe fähig; er wird viel eher als misogyner Menschenfeind

und Zyniker geschildert. Folgerichtig ist auch der Humor Môrolfs –ebenso wie der

Markolfs im Dialogus – zwar obszön, aber eher von analer als sexueller Prägung.

Das Gegensatzpaar Salmân-Môrolf ist weniger entscheidend als die Opposition Môrolfs

zu Salmê. Die untreue Königin ist eine Figur von seltsamer Ambivalenz; obwohl ihr vom

Verfasser des Werkes durch die ausdrückliche Erwähnung der magischen Ringe, die sie

schuldlos zur Untreue treiben, eigentlich nicht die Verantwortung für ihr Handeln

angelastet wird, so wird sie doch schon als „Bösewicht“ eingeführt:

Ez waz ein ubel stunde Daz si an die welt wart ie geborn.(Str.2, V.9f)

Es ist ihre atemberaubende Schönheit, die sie zur Versuchung für alle Männer und diese

zu ihren „Minnesklaven“150 werden läßt; schon Salmân hatte sie ja deshalb ihrem Vater

aus Endian entführen lassen. Der einzige, der gegenüber ihren Reizen offenbar immun ist,

ist Môrolf, der scheinbar kein Interesse an Frauen im allgemeinen, auch nicht an Affer, 1986.

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Page 74: Die Unmoral des Intellekts

zeigt. Sobald Salmê nun – mit Hilfe des heidnischen Zauberrings – an den Höfen ihrer

jeweiligen Entführer ist, wird sie zur gefährlichsten Gegenspielerin Môrolfs.151 Sie weiß

um seine außerordentliche Listigkeit und durchschaut seine Pläne oft im Voraus – dennoch

kann sich Môrolf meistens darauf verlassen, daß die heidnischen, aber doch ehrenhaften

Entführer Fore und Princian seinen Plänen entsprechend handeln werden, obwohl Salmê

sie zuvor vergeblich warnt. Môrolf, scheinbar in weiser Voraussicht der weiteren

Geschehnisse, mißtraute der schönen Königin schon vor ihrer Verzauberung und richtet ja

auch bereits von Anbeginn großes Augenmerk auf die tugendhafte Schwester Fores, die

spätere Affer– er sucht sie ja etwa schon im Schachspiel gegen Salmê zu gewinnen. Das

Brautwerbungs- bzw. Brautentführungsschema erscheint im Salmân und Môrolf nicht nur

verdoppelt, sondern – in Vorgeschichte in Endian und im Ausgang mit Affer – sogar

vervierfacht; bei soviel Liebeswirren erscheint der von Liebe völlig unberührte Môrolf als

einzig handlungsfähiger, weil emotional unbeteiligter Akteur.152 Aus diesem Grund muß

Môrolf auch Salmân zweimal das Versprechen abnehmen, nach der zweiten Rückholung

über Salmês Leben bestimmen zu dürfen; erst nach dem Tod der unheilvollen Schönen ist

für Salmân eine glückliche Beziehung zur tugendhaften Affer möglich.

Die Listanwendungen im einzelnen sind, dem restlichen Epos entsprechend, stark durch

das Motiv der Wiederholung geprägt. Die „Hauptlist“ Môrolfs ist, wie bereits

angesprochen, die Verkleidung; kein anderer Held versteht sich so meisterhaft darauf,

seine Identität im Feindesland derart zu verschleiern. An Fores Hof versagt die

Verkleidung als Pilger zwar gegenüber Salmê, die den verhaßten Schwager erkennt, aber

die zweite Ausfahrt Môrolfs zu Princian besteht dann fast ausschließlich aus der

märchenhaft anmutenden Verkleidungskette, die die Verfolger wieder und wieder

abschüttelt. Natürlich ist es nicht nur das Gewand, das Môrolf zum begabten

Verkleidungskünstler werden läßt, er versteht es auch hervorragend, sich zu verstellen und

das genaue Verhalten jener Person anzunehmen, die er imitiert. So unterstreicht er seine

150 Vgl. dazu Maurer, F.: Der Topos von den „Minnesklaven“: Zur Geschichte einer thematischen Gemeinschaft zwischen bildender Kunst und Dichtung im Mittelalter. In: DVjS 27 (1953), S. 182-206. 151 R. Fisher sieht in Salme sogar eine ebenso „übernatürliche“ Figur wie im Morolf, deren minne-Zauber er sowohl als heidnisch als auch dämonisch bezeichnet. Tatsächlich ist es die scheinbare „Ebenbürtigkeit“ an List und Klugheit, die Salme, besonders in der Verfolgungsreihe, den Anschein übernatürlichen Wissens gibt. Im Werk selbst sind allerdings keinerlei Hinweise auf tatsächliche dämonische Wurzeln der Königin gegeben. Vgl. Fisher, R.: Studies in the Demonic in Selected Middle High German Epics. (GAG 132). Göppingen 1974. S.37ff. 152 Die fatalistische Schlußfolgerung zu ziehen, minne sei in der Welt nicht möglich, läßt einerseits den Aspekt der Verzauberung Salmes und die Möglichkeit glücklicher minne mit Affer unberücksichtigt. Vgl. dazu Miklautsch, L.: Salman und Morolf – Thema und Variation. In: Ir sult sprechen willekomen. Grenzenlose Mediävistik. Festschrift f. Helmut Birkhan. Bern-Berlin... 1998. S.284ff. Und: Birkhan, H.: Morolfs Geheimnis. Wien 1999. (Manuskript) S.3.

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Page 75: Die Unmoral des Intellekts

Darstellung als siecher Krüppel vor Princian durch gewaltiges Furzen – wiederum sicher

ein Lacherfolg beim Publikum – und als Spielmann verkleidet versteht er es sogar, seine

Verfolger einen ganzen Tag lang durch sein Harfenspiel zu unterhalten. Als Fleischer

verkleidet schafft er es, binnen kürzester Zeit so großen geschäftlichen Andrang um sich zu

scharen, als sei er tatsächlich ein Angehöriger der Fleischerzunft.

Môrolfs Listen sind zum großen Teil von Hilfsmitteln abhängig, die ihn, als Besitzer und

Anwender dieser oft wundersamen, aber – wie erwähnt – nicht offensichtlich als magisch

bezeichneten Requisiten, in die Lage versetzen, seinen Opponenten zu widerstehen und

ihnen zu entkommen. Das Wissen um diese Mittel ist ebenso bedeutsam für den Erfolg wie

deren richtige Anwendung. Dazu zählen etwa der Schlaftrunk, das Lederboot, der Ring mit

dem Vogelautomaten, die Wurzel, die ihn zum Krüppel entstellt und natürlich seine

Verkleidungen. Auch das Stabschwert, das Môrolf, als Krücke getarnt, Salmân mitgibt, ist

ein derartiges Requisit, das ihm einen Vorteil verschafft. Es ist natürlich die Listigkeit und

Klugheit des Helden, die ihn diese Mittel verwenden läßt, aber grundsätzlich verläßt sich

Môrolf mehr als etwa Rother auf derartige Utensilien.

Es bedarf immer noch der aktiven Mitwirkung Môrolfs, diese Gegenstände optimal zu

benutzen – die beste Verkleidung wird erst durch das perfekte Schauspiel nützlich, und

auch der Schlaftrunk muß erst listenreich in die Getränke der Opfer fabriziert werden –,

und genau hier zeigt sich wiederum die Überlegenheit des listigen Helden, Klugheit und

Wissen zu seinen Vorteilen zu nutzen. Auch Fore und Princian schaffen es durch

(magische!) Gegenstände und auf durchaus listige Weise, Salmê zu entführen, aber Môrolf

ist den Heiden nicht nur an List, sondern auch an Hilfsmitteln – und damit an Wissen um

diese Hilfsmittel – überlegen. Dieses Wissen ist vom Autor als nicht-magisch geschildert;

Maria Dobozy stellt fest:„the poem attempts to explain most events rationally and treats

the construction of Môrolf’s leather boat, the use of numerous disguises, herbs and potions

not as magic, but as technological skill, cunning and understanding of natural

phenomena.“153 Obwohl Môrolf wie besprochen noch Elemente dämonischer

Abstammung in sich trägt, ist im Salmân und Môrolf grundsätzlich der Held als durch

eigene Verstandesleistung überlegene Figur gezeichnet. Môrolf zeichnet, mehr noch als

etwa Rother, der Wille zur zweckrationalen Durchsetzung seiner Vorhaben aus; durch

153 Dobozy, M.: The Function of Knowledge and Magic in Salman und Morolf. In: The Dark Figure in Medieval German and Germanic Literature. Hrsg. v. E.R. Haymes u. S.C. Van D’Elden. (GAG 448) Göppingen 1986. S.39.

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Page 76: Die Unmoral des Intellekts

seine Rolle als Ratgeber und Botschafter ist er auch weniger ethisch gebunden, als dies

beim Handeln eines idealen Königs wie Rother der Fall ist.

Zu all der List gesellt sich die ungehemmte Lust Môrolfs, mit seinen Opfern auch noch

derbe Scherze zu treiben. Abgesehen von der Judenhäutung ist es vor allem die

Fluchtepisode mit anschließender Tonsurierung und Vertauschung der Bettgenossen, das

wiederholte Furzen und die Flucht mit den wechselnden Verkleidungen, die im Salmân

und Môrolf einen Vorläufer der Schelmen- und Narrenliteratur vermuten ließen. „Das

Werk ist zweifelsfrei einer der ersten deutschen Schelmenromane, dem man nicht gar zu

viel des Ernsthaft-Intentionalen auffrachten sollte.“154 Spiewok sieht im Môrolf „das

ritterlich kostümierte Urbild des Schelmen“155 und lehnt auch in diesem Zusammenhang

die Zuordnung zum ungeliebten Genre „Spielmannsepos“ ab. Diese ritterliche

„Kostümierung“ geht aber im Werk andererseits dennoch so weit, daß Môrolf wegen

seiner „verbrecherischen Taten“156 nirgends getadelt, sondern im Gegenteil immer als

tugendhafter Ritter geschildert wird, der als Bruder und Untergebener seines Königs allein

in dessen Auftrag handelt. Die Verweise auf die dämonische Natur und auf „Môrolfs

Geheimnis“157 lassen außerdem doch auch an engere und komplexere Einbindung der

Figur in den mythologisch-epischen Zusammenhang denken, als dies im Kontext eines

tatsächlichen Schelmenromans wahrscheinlich wäre. Vielleicht wird die neutralere

Bezeichnung Môrolfs als „trickster-hero“ oder eben „listiger Held“ dieser facettenreichen

Figur gerechter als die eindeutige Festlegung (und somit auch Datierung!) auf das Bild des

Schelms. Daß die Figuren, die hier unter dieser Bezeichnung gesammelt untersucht

werden, zum Teil Charakteristika der späteren Schelmenfigur aufweisen, sei

selbstverständlich zugestanden.

154 Spiewok,W.: Geschichte der deutschen Literatur des Spätmittelalters. (Bd.1) (Wodan 64) Greifswald 1997. S.358. 155 ebd., S. 357. 156 Ebd., S. 357. 157 Birkhan, H.: Morolfs Geheimnis. Wien 1999. (Manuskript)

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Page 77: Die Unmoral des Intellekts

3. Der Tristan Gottfrieds von Straßburg

3.1. Zu Autor und Werk

Im ersten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts entstand im deutschen Südwesten der

bedeutendste deutschsprachige Versroman zum Tristan-Stoff, geschrieben von einem

„meister“, den spätere Autoren, so die Fortsetzer des unvollendeten Werkes, Ulrich von

Türheim und Heinrich von Freiberg, Gottfried von Straßburg nennen. Im Werk selbst gibt

der Autor keine genauen Hinweise auf sich oder seine Biographie, nur ein Akrostichon

innerhalb der elf vierzeiligen Eingangsstrophen – dessen Buchstabenfolge G DIETERICH

TI ergibt – kann wahrscheinlich auf den Anfangsbuchstaben des Autorennamens, den

möglichen Gönner und die Initialen der Hauptpersonen bezogen werden. Wenngleich über

Herkunft, Bildung und sozialen Stand Gottfrieds viel spekuliert wurde, kann mit einiger

Sicherheit eigentlich nur angenommen werden, daß er ein hochgebildeter Mann auf der

Höhe des zeitgenössischen (somit klerikalen) Bildungsstandes war und neben seinem

unvollendeten Tristanroman noch eine Reihe lyrischer Dichtungen geschaffen haben muß.

Aus den umfassenden (literatur-)geschichtlichen, religiösen und philosophischen

Kenntnissen des Autors kann vielleicht gemutmaßt werden, daß dieser selbst Geistlicher

war; als Kleriker mag er im Dienst des Straßburger bischöflichen Hofes oder des

städtischen Adels gestanden haben, wobei der mutmaßliche Gönner Dieterich, den das

Akrostichon nennt, unbestimmt geblieben ist.

Auch der Titel des meisters, den die Fortsetzer Gottfried geben, läßt auf das Klerikertum

Gottfrieds schließen, da Wolfram den ebenfalls geistlichen Chretien de Troyes auch als

solchen bezeichnet. Gegen die Annahme, Gottfried sei von Adel gewesen, spricht

einerseits der Tristan-Roman selbst, der an vielen Stellen eine gewisse Geringschätzung

des Rittertums durchscheinen läßt, andererseits auch die Tatsache, daß dem Bild Gottfrieds

in der Manessischen Liederhandschrift kein Wappen zugeordnet ist. Daß Gottfried, neben

der anderen immer unwahrscheinlicher werdenden Möglichkeit, er sei Mitglied des frühen

Bürgertums gewesen, möglicherweise trotz aller gegenteiligen Hinweise selbst von Adel

gewesen sein könnte, sucht Wolfgang Jupé gerade durch die Anrede Gottfrieds als meister

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Page 78: Die Unmoral des Intellekts

zu begründen; Isolde spricht Tristan ebenso als solchen an, und Gottfried könne außerdem,

so Jupé, die Details der höfischen Jagd auch nur aus eigener Erfahrung gelernt haben. 158

Der Versroman, der nach 19548 Versen abbricht,– dieses unvermittelte Abbrechen läßt

eher an den Tod des Autors oder sonst einen äußeren Anlaß als an ein Aufgeben der Arbeit

am Werk denken– ist relativ reich und gut überliefert. Insgesamt gibt es gegenwärtig 27

Textzeugen, davon elf vollständige Handschriften und 16 Fragmente, die zum Großteil

ebenfalls im Südwesten Deutschlands entstanden sein müssen. Elf davon entstammen dem

13. Jh., neun dem 14.Jh. und die restlichen sechs entstanden im 15. Jh. – W. Spiewok159

errechnet unter Zuhilfenahme einer Methode Bernd Schiroks160 die stattliche Zahl von 276

Tristan-Kopien, die zwischen dem 13. und 15. Jh. entstanden sein müßten. Abgesehen von

einer einzigen Ausnahme wurde das Werk stets in Verbindung mit einer der beiden

Fortsetzungen abgeschrieben; offenkundig war das Interesse groß, trotz des (vermuteten)

Todes des Autors ein vollständiges Werk zu bekommen.

Der Stoff, den Gottfried in seinem Roman zur „unbegreiflichen Erfüllung der

mittelhochdeutschen Erzählkunst, (zum) kurzen klassischen Moment des

Hochmittelalters“161 gestaltet, war keineswegs neu oder unbekannt. In den vorausgehenden

Jahrzehnten waren in Frankreich wie Deutschland Tristan-Romane entstanden, die

einerseits auf eine keltische Urschicht, der Geschichte von Diarmait und Grainne, und

sekundär wohl auf eine nicht überlieferte, aber als wahrscheinlich anzunehmende

altfranzösische epische Dichtung zurückzuverfolgen ist, die schlichtweg „Estoire“ genannt

ist. Diese wird wohl am Hof Alienors von Aquitanien, der Gattin des englischen Königs

Heinrich II. Plantagenet, Mitte des 12. Jhs. entstanden sein. Diese erste versepische

Fassung war Grundlage für mindestens drei poetische Adaptationen: das bruchstückhaft

überlieferte altfränzösische Werk eines Dichters namens Berol um 1180, das

deutschsprachige Werk Eilharts von Oberg (um 1170), das die einzige vollständige

Tristandichtung des französischen und deutschen Mittelalters darstellt, und schließlich das

ebenfalls nur fragmentarisch überlieferte Werk des am Londoner Hof dichtenden Thomas

de Bretagne (zwischen 1172 und 1175). Diesen Tristan-Roman Thomas‘ nutzte nun auch

158 Vgl. dazu Jupé, W.: Die List im Tristanroman Gottfrieds von Straßburg. Heidelberg 1976. S. 32, Anm. 9. T159 Vgl. das Vorwort zur Tristan-Ausgabe W. Spiewoks. Gottfried von Straßburg:Tristan und Isolde. Originaltext nach F. Ranke und Übersetzung von W. Spiewok. (Wodan 9) Greifswald 1991. S. 7. 160 Schirok, B.: Parzivalrezeption im Mittelalter. Darmstadt 1982. 161 Wehrli, M.: Geschichte der Literatur im deutschen Mittelalter. 3. Aufl., Stuttgart 1997. S.262.

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Gottfried als Vorlage, was er in der Einleitung auch bestätigt; dennoch ist der Tristan

Gottfrieds, durch seine einzigartige „ästhetische Reife der dichterischen Um- und

Neugestaltung“162, gleichsam zur bekanntesten und bedeutendsten Version des Stoffes

schon in den Augen der Zeitgenossen geworden.

Der Stoffkomplex um die unglücklich und ungeachtet der gesellschaftlichen Norm

Liebenden stellt in der Literatur des Mittelalters eine bemerkenswerte Ausnahme dar.

Inmitten der literarisch fruchtbaren Welt des westlichen Europas des 12. Jhs. „ [...]leistete

die Geschichte von Tristan und Isolde einen besonderen Beitrag, indem sie in der

Auseinandersetzung mit dem Schicksal eines mittelalterlichen Liebespaares auf

eigentümlich eindringliche Art den Menschen zum beunruhigenden Zentrum einer Mythe

macht. Es ist dies der Mensch in einem besonderen Sinn, nicht als Heiliger, als Herrscher

oder nicht einmal in erster Linie als Krieger, sondern der Mensch als Träger und

Verwirklicher des Eros: vor allem in der Version Gottfrieds erscheint dieser Mensch als

neuer Typ.“163 Wolfs Interpretation der Geschichte von Tristan und Isolde als Mythe des

Hochmittelalters spricht aber zugleich Gottfrieds Werk zu, die Tristanmythe entscheidend

zu erweitern und qualitativ zu erheben: „Die Anleihen bei religiösen Vorstellungen und

Denkformen und die Analogie zu religiös inspirierten Verfahrensweisen erreichen bei

Gottfried eine derartige Intensität, daß man davor die Augen nicht verschließen kann.

Wollte der Dichter damit der elementaren Aussagekraft der Mythe eine zusätzliche und

bisher darin nicht wirksam gewordene Verbindlichkeit verleihen?“164 So wenig uns das

unvollendete Werk Gottfrieds auch verläßliche Antwort geben kann, so unmißverständlich

besteht doch der gewandelte Anspruch, der bekannten Mythe von Tristan und Isolde in

neuer, höchst höfischer Form eine unerreicht kunstvolle und auch philosophische Form zu

geben.

Zunächst zum Inhalt.165

Vorgeschichte: Riwalin, der junge Herr von Parmenien in der Bretagne, beginnt einen Krieg gegen seinen Lehensherren Herzog Morgan, der nach gegenseitigen Verwüstungen

162 Vgl. das Vorwort zur Tristan-Ausgabe W. Spiewoks. Gottfried von Straßburg:Tristan und Isolde. Originaltext nach F. Ranke und Übersetzung von W. Spiewok. (Wodan 9) Greifswald 1991. S. 9. 163 Wolf, A.: Gottfried von Straßburg und die Mythe von Tristan und Isolde. Darmstadt 1989. S.3. (Sperrung von mir). 164 Ebd., S.6f. 165 Die Inhaltsangabe folgt der Zusammenfassung in Bräuer, R.: Dichtung des europäischen Mittelalters. München 1990. S.376-383.

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in einem einjährigen Waffenstillstand endet. Riwalin begibt sich an den Hof König Markes, des Herren über England und Cornwall, um seine Erziehung zu vervollkommnen; seinem Marschall Rual li Foitenant überläßt er in dieser Zeit die Regentschaft in seinem Reich. In Tintanjol, dem Hof Markes, wird er mit seinen 12 Begleitern herzlich aufgenommen; hier trifft er auch Blanscheflur, die schöne Schwester Markes auf einem Maienfest kennen und die beiden verlieben sich. In einem plötzlich ausbrechenden Krieg wird Riwalin in Markes Diensten fast tödlich verwundet und als Todgeweihter zurück nach Tintanjol gebracht. Blanscheflur dringt in Verkleidung zu dem Verwundeten vor, und ihre Liebe schafft das Wunder, Riwalin zu heilen. Dabei geschieht es, daß sie ein Kind von ihm empfängt. Als die Kunde kommt, daß Morgan ein neues Heer gegen Riwalin gesammelt hat, muß dieser zurück in seine Heimat aufbrechen; Blanscheflur, die ihm bei seinem Abschied ihre Schwangerschaft mitteilt, nimmt er heimlich auf seinem Schiff mit. Sie lassen sich trauen, aber bald darauf stirbt Riwalin im Kampf gegen Morgan; als Blanscheflur die Nachricht erhält, gebiert sie ihren Sohn und stirbt vor Schmerz. Tristans Jugend: Der treue Marschall Rual nimmt sich des Waisen an, um ihn vor Morgan zu schützen, und taufen ihn auf den sprechenden Namen Tristan (von franz. triste = traurig), belassen ihn aber in Unkenntnis seiner wahren Herkunft. Bis zu seinem siebten Lebensjahr erzieht ihn seine Adoptivmutter Floraete, dann wird er weitere sieben Jahre von einem gebildeten Erzieher betreut, der mit ihm fremde Länder bereist, damit er eine möglichst allumfassende Bildung in allen Wissenschaften, Künsten und Sprachen erhalten solle. Tristans außergewöhnliche Kunstfertigkeit und Kenntnisse auf allen Gebieten fällt norwegischen Kaufleuten auf, die in Parmenien mit ihrem Schiff anlegen; als Tristan und sein Lehrer ins Schachspiel an Bord des Schiffes vertieft sind, lichten sie den Anker, um das so vielbegabte Kind zu entführen; den Lehrer setzen sie in einem Boot aus, er berichtet zuhause den Zieheltern von dem Unglück. Als ein großer Sturm aufzieht, befürchten die Kaufleute den Zorn Gottes und setzen den Entführten an Land – in Cornwall. Pilgern gegenüber, die er vorsichtig um den Weg fragt, gibt er sich als Angehöriger einer Jagdgesellschaft aus; auf dem gewiesenen Weg nach Tintanjol begegnet Tristan wirklich einer derartigen Jagdgesellschaft des Hofes König Markes. Er verblüfft sie durch seine Fertigkeiten, als er ihnen demonstriert, wie ein Hirsch weidgerecht zerlegt wird; auf die Frage der Jäger gibt er sich nun als Kaufmannssohn aus, der von zu Hause durchgebrannt ist. Staunend empfängt man am Hof Markes den unter Tristans Anleitung kunstvoll angeordneten Jagdzug, und Marke ernennt das angebliche Kaufmannskind sofort voll Zuneigung zum Jagdmeister. Bei Hof verblüfft Tristan alle mit seinem ausgezeichneten Harfenspiel und Gesang in den verschiedensten Sprachen. Während Tristan in den folgenden vier Jahren von Marke wie sein Sohn gehalten wird, sucht Rual in aller Herren Länder nach dem entführten Ziehsohn, und kommt schließlich völlig verarmt an Markes Hof. Nun erfahren sowohl Tristan als auch Marke von der wahren Identität und Abstammung Tristans, und Marke will überglücklich Tristan als Erben einsetzen. Anstatt der Beschreibung der nun folgenden Schwertleite gibt Gottfried jedoch in einem Exkurs eine „Literaturkritik“ oder Dichterschau der Zeitgenossen, wo es statt um Waffenruhm um Dichtertum geht. Auch danach kommt Gottfried eher halbherzig auf den weiteren Verlauf der Schwertleite zu sprechen, mit dem Argument, es sollen die Knappen, die die Lanzen eingesammelt hätten, davon erzählen. Tristan begibt sich mit Rual zurück nach Parmenien und zieht mit einem Gefolge aus, seinen Vater zu rächen. In der Verkleidung einer Jagdgesellschaft sucht Tristan Morgan auf der Jagd auf, und nach einem beleidigenden Wortwechsel erschlägt Tristan den Mörder seines Vaters, bevor dieser Gelegenheit hat sich zur Wehr zu setzen. In der anschließenden Schlacht siegt Tristan mit Hilfe Ruals, beschließt aber, sein Land wieder zu verlassen und

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den alten Marschall wieder als seinen Stellvertreter einzusetzen. In Cornwall hingegen herrscht gerade großes Unglück: Irland und der mächtige Herzog Morold hat Jahr für Jahr die Zinsforderungen an Marke auf demütigende Weise erhöht, und beim Eintreffen Tristans soll gerade um die Kinder der Fürsten gelost werden, die nach Irland gesandt werden müßten. Tristan findet jedoch einen juristischen Ausweg: durch einen siegreichen Zweikampf mit Morold kann die Forderung für nichtig erklärt werden. So kommt es zum Duell auf einer kleinen Insel; Morold verwundet Tristan mit seiner vergifteten Klinge, aber Tristan schafft es dennoch, den Hünen zu töten. Dabei bleibt ein Splitter seines Schwertes in Morolds Schädel stecken. Tristan verbirgt seine Wunde vor den restlichen Iren, aber im Laufe der Wochen nach dem gewonnenen Kampf wird die Vergiftung immer lebensbedrohender; und nur Isolde, die Schwester Morolds, kann diese Vergiftung heilen. So entschließt sich Tristan zu der gefährlichen Fahrt; weil in Irland die neue Regel galt, daß jeder aus Cornwall, der Irland betrete, sofort getötet werden soll, verfällt er auf eine List. Vor der Küste Dublins läßt er sich, ärmlich gekleidet, nur mit seiner Harfe in einem treibenden Boot aussetzen; die nahenden Iren sind von seinem Spiel so bezaubert, daß sie ihn mit sich nehmen. Tristan gibt sich als ehemaliger Spielmann und Kaufmann namens Tantris aus, dessen Schiff Seeräubern in die Hände gefallen wäre; seine große Bildung und sein musisches Talent beeindrucken auch die Königin Isolde, die ihn in zwanzig Tagen wieder gesund pflegt. Als Gegenleistung bittet die Königin, ihre Tochter, die junge Isolde, in seinen Künsten zu unterrichten, da er hervorragender geeignet wäre als der Kleriker, der zuvor Isoldes Lehrmeister gewesen war. Tristan stimmt zu, und sie wird durch seinen Unterricht in Wissenschaften, Künsten, Sprachen und Musik zur vollkommenen, verführerischen Schönheit erzogen. Nach einem halben Jahr verläßt Tristan/Tantris Irland, und begibt sich zurück zu Marke. Dort lobt er Isoldes Schönheit und die neidischen Barone, die Tristan als Nachfolger Markes ablehnen, schlagen Tristan als Brautwerber für Marke vor – in der Hoffnung, er werde diese gefährliche Werbungsfahrt nicht überleben. Als Tristan den Auftrag annimmt, weiß er, daß ein Drache seit längerem Irland verwüstet, und daß dem Töter dieses Ungeheuers vom König die Hand Isoldes versprochen ist. Als Kaufmann verkleidet betritt Tristan Irland und tötet den Drachen nach heftigem Kampf; als Wahrzeichen seines Sieges schneidet er dem Ungeheuer die Zunge aus dem Maul, bricht aber, von ihren Dämpfen und vor Erschöpfung betäubt, an einem nahegelegenen Quell zusammen. Der Truchseß, den Tristan zuvor noch vor dem Drachen fliehen sah, nutzt die Gelegenheit und gibt sich, mit dem Kopf des Drachen als Beweis, als Drachentöter und daher Kandidat für Isoldes Hand aus. Die beiden Isolden mißtrauen dem als großmäulig bekannten Truchseß und finden tatsächlich Tristan an der Quelle. Als sie ihn pflegen, entdeckt die junge Isolde die Scharte in Tristans Schwert und erkennt die Identität von Tantris mit dem verhaßten Onkelmörder Tristan. Sie will ihn voll Zorn im Bad mit seinem eigenen Schwert erschlagen, aber die besonnene Königin tritt rettend dazwischen. Es kommt zur Versöhnung, und Tristan berichtet von seinem Auftrag, für Marke um Isolde zu werben. An einem Hoftag beweist danach Tristan durch die Drachenzunge die Lügenhaftigkeit des Truchsessen. Es wird zur Rückfahrt nach Cornwall gerüstet, um in der Heirat zwischen Marke und Isolde auch die beiden Reiche zu versöhnen. Die Königin übergibt Brangäne, der vertrauten Freundin Isoldes, einen Liebestrank, den sie Marke und Isolde heimlich zu trinken geben soll. Auf der Überfahrt kommt es allerdings zu einer folgenreichen Verwechslung: ein Kammermädchen kredenzt Tristan und Isolde statt Wein den Liebestrank, Brangäne kann nur mehr zu spät die leere Flasche ins Meer werfen. Tristan und Isolde verzehren sich in Liebessehnsucht, sie gestehen einander ihre Gefühle und es kommt zur Liebesvereinigung. Trotz aller Scham und auch aus Schuldgefühl wegen ihrer

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Unachtsamkeit mit dem Liebes-trank willigt Brangäne ein, anstatt Isolde in der Hochzeitsnacht das Lager mit Marke zu teilen, um Isoldes verlorene Unschuld nicht ruchbar werden zu lassen. Tatsächlich gelingt nach der Hochzeit die List, Marke hält erst ab Mitternacht nach Brangäne Isolde in seinen Armen, was auch zeigt, wie wenig er ihrer würdig ist. Isolde bekommt Zweifel an Brangänes Diskretion und befiehlt daher zwei Knappen, Brangäne im Wald zu töten. Als diese Brangäne um den Grund fragen, erfindet sie eine Lüge über zwei Hemden, wobei sie den Zorn Isoldes wegen der kurzzeitigen Weigerung, ihr ein Hemd zu überlassen, erregt habe. Die Knappen kehren an den Hof zurück und zeigen als Wahrzeichen des Mordes die Zunge eines Jagdhundes. Als Isolde erfährt, was die Tote noch erzählt habe, reut sie ihre Tat, und sie will die beiden hängen lassen. Dann klärt sich aber die Notlüge der vermeintlichen Mörder auf, und Brangäne kehrt wohlbehalten zur reuigen Isolde zurück. Tristan und Isolde verbergen vor dem ganzen Hof ihre Liebesbeziehung. Als ein irischer Ritter und Minnesänger mit einer Rotte, Gandin, an Markes Hof kommt, verspricht Marke leichtsinnigerweise, ihm jeden Lohn für sein Spiel zu gewähren. Natürlich verlangt er Isolde, und es liegt an Tristan, sie wieder zurückzugewinnen. Als Spielmann verkleidet spielt er Gandin und Isolde am Strand auf der Harfe so lange seine Weisen vor, bis wegen der Flut ein Erreichen des Schiffes nur mehr mit einem Pferd möglich ist; Gandin bittet Tristan, Isolde überzusetzen, und dieser reitet natürlich mit seiner Geliebten sofort davon. Tristan bringt sie Marke zurück, schilt ihn aber wegen seiner Leichtgläubigkeit. Der folgende Abschnitt schildert das gefahrvolle und listenreiche Leben von Tristan und Isolde unter dem neidischen Argwohn und sich steigernden Verdacht des Hofes. Markes Truchseß Marjodo, der Tristans Schlafgenosse ist, ist in Isolde ebenso verliebt, und er verfolgt eines Nachts die Fußspuren Tristans im Schnee zu Isoldes Kammer. Er wagt zwar nicht, seine Beobachtung laut zu äußern, sät aber Zweifel beim König. Marke gibt als Test für Isoldes Treue vor, eine Wallfahrt zu planen; auf Brangänes Anraten wünscht sich Isolde aber nach mehreren Gesprächen listigerweise Marjodo anstatt Tristan als Beschützer, was Markes Verdacht wieder zerstreut. Mit Hilfe des listigen Hofzwerges Melot von Aquitanien überwacht Marjodo Tristan und Isolde, und jener Zwerg schürt erneut Zweifel bei Marke – Tristan wird verboten, Isolde auch nur zu sehen. Als sich Marke nun vorgeblich auf Jagd begibt, verabreden sich Tristan und Isolde zu einem Stelldichein im Baumgarten, das durch die List der Späne mit den eingeschnitzten Initialen der Liebenden vereinbart wird. Tristan überläßt nämlich diese Späne dem an der Frauenkemenate vorbeifließenden Bach, was für Isolde das vereinbarte Zeichen bedeutet sich zu treffen. Nach acht Nächten entdeckt dies der Zwerg, und Marke und er verstecken sich in der Krone eines Baumes, gerade über dem wartenden Tristan. Dieser bemerkt allerdings die Schatten, und auch Isolde merkt an seinem starren Stehenbleiben den Verrat. In einer listigen Täuschungsrede ruft Isolde Gott als Zeugen an, daß sie noch nie einen anderen geliebt habe als den einen, der als erster ihr Lager geteilt habe. Marke, beruhigt wegen dieser Szene im Garten, erlaubt Tristan sogar wieder, in der königliche Kemenate zu schlafen; als eines Morgens Tristan, Marke und Isolde zur Ader gelassen werden und Marke anschließend zur Kirche geht, streut Melot Mehl zwischen die Betten. Tristan bemerkt dies zwar, aber bei seinem gewaltigen Sprung zu Isolde platzt ihm die Ader, und Isoldes und auch sein Bett bleiben blutbefleckt, ohne daß jedoch Fußspuren zu finden wären. Der vor neuer Eifersucht verzweifelnde Marke lädt daraufhin den

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Fürstenrat nach London, wo über Schuld oder Unschuld Isoldes beraten werden soll. Zu dem vom Rat vorgeschlagenen Gottesurteil des glühenden Eisens, das sechs Wochen später stattfindet, kommt Tristan als Pilger verkleidet. Isolde läßt sich wie heimlich vereinbart von diesem vom Schiff tragen, wobei er absichtlich stolpert, so daß sie in den Armen des vermeintlich Fremden zu liegen kommt. Wahrheitsgemäß kann sie danach schwören, nur in den Armen Markes gelegen zu sein – und in jenen des Pilgers. Unbeschadet kann sie das glühende Eisen tragen, und Marke verzeiht ihr erneut. Obwohl damit auch Tristan entlastet ist, verläßt er Markes Hof und begibt sich in die Fremde zu Herzog Gilan, der Tristans Schwermut durch das Wunderhündchen Petitcriu heilt, das ein Glöckchen am Hals hat, bei dessen Klang alle Schmerzen verfliegen. Nach Tristans siegreichem Kampf gegen den das Land heimsuchenden Riesen Urgan schenkt Gilan dieses Hündchen Tristan, der es zu Isolde schicken läßt. Diese will aber ohne Tristan kein Glück empfinden und reißt das wundersame Glöckchen ab. Als Tristan danach wieder zu Marke zurückkehrt, reichen diesem wegen der altbekannten Gerüchte bereits die Blicke und Gebärden der Liebenden als Anlaß, sie scheinbar endgültig und resignierend gemeinsam vom Hof zu verbannen. Es folgt die berühmte Episode und Allegorie der Minnegrotte, in deren überirdisch harmonischem Reich die beiden Liebenden in Frieden und Liebe leben. In diesem paradiesischen „Tempel“ der Liebe inmitten der unberührten Natur erreicht das Werk sowohl künstlerisch als auch ideell seinen Höhepunkt. Als eines Tages Marke auf der Jagd die Grotte findet, und darin Tristan und Isolde sieht, die, gewarnt vom Lärm der Jagdgesellschaft, mit Tristans trennendem Schwert zwischen sich auf dem Bett liegen, verzeiht er Isolde erneut und läßt sie wieder an seinen Hof holen, sie dort aber von „huotern“ bewachen. Trotzdem treffen sich beide an einem heißen Sommertag im Schatten des Baumgartens und lieben sich, wo sie Marke eingeschlafen findet. Nun endlich sieht er seinen schlimmen Verdacht bestätigt. Marke entfernt sich wortlos, um Zeugen herbeizuholen, aber Tristan sieht ihn im Erwachen noch weggehen und trennt sich in tiefstem Abschiedsschmerz von seiner Isolde, um den Hof zu verlassen. Nachdem er, um seinen Kummer zu vergessen, ein halbes Jahr in den Dienst des römischen Reiches getreten ist, kehrt er nach Parmenien zurück und steht gemeinsam mit Ruals Söhnen dem von Feinden bedrängten Herzogtum Jovelins von Karke bei. Aus der Freundschaft mit Jovelins Sohn Kaedin entwickelt sich eine Beziehung zu dessen Schwester, Isolde mit den weißen Händen. In ihrem Namen erinnert sich der Liebeskranke an seine wahre Isolde, die annimmt, daß Tristans sehnsuchtsvolle Blicke und Lieder ihr selbst gelten. Mit einem verzweifelten Monolog Tristans, in dem dieser sich seiner Beziehung zur echten und falschen Isolde klar zu werden sucht, bricht der Roman plötzlich ab. Es folgt nun eine synoptische Zusammenfassung des weiteren Verlaufs, die sich

hauptsächlich am direkten Vorbild Gottfrieds, Thomas de Bretagne, und dem Text des

Fortsetzers Ulrich von Türheim orientiert.

Tristan entscheidet sich, nach langen Zweifeln und Sorgen, Isolde mit den weißen Händen zur Frau zu nehmen; sein Freund Kaedin und die Familie der Braut begrüßen dies hocherfreut. Dennoch hindert ihn der dauernde Gedanke an seine eigentliche große Liebe, Isolde in Cornwall, daran, die Ehe mit seiner Frau zu vollziehen. Diese verrät ihrem Bruder, veranlaßt durch die Episode des „kühnen Wassers“, das ihr bei einem Jagdausritt unter ihr Gewand spritzt – das Wasser sei kühner als die Hand ihres Ehemannes. Kaedin stellt Tristan zur Rede, und dieser gesteht seine Liebe zu seiner Isolde; eine Fahrt nach

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Cornwall, begünstigt durch eine Einladung Isoldes, soll Kaedin von der überirdischen Schönheit von Markes Frau überzeugen. Während einer Jagd trifft sich Tristan, in Begleitung Kaedins, heimlich mit Isolde; wieder sind es mißgünstige Höflinge, die Verdacht schöpfen. Als sich später ein Gefolgsmann Markes, Pleherin, der Tristans Freund und ehemaligen Lehrer Kurvenal in die Flucht schlägt, bei Hof damit brüstet, Tristan vertrieben zu haben, schickt Isolde, wegen der vermeintlichen Feigheit ihres Liebhabers erzürnt, Tristan fort. Als Aussätziger verkleidet begibt er sich zu ihr, um ihre Gunst wiederzugewinnen. Sie erkennt ihn und läßt ihn vertreiben, aber in anderer Verkleidung als Knappe Plot erringt er aber bald ihre Liebe zurück; sie rät ihm, er solle in Verkleidung eines Narren Rache üben. In dieser Verkleidung betritt er zwei Wochen später Markes Hof, und durch die sprichwörtliche Narrenfreiheit rächt er sich an den mißgünstigen Höflingen – so schlägt er etwa dem Zwerg Melot ein Auge aus. Als das intime Verhältnis zu Isolde wieder ruchbar wird, flieht Tristan und erschlägt Pleherin auf der Flucht. Zurück bei Isolde Weißhand steht Tristan bald einem Freund (bei Thomas Tristan dem Zwerg, bei Ulrich Kaedin) bei einem romantischen Abenteuer bei, wird aber dabei zum zweiten Mal von einer vergifteten Waffe verwundet. Todkrank schickt er nach Isolde, die ihn als einzige heilen kann. Seine Frau eröffnet ihm aber wider besseres Wissen, das Segel des zurückkehrenden Schiffes sei schwarz – das vereinbarte Zeichen dafür, daß Isolde nicht kommen wolle, worüber Tristan stirbt. Als die blonde Isolde zu Tristan kommt, stirbt auch sie an gebrochenem Herzen. Die beiden werden nebeneinander beigesetzt, und aus den Gräbern wachsen ein Rosen- und Rebstock, die sich miteinander verschlingen.

Bei Heinrich von Freiberg wird der Mikrokosmos des Artus-Hofes in die Fortsetzung

miteinbezogen, der als Gegenpol zu Markes Hof mit gesammelter Tafelrunde Tristan

beisteht; nach weiteren Ausschmückungen, die unter anderem die Narrenepisode erweitern

und eine Flucht des Paares vor dem Scheiterhaufen mit einbeziehen, endet auch Heinrich

mit der Episode des schwarzen Segels.

Es sei vorderhand erwähnt, daß die Sekundärliteratur zum Werk Gottfrieds bereits halbe

Bibliotheken füllt; es möge verziehen werden, daß in dieser Arbeit mit Sicherheit manche

gewichtige Interpretation unbeachtet und unbemerkt bleiben muß. Neben dem Parzival

Wolframs stellt der Tristan immerhin den von Germanisten am meisten bearbeiteten und

untersuchten Roman des deutschen Mittelalters dar. Trotz aller Bemühungen der

Philologie ist dennoch die Aussage des Werkes, auch wegen seiner Unvollständigkeit,

eines der umstrittensten Probleme geblieben. Die minne, die unbestritten im Zentrum des

Werkes steht, problematisiert gleichzeitig mit ihrer Verklärung die Normen der

Gesellschaft, indem sie die „Scheußlichkeit“166 des Ehebruchs als Hauptdilemma und

Angelpunkt der tragischen Handlung erkennen läßt. Im Zentrum steht zweifelsohne der

166 Roetteken, H.: Das innere Leben bei Gottfried von Straßburg. In: ZfdA 34 (1890). S.81-114, hier 112.

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Konflikt zwischen einer leidenschaftlichen, alle Normen und Tabus außer Kraft stellenden

Liebe und der von gesellschaftlichem Recht und Religion sanktionierten Institution der

Ehe, und damit ein Konflikt zu Gesellschaft und Religion selbst. Die Frage, was

bedeutsamer ist – die Echtheit menschlicher Empfindung oder die von Moral und

Sakrament geheiligte Vernunftverbindung – beantwortet Gottfried mit einem Freispruch

der Liebenden von jeder Schuldhaftigkeit im „Minne-Exkurs“ (V 17723ff.). Gottfried wird

nicht müde, im ganzen Werk eben diese Tristan-Minne als höchstes zu preisen und in der

Episode der Minnegrotte und den Exkursen fast zu religiös-mystischer Intensität zu

steigern. Diese Tristan-Minne ist Leidenschaft durchaus sinnlicher Art, gezeichnet von

Begierde und Verfallenheit, die auch Treubruch, Tod und Betrug als ihre Konsequenzen

akzeptiert, bewirkt von der Schönheit Isoldes, die „die Verkörperung edelsten, ästhetisch-

raffiniert höfischen Geistes“167 ist. Zugleich ist ihr aber in ihrer Blindheit die Qualität

schicksalhafter, totaler Absolutheit eigen, die sie notwendig zur Tragödie werden läßt– die

Gemeinsamkeiten zum Ideal des Minnesangs enden in dem fast übermenschlichen Maß der

zerstörerischen Liebe, die der Zaubertrank bei Gottfried nicht mehr rechtfertigen, sondern

nur mehr symbolisieren kann. „Gerade die räsonierende und psychologisierende Entfaltung

des Stoffes läßt keine Verharmlosung des moralischen Problems zu.“168

Trotz der unmoralischen Handlung des „unheiligen Romans“169 ist dieser vielfältig

religiös überformt, zum einen durch unvermeidbare liturgische und biblische

Assoziationen des (hypothetisch angenommenen) Geistlichen Gottfried, zum anderen

durch die von der Literaturwissenschaft bis zum Überdruß interpretierten Minnegrotte, in

der das Kristallbett anstelle des Altars in das Zentrum sowohl der Sakralarchitektur der

Grotte als auch des Werkes gesetzt wird. Schon Julius Schwietering hat gezeigt, daß sich

Gottfrieds Minnelehre oft bis ins Detail an die Bernhardinische Mystik anlehnt – im

Gedanken des Minnetodes, der Verwirrung jeder Ordnung durch die Liebe und der Lehre,

daß es den Liebenden vorbehalten ist, das Geheimnis dieser Liebe zu verstehen.170

Bereits in der Vorgeschichte um Riwalin und Blanscheflur wird vieles der

Haupthandlung und von Tristans Charakter auf typologische Art vorweggenommen und

167 Wehrli, M.: Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter. 3. Aufl., Stuttgart 1997. S.266. 168 ebd., S.267. 169 ebd., S.269. 170 Vgl. u.a. Schwietering, J.: Gottfrieds Tristan. In: Philologische Schriften. Hrsg. von F. Ohly und M. Wehrli. München 1969. S.426-437 und bes. S.348.

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präfiguriert: die heimliche Liebe zur Schwester Markes, die auf der „Dämonie“171 der

körperlichen Anziehungskraft und der Liebe basiert, verweist auf die gesteigerte

Problematik Tristans, und in der Leidenschaft und Maßlosigkeit Riwalins, die ihn

schlußendlich auch in den Untergang führt, präfiguriert sich die schicksalhafte

Bestimmung Tristans zur Unfreiheit. Typologisch wird an Riwalin im kleinen gezeigt, wie

Tristan – nomen est omen – sein trauriges Schicksal erfüllen wird. Denn Tristan wird –

mehr noch als sein Vater – beherrscht von Leidenschaft und Zwängen der Sinne.

„..Tristans Existieren... vollzieht sich nun wesensmäßig im Zeichen der Unfreiheit. Sein

Leben verläuft in einer Kette von Zwangszügen: nie steht er in der gottgegebenen Freiheit

der Entscheidung. Immer ist Tristan der Geschobene und Getriebene, irgendwie Bedrohte,

schließlich der dämonisch Gehetzte und in Leidenschaft Gepeitschte. Wesensmäßig ist in

ihm und um ihn Dämonie.“172

Diese Dämonie ist das Diktat der Leidenschaft, einer metaphysischen Macht, die neben

dem christlichen Gott existiert; im Minnephänomen kommt diese Macht des Dämonischen

zur höchsten Wesensentfaltung. Sie bestimmt nun das Leben und Schicksal der Figuren

des Romans „in genauer Antithese zur Grundidee des Christentums, nämlich durch Leid

zur saelde“173 zur gelangen – nach erstem Gelingen erlangt der Liebende ungeahnte

Seligkeit, gelangt durch sie aber nur zu Verfall und Zerstörung.174

In der Kürze, die einer Arbeit gestattet sei, die einen anderen Aspekt zu untersuchen hat,

mag lediglich festgehalten werden, daß das Verhältnis des Tristan-Romans zu Belangen

der Religion und der christlichen Moralphilosophie von hochkomplizierter Ambivalenz ist;

dieser gordische Knoten der Germanistik soll an dieser Stelle nur von weitem betrachtet

werden.175

171 Weber, G.: Gottfrieds von Straßburg Tristan und die Krise des hochmittelalterlichen Weltbildes um 1200. Stuttgart 1953.Bd.1, S.133ff. 172 ebd. S.137. 173 ebd. S.133 174 Weber hat in seinem Werk zum Tristan besonders die Verbindung zum dualistischen Weltbild des Manichäismus hervorgestellt und schließt, „daß auch des Dichters persönliche Entferntheit vom christlich-augustinisch-bernhardinisch bestimmten Gott-Mensch-Weltbild eine außerordentliche gewesen sein muß. Denn soviel ist klar zu ersehen: nur insofern stimmte Gottfried dem Christlichen wirklich zu, als dieses in Beurteilung der Folgen des Sinnenhaften mit dem Dualistischen übereinstimmte. Im übrigen steht an der Stelle des christlichen Gottesmysteriums die mystische Vergottung innermenschlichen Liebesseins.“ Ebd., S. 306. 175 Wolfgang Jupé hat in seiner Arbeit zur List im Tristan die hochkomplexe Aufgabe unternommen, ebendiese enge Verknüpfung zwischen der minne-Problematik und der list-Handlung als ursächlich und für die Interpretation relevant herauszustellen; in Anbetracht der unzähligen dafür notwendigen Konjekturen und vor allem der Problematik historisch unterschiedlicher ethischer Rezeption erlaube ich mir, einen anderen, zugegeben vereinfachenderen Ansatz zu verfolgen. Jupé, W.: Die List im Tristanroman Gottfrieds von Straßburg. Heidelberg 1976.

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Zum Thema dieser Arbeit gehört andererseits sicherlich der Aspekt, daß eben diese

Hauptproblematik der geheimen, illegitimen Liebe die Notwendigkeit listigen Handelns

geradezu heraufbeschwört und somit auch die Moralität derartigen Handelns in ein neues

Licht stellt; Tristan zeichnet sich aber auch in anderen Situationen, bereits vor der

eigentlichen Liebesgeschichte, als listiger Held aus.

3.2. Tristan, der Künstler176

Wie bedeutend die List – nach dem Hauptmotiv der minne – in Gottfrieds Werk ist, zeigt

sich allein daran, daß es über 40 Täuschungsszenen durch List enthält.177 Es soll nun nicht

näher auf die Spezifika einzelner Listhandlungen eingegangen, sondern vielmehr eine

punktuelle Beschreibung des Besonderen am listigen Helden Tristan versucht werden.

Selbstverständlich ist es im Werk nicht nur Tristan, der listbegabt ist; schon in der

Vorgeschichte wird List als Handlungsmodell von Riwalin und Blanscheflur präfiguriert.

Auch Isolde und Brangäne verstehen sich auf die List, und die Seite der Gegenspieler

operiert fast ausschließlich mit listigen Fallen, die nur durch die größere Listigkeit Tristans

umgangen werden können. Dabei bestätigt die Vielfalt an verschiedenen und in der Epik

originären Listhandlungen – die Verwendung von anagrammatischen Namen, das

Unterschieben der „falschen“ Jungfrau, die rettende Lügenrede im Baumgarten, das

„gefälschte“ Gottesurteil – die Ausnahmestellung des listigen Helden Tristan in der

hochmittelalterlichen Literatur. Mit Sicherheit sind diese nicht neu erfunden; es sind

Motive, die in zahllosen Ehebruchschwänken und Schwankmärchen ebenfalls zur

Verwendung kommen. Diese Schwankmotive kehren sich aber in Gottfrieds Werk ins

moralische Gegenteil: steht in den Ehebruchschwänken die Freude an der Unmoral und die

augenzwinkernde Billigung des Betruges an erster Stelle, so bringt uns Gottfried dazu,

diese Unmoralität neu zu werten: „Die Illusion, die geweckt wird, erhebt den Anspruch, T176 Vgl. zum folgenden auch Mohr, W.: Tristan und Isold als Künstlerroman. Wieder abgedruckt in: Wolf, A.(Hrsg.): Gottfried von Straßburg. (Wege der Forschung 320) Darmstadt 1973. S.249-279. Und: Jackson, W.T.H.: Der Künstler Tristan in Gottfrieds Dichtung. Wieder abgedruckt in: Wolf, A.(Hrsg.): Gottfried von Straßburg. (Wege der Forschung 320) Darmstadt 1973. S.280-304. Weiters: Kästner, H.: Harfe und Schwert. Der höfische Spielmann bei Gottfried von Straßburg. Tübingen 1981. T177 Vgl. dazu Semmler, H.: Listmotive in der mittelhochdeutschen Epik. Berlin 1991. S.23. Es muß aber angemerkt werden, daß die Täuschungsmanöver, die Semmler in seinem Werk auch als Listen betrachtet, im Sinne dieser Arbeit nicht alle als „Listhandlungen“ gewertet werden können. So schließt Semmler etwa auch die Aufnahme Tristans durch Florete und Rual in jene Zählung mit ein. M. E. handelt es sich bei der Adoption

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wahrer zu sein als die Wirklichkeit. Denn die Geschichte macht uns glauben, ja sie

überzeugt uns, daß das Recht und die Wahrheit bei den Liebenden sei und nicht auf der

Seite Markes und der Höflinge, welche verruchterweise einen Indizienbeweis nach dem

anderen wider die Liebenden anzetteln.“178 Der Konflikt zwischen Intellekt und Ethik

wird bei Gottfried eindeutig entschieden: die illegitime, aber menschlich wahre Liebe

zwischen Tristan und Isolde steht über der Gesellschaft. Intellekt und List sind die einzigen

Waffen gegen die Nachstellungen der Neider.

Trotz der erwähnten Typologie unterscheidet sich Tristan doch auch von seinem Vater

Riwalin, der zunächst als Idealbild des Ritters vorgestellt wird, aber doch schon von

Beginn an mit einem Makel behaftet ist (V.260-268)179:

An ime brast al der tugende niht, der hêrre haben sollte, wan daz er ze verre wollte in sînes herzen luften sweben und niwan nâch sînem willen leben. Daz ime ouch sît ze leide ergie, wan leider diz ist und was ie, ûfgêndiu jugent und vollez guot, diu zwei diu vüerent übermuot.

So stürmt er auch durch sein Leben, bis er an dem Hofe Markes, zu dem ihn sein

Drängen nach ritterlicher Verwirklichung geführt hat, Blanscheflur kennenlernt. Hier wird

er ein ander man, beginnt ein ander leben (V.941, V.937), und die Heimlichkeit seiner

Liebe zwingt ihn dazu, vorauszuschauen und zu planen: ein neuer Charakterzug, der ihm in

seinem jugendhaften Ungestüm zuvor fehlte. Die êre der Dame kann nur durch Trug

gewahrt werden, und Riwalin muß zur List greifen, muß überlegt handeln, um erfolgreich

zu sein.

In Tristan ist kein derartiger Wandel mehr nötig, er ist von Anfang an der Listbegabte,

der seine Ziele nach genauer Einschätzung der Situation zu erreichen sucht. Dabei hilft ihm

Tristans, bei der ihm seine wahre Herkunft verschwiegen wird, eher um einen topos von Heldenviten im allgemeinen, als um eine List im besonderen. 178 Mohr, W.: Tristan und Isold als Künstlerroman. Wieder abgedruckt in: Wolf, A.(Hrsg.): Gottfried von Straßburg. (Wege der Forschung 320). Darmstadt 1973. S.267 179 Vgl. die Tristanedition F. Rankes, hier aus: Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von F. Ranke neu hrsg. v. R. Krohn. (6.Aufl.) Stuttgart 1999.

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auch seine Erziehung und Ausbildung, bei der größter Wert auf ganz unritterliche Fächer

gelegt wird (V.2060-2069):

Sîn vater der marschalc in dô nam und bevalch in einem wîsen man. mit dem sante er in iesâ dan durch vremede sprâche in vremediu lant. und daz er aber al zehant der buoche lêre an vienge und den ouch mite gienge vor aller slahte lêre. daz was sîn erstiu kêre ûz sîner vrîheite.

Gleichsam nebenher lernt Tristan auch zu reiten, zu kämpfen und zu jagen, aber der

Schwerpunkt der Ausbildung liegt doch auf geistigen Fächern. Interessanterweise wird

Tristan bereits durch diese Ausbildung das erste Mal unfrei; Gottfried weist ausdrücklich

darauf hin, daß mit dieser Ausbildung zum Lesen und zu Sprachen seiner Freiheit ein Ende

gesetzt wird. Das Schicksal Tristans, nicht in der gottgegebenen Freiheit der Entscheidung

zu stehen und so immer von Zwängen getrieben zu sein, beginnt ausdrücklich bereits bei

seiner Ausbildung, die ihm allerdings später der Grundstein seiner Aufnahme bei Marke

und die Basis seines diplomatischen Geschicks und seiner Klugheit ist. Gottfried spricht

von der buoche lêre und ir getwanc (V.2085), die der Ursprung von Tristans Sorgen

gewesen seien. Der Autor spielt damit wohl lediglich auf die Geschehnisse in Gang

setzende Entführung an, die eben wegen Tristans außergewöhnlicher Begabungen und

Ausbildung erfolgt; es erscheint unglaubhaft, daß Gottfried, der selbst wohl hochgebildet

war, das geistige Studium allgemein für Tristans Wesen und sein späteres Unglück

verantwortlich machen wollte.

Denn gerade die Kenntnisse, die Tristan schon in frühester Jugend erworben hat, lassen

ihn als Fremden an der Küste Cornwalls und in Irland so erfolgreich auftreten; er

beherrscht die Landessprache und seine Kenntnisse als Jäger und Musiker sind es, die ihm

den Weg an Markes Hof ebnen. Wie Mohr bemerkte, sind die beiden Episoden – die

Demonstration der Jagdkunst und das Musizieren vor dem staunenden Hof – eng

aufeinander bezogen; „beide handeln vom Aufstieg und Erfolg des Künstlers an einem

Hofe.“180 Der Wirkungsbereich von Tristans Künstlertum erstreckt sich denn auch im

180 Mohr, W.: Tristan und Isold als Künstlerroman. Wieder abgedruckt in: Wolf, A.(Hrsg.): Gottfried von Straßburg. (Wege der Forschung 320). Darmstadt 1973. S.249.

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ersten Teil des Werkes – bis zum Minnetrank – über fast alle Aufgaben, die Tristan an

Markes Hof zu bewältigen hat: ist Tristan zu Beginn noch Jagdmeister,

Geschichtenerzähler und Musiker, so stellt sich ihm in der Zinsforderung Morolts die erste

diplomatisch-politische Aufgabe, „die er im juristischen Wortstreit so überlegen löst, daß

Morolt schon als moralisch Geschlagener in den Zweikampf geht.“181 Dieses

diplomatische Geschick muß durchaus auch als Ausdruck von Tristans Künstlertum

gesehen werden; die Verkleidung als Spielmann, die er für seine erst

überlebensnotwendigen und später diplomatischen Aufgaben in Irland annimmt, ist auch

ein Verweis darauf, daß dem so nebulösen Stand der Spielleute durchaus auch einiges an

politischen und diplomatischen Aufgaben, etwa als Boten oder Unterhändler, übertragen

wurde.

Als Spielmann wird Tristan dann auch zum Erzieher Isoldes, und auch die schier

unmöglich scheinende Werbung um die irische Königstochter gelingt ihm in Gestalt des

spilmans und Kaufmannes Tantris. In den älteren Tristantraditionen stellt sich das

Künstlertum noch durchaus archaischer dar: bei Eilhart ist Tristan in Art der Siegfriedssage

der vor allem in seinen körperlichen Leistungen Unübertroffene; er verrät sich etwa durch

ein besonderes Kunststück beim Bogenschießen. Bei Bérol erfindet er den Bogen, der stets

trifft182, und noch bei Thomas zeigt sich seine unvergleichliche Handfertigkeit im

Schnitzen der Späne, die er im Bach zu Isolde treiben läßt. Außerdem errichtet er mit Hilfe

von Handwerkern einen Statuensaal, der die verlorene Geliebte und andere Gestalten aus

Tristans Zeit an Markes Hof überaus lebensecht darstellt – eine Episode, die in Gottfrieds

Tristan wohl deshalb fehlt, weil dieses ältere Künstlerbild den Intentionen des Autors

zuwiderlief. Diese Zuwendung zum Künstlerischen steht nach Alois Wolf in enger

Bindung zur Neukonzipierung der Figuren der Tristanmythe: „Diese Verbindung von Eros

und Kunst, bei der die Grenzen verschwimmen und eins ins andere übergeht, ist ein

Wesensmerkmal der Tristansage, und sie ist in einer Art Wechselwirkung auch mitbeteiligt

daran, daß daraus eine Mythe werden konnte. Daß es zu dieser Verbindung von Eros und

Kunst kam, ist mehr als nur ein guter Einfall eines genialen Erzählers. Hier wirken größere

Kräfte, eben die schon bemerkte Wahrheit des Mythischen.“183 In der Figur des Tristan

181 ebd., S.250. T182 Dieser Aspekt des Künstlertums, die Erfindung segensreicher Gegenstände, verbindet Tristan in gewisser Weise auch mit dem kulturbringenden Trickster! Vgl. auch Mohr, W.: Tristan und Isold als Künstlerroman. Wieder abgedruckt in: Wolf, A.(Hrsg.): Gottfried von Straßburg. (Wege der Forschung 320). Darmstadt 1973. S.258f. 183 Wolf, A.: Gottfried von Straßburg und die Mythe von Tristan und Isolde. Darmstadt 1989. S. 4.

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manifestiert sich die elementare Nähe von Eros und Kunst, sie „[...]bestimmt Tristans

Wesen und Leben und ist, auch in unvollkommenen Vorformen, integrierender Bestandteil

des Tristangeschehens.“184

Die Rolle, die Gottfried seinen Helden bevorzugt annehmen läßt, ist die des höfischen

Spielmanns, verbunden mit der des seefahrenden Kaufmanns.185 Schon zu Beginn seiner

Anwesenheit an Markes Hof bezeichnet er sich als Sohn eines Kaufmanns, dessen

spielmännisch-künstlerische und auch höfische Ausbildung alle in Erstaunen versetzt.

Ebenso verbindet er bei seiner ersten Irlandreise die Rolle des schiffbrüchigen Kaufmanns

mit der des artspilmanns. Diese seine außergewöhnliche künstlerische Befähigung ist es,

die ihm jeweils zu Ansehen und Erfolg verhilft. In dieser Rolle ist er der sprachkundige,

weitgereiste Mann, der sich deshalb besonders für diplomatische Aufgaben eignet: er

beherrscht die Hofkünste, die ihm überall Achtung und Zuneigung einbringen, und betreibt

diese durchaus auf professionellem Niveau. Tatsächlich müssen sich alle Konkurrenten auf

dem Feld der Kunst dem Spielmann Tristan geschlagen geben: zu Beginn der Jagdmeister

und der Hofmusiker Markes, dann der clericus Isoldes, den Tristan-Tantris aus der Rolle

des Erziehers verdrängt, und zuletzt auch Gandin, der als Adeliger als Dilletant in die

Domäne des amtierenden, gesellschaftlich anerkannten Hofkünstlers eindringt. „Tristans

künstlerische Fähigkeiten erweisen sich in diesen drei Szenen denen drei Vertretern jener

Stände überlegen, für die um 1200 Kunstausübung typisch war: ein fahrender Spielmann,

einer der in Sachen Kunst und Liebe als bewandert geltenden oder sich bewandert

fühlenden clerici und ein Vertreter der neuerdings zu diesen in Konkurrenz tretenden, in

diesen Bereichen dilettierenden milites sind Tristan unterlegen. Seine Kunstfertigkeit

übertrifft alles damals Denkbare.“186 Diese Fähigkeiten allein schon erheben Tristan auf

eine so hohe Ebene der höfescheit, daß er eigentlich, so Isolde von Irland, einem König

gleichgestellt sein müßte (V.10020ff):

im sollte billîch unde wol ein rîche dienen oder ein lant, des dinc alsô waere gewant. Diu werlt stât wunderlîche, sô vil manic künicrîche besetzet ist mit swacher art,

184 Ebd., S. 6. 185 Zur Rolle des Kaufmanns vgl. besonders Buschinger, D.: Das Bild des Kaufmanns im Tristan-Roman und bei Wolfram von Eschenbach. In: Buschinger, D.:Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. (Wodan 53). Greifswald 1995. S.89-101. 186 Stein, P.K.: Tristan-Studien. Arbeiten zu Gottfried von Straßburg und Darstellung der Tristan-Dichtungen des mittelalterlichen Europa. Bd.1 Salzburg 1983. (Habil.-Schrift) S.150

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daz ime der einez niht enwart.

Natürlich weiß die Königin nichts von der königlichen Abkunft des vermeintlichen

Kaufmannes und Spielmanns, es ist einzig die hervorragende Beherrschung höfischer

Kunst Tristans, die ihn in ihren Augen einem Könige gleich macht. Der Leser weiß

selbstverständlich um diese Einzelheiten, doch diese Ständekritik ist trotz der besonderen

Umstände – der Identität des vermeintlichen Spielmanns mit dem königlichen Adeligen –

nicht zu gering zu bewerten. „Der höfische Spielmann, der sich durch Leistung und

Begabung, nicht durch vornehme Geburt auszeichnet, wird – wenn auch nur in

vorsichtiger, spielerischer Weise – in die Spitze der Ständegesellschaft eingerückt.“187 Auf

bemerkenswerte Weise bleibt im Tristan die adlige Herkunft von ganz untergeordneter

Bedeutung, sie ist beinahe als der Epik eigenes und deshalb notwendiges Attribut des

Helden gezeichnet, der in seinen Handlungen eigentlich ganz dem Bild des höfischen

Spielmanns verpflichtet bleibt, dessen Rolle dadurch auf bedeutende Weise aufgewertet

und stilisiert wird. „Gottfrieds Absicht [...] liegt in der Apotheose des gebildeten

Berufskünstlers in Herrschernähe (Marke, die irischen Fürstinnen, Isolde Weißhand), des

höfischen Musikers/Sängers, der aufgrund seiner Bildung, seiner höfescheit und seiner

überragenden künstlerischen Fertigkeiten nicht mehr durch die Lande ziehen muß, sondern

in materiell gesicherten Umständen und in hoher sozialer Wertschätzung existieren

kann.“188 Im Tristan findet sich so wohl nach Mohr „die vollendetste Schöpfung aus der

Gattung der Spielmannsgeschichten“189, in der das Künstlerbild und die Künstlermotivik

der Spielmannsdichtung zu vorher unerreichter Bedeutsamkeit und höfescheit erhoben

wird.

Stellt man die behandelten Figuren der „Spielmannsepik“, Rother und Môrolf, neben

Gottfrieds Tristan, so ergeben sich wesensmäßige Gemeinsamkeiten, die tatsächlich im

Ideal des spielmännischen Helden, des höfischen Spielmanns, beschrieben werden

könnten. Die Attribute „Harfe und Schwert“ lassen sich den beiden älteren Figuren ebenso

zuweisen, wie Tristan. Letzterer stellt aber unbestritten die am konsequentesten auf das

Künstlerbild bezogene Figur der Literatur um 1200 dar. Im Tristan spiegelt sich die Rolle,

„die der Hofkünstler bis ins hohe Mittelalter und auch noch später im wirklichen Leben

eingenommen hat: die des weitgereisten, gebildeten, geschickten und schlagfertigen

187 Kästner, H.: Harfe und Schwert. Der höfische Spielmann bei Gottfried von Straßburg. Tübingen 1981. S.105. 188 ebd., S.104. 189 Mohr, W.: Tristan und Isold als Künstlerroman. Wieder abgedruckt in: Wolf, A.(Hrsg.): Gottfried von Straßburg. (Wege der Forschung 320). Darmstadt 1973. S.261

92

Page 93: Die Unmoral des Intellekts

Mannes, der zu Botendiensten, Gesandtschaften und schwierigen diplomatischen Aufgaben

in hohem Maße geeignet war. Die Spielmannsgeschichten (und somit auch der Tristan;

Anm.) erzählen den Wunschtraum eines Künstlerdaseins, der mittelalterliche Künstler

verherrlicht sich selbst in ihnen.“190

Schlagartig verändert sich der Charakter des Werkes und auch des Hauptprotagonisten

mit einem entscheidenden Ereignis: dem Minnetrank. Stellte die Biographie Tristan vor

jenem Zauber noch das poetische Abbild und Wunschbild eines gesellschaftsbezogenen

Spielmannsdaseins dar, so bringt die Liebe, die so mächtig in Tristans und Isoldes Leben

tritt, eine entscheidende Wende. „Seine Geschichte hört auf, allein Künstlerroman zu sein;

sie wird auch nicht nur zum Liebesroman. Sie wird Sinnbild eines Menschentums, das es

wagt oder dem es auferlegt wird, aus seiner Funktionalität in der „Not- und Wirkwelt“, in

die es gestellt ist, herauszutreten und sich ganz auf seine eigene Innerlichkeit zu

beziehen.“191 Stellte Tristan seine ganzen Fähigkeiten, seine List, seine Kunst und seine

Stärke, in den Dienst der Gesellschaft, also in den Dienst Markes, so kehrt sich mit der

verbotenen Liebe dieser Dienst am Hof um – alle Waghalsigkeit, Selbstbeherrschung und

Verstellung, deren der spielmännische Künstler fähig ist, dienen nun ausschließlich dazu,

diese Liebe gegen die Gesellschaft zu verteidigen. Obwohl Tristan, wie erwähnt, fast

immer durch die Umstände seines Schicksals in Rollen und Situationen gezwungen wurde

(etwa durch die Entführung der Kaufleute), so gerät sein Agieren im zweiten Teil des

Werkes zum beinahe ausschließlichen Reagieren auf die Gefahren der Entdeckung, seine

Listen werden gleichsam zu Defensivmanövern. Zudem spitzt sich die Gefahr im Verlauf

der illegitimen Liebe mehr und mehr zu, das Paar wird mit jeder erfolgreichen Rettung

dem tragischen Ende nähergebracht, weil Markes und des Hofes Eifersucht immer

bedrohlicher werden.

Der Erfolg jedes listigen Handelns ist von der Vorausberechnung der Reaktionen des

Gegenspielers abhängig; Tristan, der etwa als Knabe vor der Jagdgesellschaft oder als

Siechender vor Dublin stets auf zweckrationale Weise sein Gegenüber zu den gewünschten

Handlungen veranlassen konnte, muß in der defensiven Rolle letztendlich scheitern. Der

absolute Wert der Liebe zu Isolde läßt sein eigenes Handeln vorhersehbar werden –

Gottfried betont wiederholt das obsessive, zwanghafte Element dieser Liebe –, und nur

mühsam können die listigen Attacken des Hofes in Gestalt von Marjodo, Marke und dem 190 ebd., S.260f.

93

Page 94: Die Unmoral des Intellekts

Zwerg Melot abgewehrt werden. Listiges Handeln definiert sich stark durch offensive

Strategien, die Tristan in seiner Position nicht mehr offenstehen, wohl aber den

Gegenspielern. In dieser Situation wird die Listigkeit zur Haupttugend Tristans und auch

Isoldes; die Lage läßt andere Lösungsansätze, wie etwa Gewaltausübung oder

Verhandlungen, unmöglich werden. Hier wird die List der einzige, wegen der

erdrückenden Gefahr aber letztendlich unzureichende Schutz der Liebe, somit kommt ihr

auch hier fast größere Bedeutung als im ersten Teil des Werkes zu – obwohl ihr Scheitern

im Ende fast fatalistisch notwendig vorbestimmt ist. Es spricht für die Listigkeit Tristans,

aber auch Isoldes und Brangänes, daß der Betrug so lange gelingen kann. (Natürlich kann

sich Tristan aber auch hier auf Verhaltensnormen seiner Feinde verlassen, etwa die

Tatsache, daß keiner der einzelnen Zeugen des Ehebruchs diesen bei Hof einfach publik

macht. Marjodo, der immerhin Augenzeuge wird (V.13561ff), sucht einerseits immer

wieder, die Eifersucht Markes aufzustacheln, ohne aber seine Beobachtung

bekanntzumachen. Andererseits ist auch Marke, als er die Liebenden im Garten schlafend

vorfindet(V.18195ff), zuerst bestrebt, Zeugen zu finden; weil Tristan erwacht und flieht,

bleibt der Betrug wiederum unbewiesen.) In der Situation bei Hof wird Tristan vom Jäger

zum Gejagten; die unzähligen Fallen, die dem Paar gestellt werden, können nur mit großer

Anstrengung und auch nicht unbeschränkt durch List umgangen werden. Liebe macht

blind, Blindheit in Fragen der Realitätseinschätzung lassen sich allerdings nicht mehr mit

dem vorausschauenden, vorsichtigen Listhandeln vereinbaren. Der listige Held Tristan, der

vor dem Minnetrank alle Hindernisse durch sein kluges Handeln überwinden konnte, wird

durch seine Liebe in eine Situation gebracht, die durch List nur gemildert, aber nicht

gemeistert werden kann.

Der Hochachtung und Betonung der Verstandesleistung steht Gottfrieds Abneigung zum

ritterlichen Kriegshandwerk gegenüber; neben dem Schwertleiten-Exkurs zeigt sich dies

auch besonders in den Kampfschilderungen, die auch stark von listigem Handeln geprägt

sind. Der Autor ist bemüht, von Anfang an das Kriegshandwerk als die realistische Version

von ritterschefte illusionslos zu charakterisieren. Tristans erste ritterliche Tat ist, wieder

der Vorgeschichte seines Vaters entsprechend, weit von der in der Artusepik üblichen

Idealität des Kampfes entfernt. Morgan wird nicht im stilisierten ritterlichen Zweikampf

überwunden, vielmehr erschlägt ihn Tristan auf unritterliche und hinterlistige Weise. Das

Ideal der Artusepik ist eigentlich der tjost, in dem zwei Gegner unter gleichen

191 ebd., S.265.

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Page 95: Die Unmoral des Intellekts

Voraussetzungen ihre Kräfte messen. Für Tristan, dessen Handeln stets von

Zweckrationalität und Pragmatik geprägt ist, ist der ritterliche Zweikampf an sich kein

ethischer Wert mehr; Kampf ist nur mehr der Weg zur Erreichung eines erstrebenswerten

Zieles. Diese Ausrichtung des Handelns nach zweckrationalen Überlegungen „sprengt die

Etikette des âventiure-Kampfes, es kommt zu „unritterlicher“, aber immer recht

zielführender Kampfesweise und zur Anwendung von List.“192 Tristan ist in jedem Kampf

bestrebt, seinen Gegner durch List entweder zu überraschen (Morgan), oder durch gezielte

Verstümmelung zu schwächen (Morold, Urgan). Dieses Einbeziehen der unritterlichen List

in die Kampfhandlung – ungeachtet der ethisch verbindlichen Regeln ritterlichen

Zweikampfes – ist ein Novum des Werkes, das sicher auch durch die negative Einstellung

Gottfrieds zur ritterschefte bedingt ist.

Die Kampfesdarstellung selbst erfolgt mit einer Realistik und Drastik, die in der

zeitgenössischen Epik ihresgleichen sucht: die Brutalität der realistischen Handlung wird

von Gottfried nirgends ausgespart. Beim Kampf mit Morold –nach Stein „die ärgste

Verfälschung ritterlichen Kämpfens im Tristan“193 – erhält Tristan eine Wunde am

Oberschenkel,

daz ime daz vleisch und daz bein durch hosen und durch halsperc schein und daz daz bluot ûf schraete und after dem werde waete.(V.6927ff)

Die Drastik und Grausamkeit der Kampfdarstellung zielt wohl sicher nicht auf die

Glorifizierung des Kämpfers Tristan, im Gegenteil – Gottfried läßt den (eigentlich

unritterlichen!) Riesen Urgan dann sogar eben diesen Kampf Tristans später tadelnd

erwähnen (V.15996):

„jâ“ sprach der rise „hêr Tristan, ir waenet haben bestanden Môrolden von îrlanden, mit dem ir iuwer vehte mit grôzem unrehte umbe niht zesamene truoget und in durch hôchvart sluoget.“

192 Stein, P.K.: Tristan-Studien. Arbeiten zu Gottfried von Straßburg und Darstellung der Tristan-Dichtungen des mittelalterlichen Europa. Bd.1 Salzburg 1983. (Habil.-Schrift) S.89 193 ebda, S.89

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Page 96: Die Unmoral des Intellekts

Der Vorwurf der hôchvart und des unrechten Handelns ist insofern noch

aussagekräftiger, als Urgans Schelte genau jenen Kampfprunk trifft, den Gottfried selbst

vor dem Morold-Kampf an Tristan so betont. Der Autor tut an dieser Stelle und auch

andernorts alles, „um die Morold-Episode einerseits als Gotteskampf-Urteil erscheinen zu

lassen, [..] andrerseits, um nach der Schwertleiten-Episode ritterlich-stilisiertes Kämpfen

(Rüstungsbeschreibung) noch einmal abzuwerten, und schließlich, um Tristans

Beweggründe durch überstarkes Aufbauschen zweier einander widersprechender

Motivierungen (ritterliche Kampftätigkeit – totales Verlassen auf Gottes Hilfe) möglichst

weit von der Analogie zur âventiure wegzuführen.“194 Gottfried relativiert durch die Worte

des Riesen den zuvor, in der Beschreibung der Rüstung Tristans, als exemplarisch ritterlich

gegebenen Kampf gegen Morold; dem Zuhörer und auch Tristan wird in Erinnerung

gerufen, daß in seiner hochvart erst Tristans Rhetorik den Kampf als Gottesurteil

erscheinen ließ, und daß zudem der Sieger Tristan die bestürzten irischen Begleiter

Morolds noch ganz und gar unritterlich schmähte und verhöhnte. In diesen Facetten sucht

sich Gottfried auch bewußt vom âventiure-Roman etwa der Artus-Epik zu distanzieren:

Tristan ist kein Musterritter im Sinne jener idealisierenden Literatur; ein neuer Realismus

führt einerseits zur pragmatischen, eher Abscheu als Bewunderung erweckenden

Kampfdarstellung, und andererseits zur stärkeren Betonung der intellektuellen Fähigkeiten

des Helden. Gottfried verurteilt das Kriegshandwerk als ganzes; in den so als unehrenhaft

gewerteten Kämpfen Tristans zeigt sich nur in letzter Konsequenz die Überlegenheit der

List als ethisch unbestimmte, neutrale Kraft, einen Zweck möglichst pragmatisch zu

erreichen.

List steht somit im interessanten Widerspruch zur âventiure – eine Hypothese, die im

Tristan Bestätigung bei der ängstlichen Beratung der Barone findet. (V.8650ff)

Hier umbe noch hier under Was râtes niht wan zweier ein, in müese einez under zwein bringen umbe ir leben vrist: âventiure oder list. Der list was aber dâ tiure. Sô was ouch âventiure Ir keinem in wâne. Sie wâren beider âne

194 ebd., S. 93.

96

Page 97: Die Unmoral des Intellekts

Die âventiure, als vom Zufall oder Schicksal gesteuerte Ereignisfolge, der sich der Ritter

stellt, verliert ihre Funktion, wenn list im Spiel ist. Das sorgsame Vorausplanen, das kluge

Abwägen aller wahrscheinlichen Folgen, kurz: das listige Handeln ist bestrebt, gerade die

âventiure zu vermeiden, überraschende Situationen und unvorhergesehene Ereignisse

durch Vorausplanen auszuschalten. Der listige Held überläßt in seinem Handeln im

Bestfall nichts dem Zufall, er versucht, die âventiure zu überwinden. In der Artusepik führt

das Bestehen der âventiure als Stationen eines Bewährungsweges zurück zur Gesellschaft

und zur minne; „der grundlegende Unterschied zum Artusroman liegt ja überhaupt darin,

daß von einem Zusammenhang zwischen Minne und âventiure im Tristan nichts mehr

geblieben ist, daß Tristans Minne zu Isolde gerade das Gegenteil bewirkt, ein Sich-

Abkapseln in der Gesellschaft und kurzfristig ein Weggehen aus dieser.“195

Zusammenfassend bleibt die Feststellung, daß Tristan als listiger Held eine überaus

komplexe Figur darstellt, gerade was das Verhältnis zur Ethik betrifft – einerseits zur

Problematik des Ehebruchs und somit zur Liebe, andererseits zur Wertung des

zweckrationalen Handelns und List im allgemeinen. Gottfried betont die Göttlichkeit und

Rechtmäßigkeit wahren menschlichen Empfindens; die ethischen Normen einer

Gesellschaft, die dieses Empfinden negiert, verdienen es, gebrochen zu werden. „Die

Tristanminne ist ein Mythos. Sie ist als Seinsmöglichkeit tragisch und kann innerhalb einer

sich selbst entfremdeten Menschheit nur scheitern.“196 Der Künstler Tristan ist listiger

Held im Bewußtsein der Wirkung, die sein Künstlertum ausübt: zu dessen unmittelbarer

Wirkung kommt immer die sichere Berechnung dieses Effektes. „Sein dauerndes

Rollenspiel entspringt nicht nur der Not, sondern ebensosehr einem puren Spieltrieb, und

jeder Rolle vermag er eine solche Scheinwirklichkeit zu geben, daß die bare Wirklichkeit

darüber verblaßt. Er scheint den Leuten einen Gefallen damit zu tun, daß er ihnen etwas

vormacht.“197 Dieses lustvolle Künstlertum, das mit Harfe und Schwert dem

Spielmannsepos geistig nahe steht, erhält durch die Tragik der Liebe zu Isolde eine andere

Bedeutung. Immer mehr wird die List von der klug eingesetzten Waffe des geistig

Überlegenen zur letzten Auswegmöglichkeit und einzigen Handlungsoption des in die

Enge getriebenen Helden. Dies ist jedoch nicht als resignatives Abwerten der

Möglichkeiten des Listhandelns, sondern vielmehr als fatalistische Kritik an einer 195 Ebda, S.94. 196 Jupé, W.: Die List im Tristanroman Gottfrieds von Straßburg. Heidelberg 1976. S.115.

97

Page 98: Die Unmoral des Intellekts

Gesellschaft zu deuten, die wegen ihrer menschenfeindlichen Regeln jeden Betrug im

Namen der Liebe gerechtfertigt erscheinen läßt.

Tristan, der als höfischer Spielmann durch seine Listigkeit und die Wirkung, die sein

Künstlertum auf andere ausübt, stets erfolgreich war, scheitert letztendlich nicht an der

Unzulänglichkeit des Listhandelns. Im Gegenteil ist dieses die einzige Waffe, die dem Paar

noch zur Verfügung steht. Tristans und Isoldes Ende muß sich zwangsläufig aus der auch

durch List unüberwindbaren Diskrepanz zwischen gesellschaftlich geächteter Liebe und

gleichzeitigem Bedürfnis nach dieser Gesellschaft ergeben. Der Typ des listigen Helden ist

in dieser Situation der einzige, der das gefährliche Spiel zumindest eine Zeitlang aufrecht

erhalten kann. Die ethische Ambivalenz der Tristanliebe und damit auch des sie

verbergenden Listhandelns wird durch die fast religiöse Überhöhung dieser Minne und

ihren Absolutheitsanspruch gegenstandslos. Zweifellos beeinträchtigt der

Fragmentcharakter des Werkes eine definitive Interpretation, aber eines scheint in Bezug

auf die Bewertung der geistigen Leistung deutlich zu sein: kluges Überlegen und listiges

Handeln können Hindernisse überwinden, die anderweitig unlösbar bleiben müssen.

Die handlungsentscheidende Wichtigkeit, die Gottfried der liste beimißt, zeigt sich

besonders im direkten Vergleich zu einer anderen, früheren Bearbeitung des Tristanstoffes.

Eilharts von Oberg Tristrant geht ebenso wie Gottfrieds Vorlage von Thomas von

Britannien auf die *Estoire zurück und ist vermutlich bereits um 1170 entstanden.198

Während Gottfrieds Werk gleichsam die Blüte des hochhöfischen Romans darstellt, bleibt

Eilharts Werk den frühhöfischen Idealen in vielerlei Hinsicht verhaftet. Das Ideal des

Helden bei Eilhart ist noch stärker an den Werten des Kriegertums orientiert, in V.53

betont Eilhart sogar, das Thema des Werks wären manheit und minne, was deutlich den

männlichen Kriegshelden Tristrant in den Mittelpunkt der Erzählung stellt. Die Erziehung

Tristrants etwa betont ausdrücklich die körperliche Ausbildung zum Ritter, ohne das

Bildungsideal des Gottfriedschen Helden auch nur zu präfigurieren. „Eilhart hält sich an

das frühhöfische Ideal des ehrenhaften, tapferen Ritters [...] und konzipiert seinen Tristrant

als Helden dieses Typus, der sich im Verlauf des Romans heroisch bewähren muß... Die

Minne bricht magisch, durch den Zaubertrank, in diese festgefügte höfische Ordnung ein,

197 Mohr, W.: Tristan und Isold als Künstlerroman. Wieder abgedruckt in: Wolf, A.(Hrsg.): Gottfried von Straßburg. (Wege der Forschung 320). Darmstadt 1973. S.267 198 Vgl. dazu: Kartschoke, D.: Eneas-Erec-Tristrant. Zur relativen Chronologie der frühen höfischen Versromane. In: Philologische Untersuchungen gewidmet Elfriede Stutz zum 65. Geburtstag. Hg. v. A. Ebenbauer. Wien 1994. S.212-223.

98

Page 99: Die Unmoral des Intellekts

[...] sie durchbricht soziale, religiöse und sittliche Bindungen.“199 Der Zaubertrank ist bei

Eilhart noch der Auslöser, der, fernab Gottfriedscher Psychologisierung, das Unheil ohne

Schuld der Liebenden bewirkt – erst nach der endgültigen Verbannung Tristans von

Markes Hof läßt der Autor der – abklingenden – Macht des Zaubertranks die freiwillige

Zuneigung und Liebe der Protagonisten folgen.

Grundsätzlich zeigt sich bei Eilhart die Tendenz, seiner (im Vergleich zur Version

Gottfrieds schlichten) französischen Vorlage getreu zu folgen; die meisterhafte

Psychologisierung Gottfrieds, die den Stoff mit lebenden, plausibel motivierten Figuren

erfüllt, ist hier oft ersetzt durch vereinfachende Eindimensionalität. Marke etwa, der

zerrissene Zweifler bei Gottfried, wird bei Eilhart eher als eindimensionaler Typus

geschildert: voll Vertrauen in seine Frau vor, voll Haß auf die Ehebrecher nach dem

Beweis der Untreue, ein zu grauenvollen Taten entschlossener, dominanter Herrscher. „Für

Eilharts Marke steht jeweils ganz fest, daß die Wirklichkeit so ist, wie er sie gerade

wahrnimmt und einschätzt.“200 – welch Unterschied zum unentwegt zwischen Eifersucht

und gleichzeitiger sinnlicher Liebe schwankenden Marke bei Gottfried!

Im Allgemeinen ist die Handlung des älteren Werkes einfacher strukturiert: Tristrant

wächst bei seinem Vater auf, bricht freiwillig zu Markes Hof auf und offenbart vor dem

Kampf gegen Morold seine Verwandtschaft zu Marke. Nach der Verwundung durch

Morold läßt sich der sieche Tristan in einem ziellos dahintreibenden Boot aussetzen und

auch die zweite Reise nach Irland entspringt einem schicksalsträchtigen Zufall, der das

Schiff der Brautsuchenden wieder an jene Küste bringt, usf. Der Zufall, wenn man will: die

âventiure, ist von entscheidender Bedeutung für den Verlauf der Geschichte, die Listigkeit

Tristrants blickt viel weniger weit als bei Gottfrieds Helden. Tristrant verkörpert wohl auch

einen listigen Helden, der Vergleich zu Gottrieds Tristan zeigt aber erst, wie in der Figur

des späteren Autors die List und die Klugheit zu handlungsentscheidenden und

psychologisch notwendigen Faktoren werden.

Eilharts Werk ist, wie erwähnt, die einzig vollständige Tristandichtung in deutscher

Sprache, deshalb kommt auch, anders als im Fragment Gottfrieds, den

199 Bach, C.: List und Lüge im Tristan Gottfrieds von Straßburg und Eilharts von Oberg. (Diplomarbeit). Wien 1996. S.14. 200 Hoffmann, W.: König Marke in den deutschen Tristandichtungen des Mittelalters. In: Geist und Zeit. Wirkungen des Mittelalters in Literatur und Sprache. Festschrift für Roswitha Wisniewski zu ihrem 65. Geburtstag. Frankfurt/Main 1991. S.60.

99

Page 100: Die Unmoral des Intellekts

Wiederkehrabenteuern nach der Trennung Isaldes und Tristrants große Bedeutung zu. Im

Gegensatz zu Eilharts Vorlagen und auch entgegen Eilharts vorheriger, konservativer

Übertragung werden diese Wiederkehrabenteuer im Tristrant vom Autor stark ausgebaut

und erweitert: die beiden ersten Wiederkehrabenteuer, in denen Tristrant einmal als

Begleiter des Artushofes und einmal in Verkleidung als Aussätziger an Markes Hof

zurückkehrt, findet man auch bei Thomas, die restlichen drei Episoden, in denen der Held

als Pilger, Spielmann und Narr auftritt, gehen vermutlich auf Eilhart selbst zurück. In

diesen Episoden nun „variiert Eilhart das Thema, wie Tristrant um seiner Geliebten willen

alle Gefahren und Erniedrigungen auf sich nimmt und wie sich Isalde zur höfischen

Minnedienerin entwickelt, die geduldig auf ihren amis wartet, um ihm seine Mühen zu

lohnen, in unterschiedlicher Ausprägung.“201 Tristrant wird hier, gemäß der

Charakterisierung des Werkes als Geschichte von manheit und minne, als „Minneritter“202

definiert, der in spielmanns-epischer Tradition mittels verschiedener, auch erniedrigender

Verkleidungen am Hof des Feindes auftritt. Es ist auffällig, daß Tristrant in diesen

Abenteuern mehrere Personen in das List-Lügen-Gewebe mitverstrickt und seine

Aktivitäten teilweise auch an andere abtritt – etwa an Keie, im Gegensatz zu den

Artusromanen eine durchaus positive und listige Figur, der mit dem gesamten Artushof

auch auf Tristrants Seite steht. Da wegen des Fragmentcharakters von Gottfrieds Werk hier

leider kein Vergleich möglich ist, bleibt nur die Spekulation, daß im Tristan auch an diesen

Stellen mit derselben Konsequenz die überlegene List der Hauptfiguren allein zur Geltung

gekommen wäre; bei Eilhart genügt es Tristrant, sich auf seine Verkleidungen und die

Mithilfe anderer zu verlassen.

Bei Gottfried wird das List-Handeln hauptsächlich dafür eingesetzt, die wahre Minne

zweier edelen herzen zu ermöglichen und somit zu thematisieren, während bei Eilhart

durch die List eher die manheit des Ritters Tristrant zusätzlich aufgewertet wird. Die Frage

der Ethik stellt sich beim Eilhartschen Werk anders: wird im Tristan durch die „Heiligkeit“

der echten Liebe jede Untat läßlich, so verschiebt sich im Tristrant die Verantwortung

dafür auf Äußerlichkeiten, etwa den Minnetrank:

Untruw waß dar an nicht schowen, wann er tet eß sunder danck: der gar unselig tranck

201 Mälzer, M.: Die Isolde-Gestalten in den mittelalterlichen deutschen Tristan-Dichtungen. Ein Beitrag zum diachronen Wandel. Heidelberg 1991. S.201. 202 Ebenda, S.201

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Page 101: Die Unmoral des Intellekts

hett eß dar zuo braucht. (Tristrant V.2842-2845)

Der Trank entschuldigt die unehrenhafte Anwendung der List; die Frage einer Situations-

ethik, d.h. einer differenzierten Bewertung moralischer Grundsätze, stellt sich im Tristrant

nicht. Die psychologische Durchdringung der Figuren Gottfrieds fehlt hier, weshalb auch

die Listigkeit der Eilhartschen Figuren auf oberflächlichere Weise eher Attribut als

Wesenszug bleibt. Die âventiure, die im Tristan durch die liste überwunden ist, ist bei

Eilhart wesentlicher Bestandteil der Geschichte, der Zufall – das Schicksal – lenkt den

Helden in entscheidende Situationen. „Was [...] bei Gottfried [...] durch kluge Berechnung

erreicht wird, vollzieht sich bei Eilhart unter dem Druck äußerer Mächte.“203 Während

Eilharts Roman eher ein ritterlicher Abenteuerroman bleibt, stellt Gottfrieds Tristan ein

einzigartiges Unternehmen dar, einen mythischen Liebesroman mit psychologisch genau

gestalteten, lebenden Figuren zu erschaffen. In diesem Vergleich zeigt sich erst das

Ausmaß der Konsequenz, mit der der spätere Autor seine Figuren charakterisiert – Tristans

List ergibt sich aus seinem Wesen, seinen Erfahrungen und seiner Tragik.

203 Wolf, A.: Gottfried von Straßburg und die Mythe von Tristan und Isolde. Darmstadt 1989. S.65.

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Page 102: Die Unmoral des Intellekts

4. Der Stricker: Daniel vom Blühenden Tal

4.1. Zum Autor

Von dem Autor, der sich in seinen Werken der Strickære nennt, ist uns nur wenig mehr

als von Gottfried bekannt, Informationen zu seiner Person und seinen näheren

Lebensumstände sind uns durch außerliterarische Hinweise ebenfalls nicht überliefert.

Sämtliche Schlüsse und Vermutungen, die über das Leben dieses bedeutenden

spätmittelalterlichen Literaten angestellt wurden, basieren wie so oft ausschließlich auf

Schlußfolgerungen aus dem Werk des Dichters, was bedeutet, daß es sich dabei eben

primär um mehr oder minder plausible Vermutungen handeln kann.

So stellt allein schon die Frage nach der Herkunft des Autors beträchtliche Probleme dar;

aus einigen sprachlichen Merkmalen hat man geschlossen, daß der Stricker aus

fränkischem Gebiet stammen müßte, wobei aber schon genauere sprachgeographische

Zuordnungen umstritten sind. Während Rosenhagen den Stricker zwischen Fritzlar und

der Oberpfalz ansiedelt204, kommen spätere Interpreten – wie etwa von der Burg 1974 –

dann zur Ansicht, daß er vielmehr aus dem Gebiet des Maintals stammen müsse, d. h. daß

die Sprache des Strickers somit dem Oberfränkischen zugeordnet werden müßte.205

Den primären Wirkungsraum hat der Stricker aber wohl in Österreich gefunden; die

wenigen expliziten Ortsangaben im Werk des Dichters, die sich teilweise auf

Bauernaufstände oder Adelsgeschlechter beziehen (Die Gäuhühner oder Der Turse)206

deuten sämtlich darauf hin, außerdem hat man für die beiden großen Stricker-Epen, den

Karl und den Daniel vom Blühenden Tal, den Wiener Herzogshof als möglichen

Bezugspunkt nennen können.207 Dennoch wird in seinen Werken nirgends eine

Gönnerfigur oder andere historische Bezugsperson genannt, insofern ist anzunehmen, daß

der Stricker seinen Aufenthaltsort des öfteren gewechselt hat und vermutlich sein

204 Vgl. Rosenhagen, G.: Untersuchungen über Daniel vom Blühenden Tal vom Stricker, Kiel 1890, S.47. Zitat ebd., S.33: „Die Frage nach der Heimat und der Mundart des Strickers ist noch eine offene.“ Daran hat sich bis dato nicht viel verändert. 205 Von der Burg, U.: Strickers Karl der Große als Bearbeitung des Rolandsliedes. Göppingen 1974, S.190ff. 206 Beides in Die Kleindichtungen des Strickers, hrsg. von W.W. Moelleken. Göppinger Arbeiten zur Germanistik 107. - Göppingen 1973. Die Gäuhühner in Bd.II. Nr.36, S.264-271. Der Turse in Bd.V. Nr.159, S.219-223. 207 Vgl. dazu Schilling, M.: Der Stricker am Wiener Hof? In: Euphorion 85 (1991) S.273-291

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Page 103: Die Unmoral des Intellekts

Publikum in Geistlichkeit, dem ländlichen Adel und möglicherweise auch im Patriziat, d.h.

dem wohlhabenden, aufstrebenden Bürgertum gefunden hat.

Zu Spekulationen regte auch der Name des Strickers selbst an; obwohl durchaus möglich

wäre, daß Stricker als Berufsbezeichnung einen Seiler, d.h. den Hersteller von Seilen und

Stricken, meint, ist doch die einleuchtende These wahrscheinlicher und allgemein

anerkannter, daß der Name als Selbstbezeichnung des Dichters zu deuten ist, die mit

seinem tatsächlichen Namen nichts zu tun hat. Das erinnert an den Brauch mehrerer

(fahrender) Dichter, so z.B. Suchenwirt, Suchensinn, die sich einen sprechenden Namen

zulegten. Stricker würde damit bezogen sein auf die Tätigkeit des Dichtens, auf die übliche

Metapher, ein Text werde wie ein Stoff gewoben. (lat. Textum bezeichnet ja das

Gewobene).208 Möglicherweise ist der Name in diesem Sinne dennoch als eine Art

Berufsbezeichnung zu sehen, was den Stricker, in Übereinstimmung mit den schwer

festzustellenden Aufenthaltsorten des Autors, als einen fahrenden Dichter bezeichnen

würde. Der Stricker beschreibt sich als einen, dessen Existenz vom Wohlwollen des

Publikums abhängig ist.209 Es ist nur zu vermuten, daß der Autor wohl nacheinander

verschiedene Gönner hatte, zu denen auch der Landadel und die Geistlichkeit sowie

Nonnenklöster zu rechnen sind; einen Gönner nennt er nirgends in seinem Werk.210

Nur in seinen großen Werken nennt sich der Autor beim Namen, doch die Überlieferung

weist ihm eine Vielzahl kleinerer Verserzählungen, Exempel und Fabeln zu. In zwei

Dichterkatalogen211 wird er überdies von Rudolf von Ems als Zeitgenosse angeführt, und

aufgrund dieser Angaben und der literaturhistorischen Überlegungen geht man davon aus,

daß die Werke des Strickers wohl vor der Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden sein

dürften. Sein Werk umfaßt mehr als 52 000 Verse und verteilt sich auf mehrere Gattungen.

Seine beiden epischen Hauptwerke sind der Daniel vom Blühenden Tal mit 8500 Versen,

208 Ein weiteres Indiz für diese stimmige Auslegung ist auch die Tatsache, daß in fünf Handschriften der Strickerüberlieferung der Name Strickaere durch die Bezeichnung tihtaere bzw. schribaere ersetzt wurde. 209 Dazu paßt auch, daß er sich des öfteren als solcher darstellt, so z.B. auch im Pfaffen Amis, gleich zu Beginn (V17-20):

ich kan gefuger worte vil. Daz derzeige ich, wer si horen wil. Swo man der zu hove niht engert, da pin ich eines toren wert.

210 Vgl. dazu Schilling, M.: Der Stricker am Wiener Hof?, in: Euphorion 85 (1991) S.273.291. 211 Rudolf von Ems: Alexander, hrsg. von V. Junk, 2 Bde., Leipzig 1928/29. Vers 3257f.: swenn er will der Strickaere / So macht er guotiu maere) ders., Willehalm von Orlens, hrsg. von V. Junk, Berlin 1905. Vers 2230-2233: Ouch heti iuch der Strickaere / Bas danne ich berihtet / Wold er iuch han getihtet / Als Daniel vom bluenden tal.

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der in der Tradition des klassischen Artusromans steht, und der Karl mit 12 000 Versen,

der zur Kreuzzugsdichtung zu zählen ist.

Die besondere literarische Bedeutung des Strickers liegt allerdings auf dem Gebiet der

Kleinepik, wo er eine Reihe von neuen Sujets und Gattungen begründet hat, so begegnet

man bei ihm erstmals dem Typ der Zechrede und auch die Minnerede findet in seiner

Frauenehre einen sehr frühen Vertreter. Am einflußreichsten und prägendsten blieben aber

besonders seine Verserzählungen mittleren Umfangs, eine Vielzahl von Fabeln und

geistlichen Exempelgeschichten, in denen das didaktische Interesse, aber auch die großen

theologischen und juristischen Kenntnisse des Strickers aufscheinen.

Mit der großen Vielfalt seines literarischen Werks demonstriert der Stricker

exemplarisch den „Umbruch von der Klassik zur Nachklassik“.212 Traditionelle Gattungen

werden weitergeführt, aber in charakteristischer Weise verändert. Eine ganze Reihe neuer

Gattungen und Texttypen erscheinen aber bei ihm, wie gesagt, zum ersten Mal in

schriftlicher Form, wobei angenommen werden kann, daß sich die meisten der „neuen“

literarischen Gattungen bereits auf eine Tradition an mündlicher Überlieferung stützen.

Was den Stricker zu einem Wegbereiter der „Nachklassik“ macht, ist die Tatsache, daß

sein Werk zum Teil die engen normativen Grenzen des höfischen Literaturbetriebes der

Klassik durch neue Themen, Gattungen und Figuren unterläuft bzw. sprengt. In

Konzeption und Figurendarstellung hat sich der Autor an bereits vorhandene, dem

Publikum auch bekannte Erzählformen angelehnt, die aber wohl zum allergrößten Teil nur

mündlich überliefert waren. Beim Stricker haben wir es somit mit einem durchaus

bedeutsamen, vielseitigen Vertreter der spätmittelalterlichen Literatur zu tun, der in seiner

Vielschichtigkeit und Gattungserneuerung viel von den sozialen Veränderungen dieser Zeit

in seinem Werk zum Ausdruck bringt.

4.2. Zum Werk

Das Artus-Epos Daniel von dem Blühenden Tal wird dem Frühwerk des Strickers

zugeordnet; es umfaßt 8483 Verse und ist in 5 Handschriften des 15. Jahrhunderts recht

spärlich überliefert. Das Werk scheint schon bei den Zeitgenossen des Strickers

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Kopfschütteln ausgelöst zu haben; neben der geringen Zahl der überlieferten Handschriften

ist es auch das einzige Werk des deutschen Mittelalters, dem tatsächlich ein „Gegenroman“

gewidmet wurde, nämlich der Garel von dem Blühenden Tal des Pleier.

Die Aussage, „daß Strickers Daniel nach Meinung der Zeitgenossen den

Erwartungsrahmen für einen Artusroman nur bedingt erfüllt hat“213, läßt sich auch auf das

Urteil der Wissenschaft ausdehnen: auch in der Forschung herrschte lange die

geringschätzige Ansicht vor, das Werk stelle lediglich eine epigonale Etüde des Strickers

dar, der sich in seinen Anfängen des bewährten arturischen Modells bedient und damit

lediglich eine „Abenteuergeschichte ohne Geist und Sinn“214 geschaffen habe. Ehrismann

spricht von einem „langstieligen, umständlichen Abenteuerroman gewöhnlichen

Schlages“215 und auch de Boor schließt, der Stricker habe mit dem Werk „keine

grundsätzliche Problematik aus dem Wesen des Rittertums“216 abgehandelt. Auf den ersten

Blick erscheint das Werk als „durchschnittliches, mit fabulös-phantastischen Details

wucherndes Artusepos“217, das tatsächlich aus bekannten Motiven der Artus-Epik neu

kombiniert zu sein scheint. Erst die neuere Forschung hat jedoch die Neuerungen und

Eigenheiten des Werkes zu würdigen gewußt.

Zunächst zum Inhalt:

Herr Daniel vom Blühenden Tal erscheint am Hof des König Artus, der einleitend als Muster an Herrschertugenden geschildert wird. Nach einer Reihe von Zweikämpfen mit den Rittern der Artusrunde erweist sich Daniel als den ganzen ausgezeichneten Artusrittern ebenbürtig und wird, durch die Eintragung in das „Registerbuch“ der Artusritter, in die Tafelrunde aufgenommen. Bald darauf erscheint ein Riese, der als Bote König Maturs von Cluse folgende Nachricht überbringt: Matur, der Herr über unermeßliche Länder und Heerscharen ist, lasse sich herab, Artus als seinen Gefolgsmann anzunehmen. Dazu habe er sich nach Cluse an Maturs Hof zu begeben, um in den Genuß dieser außergewöhnlichen „Ehre“ zu gelangen. Der einzige Zugang zum Wunderreich Maturs führe durch einen Tunnel, der vom ebenso riesenhaften wie unverwundbaren Bruder des Boten bewacht wird; im Reiche Maturs gebe es ein goldenes Tier, das, entreißt man ihm das Banner, das es im Maul hält, ein lebensgefährliches Gebrüll ertönen läßt und den König und seine

212 Ragotzky, H.: Das Handlungsmodell der List und die Thematisierung von guot. In: Literatur-Publikum-historischer Kontext. Hrsg. von G. Kaiser. Bern 1977. S.183 213 Birkhan, H.: Daniel von dem Blühenden Tal vom Stricker. Kettwig 1992. S. 22. 214 Rosenhagen, G.: Der Stricker. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters; Verfasserlexikon hrsg. von K. Langosch. Bd.4, Berlin 1953 Sp. 294. 215 Ehrismann, G.: Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters. Bd. II, 2,2. München 1935. S.15. 216 de Boor, H.: Die höfische Literatur: Vorbereitung-lüte-Ausklang; 1170-1250. München 1953. S.193. 217 Buschinger, D.: Parodie und Satire im Daniel von dem Blühenden Tal des Stricker. In: Buschinger, D.:Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. (Wodan 53). Greifswald 1995. S.251

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Heere zum Kampf ruft. Auf Gaweins Rat tut Artus, als fühle er sich durch den Wunsch Maturs geehrt und bittet sich aber eine Woche Vorbereitungszeit für die Reise aus. Während die Vorbereitungen für den Zug nach Cluse getroffen werden, zieht Daniel heimlich aus, um dem Hof zuvorzukommen. Er findet nach drei Tagen tatsächlich das von dem Riesen bewachte Tor, bevor er aber den offenbar aussichtslosen Kampf beginnen will, begegnet ihm das Fräulein vom Trübenberg, das ihn inständig um seine Hilfe bittet. Der Zwerg Juran, der in Liebe zu ihr entbrannt ist, verwüstet mit Hilfe seines alles zerschneidenden Schwertes ihr Reich, da sie ihn nicht erhören will. Daniel gelingt es, den liebesblinden Zwerg dazu zu überreden, seine Tapferkeit in einem Zweikampf ohne sein mächtiges Schwert zu beweisen; Daniel besiegt ihn und nimmt die Waffe an sich. Als er zum Tunnel zurückkehren will, begegnen ihm die Gräfin vom Lichten Brunnen und ihr Gefolge, die ihn wiederum um Hilfe bitten. Ein Heer von aus dem Meer aufgestiegenen bauchlosen Ungeheuern, die sich nach Vampirart vom Blut der Menschen ernähren, besetzen ihr Land, der Anführer dieser Monstren besitzt zudem ein Gorgonenhaupt, dessen Anblick alle Lebewesen tötet. Ihr Gemahl ist als Belagerter im Bergfried zurückgeblieben, nur sie und ihr Gefolge konnten entkommen. Daniel bringt am Burgtor den Anführer der Ungeheuer durch verrätselte Antworten so in Rage, daß dieser alleine mit seinem tödlichen Haupt aus der Burg stürmt; mit Hilfe eines Spiegels gelingt es Daniel, sich ihm auf Schwerteslänge zu nähern und ihn zu töten. Die restlichen Ungeheuer, die aus der Burg eilen, tötet Daniel allesamt mit dem furchtbaren Gorgonenhaupt. Daniel wirft das Haupt ins Meer und befreit den Grafen, der ihm daraufhin als sein Begleiter folgt. Auf dem Rückweg zum Tunnel finden die beiden ein prächtiges Zelt mit herrlichen Speisen; plötzlich naht sich ein Ritter, der einen Gefangenen mit sich führend grußlos an Daniel und dem Grafen vorbeisprengt. Als sie ihm in einen Tunnel folgen, wird Daniel vom Grafen durch eine im Berg gestaute Wasserflut getrennt, die der unbekannte Ritter durch Bewegen eines Schwellsteines freisetzt. Obwohl Daniel verzweifelt tagelang darauf wartet, seinem verlorenen Begleiter folgen zu können, muß er schließlich abziehen, da inzwischen die von Artus verlangte Wochenfrist verstrichen ist. Am Tunneleingang zerstückelt er den Riesen mit seinem alles zerhauenden Schwert, was die Vorhut des eintreffenden Artusheeres noch beobachten kann. Das Heer zieht durch den Tunnel nach Cluse, wo sie dem goldenen Tier das Banner aus dem Maul reißen. Kurz darauf erscheint Matur mit seinem Heer; Artus tötet Matur im Zweikampf, und auch beide Heere verrichten Wunder an Tapferkeit. Der Riesenbote, der unter Artus‘ Heer schrecklich wütet, wird auf Gaweins Rat zuerst geblendet und kann schließlich mit Daniels Schwert getötet werden. Man beschließt, auf dem Schlachtfeld zu bleiben und die restlichen Heere Maturs hier zu erwarten; in der Nacht stiehlt sich Daniel wieder davon, um nach dem Verbleib des Grafen zu forschen. Tatsächlich trifft Daniel den unbekannten Ritter wieder am Zelt an und besiegt ihn nach langem Kampf; obwohl dieser stumm bleibt, schenkt ihm Daniel das Leben und reitet durch den wieder passierbaren Tunnel, um den Grafen zu suchen. Dabei gerät er aber bald in ein unsichtbares Zaubernetz, das das Fräulein von der Grünen Au als Falle ausgelegt hat. Er verpflichtet sich, ihren Wünschen zu gehorchen, wenn sie ihn befreit, und sie bittet ihn um Hilfe: ein roter Glatzkopf, dessen Rede jeden Zuhörer des Verstandes beraubt, hat seit einem Jahr dieses Land unter seiner Macht. Er zwinge jeden Mann durch seine Zauberstimme dazu, sich freiwillig abschlachten zu lassen; in ihrem Blut bade der Kahle, um sein Siechtum zu lindern. Den Herren von der Grünen Au, den schweigenden Ritter,

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zwinge er dazu, ihm neue Opfer zuzuführen. Sie selbst sei nur wegen vorübergehender Taubheit nicht unter der Kontrolle des Kahlen. Daniel mischt sich unter die willenlosen Männer, die gerade zum Bad des Siechen geführt werden; auch er stellt sich blöde und kann dadurch den Kahlen hinterrücks erschlagen, was auch dessen Macht über die Bevölkerung beendet. Der zum zweiten Mal gerettete Graf und auch der wieder zu Sinnen gekommene Herr von der Grünen Au und seine Ritter folgen Daniel zurück zum Kampfplatz in Cluse. In einer zweiten und dritten Schlacht bleiben Artus und seine Ritter wieder siegreich, in der vierten Schlacht verhilft eine List Daniels den Artusrittern zum unblutigen Sieg: als das letzte gewaltige Heer Cluses heranstürmt, wird dem goldenen Tier das Banner aus dem Rachen gezogen, und das ungeheure Getöse läßt alle Feinde wehrlos niedersinken. Somit bleibt Artus siegreich und die Überlebenden von Maturs Heer werden begnadigt. Durch die diplomatische Lüge des Königs, das Heer sei in Gefangenschaft nach Cluse gebracht worden und habe sich nur verteidigt, wird Danise, die Witwe Maturs, versöhnlich gestimmt; Artus kann sie sogar überzeugen, noch vor Ablauf einer Woche nach Tod Maturs Daniel als neuen Gemahl anzunehmen. Bei den folgenden Feierlichkeiten in Cluse kommt es außerdem zu breit geschilderten Massenhochzeiten, in denen die Fräulein und Witwen von Cluse massenweise mit den Junggesellen in Artus‘ Heer verehelicht werden; um ausreichend Gatten zur Verfügung stellen zu können, werden kurzerhand noch sechshundert Knappen zu Rittern gemacht. Als die Festfreude gerade einen Höhepunkt erreicht, erscheint aber ein wundersamer Alter, der sich als Vater der erschlagenen Riesen herausstellt. Als Rache für deren Tod gelingt es ihm, blitzartig Artus gefangenzunehmen und auf einem entfernten Berg in größter Absturzgefahr auszusetzen. Parzival, der sich über den Ehrenkodex des Artushofes hinwegsetzt und sich als Bester bezeichnet, um Artus helfen zu können, wird ebenso überwunden und in die Felswand gebracht. Daniel holt in dieser Notlage das Fräulein von der Grünen Au zu Hilfe; mit ihrem unsichtbaren Zaubernetz gelingt es, den Alten einzufangen. In einem Gespräch schafft es Daniel überdies, mittels der bekannten Notlüge und dem Hinweis auf Maturs superbia, den Alten versöhnlich zu stimmen; er befreit Artus und Parzival und erhält das Zaubernetz als Geschenk. Die Festfreude beginnt von neuem, und Daniel bittet sich aus, auch Königin Ginover vom Artushof zu sich holen zu dürfen; in Begleitung von Lancelet, Erec und dem jungen Beladigant kehren sie kurz darauf mit ihr zu den Festlichkeiten in Cluse zurück. Beladigant wird zum Ritter gemacht und mit dem Fräulein von der Grünen Au vermählt. Artus macht ihn zum Herzog von Cluse und der Alte erhält sein altes Lehen von Artus als freien Besitz. Nach vier Wochen endet das Fest, und Daniel herrscht in höfischer Pracht weiterhin in Cluse als Artus‘ Lehensmann. Es wurde in der Forschung bereits zur Genüge darauf hingewiesen, daß sich das Werk

des Strickers in auffälliger Weise am Iwein Hartmanns von Aue orientiert; begonnen beim

Prolog der beiden Werke bis zu auffällig deckungsgleichen Entscheidungssituationen, vor

die auch der Stricker seinen Helden stellt. Während eben diese Tatsache früheren

Interpreten lediglich als weiterer Beweis des Epigonalen galt, zeigt die neuere Forschung,

daß dieses Gegenüberstellen des neuen Helden Daniel und des als sehr bekannt geltenden

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Iwein Hartmanns durchaus bewußt und in der Absicht vorgenommen wird, eben anhand

der wenigen, aber relevanten Unterschiede die neue politische und gesellschaftliche

Aussage des Strickerschen Werkes hervorzustellen.218 Durch Übernahme von Motiven und

„Gattungssignalen“219 aus dem das Genre im deutschen Sprachraum konstituierenden

Hartmannschen Werkes stellt der Stricker einerseits das Typische, Bekannte der Welt des

Artusromans vor; andererseits werden im Daniel die so bewußt geweckten Erwartungen

nicht erfüllt. „Gerade dieser Mechanismus von Bestätigung und Durchbrechung ermöglicht

das klare Herausstellen der Variation, des Neuen, Untypischen.“220

Gerade das von der älteren Forschung gescholtene vermeintliche Manko des Epigonalen

stellt somit die eigentliche Leistung des Strickerschen Artusromans dar: unter

Beibehaltung der als von Publikum und Autor als genretypisch akzeptierten Parameter

kann der Stricker mit pointiertem Nachdruck auf die Unterschiede, auf das eigentlich Neue

an seinem Roman, an seinem Helden hinweisen. Daß dieses Programm nicht nur die ältere

Forschung, sondern auch das zeitgenössische Publikum irritierte, ist mit der

geringschätzigen Meinung etwa Rosenhagens einerseits, und der Existenz des

Gegenromans des Pleiers, dem Garel von dem Blühenden Tal, hinreichend erwiesen. „Daß

bei der Ästhetik des Mittelalters, die sich grundsätzlich von der Originalitätspoetik des 19.

Jahrhunderts unterscheidet, ein Versuch, die Grenzen der Gattung zu erweitern, nicht auf

ungeteilten Beifall bei einem traditionsbewußten Hörer stoßen mußte, zeigt die Reaktion

des Pleier auf das Werk des Stricker: mit seinem Garel schrieb er einen „Anti-Daniel“ und

rückte die – nach dem Maßstab des klassischen Artusromans – nicht mehr

gattungskonformen Züge des Daniel wieder zurecht.“221

Die für den Artusroman untypischen Massenschlachten, die Darstellung Artus‘ als

Krieger, das Fehlen einer minne-Handlung, die allgemein blutrünstige Darstellung der

Kämpfe und die irritierenden Massenhochzeiten zum Schluß des Romans, bei dem noch

zusätzlich die Festesfreude durch die unerhörte Entführung Artus‘ und auch noch Parzivals

gestört wird: all diese Elemente stellen den zeitgenössischen und auch heutigen Zuhörer 218 Vgl. v. a.: Kern, P.: Rezeption und Genese des Artusromans. Überlegungen zu Strickers Daniel vom blühenden Tal. In: ZfdPh 93(1974), Sonderheft „Spätmittelalterliche Epik“. S.18-42. Weiters: Moelleken, W.W.: Minne und Ehe in Strickers Daniel von dem Blühenden Tal. In: ZfdPh 93(1974), Sonderheft „Spätmittelalterliche Epik“. S.42-50. Ragotzky, H.: Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers. Tübingen 1981. S.45-82. 219 Kern, P.: Rezeption und Genese des Artusromans. Überlegungen zu Strickers Daniel vom blühenden Tal. In: ZfdPh 93(1974), Sonderheft „Spätmittelalterliche Epik“. S.40. 220 ebd., S.41.

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vor nicht unerhebliche Fragen der Interpretation. 222 Außerdem befremdet, daß im

Gegensatz zum klassischen Artusroman der Held keinerlei Wandlung oder Entwicklung

erfährt: auf die anfängliche Integration des Helden am Artushof erfolgt an keiner Stelle des

Romans der sonst typische „Sündenfall“, der die Wiedererringung der Ehre und somit auch

die genretypische Struktur des doppelten cursus erst notwendig machen würde.

Welchen Zweck verfolgte aber der Autor nun mit seinem Werk? Helmut Bralls Arbeit223

zur politischen Funktion späthöfischer Artusepik im Territorialisierungsprozeß versucht,

die der Veränderung der Konzeption zugrundeliegenden Einflüsse in der sozialen

Umstrukturierung der Landesherrschaftsbereiche speziell in Österreich nachzuweisen.

Demnach ist es die politische „Botschaft“ des Romans, daß der Daniel „für den von

zunehmender Konzentration der Herrschaftsrechte und territorialer Arrondierung in seiner

Existenz bedrohten landstädtischen Adel „Identifikationsangebote“ und

„Legitimationsmuster“ bereithält“224, eine Annahme, die Brall auch anhand zahlreicher

historischer Quellen untermauern kann.225 Es sei allerdings auch der berechtigte Einwand

221 ebd., S.42. 222 Eine schlüssige Möglichkeit zur Interpretation dieser Massenhochzeiten bietet Birkhan in seinem Beitrag zur Festschrift Roy Wisbeys. Die Heiratspolitik Daniels in Cluse entspricht demnach den Geschehnissen nach dem 4. Kreuzzug, „bei fränkischen Ansiedlungen im Orient der Kreuzzüge im allgemeinen und bei der Errichtung lateinischer Fürstentümer nach 1024 im besonderen.“ Die Propagierung der Ansiedlung und Einheirat in Griechenland weist interessante Parallelen zu den oft als irritierend empfundenen Massenheiraten in Cluse auf; unter diesem Gesichtspunkt historischer Vorbilder ergeben sich auch noch weitere Ansatzpunkte: „Es scheint einiges dafür zu sprechen, daß der Stricker bei der Schilderung der Verhältnisse in Cluse die politischen Ereignisse, Projekte und Hoffnungen, die mit dem 4. Kreuzzug verbunden waren, vor Augen hatte: so ergab sich ein paradiesisches Land (mit Automaten, Babianen, Elefanten und Kamelen) voll täglicher Feste, wunderschöner Frauen, die nur darauf brennen, verheiratet zu werden, wo großzügig nach alter, guter Gewohnheit Lehen vergeben werden, so daß die herbeiströmenden Artusritter ihre Fortune machen können. Dafür verpflichten sie sich zu streng geregelter ritterlicher Dienstausübung und sind so die Träger eines ritterlichen Idealstaates, wie sich die Ritter-ideologie in Mitteleuropa bald nach dem Fall Konstantinopels die fränkischen Staaten im fernen Griechenland vorstellen mochte.“ Gerade in Hinblick auf die von Brall angesprochene Historizität des Daniel in bezug auf den Territorialisierungsprozeß erscheint es plausibel, daß der Stricker auch hier seine Gegenwart wiederholt zum Gegenstand seines Werkes werden ließ. Vgl. Birkhan, H.: Motiv und Handlungsschichten in Strickers Daniel. In: German Narrative Literature of the Twelfth an Thirteenth Centuries. Studies presented to Roy Wisbey on his Sixty-Fifth Birthday. Hrsg. von Volker Honemann u.a. S. 363-389. Tübingen 1994. Zitate S.384f. 223 Brall, H.: Strickers Daniel vom Blühenden Tal. Zur politischen Funktion späthöfischer Artusepik im Territorialisierungsprozeß. In: Euphorion 70 (1976). S. 222-257. 224 Ebd., S. 243. 225 „Eine vereinfachende Darstellung der politischen Situation in Österreich in den ersten Jahrzehnten des 13. Jhs. ergibt folgendes Bild: Der Landesherr suchte sich als Bundesgenossen seiner Territorialisierungspolitik einmal den im Lande ansässigen Klerus, dem er Schutz vor Übergriffen adeliger Vögte gewährte, zum anderen die aufstrebenden Städte, deren Wirtschaftspotential durch Förderung des Handels gezielt gestärkt wurde; gegen den Landesherrn und seine Bundesgenossen trafen sich alter Adel und Ministerialität in dem Versuch, ihre Rechtsstellung und ihren Besitz zu wahren und eine dem Herzog gegenüber unabhängige Position zu behalten.“ Ebd., S250. „Das bedrohte Artusreich bietet bis in die Einzelheiten der Rezeptionsgemeinschaft Landadel die Möglichkeit, die eigene desolate Situation gegenüber einem übermächtigen Landesherrn wiederzufinden und zwar aus einer Sicht, die eindeutig ihrem Rechtsstandpunkt und ihrem Rechtsbewußtsein entspricht.“ Ebd. S252. „Der Stricker knüpft in einem ersten Schritt an den Erfahrungshorizont einer gesellschaftlichen Gruppe an, der mit den zu Gebote stehenden literarischen und rhetorischen Mitteln verfremdet und übersteigert wird, um dann

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Hedda Ragotzkys erwähnt, daß mit einer gruppenspezifischen politischen

Interessenfixierung der Literatur im 13. Jahrhundert wahrscheinlich nicht zu rechnen

sei226– wobei natürlich trotzdem aufrecht bleibt, daß der Stricker die politischen

Verhältnisse seines Romans nach der zeitgenössischen Wirklichkeit modelliert haben

wird.227

Das entscheidend Neue, Irritierende am Daniel, darin sind sich alle Interpreten einig,

äußert sich nun vor allem in der großen Betonung der List. Das neue Leitbild des

Artushelden, das der Stricker gerade durch den gewollten Vergleich mit den klassischen

Werken des Artusromans besonders akzentuiert, ist das des vernunftbetonten, abwägenden

Handelns. „Die Bedeutung von list-Handeln zu entwickeln und kenntlich zu machen, ist

das Ziel des Daniel.“228 Im folgenden soll nun auf die Eigenschaften des

außergewöhnlichen Artushelden Daniel näher eingegangen werden.

4.3. Daniel, der perfekte Artusritter

Auf den ersten Blick, und auch wie der Stricker uns Daniel vorstellt, ist der Held das

Idealbild des Artusritters. Als er an König Artus‘ Hof kommt, stellt sich der noch

unbekannte Held mutig den stärksten Rittern des Hofes im Zweikampf und bleibt

unbesiegt; auch an Ehrbarkeit kann es Daniel mit den hohen Standards des Artushofes

aufnehmen. Im Verlauf des Abenteuers wird er aber das eine ums andere Mal vor

Situationen gestellt, in denen diese Tugenden nicht ausreichend erscheinen: die Fähigkeit

zum klugen Abwägen der Umstände und Resultate jeder möglichen Handlung, die

Befähigung zum zweckrationalen Handeln, zur List, ist in den âventiure-Episoden, in

denen Daniel alleine ausreitet, stets der entscheidende Vorteil des Helden. Die für den

Artusroman untypischen Massenschlachten geben dem Autor dafür anschließend wieder in einem weiteren Schritt Möglichkeiten aufzuzeigen, die desolate Situation zu verändern. Wisheit und list sind die unkonventionellen Mittel, sich brachialer Gewalt zu erwehren, nicht minder bedeutsam, weil auf die historische Situation anwendbar, erscheint der Appell zur Solidarität.“ Ebd. S256. Im Zusammenhang damit kann auch das Märe Der Turse des Strickers erwähnt werden, in dem in noch eindringlicherer und fabelartiger Knappheit die Solidarität der bedrohten Adelsgeschlechter und Ministerialen gegenüber dem Landherrn als Notwendigkeit und Ausweg geschildert wird. Vgl. Die Kleindichtungen des Strickers, hrsg. von W.W. Moelleken. Bd.V. GAG107. Göppingen 1973. Nr.159, S.219-223. 226 Ragotzky, H.: Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers. Tübingen 1981. S.46, Anm.1. 227 Zur Frage der Stichhaltigkeit von Bralls Identifikationstheorie vgl. auch die Einleitung zu Birkhan, H.: Daniel von dem Blühenden Tal. Kettwig 1992. S.23f. 228 Ragotzky, H.: Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers. Tübingen 1981. S.44.

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die Möglichkeit, Daniel auch als Ideal des kriegerischen Helden darzustellen: während in

den âventiure-Episoden die List als lobenswerteste, sogar kritisch relevante Eigenschaft

hervorgestellt wird, so bieten die kolossalen Schlachtschilderungen Gelegenheit genug,

auch die Tapferkeit und Stärke Daniels darzustellen. In den âventiuren wiederum ergeben

sich anfänglich scheinbar ausweglose Situationen, in denen Daniel all seine Tapferkeit und

Stärke nicht von Vorteil sind: wie er sich auch entscheiden wird, keine Entscheidung

bedeutet eine Lösung, immer werden sein lop und seine êre ins Zwielicht geraten.

Dies sei dargelegt an der Situation vor der ersten âventiure: Daniel ist heimlich vom

Artushof aufgebrochen und gelangt zum riesenhaften Bruder des Boten, der den Zugang zu

Cluse bewacht. Direkter Angriff, das weiß der Held, wird mit seinem Tod enden, da der

Riese unbesiegbar ist. Vermeidet er allerdings wegen der Aussichtslosigkeit den Kampf, so

muß er sich womöglich einen zagen schimpfen lassen. In einem ausführlichen Monolog, in

dem er beide Handlungsmöglichkeiten gegeneinander abwägt, (V.1056-1072) entscheidet

er sich endlich in klassischer Heldenart dafür, den aussichtslosen Kampf zu wagen, da nur

so überhaupt die Möglichkeit besteht, êre zu gewinnen. In diesem Moment der

Entscheidung bemerkt Daniel allerdings das Fräulein vom Trüben Berge, wobei sich ein

weiteres Dilemma eröffnet: Daniel muß mit dem Riesen kämpfen, ist aber gleichzeitig

durch sein ritterlich-christliches Ethos verpflichtet, die Klage der bedürftigen frouwe

anzuhören. In einem weiteren Entscheidungsprozeß überlegt Daniel genau die Vor- und

Nachteile seines jeweiligen Handelns für seine êre (V.1144-1174): beginnt er den Kampf

mit dem Riesen, kann er ihr womöglich nicht mehr zu Hilfe kommen, hört er ihrer Klage

zu, entzieht er sich dem Kampf. Wiederum entscheidet sich Daniel dafür, aus Gründen der

milte und der christichen Nächstenliebe der frouwe zuzuhören – und im Gespräch mit dem

Fräulein ergibt sich sogleich das dritte Dilemma. Der Zwerg Juran, gegen den er die

Bittende verteidigen soll, gilt ebenso als unbesiegbar, und Daniel unternimmt das dritte

Mal die schwierige Aufgabe, sich die Frage nach der Ehrbarkeit seiner

Handlungsmöglichkeiten zu stellen (V.1354ff)229.

Wie Hedda Ragotzky bemerkte230, hat diese dreifache Wiederholung der Zuspitzung

einer Entscheidungssituation für die Aussage des gesamten Werkes demonstrativen Wert.

Dreimal unterzieht sich der Held der Anstrengung, reflexiv zu ergründen, was êre hier und 229 Die Zitate folgen Der Stricker: Daniel von dem blühenden Tal. Hrsg. v. M. Resler. (Altdeutsche Textbibliothek 92) Tübingen 1983.

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unter den speziellen Umständen für ihn heißen kann. „Die Kollision zweier Ansprüche, die

beide unter dem Stichwort der êre auftreten und auf den ersten Blick gleichwertig

erscheinen, ist so angelegt, daß sie die Aktivität des Helden total blockieren könnte. Nur

die Fähigkeit, immer neu den allgemeinen Verbindlichkeitsgehalt von êre auf die

Widersprüchlichkeit seiner augenblicklichen Lage zu beziehen und auf diese Weise das,

was zunächst als unwiderruflich alternativ wirkt, in eine Rangfolge der Dringlichkeit zu

übersetzen, ermächtigt Daniel, sich zu entscheiden und sich einen Handlungsspielraum zu

wahren.“231 Hier zeigt sich auch bereits die Innovation des Strickers, der geradezu den

Unterschied zum klassischen Artusroman zelebriert: die bewußte, methodisch abwägende

Reflexion des Helden macht dem Zuhörer klar, daß die andernorts so eindeutig

erscheinende bedingungslos wertrationale Gesinnung in einem „realistischeren“ Kontext

ihre Gültigkeit als Instrument zur Lösungsfindung verlieren muß. Es stellt sich dem Helden

nicht ein logischer Weg dar, den er mit Hilfe seiner Tugenden bewältigen wird, sondern

eine stete Entscheidungskette von sorgfältig zu beurteilenden Fragen, die den besten Weg

erweisen sollen. Das Kriterium, das über die Brauchbarkeit einer Entscheidung bestimmt,

ist die êre – das zweckrationale Handeln wird einer strikt wertrationalen Prüfung

unterzogen.

Vor allem im Hinblick auf den Iwein232 zeigt sich schon in dieser ersten

Handlungssituation das Bestreben des Strickers, seinen Helden Entscheidungen treffen zu

lassen: Iwein hat Lunete zugesagt, ihre Unschuld im Kampf gegen ihre Verleumder zu

erweisen. Andererseits hat er die Aufgabe übernommen, seinem Gastgeber beim Kampf

gegen den Riesen Harpin beizustehen. Als sich die Ankunft des Riesen verzögert, gerät

Iwein in einen Pflichtenkonflikt. In einem langen inneren Monolog (Iwein, V.4869-4913)

ringt er um eine Lösung, doch Hartmann erspart seinem Helden durch das gerade noch

rechtzeitige Eintreffen des Riesen die jedenfalls problematische Entscheidung. Iwein ist

von der Notwendigkeit zu entscheiden überfordert: nur die Gunst des Geschicks verhindert

die Eskalation des Problems. Im Daniel wiederum wird signalartig für den Charakter des

Helden ein entsprechender Pflichtenkonflikt in dreifacher Wiederholung durch die

Entscheidung des Helden aufgelöst. Der Zeitdruck, der im Iwein Hartmanns entscheidend

zur Spannungssteigerung beiträgt, fehlt an dieser Stelle des Strickerschen Werkes zwar, an

230 Ragotzky, H.: Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers. Tübingen 1981. S. 64. 231 Ebd., S.64f. 232 Vgl. dazu besonders Kern, P.: Rezeption und Genese des Artusromans. Überlegungen zu Strickers Daniel von dem Blühenden Tal. In:ZfdP 93 (1974) Sonderheft „Spätmittelaterliche Epik“. S.32ff und Ragotzky, H.: Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers. Tübingen 1981. S. 65f.

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anderer Stelle allerdings muß auch Daniel ein ähnliches Problem unter dem Druck der

verrinnenden Zeit bewältigen. Als sein Weggefährte, der Graf ze dem Liehten Brunnen, bei

der Verfolgung des unbekannten Ritters in einem Berg eingeschlossen wurde, wartet

Daniel vergeblich auf eine Gelegenheit, ihm helfen zu können; als schließlich der Tag

kommt, an dem Artus nach Cluse aufbricht, muß sich Daniel entscheiden, ob er weiter

ausharren oder König Artus gegen den Wächterriesen beistehen will. (Dan.,V.2711-2731)

Wiederum aber zeigt sich im Unterschied zum Iwein der Held zur Entscheidung bereit,

sicher auch erleichtert durch die Romanstruktur, die die „Wegâventiuren“ Daniels der

„Ziel-âventiure“ des Artushofes eindeutig unterordnet.

Es stellt sich die berechtigte Frage, ob der Terminus der âventiure im Hinblick auf

Daniels abwägendes Verhalten noch gänzlich zutreffend ist: wie beim Tristan negiert der

überdeutlich herausgestellte Wesenszug des Protagonisten, nur nach abwägenden

Überlegungen zu handeln, bis zu einem gewissen Punkt den Grundcharakter der âventiure

als „schicksalhafter Fügung“233. Im Daniel ergibt sich gleich zu Beginn eine für den

âventiure-Begriff des Artusromans fast paradoxe Situation: Die heimliche Ausfahrt

Daniels, um den Wächterriesen zu töten, widerspricht schon allein durch das Vorwissen

um die Aufgabe dem klassischen âventiure-Streben,234 die genaue Planung aller möglichen

Aktionen läßt etwaigen „Fügungen“ wenig Raum. Die formalen Voraussetzungen zu einer

„klassischen“ âventiure – heimliches Verlassen des Hofes, Ausritt zum êre-Erwerb–

stimmen, der Charakter des Helden strebt aber nach ihrer Überwindung. An diesem Punkt

tritt die âventiure aber unerwartet doch auf, und zwar in Gestalt der frouwe vom Trüben

Berg. Obwohl die neue Aufgabe zu diesem Zeitpunkt unliebsame Verzögerung, ja sogar

Behinderung bedeutet, folgt Daniel selbstverständlich dem Gebot, den Schwachen

ritterliche Hilfe zu leisten. Die Fügung des Schicksals wird akzeptiert, im Rahmen der

eigenen Handlungen und während der Stationen der Weg-âventiuren unternimmt Daniel

aber alles, um unliebsame Überraschungen zu vermeiden. Wo Daniel die Ereignisse

vorhersehen kann, richtet er sein Handeln danach aus, unvorhersehbare Ereignisse – die

âventiure – werden flexibel, durch erneutes Abwägen der veränderten Situation, bewältigt.

233 Brall, H.:Strickers Daniel vom Blühenden Tal. Zur politischen Funktion späthöfischer Artusepik im Territorialisierungsprozeß. In: Euphorion 70 (1976). S. 232. 234 Im Iwein ist dieses „Vorwissen“ ebenfalls präfiguriert, gemeinsam mit den unlauteren Motiven des Helden stellt diese „Perversion“ ritterlicher Ausfahrt auch einen Hauptgrund für die Notwendigkeit der zweiten, „entsühnenden“ Aventiurenkette dar. Vgl. Brall, H.: Strickers Daniel vom Blühenden Tal. Zur politischen Funktion späthöfischer Artusepik im Territorialisierungsprozeß. In: Euphorion 70 (1976). S. 232.

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Auch in den weiteren âventiure-Episoden ist stets das abwägende, genau planende

Berechnen aller möglichen Ergebnisvarianten Daniels wichtigste Eigenschaft. Im Kampf

gegen den Zwerg Juran spekuliert Daniel auf die Liebesblindheit des Gegners, die diesen

sein Zauberschwert ablegen läßt. Auch im Kampf gegen das bauchlose Ungeheuer legt

sich Daniel eine listenreiche Strategie zu, die die todbringende Waffe des Gegners, das

Medusenhaupt, wirkungslos werden läßt: rücklings und mit einem Spiegel versehen,

weicht er der Zauberkraft des Hauptes aus und setzt es anschließend selbst gegen seine

restlichen Gegner ein. Daß er die Wunderwaffe anschließend im Meer versenkt, wird

einerseits zwar als Forderung der Ehre dargestellt (beim Wunderschwert Jurans tauchen

derartige Zweifel freilich nicht auf!), andererseits entspringt die Notwendigkeit der

Zerstörung aber auch dem sehr zweckrationalen Wissen um die Gefährlichkeit der Waffe

auch für den Träger. (V. 2167-2202) Auch der kahle Sieche wird von Daniel getötet, weil

er sich zu sicher wähnt: weil Daniel sich geschickt als Opfer des Zaubers verstellt, denkt

der Gegner nicht daran, weitere Vorsichtsmaßnahmen zu treffen und unterliegt.

In diesen und auch den weiteren Listen Daniels zeigt sich, daß es die hervorstechendste

Fähigkeit des Helden ist, seine Realität richtig zu erkennen und zu beurteilen und

dementsprechend zu handeln. Daniels Gegner sind realitätsblind, ihnen ist durch vielerlei

Gründe die reale Einschätzung der Situation nicht möglich. Bei Juran ist es die Liebe, die

ihn zu berechenbarem Handeln verleitet, beim bauchlosen Ungeheuer und dem Siechen das

zu große Vertrauen in ihre Macht, wegen dem sie andere Vorsichtsmaßnahmen außer acht

lassen und so dem listigen Daniel unterliegen. Diese Gegner sind allesamt zauberischer

oder unmenschlicher Natur; sie bedienen sich selbst unehrenhafter Mittel, um ihre Gegner

zu bezwingen. Im ehrlichen Kampf, so zeigt sich exemplarisch am Zwerg Juran, sind sie

Daniel nicht gewachsen. Gegen diese Kontrahenten ist jede List gerechtfertigt, da sie nur

mit den ritterlichen Künsten nicht zu besiegen sind. „Menschliche Stärke und ritterlicher

Mut allein sind [...] machtlos. Die einzige Verteidigung gegen solche übernatürliche

Widersacher ist die Listanwendung. Und je größer die Gefahr, in der man schwebt, desto

eindrucksvoller wird die List, die sie abwendet. Dank seiner intellektuellen Fähigkeiten ist

der Artusritter nicht nur in der Lage, diese feindlichen Kräfte unschädlich zu machen,

sondern es gelingt ihm auch, sie für seine Zwecke zu nützen (z.B. Schwert, Haupt und

Netz).“235

235 Moelleken, W.W./Henderson, I.: Die Bedeutung der Liste im Daniel des Strickers. ABÄG 4 (1973), S.196.

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Page 115: Die Unmoral des Intellekts

In der abschließenden Riesenvater-âventiure verbinden sich nun die zuvor getrennten

Handlungsketten von Daniel- und Artushof-Handlung; während schon die letzte Schlacht

gegen Maturs Heerscharen durch Daniels List mit dem goldenen Tier unblutig gewonnen

werden konnte, zeigt sich in der Episode mit der Entführung Artus‘ am

augenscheinlichsten, wie sich Daniel durch seine Fähigkeit zu vernunftbetontem Handeln

auch in direkter Gegenüberstellung zu den anderen Artusrittern bewährt und auszeichnet.

Woran die Artusritter in der mißlichen Situation vor dem Berg scheitern, ist die

bedingungslos wertrationale Orientierung ihres Handelns. Schon die Frage des Alten, wer

der tapferste Ritter am Artushof sei, versetzt die Ritterschaft in ein fast unüberwindliches

Dilemma. Nur Parzival, dessen bekannte Geschichte ja ebendieses Problem des

Schweigens am falschen Ort beinhaltet, durchbricht die Regel des Hofes und tritt vor, um

den Kampf aufzunehmen. Doch alle ritterlichen Tugenden, verkörpert im makellosen

Artusritter Parzival, können es nicht mit der übernatürlichen Macht des Alten aufnehmen,

und so landet auch Parzival in der Felswand. Hier zeigt sich wieder die Überlegenheit

zweckrationalen Handelns: Daniel, der die Ausweglosigkeit eines ritterlichen

Zweikampfes erkennt, besinnt sich des Zaubernetzes und schafft es so, den Alten gefangen

zu nehmen. Im Gegensatz zu Danielle Buschinger, die in dieser Episode vor allem eine

„deutliche Satire auf die figurelle Gestaltungspraxis des arturischen Romans“236 erkennen

will, demonstriert der Stricker meiner Meinung nach hier ein letztes Mal auf besonders

plakative Weise die Überlegenheit listigen, vorausplanenden Handelns.

In einem eigenen Exkurs bringt der Stricker im Daniel die Vorteile des listigen Handelns

noch einmal separat zum Vortrag:

Swer iht guoter liste kann, den solde wîp unde man

236 Buschinger, D.: Parodie und Satire im Daniel vom Blühenden Tal des Stricker. In: Studien zur deutschen Literatur des Mittelelaters. Hrsg. v. D. Buschinger. (Wodan 53.) Greifswald 1995. S.254 Auch der abschließenden Folgerung Buschingers, beim Daniel handle es sich um einen „parodierenden Anti-Artusroman“ (ebd. S.256) kann ich mich nicht anschließen. Gerade die Übernahme und Paraphrasierung großer Teile und Motive des klassischen Artus-Romans Iwein läßt meines Erachtens eher darauf schließen, daß der Stricker versuchte, neue Inhalte in der bekannten Form des Artusromans zu tradieren und so einen zeitgenössischen Beitrag zu der beliebten Gattung zu leisten. Daß in den Augen der Zeitgenossen dieses Vorhaben wenig Anklang fand, wurde bereits erwähnt, doch die parodistische Absicht, mit dem Werk das Motiv des Artushofes bzw. die Gattung des Artusromans ins Lächerliche zu ziehen oder auf ihre Unzulänglichkeit für die Gegenwart hinzuweisen, kann meines Erachtens dem Stricker hier eindeutig nicht unterstellt werden. Der Kurzschluß, den Daniel als „Pfaff Amis in anderem Genre-Gewand“ zu beurteilen, (ebd. S.256) verkennt wohl die Ernsthaftigkeit des Strickerschen Anliegens, einem Publikum, das den Artusroman schätzte, ein zeitgemäßes Pendant mit unterschiedlicher, zweifelsohne didaktischer Betonung der Klugheit als Haupttugend zu schaffen; daß dieses Werk zweifellos auch Unterhaltungswert besitzt, schränkt jedoch diese Ernsthaftigkeit der Absicht nicht ein.

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Page 116: Die Unmoral des Intellekts

gerne êren dester baz. Ein man tuot mit listen daz Daz tûsent niht entæten, swie grôze kraft sie hæten. (V.7487-7492) swer die rede letze, den hât für einen tumben man: der rehte guote liste kann, ez sî from und êre. Ez hazzet manger sêre Daz man lernet guotiu dinc Und sprichet als ein snürrinc, man muoge zuo vil kunnen. Der ist niht sô versunnen Daz er habe der witze gunst. Kunde ein man alle kunst Die got ie îf der erden Geschuof und hiez werden, waz kunde im daz geschaden? Swer mit wîsheit ist geladen, daz ist ein lîhtiu bürde. Ich wæne ie dehein last würde Den man sô sanfte trüege. Er ist grôz und doch gefüege. Swer kunst unde wîsheit Beidiu in sein vaz leit, der mac wol haben unde geben. Sol er tûsent jâr leben, swaz er darûz gelernen kan, ez wirt dâvon niemer wan. Er mac wol geben swem er will, und doch ie gelîche vil. Ist er rehte gemuot, beidiu êre unde guot erwirbet im diu fuoge, darzuo friunde genuoge.

(V.7504-7534)

Dieses uneingeschränkte Lob der Verstandesleistung summiert die Aussage des Werkes:

der listige man allein versteht es, die gute Lösung zu finden, die ihm zu êre und dem

Ganzen zum Heil gereicht. In seiner didaktischen Absicht ist es auch exemplarisch als

„Zusammenfassung“ des Phänomens listiger Held geeignet: die List als jene entscheidende

Tugend, die den Würdigen zur Vollkommenheit veredelt. Dennoch ist das Werk natürlich

keine Absage an die anderen ritterlichen Tugenden, aber ohne liste bleiben die anderen

hervorragenden Artusritter da erfolglos, wo der listige Daniel triumphiert. Anhand der

letzten Schlachtschilderung zeigt sich exemplarisch, daß das alte Ritterideal nicht gänzlich

in Frage gestellt, sondern durch List nur entscheidend erweitert wird: das goldene Tier zu

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Page 117: Die Unmoral des Intellekts

benutzen und somit dem Kampf mit den Heeren Cluses zu entgehen, wird erst in Betracht

gezogen, als die absurde Übermacht des Gegners offenbar ist. Hier, als offensichtlich alle

Tapferkeit und Stärke vergebens wären, ist List die Rettung. „Es wird weniger eine

Substitution der körperlichen Kräfte vorgeführt als vielmehr eine Bereicherung und

Erweiterung durch den Verstand.“237

Daniels List rettet das Artusreich, der krisenanfällige Artushof ist dank dem Helden

gerettet und der allgemeinen fröude steht nichts mehr im Wege. Durch list schafft es

Daniel, nicht nur seine êre zu vergrößern, sondern auch noch, guot zu erwerben. Ob daraus

allerdings zu schließen ist, daß das Werk als ganzes auf „den Menschen ane guot, der sich

nur mit Hilfe außerordentlicher Mittel, der liste, um seinen Herrn verdient machen

kann“238 bezogen ist, erscheint mir fraglich. Die Bedrohung erfaßt immerhin nicht nur den

Helden, der, nebenbei bemerkt, nirgends als man ane guot gezeichnet wird, sondern den

ganzen Artushof; der Kampf und das Bestreben Daniels widmet sich eigentlich nicht so

sehr der Anerkennung durch den Herrn – die erlangt er bereits ganz zu Beginn und verliert

sie auch nicht mehr –, sondern vielmehr gegen die Usurpation der Interessensgemeinschaft

Artushof durch den tyrannischen Matur. Die Ausstattung mit guot, die Daniel am Schluß

zuteil wird, ist meines Erachtens nicht die letztendliche, final herbeigesehnte Erfüllung

allen Strebens des listigen Helden ane guot, sondern lediglich die logische Belohnung des

erfolgreichen Artusritters Daniel.239

List bedeutet nun im Daniel vor allem, daß in genauen Situationsanalysen der Gegner

richtig eingeschätzt werden kann. Erst das Abwägen der Vor- und Nachteile aller

Handlungsmöglichkeiten, das Herausfinden der jeweiligen Schwäche, des „blinden Flecks“

des Gegners, d.h. jener Stelle, an der dieser durch mechanisches Reagieren berechenbar

und damit verwundbar ist, verschafft Daniel die Möglichkeit, seine ritterlichen Tugenden

zum optimalen Resultat einzusetzen. Dazu bedient sich der Held auffallend oft magischer

Objekte, deren richtiger Einsatz gegen den Kontrahenten durch das vorherige genaue

Planen offenbar geworden ist. Die Gegner, die Daniel bekämpft, sind übermenschlich,

gegen sie ist jede List gerechtfertigt, da sie mit den normalen Mitteln ritterlicher Tugend

237 Böhm, S.: Der Stricker: Ein Dichterprofil anhand seines Gesamtwerks. Frankfurt 1995. S. 184. 238Die gegenteilige Meinung vertreten Moelleken, W.W./Henderson, I.: Die Bedeutung der Liste im Daniel des Strickers. ABÄG 4 (1973), S.199 und außerdem Henderson, I.: Strickers Daniel von dem Blühenden Tal: Werkstruktur und Interpretation. Amsterdam 1976. 239 Die wiederkehrende Vereinnahmung des Strickers und des gesamten Typus des listigen Helden für angeblich „bürgerliche Werte“ soll in einem eigenen Kapitel näher behandelt werden.

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Page 118: Die Unmoral des Intellekts

nicht zu besiegen sind. Auch die gewaltigen Heere, in denen Daniel mittels seines

Zauberschwertes wütet, sind wegen ihres Ausmaßes und der furchtbaren Elefanten und des

Riesen mit normalen Mitteln nicht überwindbar – auch hier rechtfertigt die Größe und

Macht des Gegners den Einsatz der List bzw. des magischen Objekts. Das Medusenhaupt,

das Artus schlagartig den Sieg über jede erdenkliche Heerschar bringen könnte, wird von

Daniel selbst weggeworfen: die ritterliche Tugend verbietet den Einsatz derartig

vernichtend unfairer Mittel. Wie erwähnt sind die Massenschlachten der Ort, an dem der

Autor die Rittertugenden seines Protagonisten besser als in den Weg-âventiuren darstellen

kann; die Kämpfe in den Schlachten, aber auch jene gegen die riesenhaften Brüder, sind

von teils grotesk anmutender Blutrünstigkeit gekennzeichnet. Anders als im Tristan läßt

sich daraus jedoch keineswegs einfach die Verurteilung des Kriegshandwerks ablesen: die

Interpretation Ingrid Hahns, die Inszenierung der Massenschlachten diene dazu, diese für

den Rezipienten ad absurdum zu führen,240 unterstellt eine Ablehnung ritterlicher

Ideologie, die dem Daniel m. E. nach nicht eigen ist.

Der Daniel ist somit das erste Werk, das die Bedeutsamkeit des Handlungsmodells der

List in eindeutig didaktischer Absicht als derart zentrales Thema aufgreift und konsequent

verwendet. Der didaktische Anspruch des Autors ist es, seinem Publikum konkrete

Lebenshilfe und Handlungsmodelle für deren eigenen Konfliktsituationen vorzuführen,

ungeachtet der Interpretation Bralls läßt sich der didaktische Aspekt nicht nur auf die

Rezeptionsgemeinschaft Landadel und Ministerialität einschränken. Im Mittelpunkt des

Interesses steht die richtige, das heißt die situationsspezifische Interpretierung und

Anwendung der Normen und Regeln. Der Stricker ist weit davon entfernt, die Regeln und

Ideale des Artushofes auf satirische Weise zu verspotten, vielmehr zeigt er dem Leser, wie

wisheit und liste dabei helfen können, nicht durch die starre wertrationale Befolgung dieser

Gebote handlungsunfähig zu werden. Die liste ist eine Kategorie der Pragmatik, die auf die

Verwirklichung der hochzuhaltenden Normen und Werte durch zweckrationales Verhalten

abzielt. Nur durch diese Fähigkeit ist Daniel als perfekter Artusritter den anderen Helden

des Artushofes überlegen: an ihm wird exemplarisch die kampfentscheidende Bedeutung

klugen, überlegten Handelns in Konfliktsituationen dargestellt.

240 Hahn, I.: Das Ethos der kraft. Zur Bedeutung der Massenschlachten in Strickers Daniel vom Blühenden Tal.

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Page 119: Die Unmoral des Intellekts

5. Der Stricker: Der Pfaffe Amis

5.1. Zum Werk

Der Pfaffe Amis, ein Werk von ungefähr 2500 Versen, ist in 10 Handschriften, zwei

Fragmenten und einem Druck überliefert, wobei die Überlieferung vom Ende des 13. bis

zur Mitte des 16. Jahrhunderts und geographisch von Niederösterreich bis zum

niederdeutschen Sprachbereich im Norden (Fragment in Sondershausen) reicht. Der große

und auch anhaltende Erfolg des Schwankromans ist auch daran abzulesen, daß es als

einziges aus dem Werk des Strickers zum Druck gelangte. Die Unterschiedlichkeit der

Zusammenhänge, in denen der Pfaffe Amis überliefert wurde, hat die Strickerforschung

vor einige Fragen gestellt – so stellt eine Zahl von Handschriften das Werk in die

Nachbarschaft der Strickerschen Kleinepik, während eine andere dem Schwank Hartmanns

Iwein folgen läßt241–, und auch die Abfolge der Schwänke variiert zwischen den einzelnen

Überlieferungen.

Wie gesagt handelt es sich beim Pfaffen Amis um den ersten deutschsprachigen

Schwankroman, um inhaltlich lose miteinander verbundene Episoden, die durch die

überlegene Figur des Pfaffen zusammengehalten werden.242 Dabei können die meisten der

Episoden ohne Beeinträchtigung der Kausalität relativ willkürlich vertauscht oder

weggelassen werden, es besteht kein oder nur wenig kausaler und inhaltlicher

Zusammenhang zwischen den einzelnen Kapiteln der Schwankhandlung.243 Wie erwähnt

In: DVjS 59 (1985). S173-194, hier S.185. 241 In fünf der überlieferten Handschriften ist Der Pfaffe Amis in den Kontext der Kleinepik gestellt; der Zusammenhang ergab sich offensichtlich aus der episodischen Struktur und der Nähe zur Schwankliteratur. Eine Abschrift stellt, wie erwähnt, den Roman in unmittelbaren Anschluß an Hartmanns Iwein, Lieder Neidharts folgen (dabei handelt es sich um die älteste Handschrift R, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, Ms. Germ. Fol. 1062.-Ende 13.Jh.) Ebenso problematisch ist der Überlieferungszusammenhang in der Handschrift J (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, Ms. germ. quart. 78/I. –1807 (Abschrift aus dem 1870 verbrannten sog. Straßburger Heldenbuch, um 1450), wo heldenepische Werke, nämlich Ortnit, Hug- und Wolfdietrich, Laurin, Sigenot und Rosengarten, gemeinsam überliefert sind. In den restlichen Handschriften scheint eher die zufällige Verfügbarkeit der jeweiligen Texte als eine absichtsvolle Sammlung den Zusammenhang gestiftet zu haben. (Angaben nach: Des Strickers Pfaffe Amis. Hrsg. von K. Kamihara. 2.Aufl., Göppingen 1993.) 242 Der Schwank als Dichtungsgattung bezeichnet „die Erzählung eines lustigen Streiches, einer schnurrigen Geschichte u. dgl.“ Als „scherzhafte, lustige Erzählung, gereimt und in Prosa, bald anekdotisch kurz, bald novellenhaft ausgesponnen; im Ton häufig derb, gern ins Obszöne gleitend, von oft lehrhafter Tendenz“ definiert G. Bebermeyer im Reallexikon der Deutschen Literaturgeschichte III (1928/29) den epischen Schwank. Zitiert nach Rupprich, H.: Zwei österreichische Schwankbücher. Die Geschichte des Pfarrers vom Kahlenberg. Neithart Fuchs. In: Sprachkunst als Weltgestaltung. Festschrift für Herbert Seidler. München 1966. S.299. 243 Natürlich soll nicht verschwiegen werden, daß bei Berücksichtigung einiger inhaltlicher und interpretatorischer Anhaltspunkte eine gewisse logische Reihenfolge, besonders gekennzeichnet durch die fortwährende Steigerung der List, feststellbar ist; dazu später mehr.

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Page 120: Die Unmoral des Intellekts

variiert die Reihung der einzelnen Episoden auch innerhalb der Überlieferungen, aber es

kann doch bei genauerer Untersuchung ein besonders wahrscheinlicher Ablauf der

Episoden festgemacht werden.

Dennoch bleibt eine gewisse Ambivalenz in der eindeutigen Gattungszuordnung

bestehen: ein gewisser epischer Zug unterscheidet das Werk von späteren Vertretern der

Schwankliteratur, wenn der Protagonist auf einen konkreten Anlaß hin auszieht, um in

steigendem Aktivitätsgrad einen Betrug nach dem anderen auszuführen, bis die Handlung

dann am Ende aber in einer Bekehrung und „Heiligung“ mündet. Die epische Gestaltung

des Schwankstoffes läßt formal eher an die Normen des Artusromans denken, da der

Pfaffe, ähnlich Daniel, fern von seinem Hof Abenteuer um Abenteuer besteht. Diese

Episoden sind zwar inhaltlich nur lose zu einem Ganzen verbunden, der Stricker bemüht

sich aber, immer wieder den Zweck des Ausreitens zu betonen. Von den späteren

Vertretern der Schwankliteratur hebt sich der Paffe Amis auch durch seinen ironisch-

moralisierenden Anspruch ab, während die spätere Schwankliteratur hauptsächlich auf den

Unterhaltungswert für das bürgerliche Publikum bedacht war.244 Daneben bestehen

mehrere Möglichkeiten, das Werk als Parodie auf bestehende Formen des mittelalterlichen

Romans zu deuten.

Zunächst zur Handlung:

Die Einleitung beginnt mit einer laudatio temporis acti und einer Gegenwartsklage, wobei schließlich die Rede auf den Mann kommt, der einst den Betrug und die Lüge erst erfand.245Dieser Urheber und Erfinder allen Betruges ist ursprünglich, so der Erzähler

244 Zur möglichen moralischen Aussage des Romans Hedda Ragotzky: „Der Prolog beginnt, indem er den Zustand intakter Wertrealisierung skizziert, er entwirft ihn als einen vergangenen, der die Misere der eigenen Gegenwart erkennen läßt. Diese Misere zu überwinden und damit der Verpflichtung des Leitbildes gerecht zu werden, ist der Anspruch des Romans. Er realisiert ihn, indem er das angemessene Werkverständnis als einen Erkenntnisprozeß entwirft, an dessen Ende sich das Publikum der Bedingungen intakter Wertrealisierung erneut bewußt geworden ist.“ Ragotzky, H.: Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers. Tübingen 1981. S. 167. Wieweit der Stricker diesen hypothetischen hohen Anspruch jedoch selbst an sein Werk gestellt haben mag, bleibt naturgemäß ungewiß; ähnlich dem Daniel kann davon ausgegangen werden, daß dem Autor der Unterhaltungswert des Werkes sicher ebenso am Herzen lag wie die didaktische Absicht. Dieser Wille zur unterhaltsamen Belehrung kann allerdings späteren Schwankromanen getrost abgesprochen werden: der Pfarrer vom Kahlenberg Philipp Frankfurters etwa erhebt allein den Anspruch auf Unterhaltung, eine moralische Lehre sucht man darin eher vergeblich.

245 ( V.39-47) Nu saget uns der Stricker, wer der erste man wer, der liegen triegen aneviench, und wie sin wille fur giench, daz er niht widersazzes vant. Er het ein hus in Engelnlant

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Page 121: Die Unmoral des Intellekts

weiter, ein Muster an Freigebigkeit und milte, der regelmäßig seine Gäste und Freunde so freigiebig bewirtete, daß er den Ärger und den Neid des Bischofs, dem er unterstellt war, auf sich zog. Dieser stellt daraufhin dem freigiebigen Pfaffen ein Ultimatum: wenn er sich weigere, dem Bischof mehr Tribut zu zahlen, würde ihm dieser seine Kirche und somit sein „Lehen“, seine Lebensgrundlage entziehen. Amis weigert sich, bietet aber an, seine theologischen Kenntnisse einer Prüfung zu unterziehen, um so seinen rechtmäßigen Anspruch zu bestätigen. Es folgt nun ein „Examen“, wobei aber der Bischof dauernd versucht, durch unzulässige, nicht lösbare Fragen den Pfaffen in die Enge zu treiben. So fragt er z.B. wieviel Wasser das Meer enthält, wo sich die Mitte der Welt befindet oder wie groß die Entfernung zwischen Himmel und Erde sei. Hier zeigt sich auch sofort die erste Ungereimtheit zur Einleitung: denn nicht Amis ist es, der hier in betrügerischer Absicht handelt, sondern vielmehr der neidische Bischof, der mit diesen unlösbaren Fragen den Pfaffen um seine Pfarre betrügen will. Der Bischof hat aber nicht mit der Klugheit Amis’ gerechnet, denn dieser versteht es, ganz in der Tradition solcher Examensbeispiele (vgl. Märchen, Rätselbücher, theologisch-physikalische Dialoge z.B. bei Beda venerabilis, oder Michael Scotus oder den Lucidarius), auf die Fragen ebenso unwiderlegbare Antworten zu geben. Auf die Frage etwa, wieviel Wasser das Meer enthalte, antwortet Amis: ein vuoder, auf die überraschte Frage, woher er das wisse, antwortet Amis frech, der Herr Bischof solle doch nur alle Zuflüsse sperren und selbst nachmessen, er werde schon auf das selbe Ergebnis kommen.246 So muß der Bischof letzten Endes zu einer weiteren List greifen: er befiehlt Amis, einem Esel das Lesen beizubringen. Konnte man das vorhergehende Examen mit einigem Gutwillen noch als legitim gelten lassen, so überschreitet der Bischof mit dieser letzten Aufgabe nun doch eindeutig die Grenze zur Böswilligkeit; sein ursprüngliches Anliegen, nämlich einfach Amis Besitz zu vereinnahmen, offenbart sich in dieser für jeden rational Denkenden unlösbaren Aufgabe ganz unverhüllt. Amis jedoch erbittet sich dafür eine angemessene Zeitspanne, und er berechnet, daß ein Kind zwanzig Jahre brauchen würde, um lesen zu lernen – für den Esel seien somit dreißig Jahre wohl angemessen. Obwohl er damit die unmittelbare Bedrohung durch den Bischof abwenden kann, bereitet

in einer stat, die hiez zu Trameys, und hiez der pfaffe Ameis und was der buch ein wise man.

246 Vgl. dazu Meiners, I.: Schelm und Dümmling in Erzählungen des deutschen Mittelalters. München 1967. S.147-159. Meiners untersucht im Kapitel „Das Examen des Pfaffen Amis“ ebendieses auf ausführlichste Weise und führt außerdem (tabellarische) Vergleiche zu anderen berühmten Examen bzw. Rätselgesprächen der deutschen mittelalterlichen Literatur (Salomon und Markolf, Eulenspiegel, Der Pfarrer von Kalenberg) an. „Fragen und Rätsel, Scharfsinnsproben und andere Aufgaben, nach Herkunft und Alter recht verschieden, sind – wenn man die Tierdichtung ausklammert – in der Schwankliteratur des Mittelalters nicht selten. Eine ordentliche Darstellung all dieses Materials und eine Untersuchung der einzelnen Stücke würde außer volkstümlichen zahlreiche Kunsträtsel zutage fördern, die weniger Scharfsinn als Wissen heischen, auch einige ausgesprochene Wissensfragen ans Licht bringen, sowie verschiedene formen die kenning nahestehen, dazu rein literarische, zum Teil durch die Bibel inspirierte Rätsel und manche merkwürdige Verdrehungen." ebd., S.153. Herbert Kolb versucht außerdem, anhand eben dieses Examens, vor allem Michael Scotus, den astrologus Kaiser Friedrichs II., als mögliches reales Vorbild für die Figur des Pfaffen Amis heranzuziehen. Scotus berichtet in seinem Liber particularis, der Kaiser habe an ihn eine Reihe von Fragen nach den höchsten und letzten Dingen der mittelalterlichen Kosmologie gerichtet. „...In beiden Fällen (im Amis und bei Scotus, Anm.) werden einem Untergebenen, der dem geistlichen Stand angehört, von seinem – einmal geistlichen, das andere Mal weltlichen – Herrn Fragen gestellt. .. Diese Fragen sind kosmologischer, im Sinne der damaligen Zeit wissenschaftlicher Art. .. Beiderlei Fragen verlangen eine Art von Maßangabe, zweimal die einer Entfernung, einmal die einer stofflichen Menge bzw. die Ursache für die Konstanz einer gleichbleibenden stofflichen Menge, einmal die der bis jetzt verflossenen Zeit.“ Kolb, H.: Auf der Suche nach dem Pfaffen Amis. In: Strukturen und Interpretationen. Festschrift Blanka Horacek. Hrsg. von A. Ebenbauer (u.a.). Wien/Stuttgart 1974. S.196.

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Page 122: Die Unmoral des Intellekts

er dennoch ein Jahr darauf eine Demonstration für den Bischof, um die Fortschritte des Esels vorzuführen. Dazu dressiert er den Esel, in einem Buch nach eingestreutem Hafer zu suchen und so Seite um Seite umzublättern. Als der Esel so vor dem Bischof fleißig im Buch blättert und liest, triumphiert Amis’ Klugheit auch diesmal wieder über den Widersacher; der Schüler, so der Pfaffe, könne nach diesem einen Jahr erst ein bißchen lesen, besonders das A, das er ja auch schon lautstark wiederholt. Somit zeigt sich der Bischof, offenbar auch schon dem listigen Betrug Amis verfallen, hocherfreut und gewährt Amis die weitere Frist. Zum Glück für jenen verstirbt der Bischof aber bald darauf und Amis bleibt seine Pfarre erhalten. ( V.55-334) Bald zeigt sich aber, daß die überaus große milte und Freigebigkeit des Pfaffen die Mittel seines Hauses übersteigt, besonders weil sein Sieg über den Bischof auch von rundum neue Gäste angelockt hat, und so beschließt Amis, auszureiten, um Vermögen zu erwerben. Und schon beginnt der Teufelskreis: um seine Bewunderer zu versorgen, muß der Pfaffe mehr und mehr guot durch list erwerben, was ihm wiederum neue Bewunderer einbringt, die in seinem Hause feiern, während er die ergaunerten Güter wieder und wieder nach Hause schicken läßt. Das ist der Auftakt zu einer ganzen Reihe von Episoden, in denen der Pfaffe Amis mit den verschiedensten Betrügereien Bauern, Adelige, Kirchenmänner und Kaufleute um immer größer werdende Beträge von Geld und Gütern bringt. In der ersten Episode predigt Amis auf einem Kirchweihfest, wobei er versichert, er werde nur Spenden von treuen Ehefrauen annehmen, die Untreuen sollten einfach still stehen bleiben und sich nicht erdreisten, ihm Geld zu geben. (PA V.335-495). Ähnlich verfährt er im zweiten Schwank am Hof des Königs von Frankreich, wo er behauptet, er könne Bilder malen, die nur ehelich gezeugte Menschen sehen könnten. Natürlich gesteht niemand, die nicht vorhandenen Fresken, die er gegen fürstliche Entlohnung im Schloß anbringt, nicht sehen zu können, lediglich ein einfältiger Knappe gesteht, nichts zu sehen. Zu diesem Zeitpunkt ist Amis aber natürlich schon längst mit reicher Entlohnung verschwunden, wobei er die erschwindelten Gelder stets nach Hause schickt, um dort seine Gäste weiter zu bewirten.(V.496-798) In Lothringen gibt er sich als Arzt aus, und er heilt die Kranken so gründlich, daß er hier ebenfalls reich belohnt wird. Er teilt nämlich den Kranken mit, der Kränkste werde getötet und zu Medizin für die anderen verarbeitet, worauf sich jeder bemüht, zumindest während der Anwesenheit des Arztes möglichst gesund zu sein. (V.799-924) Die nächsten Episoden zeigen Amis in der Rolle des Priesters, der zu seinem Nutzen allerlei Scheinwunder vollbringt und sich reich dafür entlohnen läßt; diese 5 kurzen Episoden erscheinen im Vergleich zu den vorangegangenen und noch folgenden eigentlich am banalsten bzw. unbemerkenswert. So gaukelt er etwa einer reichen Bäuerin vor, er werde ihren Hahn wiederauferstehen lassen und setzt, nachdem er den selben als Abendmahl verspeist hat, einfach einen anderen Hahn an dessen Stelle. (V.925-1020) Andernorts wahrsagt er seinen Gastgebern wahrheitsgetreu alles, was seine Gehilfen zuvor über denselben herausgefunden haben (V.1021-1068), oder läßt Fische, die er zuvor heimlich lebend in einen Brunnen geworfen hat, als Wunder in diesem erscheinen (V.1069-1146). Ein andermal treten seine Gehilfen als Lahme oder Blinde auf, die er dann publikumsgerecht heilt (V.1284-1314). So einfach gestrickt diese Betrügereien erscheinen, so einträglich sind sie: regelmäßig vertrauen die Gefoppten leichtgläubig dem falschen Heiligen ihr Erspartes und diverse Wertgegenstände an. Einem erzürnten Ritter, dessen

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Page 123: Die Unmoral des Intellekts

leichtgläubige Frau dem Pfaffen 100 Ellen feines Tuch geschenkt hat, gibt er dieses wohl zurück, wickelt aber unbemerkt ein glühendes Stück Kohle in den Ballen. Als der ungläubige Ritter mit dem Tuch zurückreitet, beginnt dieses zu brennen und natürlich glaubt er, seine Sünde, dem Heiligen die Gabe wieder weggenommen zu haben, sei daran schuld. Es versteht sich von selbst, daß er reumütig dem Betrüger ein Vielfaches an Geschenken zukommen läßt (V.1147-1283). So verbreitet sich der Ruhm des Pfaffen, doch weil dieser immer noch sein Haus in England und die Tafel für die offensichtlich dort immer noch lagernden Gäste erhalten muß, treibt es ihn zu neuen, noch einträglicheren Betrügereien. Diese beiden letzten Raubzüge übertreffen jetzt die vorangegangenen sowohl an Lukrativität als auch Raffinesse bei weitem. Amis reist, als Kaufmann verkleidet, nach Konstantinopel, wo er daran geht, die wohlhabenden Kaufleute zu betrügen. Im ersten Schwank läßt er einen kahlen Maurer, der des Griechischen nicht mächtig ist, als Bischof auftreten. Mit der Hilfe dieser Autoritätsperson, die immer nur „Es ist wahr.“ sagt, verschafft er sich auf Kredit eine große Menge an wertvollen Stoffen, und läßt natürlich den unglücklichen Maurer als ebenfalls Betrogenen als Garantie zurück. (V.1315-1818) Sein zweiter Raubzug nach Konstantinopel gilt einem Edelsteinhändler. Diesen läßt er, unter dem Vorwand, er wolle ihm alle seine Steine abkaufen, mit seinem ganzen Vorrat zu ihm in die Herberge kommen, wo dieser überwältigt und gefesselt wird. Sodann läßt Amis einen Arzt kommen (sogar den königlichen Leibarzt) und erzählt diesem, der Gefesselte sei sein Vater, der tobsüchtig sei und unter Wahnvorstellungen leide, man hätte ihm sein Gut gestohlen. Während sich der Betrüger nun mit seiner Beute aus dem Staub macht, setzt der Arzt, im Vertrauen auf fürstliche Belohnung, den verstockten Wahnsinnigen allerlei Behandlungen aus. Er läßt ihn zur Ader, verabreicht ihm Schwitzbäder, bis zuletzt der Gepeinigte bestätigt, daß ihm sein vermeintlicher Sohn nichts schulde. Als sich alles letztendlich aufklärt, ist Amis schon längst verschwunden. (V.1819-2259) Eine weitere Schwankepisode von 230 Versen ist lediglich in zwei der Handschriften überliefert,247 paßt aber hervorragend zum restlichen Schema. Darin verdingt sich Amis als frommer Laie einem Kloster als Verwalter; bald behauptet er, Visionen zu haben und beginnt, auf lateinisch die Messe zu lesen. Wegen dieses Wunders, daß ein Laie von Gottes Hand berührt, das Hochamt erfüllen kann, mehrt sich der Ruhm und Reichtum des Klosters, da von rundum Gläubige herbeipilgern, um das Wunder zu bestaunen. Und wie erwartet macht sich Amis, sobald ihm die Beute groß genug erscheint, mit dem Klosterschatz auf und davon. Ganz zu Ende des Werkes folgt freilich überraschenderweise die Bekehrung: Amis, der 30 Jahre lang von seinen Betrügereien gelebt hat, wendet sich wieder Gott zu und tritt mit seinem ganzen Besitz in ein Kloster ein. Dadurch vermehrte er den Besitz und das Ansehen des Klosters so sehr, daß man nicht umhin kann, ihn zum Abt zu wählen. Und so, schließt der Stricker, hat der Pfaffe nach dem irdischen zuguterletzt auch das ewige Leben erhalten. (V.2260-2288).248

247 Überliefert in der Handschrift R, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, Ms. Germ. Fol. 1062.-Ende 13.Jh., und der Handschrift Z, Zentralbibliothek Zürich, Ms. S 318. (Hausbuch Hans Voglers d. Ä. und d. J., 1479 bis 1536). Angaben nach: Des Strickers Pfaffe Amis. Hrsg. von K. Kamihara. 2.Aufl., Göppingen 1991. Während bei der älteren Handschrift die Episode sich vor der ersten Konstantinopel-Episode an die Wundererzählungen anschließt, befindet sie sich bei der Züricher Handschrift – inhaltlich nur schwer vertretbar – als letzte Episode vor dem Epilog angefügt.

248 Die Zitate folgen der Ausgabe: Der Pfaffe Amis. Hrsg. v. M. Schilling. Stuttgart 1994. V. 2260-2265 u. V. 2280-2283:

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Folgt man der von Hanns Fischer249 vorgeschlagenen, plausibel erscheinenden Abfolge

der Schwankepisoden, so ergibt sich eine subtile Steigerung der Handlung: aus der

Defensive gerät der Pfaffe in zunehmendem Maß in die Offensive. Während er sich zu

Beginn noch selbst erwehren muß, nichts zu verlieren, so nutzt er im folgenden mehr und

mehr die falsche Wundergläubigkeit und Spendenfreudigkeit der Menschen aus, um ganz

am Schluß, beim Edelsteinhändler in Konstantinopel, eigentlich einen geschickt

eingefädelten, aber doch besonders gewalttätigen Raub vorzunehmen. Es ist bezeichnend,

daß sich auch die Beute, die der Pfaffe erringt, mit jedem neuen Betrug steigert.

5.2. Amis, oder: die Unmoral des Intellekts

Der Pfaffe Amis wird, abgesehen vom Prolog, im restlichen Werk immer als durchaus

positive Figur geschildert, der lediglich klug die Schwächen und Fehler seiner

Gegenspieler ausnutzt und diese somit zu Recht der Lächerlichkeit preisgibt. So reimt der

Stricker auch von 36 Reimpaaren 24mal wis(e) auf Amis(e), und nur ein einziges Mal

tadelt er den Protagonisten kurz wegen seiner hochvart.250 Dafür wird immer wieder

darauf hingewiesen, was der eigentliche Grund für Amis’ Betrügereien ist, nämlich die

Ausübung der milte am heimischen Hof in England.

Der Pfaffe entspricht in seiner Methode, die Schwächen seiner Opfer sofort zu erkennen

und daraus konsequent seinen eigenen Vorteil zu ziehen, einem späteren Figurentyp, der

Do der pfaffe gewerte, drizick jar in den eren, da begonde er ane got keren, daz er die leute verswur und in ein grawes kloster fur mit allem sinem gute. [..] Do verdient der pfaffe daz, daz im daz ewige lebem, nach disem leben wart gegeben.

249 Fischer, H.: Zur Gattungsform des Pfaffen Amis. In: ZfdA 88 (1957/58). S.292. 250PA, V. 489-494:

„des gewan er guotes solhe kraft daz er wart gar unnothaft. Do der pfaffe riche wart, do gewan er solhe hohvart daz er mit sinem sinne nach grozerem gewinne iesa begunde ringen.“

124

Page 125: Die Unmoral des Intellekts

dem listigen Helden bereits sehr verwandt ist: dem Schelm.251 Nicht umsonst ist die wohl

berühmteste Schelmenfigur, Till Eulenspiegel, als direkter Nachfolger des listigen Pfaffen

zu bezeichnen, sowohl in der Wahl seiner Methoden als auch teilweise in der kompletten

Übernahme einzelner Episoden der Schwankhandlung.252 Der Schelm von der Art eines

Eulenspiegels könnte als eine spätere Ausprägung des „listigen Helden“ bezeichnet

werden, wobei dieser das Mittel der Listanwendung oft als Selbstzweck, bzw. aus

didaktischen Gründen benutzt; es geht vielleicht nicht in erster Linie, wie beim listigen

Helden, um das Bewältigen einer Aufgabe mit den Mitteln der List, sondern um den

Effekt, den die Listanwendung erbringt, etwa das Bloßstellen des Gegenspielers, das

Gelächter der Schadenfreudigen oder eine Belehrung der Überlisteten.

Der Schelm folgt, wie der listige Held, nicht den althergebrachten Ansichten und

Methoden, sondern betrachtet jeden Gegenstand von einer neuen, bisher nicht beachteten

Seite; zugleich kann er sich darauf verlassen, daß seine Opfer dies nicht tun. Dadurch

werden ihre Handlungen berechenbar, was der Schelm zu seinem Vorteil ausnutzen

kann.253 Ebendiese Fähigkeit ist auch bei der Strickerschen Figur besonders ausgeprägt:

Amis hat die Fähigkeit, (als einziger in seiner Umgebung) zwischen Realität und Schein zu

unterscheiden und kann daher seinem Widerpart je nach Bedarf auf eine Art und Weise

entgegentreten, die ihm selbst am meisten nützt; er bedient sich der Denkmuster und

Verhaltensstereotypen seiner Gegner, um dadurch die gewohnten Formen sozialer,

religiöser und praktischer Orientierung zu seinen eigenen, profanen Zwecken auszunutzen.

Amis ist nun, ebenso wie Môrolf, scheinbar ein Meister der Verkleidung, die als

wichtiges Mittel zur Überlistung seiner Gegenspieler dient. Zu Beginn seiner Abenteuer

251 Im Unterschied zu Rother, Daniel und Tristan ist auch Môrolf bedingt als „Schelmenfigur“ zu bezeichnen; die Ähnlichkeit der beiden Figuren ist auch einer der Gründe, der Wolfgang Spiewok den Salman und Môrolf signifikant später datieren läßt. Vgl. Spiewok,W.: Geschichte der deutschen Literatur des Spätmittelalters. (Bd.1) (Wodan 64) Greifswald 1997. S.358. 252 Das Volksbuch vom Ulenspiegel, das in einem Straßburger Druck von 1515 erstmals überliefert ist, übernimmt fast die Hälfte der Schwänke aus dem Amis; konkret handelt es sich dabei um die beiden einleitenden Schwänke, den Schwank von der Krankenheilung und den vom unsichtbaren Gemälde. Der Ulenspiegel, dessen Autor uns unbekannt geblieben ist, reicht in seinem niederdeutschen Original noch in das 15.Jh. zurück, wobei zwischen dem Original und dem ersten Druck wohl noch mindestens zwei Bearbeitungen liegen. Obwohl der Pfaffe Amis durchaus auch im 16.Jh. noch so präsent war, daß große Teile seiner Handlung in das neuere Werk einfließen konnten, übertrifft der Erfolg des Ulenspiegel den des Amis bei weitem, natürlich auch bedingt durch die veränderten Produktions- und Rezeptionsbedingungen. Allein aus dem 16.Jh. sind fast dreißig deutsche Drucke überliefert, eine erste englische Übersetzung erschien bereits kurz nach dem Druck von 1515, es folgten Übersetzungen ins Französische, Niederländische und Dänische. Vgl. Könneker, B.: Strickers Pfaffe Amis und das Volksbuch vom Ulenspiegel. In: Euphorion 64 (1970) S.242-280. 253 Vgl. Meiners, I.: Schelm und Dümmling in Erzählungen des deutschen Mittelalters. München 1967. S.9.

125

Page 126: Die Unmoral des Intellekts

verzichtet er noch darauf sich zu verkleiden: seine Amtstracht, die ihm als Geistlichen

ohnehin schon Autorität verleiht, genügt ihm. So lassen sich die Episode 2 wie auch 5-9 im

engeren Sinn auch als „Priesterbetrug“ definieren: der Pfaffe erzeugt den Anschein von

Wundern, wo es keine gibt, um Geld einzunehmen. „Wissentlich veranstaltet er dasjenige

auf irdische Weise, was er nachher fälschlich als wunderbar ausgibt, um wiederum

Irdisches damit zu ernten. Das Vortäuschen des Wunderbaren erfüllt ... den Begriff des

Priesterbetrugs."254

Anhand der Episode der Laienmesse soll nun demonstriert werden, wie kunstvoll

Realität und Täuschung zu einem lustvollen und ertragreichen „Gesamtkunstwerk“ der List

arrangiert werden können: auf höchst intelligente und raffinierte Art und Weise versteht es

Amis, Verkleidung und Priesterbetrug zu vereinen. Zu Beginn steht ironischerweise eine

„Entkleidung“: Amis legt alle äußeren Zeichen seines Amtes ab, und wird somit zum

Laien. Nachdem er als gläubiger Laie nun einem reichen Kloster als Schaffner beigetreten

ist, berichtet er seinem Abt von Engelserscheinungen, die ihm – dem vermeintlichen Laien

– verheißen hätten, er könne mit Gottes Hilfe die lateinische Messe singen. Er wolle es

aber zuerst, mit Verlaub, nur vor dem Abt versuchen, um sich der Sache sicher zu sein.

Natürlich ist der Abt hocherfreut über das vermeintliche Wunder und verbreitet die Kunde

im ganzen Umkreis, worauf Gläubige von nah und fern kommen, um den von Gott

berührten Laien die Messe singen zu hören. Sobald Amis die Opfergaben der Gläubigen

groß genug erscheinen, macht er sich mit dem Schatz auf und davon. Die eigentliche

Verkleidung dieser Episode erfolgt durch den Abt: getäuscht durch Amis läßt er ihm, dem

vermeintlichen Laien, liturgische Gewänder anlegen und demaskiert den Pfaffen damit,

ohne es zu ahnen. Man beachte: Amis, der als Schaffner bereits Gelegenheit gehabt hätte,

die Klosterschätze zu plündern, vermehrt durch das angebliche Wunder seine Beute noch

beträchtlich, bevor er damit das Weite sucht.

Am besten wird diese Spiel mit Sein und Schein im Schwank von den unsichtbaren

Bildern deutlich: der Pfaffe weiß, daß am königlichen Hof die rechtmäßige Abstammung

zur Legitimation des Herrschafts- bzw. Lehensanspruchs lebensnotwendig ist. Durch sein

Auftreten, vielleicht auch durch seine nicht näher definierte Verkleidung (immerhin

erkennt ihn der König nicht als Geistlichen) versteht er es, sich in eine Position zu bringen,

die ihn bzw. seine wundersamen Bilder für den Hofstaat unentbehrlich machen. Weil Amis

254 Kalkofen, R.: Der Priesterbetrug als Weltklugheit. Würzburg 1989. S.138.

126

Page 127: Die Unmoral des Intellekts

eben von vornherein berechnen kann, wie seine Gegenspieler handeln werden, kann er es

sich leisten, den Schein, die Illusion (nämlich Bilder zu verkaufen, die nicht existieren) für

die Betrachter zur Realität zu erklären. Zum Schluß entsteht die paradoxe Situation, daß

der gefoppte Hofstaat lautstark die Qualität der Bilder rühmt, um nicht in den Ruf der

unehelichen Geburt zu geraten. Wieder kann aber dieser Betrug nur dann gelingen, wenn

bereits das liegen und triegen von vornherein existiert: denn es ist erst das Mißtrauen des

Königs, ob nicht einer seiner Hofleute zu Unrecht belehnt worden sei, das den Streich

ermöglicht. Bezeichnenderweise ist es ein unbedeutender, dümmlicher Edelknabe, der die

Realität erkennt und auch behauptet, es gebe nichts weiter an den Wänden zu sehen, eine

Ansicht, die sich dann auch am Hofe durchsetzt.

Die Opfer des Pfaffen sind denn auch stets jene, die aufgrund irgendeiner persönlichen

Schwäche für die Betrügereien des Pfaffen anfällig sind, bzw. jene, die sich für gewöhnlich

nicht scheuen, andere zu übervorteilen. Die Kirchweihpredigt funktioniert nur deshalb,

weil die Untreue der Ehefrauen diese dazu zwingt, einen Unschuldsbeweis anzutreten, die

Scheinwunder spekulieren mit der Leichtgläubigkeit und Gier der Landbevölkerung, der

Juwelenhändler begleitet Amis nur deshalb leichtsinnigerweise in sein Quartier, weil ihm

dieser verspricht, ihm dann mehr zu bezahlen usw.

Durch die Wahl des „niederen“ Genres des Schwankromans ergibt sich von selbst, daß

der Pfaffe Amis zum großen Teil der Unterhaltung des Publikums dienen sollte, was auf die

höfische Literatur – eine immanente moralische Lehre bzw. Belehrung inbegriffen –

grundsätzlich ebenso zutrifft. Das Gelächter des Publikums gilt all den Wundergläubigen,

Raffgierigen und Dummen, die durch Amis Betrügereien als Toren bloßgestellt werden.

Weil sich Vertreter dieser Gestalten im Verlauf des Romans in allen

Gesellschaftsschichten finden, angefangen vom Bauern, über den Klerus zum Adel und

sogar dem König von Frankreich bis schließlich zum Bürgertum und den Kaufleuten,

denen besonders übel mitgespielt wird, scheint es problematisch, die satirische Absicht des

Autors auf eine bestimmte gesellschaftliche Schicht zu beschränken. Es sind hier nicht nur

die dummen Bauerntölpel, die den wohlverdienten Spott erhalten, noch der raffgierige

Klerus oder der dekadente Adel; Amis läßt, der gesellschaftlichen Situation ungeachtet,

jeden seinen überlegenen Intellekt spüren und somit das Nachsehen haben. Obwohl diese

breite Anlage den Roman oberflächlich eher zur Kritik an allgemeinen menschlichen

127

Page 128: Die Unmoral des Intellekts

Schwächen werden läßt, kann die Aussage doch auf verschiedene Interpretationen gebracht

werden.

Während lange Zeit der Schwank, ähnlich wie der Eulenspiegel, als harmlose Sammlung

lustiger Streiche und Schnurren abgetan wurde, sehen schon Erhard Agricola und Hanns

Fischer255 in der Strickerschen Figur ein Symbol des Verstandes, der „praktische(n)

Lebensklugheit, gesunden Menschenverstandes, (der) ... Fähigkeit des discernere bonum et

malum, utile et inutile, verum et falsum“256, wobei Amis als durchgehend positive Figur

gewertet und im Anschluß an das Vorwort vom „mere / daz gut den lueten were / fur

sorgen und vur armuet“ (PA, V.9ff), als Leit- und Vorbild einer derartigen Lebenshilfe

interpretiert wird. Diese naheliegende, aber doch einseitige Betrachtungsweise – hier der

Gute, Schlaue, da der Böse, Dumme, hier der Diener der Normen, da die Opposition –, der

sich mit wenigen Abänderungen eigentlich die meisten Interpreten bisher anschlossen,

negiert aber einerseits die Strickersche Vorbemerkung, der Pfaffe sei der erste gewesen,

der liegen triegen aneviench – so wenig er auch im Text scheinbar selbst diese negative

Konnotation ausarbeitet –, noch wird sie der oft radikalen und grausamen Handlungsweise

des Pfaffen gerecht, der immerhin zuletzt auch vor Raub und Körperverletzung nicht

zurückschreckt.

Auch die Rechtfertigung des Pfaffen, nämlich daß eben dieser Ertrag des liegens und

triegens dem guten Zweck der milte zukommt, kann eigentlich nicht über die

grundsätzliche Amoralität des Handeln Amis‘ wegtäuschen. Das „Pathos der siegreichen

Vernunft“257, die – leicht akzeptierte, weil heimlich selbst gutgeheißene, zumindest hier

augenzwinkernd tolerierte – Unmoral des überlegenen Intellekts stellt tatsächlich den

Maßstab der neueren Amis-Interpretationen dar, „wie es (das Pathos, Anm.) im Zuge des

Fortschrittsoptimismus der Aufklärung im 18. Jahrhundert ausgebildet worden ist und

offensichtlich bis heute nichts von seiner Attraktivität eingebüßt hat, der Bewertung von

Vernunft und ratio im Mittelalter allerdings fremd bleibt.“258

255 Agricola, E.: Die Komik der Strickerschen Schwänke, ihr Anlaß, ihre Form, ihre Aufgabe. Diss. Leipzig 1954. Fischer, H.: Zur Gattungsform des Pfaffen Amis. In: ZfdA 88 (1957/58). S.291-299. 256 ebd. S.295. 257 Röcke, W.: Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Spätmittelalter. München 1987. S.41. 258 ebd., S.41.

128

Page 129: Die Unmoral des Intellekts

Es ergibt sich, beim Amis akuter als bei den anderen besprochenen Heldenfiguren, das

Problem, daß eben die Hauptfigur der Geschichte nicht wirklich moralisch eindeutig

positioniert werden kann; der Stricker, der immerhin scheinbar eindeutig zu Beginn den

Pfaffen als Bösewicht einführt, schildert ihn durchwegs als positive Figur. Die Ambivalenz

listigen Handelns, die bei den zuvor besprochenen listigen Helden mehr oder weniger zu

entschuldigen war – letztlich rechtfertigte der höhere Zweck immer die Mittel –, stellt sich

beim Pfaffen Amis als Interpretationsproblem dar. So ergibt sich durchaus die berechtigte

Frage, welchen Zweck der Stricker mit diesem Märe ohne offensichtliche Moral verfolgt–

will man die naheliegende, aber auszuschließende Lehre, daß sich nämlich Verbrechen,

geschickt genug begangen, doch auszahlen, einmal beiseite lassen.259

Neben der in Anm. 244 zitierten Interpretation Hedda Ragotzkys, die den besonderen

Bezug zum Prolog und der laudatio temporis acti hervorstreicht, stellt eine andere Deutung

des Schwankromans den Pfaffen Amis als mögliche Kontrafaktur des höfischen âventiure-

Romans dar, eines Genres, das der Stricker schon im Daniel vom blühenden Tal in seine

eigenwillige Interpretation gebracht hat. Die Parallelen sind nicht von der Hand zu weisen.

So ist etwa die milte, die letztendlich (neben dem Vergnügen, das dem Pfaffen später seine

Betrügereien offenbar bereiten) den Hauptbeweggrund für Amis’ Tätigkeiten darstellt,

eine der Haupttugenden der feudalen Klasse, die somit eher einem Fürsten als einem

Kleriker zustehen würden260. Außerdem ist auch der Lebenswandel, den Amis führt,

keineswegs der eines Pfaffen, der ja in seiner Pfarre seelsorgerische Dienste zu verrichten

hätte. Die ständigen Reisen und âventiuren des Pfaffen erinnern so tatsächlich frappant an

die Helden der klassischen höfischen Romane, mit dem Unterschied, daß diese nach êre

ausreiten, während Amis’ ständiges Streben nur dem guot dient. Ein gewisser epischer

259 In diesem Zusammenhang sei die hypothetische Möglichkeit erwähnt, daß es sich bei der Schädigung der Opfer des Pfaffen auch um die praktische Bestrafung von Sünden handeln könnte. Falls eine derartige Interpretation in Erwägung gezogen wird, stellt sich natürlich sofort die Frage nach der Rolle, die dem Pfaffen dann als Rächer dieser Sünden zugeschrieben werden könnte, und ebenso der Bedarf nach der Neuinterpretation der Beschreibung als Initiator des „Sündenfalls“, mit liegen und triegen angefangen zu haben. Obwohl bei erster Betrachtung des Werkes unter diesem Aspekt einige Probleme die Aufschlüsselung beeinträchtigen (so etwa die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Strafen und einiger Episoden, die in diesem Zusammenhang problematisch zuzuordnen sind), wäre eine genauere Untersuchung des Werkes unter diesem Gesichtspunkt möglicherweise sehr aufschlußreich, auch mit Einbezug der Bispel-Rede Processus Luciferi des Strickers, auf dessen mögliche Relevanz zur Deutung des Prologs Ragotzky schon hingewiesen hat. Vgl. Ragotzky, H.:Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers. Tübingen 1981. S.146. 260 Natürlich ist die Freigebigkeit auch als eine der christlichen Tugenden ebenfalls für den Klerus und jeden gläubigen Christen maßgeblich; das spezifisch „Höfische“ an der milte des Amis ist in diesem Zusammenhang jedoch sicher das Aufrechterhalten eines „Hofes“, der von der milte des „Regenten“ - in diesem Fall eben der Pfaffe – abhängig ist. Vgl. dazu Ragotzky, H.: Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers. Tübingen 1981. S.147ff.

129

Page 130: Die Unmoral des Intellekts

Zug, der aber vielleicht auch auf den für den Schwank frühen Entstehungszeitpunkt des

Werkes zurückzuführen ist, läßt das Werk dem Ritterroman auch formal ähnlich werden.

Die Handlung des Amis entspricht auch inhaltlich dem Schema des höfischen Romans:

der Protagonist wird durch ein Ereignis gezwungen, in die Ferne aufzubrechen, auch er

besteht dort siegreich eine Reihe von „Kämpfen“ und kehrt schließlich reich in die Heimat

zurück, um sein Leben in hohen Ehren zu beschließen. Der Endzweck, dem Amis

schlußendlich alle seine Betrügereien unterordnet, nämlich die Ausübung der milte, ist ein

definitiv feudales Merkmal, deren dauernde Erwähnung und Zentralität wohl auch zur

Erheiterung der Zuhörerschaft beigetragen haben mag. Im Amis des Strickers könnte somit

tatsächlich die Parodie auf das arturische Idealbild des âventiuresuchenden Ritters erkannt

werden– anders als im Daniel, dem ja auch parodistische Tendenzen unterstellt wurden

und werden.

Im Helden des Strickerschen Schwankromans zeigt sich nun ein deutlicher Bruch in der

bisherigen Typologie des listigen Helden. Wie Daniel ist auch Amis ein Meister der List,

seine Motivation ist aber im Unterschied zu der des Artushelden Daniel ethisch schwer

bedenklich. Seine List richtet sich nunmehr nicht gegen gleichwertige oder gar überlegene

Gegner, die aufgrund ihrer Bösartigkeit, Macht oder Übermenschlichkeit anders nicht

bezwungen werden können, sondern vielmehr gegen die real existierende Gesellschaft,

verkörpert durch stereotype Angehörige der verschiedenen Klassen. List wird hier nicht

mehr als Auswegmöglichkeit gesehen, die dem zugleich Klugen und Tapferen die

Möglichkeit zu erfolgreichem Handeln gibt, sondern vielmehr als allgemein effektivste und

effektvollste Handlungsmöglichkeit des intellektuell Überlegenen ohne nähere ethische

Determinierung. Aus der Defensive – der Anwendung der Klugheit im Kampf gegen den

unrechtmäßigen Angriff des Bischofs – wird die offensive Verwendung der Listigkeit aus

Möglichkeit und Neigung; der Bedarf nach immer mehr guot zur Ausübung der milte kann

hier nicht als einzig ausreichende Begründung geltend gemacht werden. Der Wandel des

listigen Helden zum Typ des Schelms, der im Môrolf bereits anklingt, wird im Pfaffen

Amis exemplarisch vorgeführt und fast zur Gänze abgeschlossen.

130

Page 131: Die Unmoral des Intellekts

6. Spätere listige Helden

Mit dem Pfaffen Amis ist eine Figur erreicht, die exemplarisch als Gestalt des

Abschlusses und Neubeginns gewertet werden kann. Wohl steht die Strickersche Figur

deutlich in der Tradition des epischen Helden und somit des Heldenepos‘ insgesamt, aber

unzweifelhaft überwiegen die Anteile schwankhaften Erzählens, die den Amis zum ersten

Schwankroman deutscher Sprache machen. Zugleich ist der Pfaffe Amis der letzte listige

Held epischer Literatur für lange Jahre – das Werk des Strickers und damit die Figur des

listigen Helden in epischer Gestaltung wird erstaunlicherweise erst in den

Schwankromanen des späteren 15. Jahrhunderts wieder aufgenommen. Es scheint, als habe

das epische Werk des Strickers wenig direkte literarische Nachwirkung gezeigt; wenn man

einige Reden des jüngeren Zeitgenossen Heinrichs des Teichners außer acht läßt, scheint

das didaktisch ehrgeizige und literarisch vielseitig ausgeformte Anliegen des Strickers,

nämlich die programmatische Hervorhebung der Vorteile des listigen Handelns, wenig bis

keine direkte Resonanz gefunden zu haben. Das Lob des klugen Handelns, das mit der

Darstellung des Protagonisten als listigen Helden im König Rother zuerst dezidiert

angesprochen wird, findet in den beiden behandelten epischen Werken des Strickers

zugleich seine konsequenteste Ausformung und – für das 13. Jahrhundert – seinen

Abschluß.

Als „legitime“ literarische Nachfolger des listigen Helden können erst die Helden der

deutschen und auch spanischen Schelmen- und Narrenliteratur ab dem 15. Jahrhundert

bezeichnet werden. In den späteren Werken hat sich die Umbruchsituation der Zeit des

Strickers längst zur Gänze gewandelt. Die Entidealisierung der Welt, die mit den sozialen

Krisen des 12. und 13. Jahrhunderts einhergegangen war und die der ritterlich-höfischen

Welt eine erste Absage erteilt hatte, findet sich nun auch „in der Darstellung des

Grobianischen, in der in der Narren- und Schelmenliteratur fortwährend anzutreffenden

Thematisierung des Geldes, der durch die veränderten ökonomischen Verhältnisse

bedingten Parodierung des Adels und nicht zuletzt in der Darstellung der Verlorenheit

eines sich durch hohe Ideale auszeichnenden Don Quijote in der Welt der Neuzeit.“261 Auf

diese späteren Erben des listigen Helden des 12. und 13. Jahrhunderts sei aber nur en

passant verwiesen. So reizvoll es wäre, interdisziplinär die spanische und deutsche

Entwicklung des Typus des Schelmen – und zugleich jene seines Vorgängers, des listigen

131

Page 132: Die Unmoral des Intellekts

Helden der epischen Literatur – weiterzuzeichnen, würde ein derartiges Unternehmen weit

über das gestellte Thema hinausführen262. Ich verweise auf die Arbeit Werner Röckes zu

diesem Thema263, an deren Beginn der Autor seinen Gegenstand folgendermaßen definiert:

„Schwankhelden des Spätmittelalters sind radikale Helden: sie bedienen sich der

Denkmuster und Verhaltensstereotypen ihrer Gegner, schaffen es aber gerade dadurch, die

gewohnten Formen religiöser, sozialer und praktischer Orientierung lächerlich zu machen,

ja zu überwinden und zu zerstören.“264 Nachdem diese Definition ebenso auf die

untersuchten Figuren der epischen Literatur um 1200 anwendbar ist, scheint es legitim und

in der Tat notwendig, die Protagonisten der Schelmenliteratur des späteren Mittelalters als

Nachfahren jener listigen Helden zu betrachten.

Wieweit die Beeinflussung der späteren Werke nachweisbar bleibt, sei dahingestellt; an

zwei Beispielen des 15. Jahrhunderts soll im folgenden noch kurz aufgezeigt werden, wie

Motive der Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts auch Generationen später noch präsent

gewesen sein mögen. Dies sind einerseits die Geschicht des Pfarrers vom Kalenberg und

andererseits die Historien von Neidhart Fuchs, wobei bei letzterer auch noch einiges zu

Neidhart und zur Problematik der Neidhartianer angemerkt werden soll. Dabei sollen

zunächst die offensichtlichen Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede

herausgearbeitet werden. Die Entwicklungen, die sich bereits in der Zeitspanne zwischen

1150 und 1250 beobachten ließen, mögen im Vergleich mit diesen späten Nachfahren noch

einmal deutlich werden. Von weiteren Vergleichen zu späteren Vertretern der

Schelmenliteratur, vor allem auf das Volksbuch vom Ulenspiegel, soll aus Platzgründen

abgesehen werden; außerdem sei in diesem Zusammenhang auf die Arbeit Barbara

Könnekers und die Sammlung „Pikarische Welt“265 zum Thema verwiesen.266

261 Aichmayr, M.J.: Der Symbolgehalt der Eulenspiegelfigur im Kontext der europäischen Narren- und Schelmenliteratur. Göppingen 1991. (GAG 541) S.109. 262 Zum spanischen Schelmenroman und seine Beziehung zum europäischen Genre siehe bes.: Salinas, P.: Der literarische Held und der spanische Schelmenroman. Bedeutungswandel und Lieraturgeschichte. In: Pikarische Welt. Schriften zum Europäischen Schelmenroman. Hrsg. v. H. Heidenreich. (WdF 163) Darmstadt 1969. S. 192-211. 263 Röcke, W.: Schälke-Schelme-Narren. Literaturgeschichte des „Eigensinns“ und populäre Kultur in der frühen Neuzeit. In: Schelme und Narren in den Literaturen des Mittelalters. Hrsg. v. D. Buschinger u. W. Spiewok. Greifswald 1994. S. 131-149. 264 Ebd., S.133. 265 Pikarische Welt. Schriften zum Europäischen Schelmenroman. Hrsg. v. H. Heidenreich. (WdF 163) Darmstadt 1969. 266 Könneker, B.: Strickers Pfaffe Amis und das Volksbuch vom Ulenspiegel. In: Euphorion 64 (1970) S.244-280.

132

Page 133: Die Unmoral des Intellekts

6.1. Philipp Frankfurters „Geschicht des Pfarrers vom Kalenberg“

Über den Verfasser des Schwankgedichts „Des pfaffen geschicht und histori vom

Kalenberg“ , Philipp Frankfurter, ist wenig Gesichertes bekannt. Die vom Autor im Werk

angesprochene Lokalisierung in Wien kann urkundlich nicht belegt werden, die Sprache

des Gedichts läßt diesen Schluß aber durchaus zu; als äußerste Grenzen der Lebenszeit des

Autors kommen die Jahre 1420 und 1490 in Betracht. Frankfurter besaß, trotz gegenteiliger

Beteuerungen im Werk, sicherlich zumindest die theologische Bildung eines niederen

Geistlichen – in seinem Schwank bezieht er jedoch eine der Geistlichkeit gegenüber

ablehnende Haltung, was sich besonders in der sehr schlechten Rolle, die er die

Geistlichkeit im Pfaff von Kalenberg zukommen läßt, äußert.

Das Werk, mit einem Umfang von 2180 Versen, geht in seinem ältesten Druck von 1473

aus Augsburg wohl direkt auf das Manuskript des Autors zurück; als Entstehungszeit

dürfte daher zwischen 1450 und 1470 anzunehmen sein; vor Frankfurter waren die

vermutlich zahlreichen Schwänke vom Pfaffen von Kahlenberg nur mündlich tradiert

worden. Aufgrund des völligen Fehlens von früheren Handschriften und wegen inhaltlicher

Kriterien, die die politische, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte betreffen, kann eine frühere

Datierung als unwahrscheinlich abgelehnt werden. Das Werk, vermutlich direkt zum

Druck bestimmt, war bis ins 17.Jh. weit verbreitet, Erwähnungen bei Brant, Luther und

Murner zeigen die große Wirkung des Schwankes. Von Norddeutschland aus wurde das

Werk in Übersetzungen bis in die Niederlande und nach England verbreitet.267

Der „Held“ des Schwankes ist zu Beginn ein Student der Theologie zu Wien, der von

Herzog Otto dem Fröhlichen (gest. 1339) zum Pfarrer der Kirche am Fuß des

Kahlenberges bei Wien bestellt wird. Hier erwehrt er sich der dörperlichen Bauern mittels

derber Listen, die hauptsächlich darauf abzielen, seinen geizigen Gläubigen Geld und Gut

abzulisten. Die Schwänke zerfallen in drei Gruppen, eben den Episoden im dörperlichen

Milieu, sowie solchen am Hof Ottos des Fröhlichen und der Passauer Geistlichkeit, die

dabei zur Genüge in ihrer Dekadenz und Doppelmoral bloßgestellt und hereingelegt wird.

Das historische Vorbild des Schwankhelden war ein geistlicher Adeliger namens Gundaker

133

Page 134: Die Unmoral des Intellekts

von Therberg, der am Hof Ottos als „lustiger Rat“ in hohem Ansehen stand. Im 14./15.Jh.

wurde Gundaker, gemeinsam mit der Figur des Neidhart Fuchs, als Schwankheld zur

sagenhaften Gestalt; zusammen mit Neidhart Fuchs wird er denn auch als Spaßvogel des

Herzogs vorgestellt:

Darumb so hielt er die zwen man, den Neithart und den capelan. (V995f)

Der Pfaff entspricht vom Typus eher dem Schelm nach Art eines Eulenspiegels; die

epische Komponente und die, trotz aller Unsicherheit als sicher anzunehmende didaktische

Absicht des Pfaffen Amis distanzieren das frühere Werk des Strickers nicht nur vom

literarischen Wert sondern auch vom Anspruch her von Frankfurters Schwankgedicht.268

Der Pfaffe überlistet seine durchwegs negativ gezeichneten Gegenspieler weniger durch

besonders eindrucksvolle Beweise seiner Klugheit, als er sich vielmehr auf die

Beschränktheit und Berechenbarkeit seiner Gegner verlassen kann. Er bedient sich

erfolgreich „bürgerlicher Verkehrsformen und ... [erreicht] im Kontrast zu überkommenen

Mustern des Denkens und Handelns, deren Infragestellung, Verhöhnung oder auch

Zerstörung.“269 Besonders im ersten Erzählteil zeigt sich dies: vom vorteilhaften Kauf des

teuren Fischs, der ersten Begegnung mit dem Herzog Otto und der Teilung der

„Belohnung“ mit dem habgierigen Türhüter, bis zur Einsetzung des Studenten als Pfarrer

von Kahlenberg; schließlich im dauernden Konflikt mit den dörpern, von der Reparatur

des Kirchendaches oder der Verhandlung über die Länge des Arbeitstages, bis zum Flug

über die Donau – stets bedient sich der Pfaffe weniger „listiger“ Verhaltensweisen, als er

über die „Fähigkeit zu marktkonformem Kalkulieren und Rechnen, vorteilhafter

Auslegung von Vertrag und Versprechen, klugem Gebrauch von Kauf und Verkauf“270

verfügt, er also eigentlich eine von den Gesetzen des Marktes geprägte frühbürgerliche

Wirtschaftsgesinnung an den Tag legt.

In den weiteren Erzählteilen wechselt der Schauplatz und auch die Methode: in

womöglich direktem Anschluß an den Strickerschen Schwankroman ist der Pfaffe im

Rätselwettstreit gegen den mißgünstigen Nachbarpfaffen gegeben, woran sich eine Reihe

von Abenteuern am Passauer Bischofshof anschließt, in denen die Dummheit und 267 Vgl. Maschek, H: Der Pfarrer vom Kalenberg. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon begründet von Wolfgang Stammler. Bd. III. Berlin 1943. S.871ff. 268 Vgl. dazu auch Kaufmann, W.: Der Pfaffe Amis des Strickers und der Pfaff vom Kahlenberg.Ein Vergleich. Wien 1970 (Hausarbeit Univ. Wien).

269 Röcke, W.: Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Spätmittelalter. München 1987.S. 162

134

Page 135: Die Unmoral des Intellekts

Lasterhaftigkeit des Klerus verhöhnt werden – hier wird die frühbürgerliche

Übervorteilung der dummen dörper abgelöst von beißender Satire auf den Klerus, die in

der obszönen „Kapellenweihe“ ihren Höhepunkt findet. Im dritten Teil wiederum, den

Hofschwänken des Pfaffen bei Herzog Otto und Herzogin Elisabeth, ändert sich der

Charakter des Schwankromans erneut. „Weder geht es hier um eine Komik der listigen

Übervorteilung im Sinne einer frühbürgerlichen Mentalität, noch um den Hohn des

Satirikers. Der Grund des Vergnügens liegt hier in der Kontrafaktur zur höfischen Norm,

in einer Reihe närrischer Einfälle, die gleichermaßen die Gebote höfischen Anstands,

höfischer Unterhaltung und höfischer Ehre, und sei es auch nur für kurze Zeit, außer Kraft

setzen. Der Pfarrer des Kahlenbergerdorfes trägt ausschließlich hier die Züge eines

Hofnarren.“271

Im Bild des Pfaffen vom Kahlenberg kann somit eine weitere Entwicklung des listigen

Helden hin zum Schwankhaften und Derben, und damit verbunden zur Figur des Schelms

festgestellt werden. Die hohen moralischen Ansprüche, die die Helden der epischen

Literatur des 12. und 13. Jhs. noch an die Motivation zur ethisch bedenklichen List stellen,

sind hier aufgegeben zu Gunsten der Methode des moralisch ungewerteten, weil

hauptsächlich unterhaltenden listigen Betrugs. Der Pfaffe, der seinen Gegner intellektuell

und meist auch sozial überlegen ist, nutzt seine Klugheit, um sich selbst Vorteile zu

verschaffen. Hierbei ist es unerheblich, ob der Pfarrer nur lästigen Verpflichtungen

entgehen oder materielle Vorteile erringen will: die List wird als allgemeine Methode zur

Problembewältigung verwendet. Die große Bedeutung des guotes, die im Amis schon

vorhanden ist, wird übersteigert zum einzigen Wert, wobei die Würde seines Amtes, seiner

Gegenspieler und auch seiner selbst nur mehr nebensächlich ist. Die List, in den früheren

Werken noch anderen Tugenden zusätzliches und stets (überlebens-)notwendiges

Werkzeug, wird im Schwankroman Frankfurters zum Unterhaltungsvehikel – was sich

besonders an der Rolle des Hofnarren, die der Pfarrer an Ottos Hof typologisch bekleidet,

zeigt.

6.2. Neithart Fuchs

270 Ebda.

135

Page 136: Die Unmoral des Intellekts

Bereits zwischen 1491 und 1497, also nur ca. zwanzig Jahre nach dem vermutlichen

Erstdruck von Frankfurters „Geschicht“, erscheint ebenfalls in Augsburg der erste

bekannte Druck des Neithart Fuchs unter dem Titel:

„Hye nach volget gar hüpsche / abentewrige gidicht so gar/ kurczwillyg sind zelesenn/ und zesingen die der edel vn gestreng herre. Neithart fuchs gepor/ en aus meichssen. Rytter der durch- /leüchtige hochgeporn fürste und herrn/ hern Otten und fridrichen herczogen/ zuo œsterreych saligen diener by seine/ zeittenn gamacht vnd vollbracht hatt / mit den paurenn zuo zeichellmaur in /osterreich vnd ander halbsen.“272

Der unbekannte Verfasser –bzw. Kompilator– der Neidhartschen Schwänke versuchte in

diesem Werk, eine epische Dichtung, vermutlich angeregt durch den Erfolg Frankfurters,

aus neidhartschen und pseudoneidhartschen Schwänken und Liedern zu sammeln. Die

Ausbildung der Legende um den Sänger Neidhart von Reuental beginnt vielleicht sogar

schon zu dessen Lebzeiten im 13. Jh., sicher aber im 14. Jh.: „Zuerst erzählte man als

Neidhart, dann erzählt man wie Neidhart, endlich erzählt man von Neidhart."273 Neben den

Nachahmern und Fortsetzern der echten Neidhart-Lieder in den sogenannten „unechten

Neidharten“ verkomplizieren zusätzlich die Neidhart-Schwänke und daraus folgend die

Neidhart-Spiele das verworrene Bild der Neidhart-Tradition, wobei dann bereits ab dem

14. Jh. die Gestalt des Ritters Neithart Fuchs mit der Gestalt des Sängers Neidhart

verbunden wurde. Die historische Gestalt des Ritters Neidhart Fuchs ist möglicherweise

wiederum auf einen Hofmann Ottos des Fröhlichen zurückzuführen – aller

Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich dabei um einen Ritter Neidhart, dem Ende des

14. Jhs. der Beiname Fuchs gegeben wurde, und der bei Hof zur Unterhaltung der

Gesellschaft Lieder des Reuentalers sang; im Verlauf der Legendenbildung wurden

wahrscheinlich die Schwänke und die Figur des Bauernfeindes auf diese, in einer Tumba

am Singertor des Stephansdomes aus dem 14. Jahrhundert dargestellte historische

Persönlichkeit übertragen.274

Der durch sein weitverbreitetes Nachwirken derart ausgezeichnete späthöfische Lyriker

Neidhart von Reuental (1250 bereits gestorben) wirkte als Erneuerer und Erweiterer des

271 Röcke, W.: Die Freude am Bösen. S.163. 272 Zitiert nach Jöst, E.: Bauernfeindlichkeit. Die Historien des Ritters Neithart Fuchs. (GAG 192). Göppingen 1976. S.62. 273 Meyer, Richard .Moritz.:Die Neidhartlegende. In: ZfdA 31 (1887). S.66. 274 Rupprich erwähnt weiters die Nennung des Ritters in einem Versepitaph von Konrad Celtis, die den Tod jenes Neidharts mit 1334 datiert und fügt an, daß nach einer Datierung des Augustiner-Eremiten Frater Laurenticus aus dem 14. Jh. Neidharts Leiche von einem anderen (uns unbekannten) Ort in den Dom verbracht worden sei. Der Schild des auf der Tumba ruhenden Steinbildes zeigt den Fuchs als Wappentier. Vgl. Rupprich, H.: Zwei österreichische Schwankbücher. Die Geschichte des Pfarrers vom Kahlenberg. Neithart Fuchs. In: Sprachkunst als Weltgestaltung. Festschrift für Herbert Seidler. München 1966. S.312f.

136

Page 137: Die Unmoral des Intellekts

Stoffgebietes der höfischen Lyrik. „Nicht mehr die adelige Dame, nicht der Ritter, nicht

zartes Liebeswerben, sondern das Landmädchen, der Bauer und das vitale Spiel der

Menschen gaben den Stoff seiner Sommer- und Winterlieder, Reien und Streitgespräche;

sein scharfer Blick übersah auch nicht die Schattenseiten des Lebens. Neidhart hat die die

Darstellungsbereiche seiner Vorgänger erweitert und schlug als erster Töne an, die einen

Wendepunkt in der Geschichte der deutschen Literatur bedeuten.“275 Die große Wirkung,

die die Neidhartsche Neuerung auf spätere Autoren hatte, zeigt sich am besten an der

Unzahl der Nachahmer und Fortsetzer, die bereits im 13. und dann im 14. Jh. die von

Neidhart bekannten Motive fortsetzten und variierten: die bäuerlichen Streit- und

Tanzszenen, die Wechselgesänge zwischen Tochter und Mutter und auch die Kollision der

ritterlichen und dörperlichen Welt wurden zu Motiven, die zahlreiche Nachahmer auch

verwendeten. Im Vortrag trat wohl der Sänger als „Neidhart“ auf, was die Wandlung des

Autors zum Typus begünstigte. In der Vergröberung im Schwank und Spiel schließlich

blieb vom Lyriker Neidhart von Reuental schließlich der Bauernfeind Ritter Neithart

Fuchs, wobei das Hauptaugenmerk auf dem für den Veilchenschwank konstitutiven

Gegensatz Hof-Dorf, Ritter-Bauern liegt. „Die sozial offene Ausprägung des Dörpers als

eines generell unhöfischen Typus in den Liedern wird also hier eingeengt auf den Bauern.

Parallel dazu avanciert Neidhart als Bauernfeind zum Ritter, nun allerdings nicht mehr mit

dem Beinamen von Riuwental sondern als Neithart Fuchs.“276

Von der Beliebtheit des Neidhartstoffes zeugt eben auch das zu behandelnde

Schwankbuch von Neithart Fuchs, das die fiktive Biographie oder Schalksvita des

legendenhaft überformten Ritters Neithart Fuchs darstellt. Gegliedert in 37 auch formal

selbständige Episoden ist das Werk zusammengestellt aus 12 Schwankliedern, dem Lied

„Neidharts Gefräß“ und 20 Neidhartschen Sommer- und Winterliedern (z.T. in

Fassungsvarianten), außerdem zwei Liedern Oswalds von Wolkenstein und der

mutmaßlichen Bearbeitung eines Liedes von Hans Heselloher. Eingeleitet wird das Werk

von einem biographischen Eingang, der Neitharts Geburtsort in Meissen angibt, und als

Abschluss folgen 63 Zeilen des Kompilators als Epilog.277

Der Held des Schwankbuches ist Neithart Fuchs, der die „Verwünschung der Bauern, die

er in den Liedern des Minnesängers Neidhart vorgefunden hat, aufgreift und in die Tat 275 Rupprich, H.: Zwei österreichische Schwankbücher. Die Geschichte des Pfarrers vom Kahlenberg. Neithart Fuchs. In: Sprachkunst als Weltgestaltung. Festschrift für Herbert Seidler. München 1966. S.308 276 Schweikle, G.: Neidhart. Stuttgart 1990. S.139.

137

Page 138: Die Unmoral des Intellekts

umsetzt.“278 Als Ritter den Dörpern nicht nur moralisch sondern auch an Listigkeit und

Gewalt überlegen, spielt er den als öde Tölpel dargestellten Bauern einen Streich nach dem

andern, um ihre hochvart zu bestrafen, die ständig die gottgewollte ordo in Frage stellt.

Dieses Grundthema der Bestrafung der hochvart motiviert und legitimiert die Anwendung

aller Mittel, die die Erbärmlichkeit und Dummheit der vorwitzigen Bauern dem Gelächter

des Publikums preisgeben.

Das Buch beginnt mit der Schwankerzählung, wie Neithart infolge eines

Liebesabenteuers aus seinem Vaterland Meissen flieht, wie er beim Kauf von Hosen in

Nürnberg mit Bürgern in Konflikt kommt und die Gunst des Herzogs von Österreich

erwirbt, der ihn mit sich nimmt (I)279. Am österreichischen Hof in Wien und der

Umgebung spielt das ganze folgende Geschehen. Zunächst wird der bekannte

Veilchenschwank erzählt: Neithart findet das erste Frühlingsveilchen, dessen Erblühen

vom Hof traditionell mit einem Aufzug der Herzogin und der Hofdamen gefeiert wird.

Neithart bedeckt die Blume mit seinem Hut und eilt, den Hof herbeizuholen: beim Lüften

der Kopfbedeckung durch die Herzogin zeigt sich aber, daß ein mißgünstiger Bauer in der

Zwischenzeit boshafterweise das Veilchen gepflückt und an seiner Stelle einen Haufen Kot

unter dem Hut hinterlassen hat. Die Herzogin ist natürlich zutiefst beleidigt, obwohl

Neithart seine Unschuld beteuert (II-V). In diesem Ereignis begründet sich die tiefe

Feindschaft Neitharts zu den Bauern, die sich in den folgenden Schwänken in einer Reihe

von Streichen und Listen gegen die dörper äußert: bei einer Tanzveranstaltung schenkt er

Wein aus und läßt Bienen unter die Bauern (VI); er spielt die Braut des Bauern Rasch und

betrügt ihn um die Morgengabe(VII); er hört, verkleidet als Mönch, die Beichte der

Bauern, verweist die Büßer aber danach an den Bruder Arnold (VIII); er kommt,

verkleidet als Krämer, zum Bauern Engelmair und erzählt ihm von einem neuen

Spottgedicht Neitharts über Engelmairs Wams (X): er läßt Bremsen unter die tanzenden

Bauern (XI); er schert den betrunkenen Bauern eine Glatze und führt sie als Mönche an

den Herzogshof (XII); er erzählt, wie Engelmair und die Bauern Neithart bewirten und ihn

für den Jäger des Herzogs halten (XIII); er mischt sich als Siecher unter die Bauern und

beschmiert die Betrunkenen – anstatt Neithart – mit einer stinkenden Salbe (XIV); er läßt

277 Ebenda. 278 Jöst, E.(Hrsg.): Die Historien des Neithart Fuchs. Göppingen 1980. S.3 279 Die Nummerierung und Verszählung folgt der Edition von Erhard Jöst und somit jener Felix Bobertags. Vgl: Jöst, E.: Die Historien des Neidhart Fuchs. Nach dem Frankfurter Druck von 1566. Göppingen 1980. S.19. Bobertag, F.: Narrenbuch. Der Pfarrer vom Kalenberg. Peter Leu. Neithart Fuchs. Salomon und Markolf. Bruder Rausch. Darmstadt 1964. (Fotomechan. Nachdruck der Ausgabe Berlin und Stuttgart 1884) S. 141-292.

138

Page 139: Die Unmoral des Intellekts

42 hölzerne Spottfiguren herstellen, verkleidet sich als Krämerin, besucht Engelmairs Haus

– als die neugierigen Bauern den zurückgelassenen Korb öffnen, finden sie ihre Konterfeis

und verklagen Neithart beim Herzog. Bei dessen Hund Cyprian beschwört Neithart seine

Unschuld und die Bauern müssen Bußgeld zahlen (XV). Die Bauern machen den Herzog

auf Neitharts schöne Frau scharf, in geschickter Weise rettet dieser aber seine Hausehre

(XVIII).280

Der Held Neithart Fuchs, der in den Schwänken zum Großteil als auktorialer Erzähler

fungiert, ist nun geprägt vom Gegensatz der höfischen und der dörperlichen Welt, wobei

den Bauern uneingeschränkt die Rolle der Unterlegenen und Überlisteten zukommt. Dies

stellt in Hinblick auf das Werk Neidharts von Reuental eine markante Verflachung der

Thematik dar– in den Liedern des Reuentalers ist es keineswegs immer der Vertreter des

Hofes, der die Oberhand behält, bzw. stellt sich bereits durch den engen Kontakt zur

bäuerlichen Welt, durch die unhöfische minne zu den Bauernmädchen der Adelige

Neidhart als ambivalente Figur dar, die nur bedingt geeignet scheint, den überlegenen

Anspruch des Hofes zu verkörpern. Die hochvart der Bauern, im Neithart Fuchs pauschal

als Ausdruck der bäuerlichen Natur gegeben, erscheint bei Neidhart in anderem Licht,

wenn auf subtile Weise durchscheint, daß die Verkehrung der Moral- und

Standesvorstellungen auch ursächlich mit der unstandesgemäßen Anwesenheit des

Adeligen in der Dorfgemeinschaft in Zusammenhang zu bringen ist. Die Anwandlungen

der Dorfmädchen, die sich in ihrer einfältigen Eitelkeit und hochvart als edle frouwen

gerieren, sind immerhin auf das seinerseits ungebührliche Werben des Adeligen Neidhart

im niederen Stand der Bauernschaft zurückzuführen.

Davon ist im Neithart Fuchs freilich nichts mehr zu spüren: die Opposition des edlen,

listigen Ritters zu den durch hochvart verdorbenen Tölpeln des Dorfes wird zum

Ausgangspunkt des ganzen Werkes, und nur hier wird die Figur des Neidhart tatsächlich zu

dem listigen Helden, als der er in den Liedern des 13. Jahrhunderts eben nicht dargestellt

wird. Erhard Jöst merkte bereits an, daß der Ausgangspunkt des Neithart Fuchs ein

„haßerfüllter und die Bauern verachtender Sarkasmus“ 281, also „Bauernfeindlichkeit“ im

weitesten Sinne ist, wobei, wie Röcke betont, „der redundante Nachweis ihrer

280 Die Zusammenfassung folgt Rupprich, H.: Zwei österreichische Schwankbücher. Die Geschichte des Pfarrers vom Kahlenberg. Neithart Fuchs. In: Sprachkunst als Weltgestaltung. Festschrift für Herbert Seidler. München 1966. S.311. 281 Jöst, E.: Bauernfeindlichkeit. Die Historien des Ritters Neithart Fuchs. /GAG 192) Göppingen 1976. S.280.

139

Page 140: Die Unmoral des Intellekts

Beschränktheit, ihrer Primitivität und Gewalttätigkeit“282 als Werksabsicht des

Kompilators betrachtet werden können.

In dieser Darstellung der Opposition offenbart sich auch die verhältnismäßige

Eindimensionalität und Schelmenhaftigkeit der Hauptfigur; es geht weniger um die

Überwindung etwaiger Aufgaben oder Probleme durch den Einsatz von List, sondern um

die ständig wiederkehrende Demütigung und Zurechtweisung der bäuerlichen

Antagonisten, mit denen sich Neithart, so der Text, wieder und wieder für die durch den

derben Veilchenscherz erlittene Schmach rächt. In jener Veilchenepisode wird auch die

wenig subtile Art dieser Rache vorgegeben:

Das laster, daß er hat getan (...) Es wirt im nimer vergebens gan, er wirt darumb erhawen, daß man in zesamen klauben muoß. (V.200ff)

In der physischen Zerstörung oder zumindest Bestrafung muß also die Strafe der

vorwitzigen Bauern gesucht werden, und genau dies wird im Werk in Wiederholungen

vorgeführt, wobei es scheinbar unerheblich ist, ob die Prügel an die Aufmüpfigen von

Neithart, seinen Leuten oder von bäuerlicher Seite selbst verteilt werden. Lediglich der

Schwank XVIII durchbricht das Schema des rein bäuerlichen Antagonismus, wenn

Neithart seine Listigkeit gegen alle Beteiligten, also die Bauern, seine Frau und den

Herzog einsetzen muß –ein Verweis darauf, daß zur Zeit der Kompilation das Publikum

des Werkes natürlich nicht mehr jenes höfische des Neidhart von Reuental, sondern eben

das städtisch-bürgerliche Philipp Frankfurters ist. Wie der Pfaff vom Kalenberg stellt

Neithart Fuchs weniger den Typen des listigen Helden im Sinne dieser Untersuchung als

vielmehr den Typ des Schelmen und weiters des Hofnarren dar, der mit sprichwörtlicher

Narrenfreiheit und Duldung des Herrschers hier zur allgemeinen Belustigung seinen

privaten Rachefeldzug zelebriert.

Die Meinung Petra Herrmanns, daß sich im Neithart Fuchs die „List des Schwächeren,

wenn auch Feineren, gegenüber dem Stärkeren, aber Rohen zum Paradigma

zweckorientierten gegenüber wertorientiertem Handeln .... karnevalesk entfaltet“283, kann,

gerade im Hinblick auf die im Hauptteil besprochenen Werke, nur bedingt akzeptiert

werden: die List Neitharts, das „zweckorientierte“ Handeln, dient hier eben weniger einer

282 Röcke, W.: Die Freude am Bösen. S. 191. 283 Herrmann, Petra.: Karnevaleske Strukturen in der Neidhart-Tradition. (GAG 406) Göppingen 1984. S.325.

140

Page 141: Die Unmoral des Intellekts

paradidmatischen, didaktischen Absicht, wie etwa im Daniel, sondern vielmehr primär der

Unterhaltung und Belustigung des Publikums – die Eleganz der Listanwendung, das

Raffinement der Methode, die die Bauern jedesmal dem Gespött preisgibt, steht mehr im

Mittelpunkt als eine etwaige Lehre vom Nutzen klugen Handelns.

141

Page 142: Die Unmoral des Intellekts

IV. Typologie und Eigenschaften des listigen Helden

Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, die Spezifika des listigen Helden,

wie er in den vorhergehenden Kapiteln am einzelnen Beispiel untersucht wurde, in eine

allgemeingültigere Form einer Art Typologie zu bringen. Obwohl dabei aufgrund der

Unterschiedlichkeit der Figuren als gemeinsamer Parameter eigentlich nur das Diktat des

zweckrationalen Handelns als uneingeschränkte Gemeinsamkeit genannt werden kann,

zeigt sich doch im zusammenfassenden Vergleich eine kontinuierliche Weiterentwicklung,

deren Interpretation anschließenden Kapitel mehr Raum gewidmet werden soll.

1. Eigenschaften des listigen Helden

1.1. Motivation zur Listanwendung

Mit dem Begriff der Motivation sollen in der Hauptsache nicht der Ausgangspunkt der

epischen Handlung näher beschrieben werden –also etwa bei König Rother der Wunsch

nach standesgemäßer Heirat –, sondern vielmehr die Umstände, die im jeweiligen Fall die

Entscheidung zur Listanwendung bedingen. Bei einer knappen Rekapitulation der Motive

der einzelnen Werke zeigt sich, daß sich trotz großer Gemeinsamkeiten auch signifikante

Veränderungen in der Motivation zwischen den frühen Vertretern und den späteren

Figuren ergeben.

Im König Rother, dem ältesten Vertreter des Typus, zeigt sich eindeutig, daß die

politische und miltärische Situation keinen anderen Ausweg als die Listanwendung

offenläßt. Strategien, die sich auf Demonstration militärischer Überlegenheit verlassen,

haben, zu Beginn hauptsächlich wegen des Wohlergehens der Geiseln, wenig Sinn;

außerdem wird Konstantin als gleichwertiger (nicht überlegener) Herrscher beschrieben.

Der Verhandlungsweg, der mit Entsendung der Boten zuallererst beschritten wurde, ist an

der Irrationalität und Unnachgiebigkeit Konstantins gescheitert. Als letzte, einzige

Auswegmöglichkeit bleibt somit die Täuschung, die sich als Akt staatsklugen und politisch

verantwortungsvollen Handelns darstellt. Die angebliche „Verzweiflung“ Rothers, die sich

angesichts der Übermacht des Gegners in feiger Listanwendung äußert, kann m. E. in das

Werk nicht hineininterpretiert werden.284 Die Täuschung des Gegners ist die einzig

284 Vgl. dazu auch Anm.120, wo der diesbezügliche Vorwurf Rita Zimmermanns besprochen wird.

142

Page 143: Die Unmoral des Intellekts

vernünftige Option, das Listhandeln entspringt somit nicht der Hilflosigkeit, sondern dem

Willen nach der staatspolitisch besten, strategisch günstigsten Lösung. Die weiteren

Listanwendungen im König Rother ergeben sich ebenfalls aus derselben Situation, daß ein

Gegner vorhanden ist, dem mit diplomatischen Lösungen wegen seiner Irrationalität, und

mit militärischen Lösungen wegen der inakzeptablen Verlustaussichten nicht

zufriedenstellend begegnet werden kann. Die entscheidende Motivation zur

Listanwendung ist in der Beschränktheit der Handlungsmöglichkeiten und weiterführend

in der Darstellung Rothers als idealer Herrscher zu suchen: im Gegensatz zu Konstantin ist

Rother, nicht zuletzt durch das ständige consilium, dazu befähigt, unbeeinträchtigt von

Irrationalität und Triebhaftigkeit eine andere, unkonventionelle Lösung zu finden. Er

schreckt keinesfalls vor traditionellen, also diplomatischen oder militärischen

Lösungsansätzen zurück, wie sich in der ersten Entsendung der Boten und in den

Bewährungsschlachten in RI und RII zeigt, doch besitzt Rother auch und vor allem die

politische Intelligenz, diese Ansätze durch Listanwendung zu erweitern.

Auch bei Tristan und Daniel zeigt sich eine ähnliche Situation, die allerdings in

entscheidenden Details von der Motivation Rothers abweicht. Wohl haben es sowohl

Tristan als auch Daniel mit Gegnern zu tun, die auf herkömmliche Weise nicht bewältigt

werden können. Beim Tristan ergibt sich diese Situation im Hauptteil des Werkes (nach

dem Minnetrank) aus der zentralen Minne- und Ehebruchs-Problematik; es stellt sich die

paradoxe Situation dar, daß gerade die irrationalste Macht, nämlich die Liebe, die

Protagonisten in gewisser Hinsicht zum vernunftbetonten Handeln zwingt. Es existiert

tatsächlich kein Ausweg aus der Konfliktsituation, auch die Idylle der Minnegrotte stellt

letztendlich keinen Lösungsansatz für den Konflikt dar. Der übermächtige Widerpart

Markes und tatsächlich der gesamten Gesellschaft macht es notwendig, listig zu sein;

dieser Verrat an der Ethik eines ganzen Gemeinwesens kann auch nur durch die höhere

Gewalt der minne zweier edeler herzen legitimiert werden. Der zentrale Konflikt zwischen

Gesellschaft und liebendem Paar muß tragisch enden, da das Problem nicht beseitigt

werden kann.

Gottfried stellt seinen Helden aber auch vor der Minnehandlung schon vor

Entscheidungen, die durch herkömmliche Lösungsmethoden nur schwer oder überhaupt

nicht bewältigt werden können. Hier zeigt sich die Wertung des Autors, der dazu neigt, das

Kriegshandwerk – also das ureigenste Betätigungsfeld der klassischen Helden und somit

143

Page 144: Die Unmoral des Intellekts

ihr ursprüngliches Instrumentarium zur Konfliktbereinigung! – in abwertender Weise

darzustellen. Sowohl der Kampf gegen Morgan als auch gegen Morold werden negativ

konnotiert: das Ideal des Kriegers wird durch das des intellektuellen Künstlers ersetzt. In

anderen, positiv gewerteten Episoden zeigt die Figur Tristans vor dem Minnetrank das

dem König Rother und beschränkt auch dem Salmân und Môrolf geläufige Ideal des

listigen Spielmannshelden, der durch seine Klugheit und List schwierigste, – oft

diplomatische, also letztlich staatspolitische – Aufgaben bewältigt. Tristans

Entscheidungen zu listigem Handeln entspringen stets einerseits der Notwendigkeit, aber

andererseits auch seinem Wesen. Die freie Entscheidungsmöglichkeit zu listigem oder

anderem Verhalten besteht nur vor dem Minnetrank; danach bleibt defensive List als

einzige Chance auf Überleben.

Auch Daniel, der ewig Abwägende, muß gegen seine Widersacher zur List greifen, um

erfolgreich zu sein. Die Unwesen, die sich ihm in den Weg stellen, sind mit den gängigen

Methoden und Lösungsansätzen der Ritterlichkeit nicht zu bezwingen, obwohl Daniel

wieder und wieder bereit ist, diese Methoden anzuwenden. Das Ethos des kämpfenden

Ritters wird hochgehalten, die übernatürlichen Widersacher verlangen aber nach flexiblen

Handelsweisen, die in zweckrationalen Entscheidungsfindungen ermittelt werden. Das

zeigt sich in der Entscheidung, den Wächterriesen anzugreifen ebenso, wie in den

Schlachten, die erst nach hinlänglichen Heldentaten an den ersten Tagen letztlich in der

entscheidenden Schlacht durch die List mit dem goldenen Tier beendet werden.

Bei Rother, Daniel und Tristan zeigt sich, daß die Motivation, listige Lösungen zu

suchen, stets dem Zwang der Umstände entspringt. Die Wahlmöglichkeit besteht insofern

nur beschränkt, als sich alle anderen Ansätze als unmöglich oder unehrenhaft darstellen.

Von einer freien Entscheidung zur List zu sprechen, ist hier insofern schwierig, da sich die

Figuren bewußt sind, welche unerwünschten Konsequenzen ihr anderweitiges Handeln

haben würde – listiges Handeln ist die einzige Möglichkeit, erfolgreich zu sein. Nur

Tristans künstlerhaftes Wesen (hauptsächlich vor dem Minnetrank) deutet an, daß nicht nur

die einzige, sondern auch die eleganteste Lösung gesucht ist.285

Bei zwei anderen Figuren kann vom Dilemma der Ausweglist bereits weniger die Rede

sein: sowohl Môrolf als auch Amis kann die gewisse Lust an der Listigkeit nicht

144

Page 145: Die Unmoral des Intellekts

abgesprochen werden. Wohl steht auch Môrolf großen Aufgaben gegenüber, die

anderweitig vielleicht unlösbar wären. Da aber die List so seiner Natur entspricht, wird die

spezifische Motivation, den Weg der List zu beschreiten, eher in der Eigenart der Figur als

in der absoluten Notwendigkeit der Listanwendung zu suchen sein. Dies äußert sich auch

an den lustvoll betonten Wiederholungen, in denen ja auch bereits die Verspottung des

Gegenübers eine bedeutende Rolle spielt.286 Amis schlußendlich kann eigentlich nur mehr

als Betrüger aus Passion bezeichnet werden. Die „Freude am Bösen“ motiviert den Pfaffen

eindeutig mehr als der seltsam begründete Bedarf nach Geld, um damit milte walten zu

lassen. Die Methode an sich wird zur Fingerfertigkeitsübung, in der Amis seine

intellektuelle Überlegenheit gegenüber allen anderen Möchtegernbetrügern – wie

geldgierigen Kaufleuten und untreuen Ehefrauen – unter Beweis stellt.

Zusammenfassend zeigt sich, daß die Motivation des Helden zum listigen Handeln

ursprünglich einer zwingenden Sachlage entspringt, die andere – konventionellere –

Methoden der Konfliktbewältigung unmöglich werden läßt. In diesen Zwangslagen ist es

einzig die abwägende Vernunft, die den Weg zur Überwindung des Problems erkennen

läßt. Es ist bemerkenswert, daß mit dieser Entscheidung zur unkonventionellen

Konfliktbewältigung durch List ausdrücklich nirgends in den behandelten Werken287 ein

Ehrverlust konstatiert wird. Im Gegenteil beweist sich Rother gerade durch die

staatspolitische Klugheit als idealer Herrscher; Daniel, der Listbegabte, übertrifft gerade

durch seine Listigkeit alle anderen Artusritter an êre, wie besonders in der abschließenden

Episode des geschwinden Alten überdeutlich demonstriert wird ; und Tristan schließlich,

eine ethisch ohnehin unbestritten ambivalente Figur, wird gerade nicht für die Anwendung

von liste, sondern für den unbedachten Einsatz roher Gewalt im mehr oder weniger

ritterlichen Kampf getadelt.

Bei Môrolf und Amis stellt sich die Motivation anders dar: wesensmäßig eindeutig und

hauptsächlich als listig definiert ergibt sich weniger die Frage nach dem Grund für,

sondern vielmehr jene nach der Art der jeweiligen Listanwendung. List ist beiden 285 Als Beispiel sei der Einzug Tristans am Hof Markes erwähnt, bei dem Tristan bewußt jene Erklärungsvariante seiner Herkunft bevorzugt, die ihn ins unbestritten beste Licht setzt. V. 286 Die hochvart Tristans, Morold zu töten, wird nicht nur durch die Schmährede des Riesen hervorgehoben, sondern bereits zuvor vom Autor in der überheblichen Verspottung Morolds durch den siegreichen Tristan betont; das ritterliche Ethos der Hochachtung vor dem (ebenfalls ritterlichen) Gegner ist bei Morolf einer schwankhaften Verhöhnung gewichen.

145

Page 146: Die Unmoral des Intellekts

wesensmäßig so fest zugeordnet, daß sie sich als grundsätzliches Handlungsmodell

darstellt.288 Das Besondere ist eben die Art und der außergewöhnliche Grad der

Listanwendung, die Eleganz der Täuschung. Obwohl der Pfaffe Amis diesen

Gesichtspunkten durchaus weitgehender entspricht als die Figur des Môrolf, lassen sich

doch starke Ähnlichkeiten der beiden Figuren in der Motivation zur Listanwendung

erkennen. Die Datierung Wolfgang Spiewoks, der den Salmân und Môrolf aus inhaltlichen

und motivischen Gründen eher sogar in die zeitliche Nachfolge des Amis stellen will289,

läßt sich insofern nur bedingt nachvollziehen, als gerade die schwankhaften Elemente beim

Strickerschen Werk ungleich stärker ausgeprägt sind; Môrolf ist immerhin trotz allem noch

mehr „klassischer“ Held als Amis. Die althergebrachte Datierung des Salmân und Môrolf

zu den Spielmannsepen des mittleren und späten 12. Jhs. erscheint aber unter den eben

genannten Gesichtspunkten durchaus angreifbar.

Im Tristan zeigt sich, was die Motivation betrifft, ein Pendeln zwischen Listanwendung

aus Notwendigkeit und List aus Neigung, bei der nicht nur die Zwangslage, sondern

vielmehr der Wille zur eleganten Lösung entscheidend ist; die durchgehende

Psychologisierung der Gottfriedschen Figur zeigt hier den Brückenschlag zwischen den

spielmännisch-verspielten Listen eines Môrolf und dem ernsten Abwägen der

diplomatischen List eines Rother oder eines (nachklassischen) Artushelden vom Schlage

eines Daniel.

1.2. Beschreibung des listigen Helden

Betrachtet man die behandelten Helden in Bezug auf ihr äußeres Erscheinungsbild, so

zeigt sich, daß mit Ausnahme des Pfaffen Amis alle eigentlich mehr oder weniger den

Idealen herkömmlicher Heldenfiguren entsprechen. Sogar Môrolf, dessen dämonische

„Vorgeschichte“ auch andere Möglichkeiten der Gestaltung nahelegen würde, wird im

Salmân und Môrolf stets als stolzer degen beschrieben, obwohl, wie bereits ausführlich

287 Eine Ausnahme bildet hier (wie auch bei anderen Punkten, bei denen nicht mehr gesondert darauf hingewiesen werden soll) der Tristrant Eilharts, der allerdings ohnehin nur zum Vergleich mit den hauptsächlich behandelten Werken herangezogen wurde. 288 Mit ein Grund, warum Amis und Morolf im Gegensatz zu den anderen behandelten Helden bedingt auch als Schelmen bezeichnet werden können. 289 Spiewok, W.: Geschichte der deutschen Literatur des Spätmittelalters. (Bd.1) (Wodan 64). Greifswald 1997. S.358.

146

Page 147: Die Unmoral des Intellekts

behandelt, sich seine dämonische Natur in seinen Handlungen andeutet. Grundsätzlich

unterscheidet sich der listige Held der untersuchten Werke äußerlich nicht von den Idealen

klassischer Heldendichtung. Rother, Tristan und Daniel entsprechen sogar dem Typus des

schönen Helden, dessen positiven Eigenschaften zusätzlich die Schönheit als

Selbstverständlichkeit zugesprochen wird.

Rother besitzt neben seinen anderen Tugenden auch außergewöhnliche Schönheit,

Daniels Aussehen ergänzt sein glanzvoll ritterliches Auftreten, und schon in Tristans

anmutiger Erscheinung zeigt sich, daß er und die „Morgensonne“ Isolde füreinander

bestimmt sind. Môrolfs Äußeres wird auffälligerweise nicht beschrieben, hier dominieren

Attribute, die seine Tauglichkeit als Krieger und Ratgeber hervorheben. Es scheint jedoch

schwer vorstellbar, daß dieses Schweigen über Môrolfs Aussehen irgendeine negative

Konnotation bedeuten sollte, vielmehr wird sein Aussehen – wahrscheinlich aufgrund der

besonderen Schönheit Salmâns und Salmês – als nicht erwähnenswert angesehen. Auch

beim Amis wird auf die Beschreibung äußerer Vorzüge verzichtet; einerseits ergibt sich

dies sicher aus dem klerikalen Stand des Helden, andererseits weicht die Figur des Pfaffen

schon inhaltlich so weit von herkömmlicher Heroik ab, daß das Attribut der körperlichen

Schönheit nicht nur überflüssig sondern sogar unpassend erscheinen würde.

In dieser Hinsicht zeigt sich zum zweiten Mal die Sonderstellung, die neben Amis der

listige Held Môrolf einnimmt; wenn man tatsächlich ein späteres Entstehen des

Spielmanns-epos Salmân und Môrolf annehmen will, ergäbe sich somit das Phänomen, daß

dem listigen man der späteren Epen bereits das typische unbedingte Heldenattribut der

körperlichen Schönheit nicht mehr zwingend zugeordnet würde. Es erscheint aber,

insbesondere wegen der Unsicherheit der Datierung und der Beschränktheit der Auswahl

an Texten mehr als fraglich, ob dies tatsächlich als schlüssiger Beweis für eine

kontinuierliche Entwicklung eines Typus – vom klassischen zum listigen Helden bis hin

zum Schelm – gedeutet werden kann. Wahrscheinlicher ist, daß die ethische Ambivalenz,

die, einhergehend mit der Schwankhaftigkeit des Salmân und Môrolf und der deklarierten

Gattung des Schwankes beim Pfaffen Amis, den Helden Môrolf und Amis mehr als den

anderen Figuren zugesprochen werden muß, mit Grund für die Figurenzeichnung ist. Die

Häßlichkeit des Marcolfus, die als Inbegriff des Bäuerlichen, Tierischen, letztlich

Dämonischen in der unmittelbaren Nachbarschaft des Môrolf steht, wird zwar im

147

Page 148: Die Unmoral des Intellekts

Spielmannsepos nirgends thematisiert, es scheint aber plausibel, daß sich diese Tradition

mit der Idee eines „schönen Helden“ Môrolf nur schwer vertragen hätte.

Môrolf und Amis stehen somit den „schöne“ Helden Rother, Daniel und Tristan

gegenüber. Bei beiden Helden wird auf das Heldenattribut der Schönheit verzichtet, und

obwohl Amis als Pfaffe eine Sonderstellung einnimmt, liegt doch auch die

Schlußfolgerung nahe, daß die „Boshaftigkeit“ der beiden, eben die „Freude am Bösen“,

die Figuren auf diese Weise doch signifikant vom Heldenideal der anderen Werke entfernt.

Der Schwankheld, und als dieser muß Môrolf in gewisser Weise sicher auch gedeutet

werden, setzt sich unter anderem dadurch von den Helden höfischer Prägung ab – obwohl

Môrolf, der immerhin auch als großer Krieger und weiser Ratgeber geschildert wird, sicher

nicht ausschließlich unter diesen Vorzeichen betrachtet werden kann.

Die Beschreibung der Eigenschaften des listigen Helden unterscheidet sich, wie in den

einleitenden Kapiteln angesprochen, nur unwesentlich von den klassischen Heldenidealen;

die Tugend der Klugheit und Listigkeit ist lediglich jene zusätzliche Komponente, die aus

dem klassischen Helden den „listigen“ Helden werden läßt. Diese Komponente gewinnt

jedoch merklich an Bedeutung, und gerade der Stricker legt seine ganze didaktische

Absicht im Amis, aber vor allem im Daniel darein, eben diese Komponente als

entscheidend und wichtig darzustellen.

1.3. Weltklugheit und Realitätsblindheit

Die Bedeutung, die der Begriff der Weltklugheit in Bezug auf den listigen Helden hat,

zeigt sich in der Gegenüberstellung des listigen Helden mit Vertretern der „Gegenseite“,

die ihrerseits durch ihre Realitätsblindheit ausgezeichnet sind. Dabei ist ein interessantes

Phänomen zu bemerken: die Figur des Klugen und Listigen wird ursprünglich wohl selten

mit der des Helden, oder besser des Hauptakteurs einer Erzählung gleichgesetzt. Schon im

spätantiken Reiseroman erfüllt der verschlagene Kalasiris der „Aithiopika“ Heliodors die

Rolle des listigen Dieners, der dem edlen Helden mit seiner Weltklugheit und Schläue zur

Seite steht.290

148

Page 149: Die Unmoral des Intellekts

Die Realitätsblindheit des „edlen“ Helden, der in Fixierung auf seine hehren Ideale oft

die Erfordernisse des praktischen Lebens mißinterpretiert, wird durch die Gerissenheit und

Bauernschläue seines Dieners (von sowohl literarisch als auch sozial niederem Stand!) auf

den rechten Weg geführt. Natürlich fällt einem in diesem Zusammenhang das wohl

berühmteste Paar dieser Art ein, nämlich Don Quijote und sein treuer Diener Sancho

Pansa. Dieses Gegensatzpaar – edler, aber lebensuntüchtiger Held und schlauer Helfer aus

niederem Stand – erfreut sich natürlich auch in der epischen Literatur des Mittelalters

großer Beliebtheit. Im Grunde genommen ist auch die Grundstruktur des Spielmannsepos

Salmân und Môrolf auf dieselbe Konstellation zwischen weisem, aber realitätsfremden

Salmân und gerissenem, eher niederen Môrolf zurückzuführen. Im französischen Tristan

en prose, dem Prosatristan des 13. Jahrhunderts, steht dem Heldenpaar Tristan und

Palamedes die Figur des listigen Dinadan als Helfer zur Seite; hier erscheint die

psychologisierende Identifikation Gottfrieds, die dem Paar als rettende Eigenschaft die List

zuordnet, in traditioneller Weise aus der Figur des edlen Helden ausgegliedert und in die

Rolle des bekannten listigen Helfers verlegt.

Der Fall, daß Edelmut und List sich in der Figur eines tatsächlichen listigen Helden

vereinigen, tritt nun in eben jener bemerkenswerten Zeit des Übergangs auf, die mit den

Eckdaten dieser Untersuchung, 1150-1250, ungefähr umrissen werden kann. In den

Figuren Rothers, Môrolfs, Tristans und Daniels291 ergibt sich die Union des „hohen“, edlen

Helden mit der ursprünglich separaten, „niederen“ Figur des listigen Dieners. Im Daniel

zeigt sich die direkte Überlegenheit des listigen Helden am plakativsten: nur die List erhebt

den ausgezeichneten Ritter Daniel über die Elite der Artusritter – die Personalunion von

Stärke und List ist hier am klarsten und eindeutigsten definiert.

Nach der Aufgabe des strikten Gegensatzpaares edler Held – listiger Diener gewinnt

später vor allem im Schwank eine andere Figurenkonstellation an Bedeutung, nämlich die

Beziehung zwischen dem listigen Helden und dem Dümmling. Auf diese Figur ist der

listige Held auch immer wieder bezogen: der Dümmling kann aus Mangel an Intelligenz

die Konsequenz der erlebten Realität nicht ziehen und nimmt deshalb die Realität als

solche unbelastet wahr – so versteht etwa der dümmliche Edelknabe im Schwank mit den

290 Vgl. dazu Winkler, J.J.: The mendacity of Kalasiris and the narrative strategy of Heliodoros‘ Aithiopika. In: Yale Classical Studies 27 (1982). S. 93-158. 291 Aus nachvollziehbaren Gründen kann der Pfaffe Amis als Sonderfall nicht in diese Reihe gestellt werden; es sollte in diesem Zusammenhang nie vergessen werden, auf die unerhörte Novität des Werkes als erstes des Genres „deutscher Schwankroman“ hinzuweisen.

149

Page 150: Die Unmoral des Intellekts

unsichtbaren Bildern im Pfaffen Amis die Konsequenz seines Eingeständnisses nicht, er

sehe keine Bilder. Ironischerweise ist es gerade dieser Mangel an Berechnung und

Klugheit, der ihn dem Betrug Amis‘ gegenüber immun sein läßt. Die Opponenten des

listigen Helden ziehen die Schlüsse, die ihnen dieser mit seinen Betrügereien glaubhaft und

notwendig werden läßt – sie sind realititätsblind. Beim Dümmling kann weniger von

Realitätsblindheit gesprochen werden; hier ist es vielmehr die Unfähigkeit, allgemein

Schlüsse aus der beobachteten Realität zu ziehen. 292

Im allgemeinen bezieht der listige Held sein Handeln jedoch nicht auf den Dümmling,

der ohnehin auch dem Spott der Gesellschaft ausgesetzt ist. Vielmehr braucht das listige

Handeln notwendig die „vernünftigen“, vorhersehbaren Denkschemata eben jener

Gesellschaft, die durch die Listhandlung unterlaufen und zum eigenen Vorteil mißbraucht

werden können. Der ungeheuere Reiz, den die Taten des listigen Helden und noch mehr

des Schelmen wohl auch auf das Publikum ausgeübt haben und noch ausüben, ergibt sich

eben aus der Tatsache, daß nicht die Schwachen und Benachteiligten Opfer der List

werden, sondern mächtige Opponenten, die sich ihrer Position bewußt und gerade deshalb

angreifbar sind.

292 Vgl. dazu Meiners, I.: Schelm und Dümmling in Erzählungen des deutschen Mittelalters. München 1967.

150

Page 151: Die Unmoral des Intellekts

2. Grundelemente der Listanwendung

Hartmut Semmler hat es in seiner Untersuchung zu den Listmotiven in der mhd. Epik

unternommen, die (weitaus zahlreicheren) Listmotive der von ihm behandelten Werke in

ein komplexes System zu bringen. Wie oben bereits bemerkt faßt Semmler allerdings nicht

nur den Begriff des Listmotivs um einiges weiter, als es in dieser Arbeit der Fall ist: auch

seine Typologie zeigt eine die Untersuchung allgemein charakterisierende enorme

Detailliertheit und Diversifizierung. Semmler unterscheidet zwischen insgesamt über 30

typologisch graduell verschiedenen Listanwendungen – eine Praxis, die teilweise auch den

Einzelfall, die Ausnahme, zur eigenen Kategorie werden läßt. Es erscheint mir für diese

Arbeit zielführender, nicht die einzelnen Listhandlungen systematisch zuzuordnen, sondern

die zugrundeliegenden Verhaltensformen, die ich als „Grundelemente der Listanwendung“

bezeichnen möchte, noch einmal kurz zu beleuchten. Im Hinblick auf die geringere Zahl an

Primärliteratur und auch auf den spezifischen, zu Semmler unterschiedlichen Anspruch

dieser Arbeit, den Typus des listigen Helden zu beschreiben, soll eine stark eingeschränkte

Form der Systematisierung versucht werden.

Es ist zu beachten, daß kein derartiges „Korsett“ der Komplexität des Erzählmodells

„List, Täuschung“ vollständig gerecht werden kann; selbst die vergleichsweise einfacheren

Listhandlungen der untersuchten Werke lassen sich selten uneingeschränkt einer einzigen

Kategorie zuordnen. Vielmehr ist es so, daß oft mehrere oder teilweise auch alle dieser

Grundelemente zu einer komplizierten Strategie verknüpft sind. So wird auch die beste

Verkleidung erst durch das geschickte Vortäuschen einer anderen Identität erfolgreich,

wozu wiederum, wie etwa im Falle von Môrolfs Zauberwurzel, Trickgegenstände

verwendet werden können.

2.1. Die Lüge

S.9f.

151

Page 152: Die Unmoral des Intellekts

Wer lügt, sagt wissentlich die Unwahrheit, in der Absicht, den Gesprächspartner zu

täuschen und über einen Sachverhalt bewußt falsch zu informieren. „Lüge ist eine

Aussage, von der der Sprecher glaubt, daß sie nicht wahr ist, und die er in

Täuschungsabsicht benutzt.“293 Kommt zu der Täuschungsabsicht des Lügners noch die

genaue Kalkulation und das Miteinbeziehen der Reaktion des Belogenen dazu– was beim

listigen Helden eigentlich die Regel ist–, so ist weniger von „Lüge“, als eher von

Manipulation zu sprechen. „Lüge kann zur Manipulation von Mitmenschen eingesetzt

werden, aber typisch für die Manipulation sind subtilere Mittel. (...) Im Fall der Lüge steht

im Zentrum die unwahre Behauptung, im Fall der Manipulation begegnet uns häufig die

Verschleierung des Zieles, dem eine Handlung letztendlich dient: bei der Manipulation

versucht A zu erreichen, daß B eine für A vorteilhafte Handlung ausführt. (...)

Konstituierend für die Manipulation ist nur, daß B die betreffende Handlung von sich aus

nicht setzen würde, und daß A will, daß B sie freiwillig setzt, das heißt, ohne daß A Gewalt

(Zwang) ausüben muß.“294 Wenn im folgenden dennoch weiter von „Lüge“ die Rede sein

wird, obwohl kommunikationstheoretisch betrachtet tatsächlich zum Großteil

Manipulationen stattfinden, so geschieht dies im Hinblick auf die manipulative Natur des

listigen Helden an sich. Wie bereits zu Beginn bemerkt ist es eben Haupteigenschaft des

listigen Helden, seine Mitmenschen und deren Reaktionen richtig einzuschätzen; diese

Fähigkeit ermöglicht ihm erst jene Strategien, die ihn zum Erfolg führen. Der listige Held

manipuliert durch alle Grundelemente der Listanwendung seine Gegner durch

Verkleidung, Objekte und Kampfstrategien ebenso wie durch die Lüge.

Die Lüge, soviel sei vorab definiert, ist gewissermaßen das universelle Instrument der

Listanwendung: fast jede List kann in gewisser Weise auf eine bewußte Täuschung durch

Lügen zurückgeführt werden, und kein listiger Held kann sich der Lüge in der einen oder

anderen Art enthalten. Thomas von Aquin unterscheidet drei Formen der Lüge: die

Scherzlüge (mendacium iocosum), die Notlüge (mendacium officiosum) und die

Schadenslüge (mendacium perniciosum).295 Die ersten beiden Formen haben die Aufgabe,

im Mitmenschlichen zu besänftigen, während die letztere in böswilliger Absicht nach der

Aufstachelung und Aufwiegelung des Gegenübers strebt – der listige Held bedient sich

aller drei Arten von Lüge, um seine Ziele zu erreichen. Dabei kann sich die falsche

Aussage entweder auf konkrete Sachverhalte beziehen, die bewußt falsch wiedergegeben

293 Reichert, H.:Lüge und Selbstgespräch. Wien 1999. S.38. 294 ebd., S.71 295 Zitiert nach Dietzsch, S.:Kleine Kulturgeschichte der Lüge. Leipzig 1998. S.10.

152

Page 153: Die Unmoral des Intellekts

werden – etwa die Aussage Rothers, Konstantin sei in der Schlacht gegen Ymelot gefallen.

In voller Absicht und dem Bewußtsein der Wirkung, die die vermeintliche

Schreckensnachricht bringen wird, täuscht Rother die in Konstantinopel

Zurückgebliebenen durch seinen erlogenen Bericht, der überprüfbare Fakten verleugnet.

Eine Aussage kann im anderen Fall aber auch auf emotionaler Ebene eine Lüge darstellen

– so etwa die Versicherungen Isoldes, Marke zu lieben. Die Täuschung erfolgt auf sehr

konkrete und absichtsvolle Weise, wobei es unerheblich ist, ob die Lüge defensiv, also als

„Notlüge“, oder offensiv, als „Schadenslüge“ benutzt wird. „Sich Wirklichkeiten zu

erschaffen, das gehört zur Autonomie und Spontaneität des Menschen. ... Das aber ist der

im Menschen liegende Grund für Täuschungen und Lügen.“296

Zur Kategorie der Lüge zählen auch andere bewußte Täuschungen, die auf der

Kommunikationsebene stattfinden: so können auch Schweigen, Teilaussagen, und

mehrdeutige Rede zu Täuschungszwecken angewandt werden. Gerade jene genannten

Formen der Täuschung haben den nicht zu verachtenden Vorteil, daß sie den Autoren und

dem Publikum im Gegensatz zur ausgesprochenen Lüge ethisch weniger bedenklich

erscheinen. Als Instrument des listigen Helden bleiben alle Formen der Lüge jedoch mit

seiner Ehre vereinbar: entweder die Gegner zeichnen sich durch besondere Überlegenheit

oder Verwerflichkeit aus, die jedes Mittel erlaubt oder der Held muß sich defensiv durch

Notlügen seiner Haut retten. 297

Interessant ist, daß sich nicht jeder der listigen Helden gleichermaßen zur Lüge geneigt

oder befähigt zeigt: während im König Rother wenige, taktisch eingesetzte „strategische“

Lügen (etwa die Dietrichs-Geschichte oder die Lüge vom Tod Konstantins) das gesamte

Vorgehen an entscheidenden Punkten unterstützen und ermöglichen, so zeigt sich im

Môrolf ein anderer Umgang mit der Lüge. Hier zeigt sich das derbere Bild des Spielmanns

und Schelms im Kontrast zur idealen Gestalt des Königs. Die im Rother propagierte Form

von vorbildlicher Klugheit unterscheidet sich auch grundlegend von der des Salmân und

296 Dietzsch, S.:Kleine Kulturgeschichte der Lüge. Leipzig 1998. S. 153. 297 So erlaubt etwa die Macht und Sturheit Konstantins im König Rother keinen anderen Weg als die der List und somit der Lüge, oder es erfordert die Situation am Hof Markes die wiederholte Verleugnung der Liebe Isoldes zu Tristan. Wie an diesen beiden Beispielen ersichtlich wird, ist die Grenze zwischen dem legitimen aggressiven Belügen eines übermächtigen Gegners zur rein defensiven Notlüge nicht immer klar erkenntlich und teils nur willkürlich zu ziehen.

153

Page 154: Die Unmoral des Intellekts

Môrolf: Môrolfs verbale Strategien gehen fast immer daneben, und durch komplizierte

Trickmanöver und magische Objekte muß er sich aus kritischen Lagen befreien.298

In der hochhöfischen Welt des Tristanromans entfaltet sich hingegen ein kunstvolles

Geflecht verdeckter Reden, zweideutiger Antworten und geschickt eingefädelter Meineide.

Aufgrund der ethisch (zumindest) problematischen Stellung der Liebenden am Hof Markes

ergibt sich die zwingende Notwendigkeit zur andauernden Lüge. Tatsächlich ist Isoldes

Wort oft alles, was Markes Eifersucht wieder besänftigt, und die Bettgespräche zwischen

Isolde und Marke zeigen Strategie und Gegenstrategie von einander mißtrauisch

umlauernden Opponenten. In keinem anderen der besprochenen Epen hat die Lüge

derartige Bedeutung, sicherlich bedingt durch die Situation in einem so hochkomplexen

und kultivierten sozialen Gefüge wie dem Hof eines Königs. Es ist bemerkenswert, daß

sich hier Isolde an vorderster Front als listige Heldin in der Konfrontation mit Marke

bewährt, während Tristan zurücktritt. Später tritt sogar eine bedeutende Verschärfung der

Lüge hinzu, nämlich die Lüge Isoldes vor Gott im Meineid und Gottesgericht. Mit dem

Kunstgriff des Erscheinens des Pilgers Tristan, in dessen Armen Isolde dann neben Markes

noch gelegen wäre, ist die Verwerflichkeit jener Lüge sicherlich nicht entkräftbar.

Gottfrieds Kommentar zu jener Stelle, der tugenthafte Crist sei eben so wintschaffen als

ein ermel 299, mußte natürlich einerseits dem Leser Rätsel aufgeben und andererseits

Generationen von Philologen in Aufruhr versetzen. Die eindeutig scheinende Aussage,

Gott hilft dem, der sich selbst zu helfen weiß, mag vermutlich nicht der Gottfried-

Forschung letzter Schluß gewesen sein, als Tatsache bleibt jedenfalls die Hervorhebung

der Lüge als wichtigstes Instrument des listigen Heldenpaares Tristan und Isolde bestehen.

Im Daniel zeigt sich ein anderes Bild: dem Tugendkanon des idealen Ritters

entsprechend bedient sich Daniel nur sehr selten der Lüge, und wenn, dann nur gegen

mächtige Gegner, so etwa das bauchlose Ungeheuer, das er mit seinen zweideutigen

Antworten vor das Burgtor lockt. Bemerkenswert erscheint die entscheidende Lüge Artus‘

gegenüber Maturs Witwe, man habe sich nur verteidigt; trotz des Unbehagens, das der

Leser bei für einen König derartig ethisch ambivalenten Verhalten zu spüren vermeint,

298 Als Beispiel sei das erste Zusammentreffen Morolfs mit Salme in Fores Burg genannt: erfolglos gibt er sich als Spielmann Stolzelin aus, und auch beim Schachspiel muß er sich mittels derber Tricks und wunderbarer Gegenstände seiner klugen, dämonischen Kontrahentin erwehren. Salmân und Môrolf V. 254ff. 299 Tristan, V.15735f

154

Page 155: Die Unmoral des Intellekts

erfüllt auch diese Lüge in des Strickers Augen wohl nur den löblichen Zweck, das Land

wieder zu befrieden.300

Im Amis wieder ist die Lüge bereits zur Kunstform erhoben: die Listen des Pfaffen

bauen darauf auf, daß seine Worte als bare Münze genommen werden, und so läßt er mit

seinen Lügen für das dafür empfängliche Publikum jene Illusionen entstehen, die ihm

Gewinn bringen. Die Lügen des Pfaffen versprechen jedem, was er gerne hätte: dem König

den ersehnten Nachweis der Legitimation seiner Gefolgschaft, dem Juwelenhändler großen

Gewinn, den Bauern die Aufnahme ins Himmelreich. Dabei wandeln sich die defensiven

Lügen gegen den mißgünstigen Bischof in raffinierte „Schadenslügen“, die ihre Wirkung

nicht verfehlen. Für Amis, den Schelm, ist die Lüge Grundlage allen Handelns; sie ist der

wichtigste Bestandteil seiner Täuschungen.

2.2. Verkleidung und Verstellung

Ein weiteres wichtiges Grundelement listigen Handelns ist das Annehmen anderer

Identitäten: die Verkleidung. Es versteht sich von selbst, daß hiermit auch die

schauspielerische Fähigkeit des listigen Helden gemeint ist, die angenommene Rolle

überzeugend darzustellen. Dennoch sollte aber die Macht und Aussagekraft der Kleidung

an sich im Mittelalter nicht unterschätzt werden. „Die Kleidung liefert dem Menschen im

Mittelalter die Möglichkeit, durch äußeres Dekorum mit anderen auf optischer Basis zu

kontaktieren und zu kommunizieren. Er macht von dieser Möglichkeit fast ständig

Gebrauch, weil er sich mit der Notwendigkeit konfrontiert sieht, in viel weitergehendem

Sinne als heute innerhalb der Gesellschaft zu agieren: Das Lebensziel im Mittelalter ist auf

gesellschaftliche Integration abgestimmt, nicht auf Verwirklichung von privater

Individualität.“301 In weit größerem Ausmaß als heute waren für das Mittelalter Kleidung

und soziale Stellung, ja Identität, gleichbedeutend: das Gewand macht den Mann. Es ist 300 Einen parodistischen Beitrag zum Thema der „literarischen Lüge“ leistet sich der Stricker im Daniel jedoch bereits zu Beginn seines Artusromans. In Bezug auf das Alexanderlied des Pfaffen Lambrecht gibt der Stricker „von Bisenze meister Alberich“ als Gewährsmann für die Wahrheit seiner Geschichte an Während beim Alexanderlied der Autor noch den Vorwurf der Lüge mit dem Verweis auf den französischen Meister entkräften will („nieman inschulde sîn mich / louc er, sô leuge ich“), so handelt es sich beim Stricker wohl eher um eine „Parodie der einfältig scheinenden Art des Pfaffen Lambrecht, auf das Verhältnis von Historie und fiktionaler Alexanderdichtung hinzuweisen.“ Reichert, H.: Lüge und Selbstgespräch. Wien 1999. S.101

155

Page 156: Die Unmoral des Intellekts

das äußere Erscheinungsbild, das den Menschen – nicht nur im Mittelalter! – als

Angehörigen eines bestimmten Standes ausweist, untrennbar mit der Person verbunden als

primäres Mittel der Identifikation. Bestimmte Formen der Kleidung sind konstituierendes

Merkmal einiger definierter Personenkreise, wobei die Autorität und Amtsgewalt des

Amtsinhabers gleichsam auf den Träger des entsprechenden Gewandes übergehen. „Das

Mittelalter sah in der Form zugleich den Inhalt; das Symbol war deshalb nicht nur

Ausdruck einer Vorstellung, sondern war zugleich der geistige Gehalt selbst. Die Wahrung

der Form war von entscheidender Bedeutung, weil ihre Verletzung zugleich eine

Verletzung des Inhalts war.“302

Somit ist es den listigen Helden der behandelten Werke in der Regel einerseits ein

leichtes, sich zu verkleiden: durch das Ablegen der sie bestimmenden und sie sozial

charakterisierenden Kleidung legen sie in den Augen der Betrachter auch ihre Identität ab,

um in anderer Kleidung zugleich in andere soziale Stellung und andere Rolle zu schlüpfen.

Andererseits ist diese Aufgabe der eigenen Identität aber nicht nur riskant, sondern auch

psychologisch bedenklich: beispielsweise verzichtet Rother mit der Annahme der Identität

Dietrichs auf die Behandlung und die Privilegien, die ihm als König zustehen würden. In

gewisser Weise stellt derartiges Verhalten tatsächlich eine Erniedrigung im Wortsinne dar,

die jedoch die Idealgestalt des souveränen Königs Rother (auch in den Augen seiner

Mitakteure und des Publikums) nicht verringert, sondern im Endeffekt seinen Ruhm noch

erhöht. Hier zeigt sich, daß bereits der Verzicht Rothers auf seine königlichen Insignien

und Merkmale als „Verkleidung“ zu gelten haben,303 gerade, weil das Auftreten Rothers in

Konstantinopel tatsächlich von königlichem Glanz begleitet ist – eine weitere List, die

Konstantin nachgrübeln läßt, wie denn dann erst der wahre König Rother auftreten müsse,

wenn bereits einer seiner Vasallen derartig glanzvoll wirkt. Die zweite nennenswerte

„Verkleidung“ im König Rother ist die List der Prinzessin, im Pilgersgewand ihren Traum

vorzutragen. Tatsächlich geht Konstantin sofort auf die Bitte seiner Tochter ein, offenbar

bestürzt vom unstandesgemäßen Vorhaben und durch den Anblick des Pilgergewandes –

und somit der sichtbaren Realität des Vorhabens.

301 Raudszus, G.: Die Zeichensprache der Kleidung. Untersuchungen zur Symbolik des Gewandes in der deutschen Epik des Mittelalters. Hildesheim-Zürich-New York 1985. S183. 302 Buisson, L.: König Ludwig IX., der Heilige und das Recht. Freiburg 1954. S. 303 Wie bemerkt, zeigt sich die Lüge als allen anderen Elementen immanent – tatsächlich wäre es gerade so gut möglich, die Behauptung Rothers, er wäre Dietrich, vereinfachend als Lüge zu behandeln. Natürlich muß aber gerade in Hinblick auf den Rang Rothers als König dies als Annahme einer entschieden anderen Identität – also einer Verkleidung im weiteren Sinne - gewertet werden.

156

Page 157: Die Unmoral des Intellekts

Verkleidung erfolgt in beinahe allen Fällen sozial „von oben nach unten“. Einerseits

erklärt sich das durch die banale Tatsache, daß die Gewänder der obersten Schichten und

Stände gerade als Symbol der Überlegenheit besonders prunkvoll und teuer (und somit

etwa für einen Bauern, der sich als Fürst ausgeben wollte, niemals erschwinglich) waren,

und andererseits ist es oft auch die Absicht, sein Gegenüber in der Sicherheit zu wiegen,

„weniger“ und somit ungefährlich zu sein. „In einer bestimmten Ordnung entsprechen

jeder Stufe gewisse Rechte und gewisse Freiheiten, denen bestimmte Pflichten und

Einschränkungen gegenüberstehen. Was für den auf einer bestimmten Stufe Stehenden

nicht zugänglich ist, ist es für denjenigen, der auf einer tieferen und höheren Stufe steht.

Die Übernahme eines bestimmten Kleides kennzeichnet einen Wechsel. Die Verkleidung

ermöglicht die Durchbrechung der Ordnung durch die gefälschte Entsprechung.“304 Die

Verkleidung ist jene Strategie, die die gesellschaftliche Ordnung am empfindlichsten

verwirrt; das erklärt auch ihren Erfolg.

Môrolf ist ein wahrer Meister der Verkleidung, wobei er sich hier wiederum an der

Grenze zur Magie befindet – und somit zur Verwandlung, der „großen Schwester“ der

Verkleidung. Im Rückgriff auf die zuvor festgestellten Risiken, die jede Verkleidung mit

sich bringt, ist bei Môrolf zu bemerken, daß es gerade sein Bestreben nach Sicherheit ist,

daß eine seiner Verkleidungen unglaubwürdig werden läßt, nämlich das Kettenhemd, das

er unter seinem Pilgersgewand trägt.305 Ansonsten zeichnen sich die

Verkleidungsbeschreibungen des Salmân und Môrolf durch bemerkenswerte

Detailgenauigkeit aus, gerade in der Flucht vor Salmês Truppen zeigt sich, daß die

Verkleidungskunst Môrolfs wichtigste und zentrale Fähigkeit als listiger Held ist.

Auch Tristan liegt die Verkleidung, wobei hier das Schauspiel noch größere Bedeutung

erlangt. Bereits der Knabe Tristan, gestrandet im Land Markes, erfindet sich in der

Begegnung mit den Pilgern wie selbstverständlich eine andere Identität, die ihm den

größten Vorteil verspricht. Auch als Spielmann Tantris ist es weniger die

Verkleidungskunst, als die glaubwürdige schauspielerische Darstellung, die seine

Geschichte für den irischen Hof Realität werden läßt. Interessant ist die Annahme des

304 Lunin, V.: Kleid und Verkleidung. Untersuchungen zum Verkleidungsmotiv unter besonderer Berücksichtigung der altfranzösischen Literatur. (Diss.) Zürich 1955. S.36. Hervorhebung von mir. 305 Diese ersten Begegnung mit Salme in der Fremde, in der Morolf als listiger Held sowohl in der Verkleidung als auch im Gespräch seiner Kontrahentin unterliegt, zeigt dem Zuhörer (mindestens) die Gleichwertigkeit Salmes mit ihrem dämonischen Gegenspieler Morolf; im weiteren Verlauf ist es stets die Königin, die die Verkleidungen Morolfs durchschaut.

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Page 158: Die Unmoral des Intellekts

anagrammatisierten Namens Tantris; das Verspielte, das der Namenswahl anhaftet, wird

Tristan dann auch fast zum Verhängnis, wenn die junge Isolde die „Verkleidung“ Tristans

mit fremdem Namen durchschaut. Zu größter Bedeutung gelangt das Verkleidungselement

allerdings erst in jenen Abenteuern, die bei Gottfried fehlen; es wäre interessant gewesen,

ob der Autor hier die den Fortsetzern Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg

gemeinsame ausführliche und wiederholte Verwendung von Verkleidungsmotiven in

ähnlicher Weise eingesetzt hätte. Bei beiden Fortsetzern zeigen sich nämlich in den

Rückkehrâventiuren verschiedenste Verkleidungslisten, die fast episodenhaft und

schwankartig anmuten: Tristan als Aussätziger, als Knappe, als Narr. Tristans

Verkleidungen täuschen wohl den gesamten Hofstaat, Isolde jedoch erkennt ihren

Geliebten stets wieder.306 Es unterstreicht die zuvor festgestellte Grundrichtung Gottfrieds,

die List auf sehr intellektueller Ebene stattfinden zu lassen, daß Tristan anders als etwa

Môrolf weniger einer tatsächlichen Verkleidung bedarf; es ist eher sein Auftreten, sein

schauspielerisches (spielmännisches) Talent, das ihm auch ohne größere Requisiten die

Annahme anderer Identitäten ermöglicht. Auch die Namensrätsel weisen auf die subtilere

Art der Verkleidung hin, die weniger im Kostüm als in der schauspielerischen

Verwandlung von Name und Identität liegt. Die große Bedeutung, die im Tristan der

Kommunikation (und der Lüge) zugewiesen wird, zeigt sich auch in einer veränderten

Auffassung der Verkleidungslist. Der fehlende Schluss des Gottfried-Fragments läßt leider

keine Rückschlüsse auf die weiteren Verkleidungsabenteuer zu.

Für Daniel wiederum ist die Verkleidung nicht notwendig und es drängt sich fast der

Gedanke auf, der Stricker habe diese Art der Listanwendung seinem Bild des idealen,

vernunftbetonten Helden nicht expressis verbis beifügen wollen. Nur in der List mit dem

kahlköpfigen Siechen entgeht Daniel seinem Tod durch die Verstellung, auch bereits

willenlos zu sein. Ansonsten besteht Daniel seine Abenteuer ausnahmslos in seiner eigenen

Identität. Dabei ist freilich auch die Grundveranlagung des Strickers als Verfechter und

Bewahrer der gottgewollten ordo mitzudenken; kein anderes Element der Listanwendung

ist so dazu prädestiniert, die Standesgrenzen zu verwischen, ja sie auszulöschen. Anders

natürlich der Pfaffe Amis: ähnlich Môrolf verfügt der Pfaffe über die Gabe, scheinbar jede

Identität oder besser jeden Beruf oder Stand beliebig annehmen zu können. Als Maler, als

Arzt und als Kaufmann versteht er es wie selbstverständlich, bei seinen Opfern den

Anschein entstehen zu lassen, sie benötigten ausgerechnet seine Dienste. Hierbei wird der 306 Bei Heinrich von Freiberg verbindet sich das Motiv des Hofnarren mit einem erneuten Namensrätsel

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Page 159: Die Unmoral des Intellekts

tatsächlichen Verkleidung vom Stricker wenig Wert geschenkt; was zählt, ist die

Aussagekraft des neuen Erscheinungsbildes, und vor allem die Funktion, die die Träger des

jeweiligen Gewandes zu erfüllen haben.

Der Schwank mit dem kahlköpfigen Maurer als Bischof zeigt eindeutig, wie groß die

Verweisfunktion des Gewandes beim Stricker ist: obwohl der arme Kahle nur immer „Iz ist

war.“ sagen kann und offensichtlich von bischöflichem Verhalten keine Vorstellung haben

kann, erfüllt er in seiner Verkleidung doch den Zweck, den Amis ihm zugedacht hat. Wir

haben hier also den interessanten Fall einer Verkleidungslist, in der ein Überlisteter

verkleidet wird, um einen anderen zu übertölpeln. Das komplexe Spiel mit dem Motiv der

Verkleidungslist setzt sich im Schwank mit der Messe fort: tatsächlich ist es eine

„Entkleidung“, nämlich das Ablegen des Paffengewandes, die die List möglich werden

läßt. Der Pfaffe Amis präsentiert sich in diesem Schwank als unbeschriebenes Blatt, das

aufgrund der fehlenden Verweise – nämlich seinem priesterlichen Gewand – seine ihm

sonst a priori zugeschriebenen Fähigkeiten (eine Messe zu lesen) als Wunder ausgeben

kann. Während der Stricker im Daniel also die Verkleidung als Element klugen Verhaltens

beiseite läßt (hier ist offenbar die Einhaltung der ordo von höchster didaktischer Relevanz),

zeigt er im Pfaffen Amis umso kunstfertiger auf, wie einfach es einem Schlauen ist, die

ungeschriebenen Kleidungs- und Verhaltensnormen auf effektive Weise zu unterwandern

und zu verdrehen.

Das Element der Verkleidung ist somit dem listigen Helden nicht mehr so ausschließlich

zuzuordnen wie Lüge und Manipulation. Neben Môrolf und Amis, die beide in

schwankhafter Manier als Meister der Verkleidung gedeutet werden können, ist Tristan in

anderem Sinne als Verwandlungskünstler zu bewerten. Das spielmännische Schauspiel

anderer Identitäten rückt – zumindest bei Gottfried – in den Vordergrund, die List gelingt

weniger wegen besonders perfekter Ausstattung und etwaiger optischer Ähnlichkeit,

sondern durch geschickte und genau konstruierte erfundene Vorgeschichten der jeweiligen

Identität. Tristan erfindet tatsächlich neue Identitäten, ähnlich der Dietrichsgeschichte

König Rothers, während Amis und Môrolf in aller Regel es dabei belassen, eine typische

Personen- oder Berufsgruppe oder einen Stand nachzuahmen. Natürlich gibt es auch bei

Tristan die einfachere Variante der Verkleidung, etwa beim Gottesgericht oder eben auch

(Peilnetosi=Isotenliep), das Isolde wiederum löst und Tristan so erkennt.

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Page 160: Die Unmoral des Intellekts

bei den Fortsetzern. Bemerkenswerter erscheinen aber eindeutig die Kunstfigur des Tantris

oder die nur umrissenen frühen Identitäten des jungen Tristan.

2.1. Kampflist

Der listige Held ist in den meisten der behandelten Werke nicht nur schlau, sondern auch

ein herausragender Kämpfer. Teilweise bedient er sich aber nicht nur seiner heldenhaften

Kräfte, sondern versteht es, seine Gegner auch im Kampf durch unvorhergesehene Finten

oder Strategien zu bezwingen. Gerade in der epischen Schilderung von militärischen

Konflikten zeigen sich stark konventionalisierte Vorgehensweisen, die der listige Held auf

überraschende Weise durchbricht oder umgeht. Beim König Rother wäre hierzu auf jeden

Fall die Entführung Ymelots aus seinem Feldlager zu erwähnen, eine Taktik, die zugleich

auf beeindruckende Weise die Vereinbarkeit von Tapferkeit und Klugheit Rothers

demonstriert. Der Hinterhalt des Heeres beim Richtplatz in RII zeigt wiederum die

Fähigkeit zur genauen Vorausplanung, ist aber als Motiv nicht als originell zu bewerten. In

den Kämpfen selbst zeigt sich wenig von besonderer Planung oder List, hier zählt nur mehr

die Kampfkraft und der Mut des einzelnen.

Bei Môrolf hingegen verbindet sich die schlaue taktisch-strategische Planung nach Art

des Rother-Epos mit einzelkämpferischer Gerissenheit. Obwohl Môrolf als starker Krieger

gerühmt wird, bleiben doch eher jene Szenen im Gedächtnis, in denen der Held um sein

Leben fürchtet, oder in meuchlerischer Art den alten Juden, den Heiden am Strand und

schließlich Salmê ermordet. Der Zuhörer erlangt durch diese Taten eher den Eindruck,

Môrolf habe mehr von einem Attentäter und Spion als von einem Krieger nach Art etwa

eines Roland. Dagegen stehen natürlich die Schlachtschilderungen, in denen Môrolf sich

auch im offenen Kampf als heldenhafter Recke darstellen kann. Während im König Rother

die Kampfstrategien etwas Realistisch-Militärisches an sich haben, erscheint im Salmân

und Môrolf alles eher von spielmännischer Bravour durchdrungen. So kommt ebenfalls

wieder die Schlacht am Richtplatz vor, und die abschließenden, erzählerisch unmotiviert

wirkenden Schlachten gegen Princian und Belian lassen wenig über das heldenepisch-

typische Maß an strategischer Planung erkennen.

160

Page 161: Die Unmoral des Intellekts

Gottfrieds Tristan hingegen ist ein erwähnt problematisches Verhältnis zum

Kriegshandwerk eigen. Die Ablehnung Gottfrieds gegenüber dem blutigen Kampf zeigt

sich in Kampfschilderungen, die dem Leser und Zuhörer nichts an Drastik und Realismus

ersparen. Im Gegensatz zu Môrolf und Rother bedient sich Tristan auch hier im direkten

Kampf seines planenden Intellekts, doch der Autor läßt wenig Zweifel aufkommen, daß

wenig Ruhmreiches am Kriegshandwerk zu finden sei. Schon die erste militärische Aktion

Tristans, die Rache am Mörder seines Vaters, gleicht mehr einem Guerilla-Überfall als den

aus der Epik bekannten Duellen zwischen ebenbürtigen Rittern, und auch die Kämpfe

gegen Morold und Urgan zeigen zwar, daß Tristan auch im Kampf die Schwächen seiner

Gegner überlegt ausnutzen kann, daß aber keine Ehre im Kampf zu gewinnen sei. Dennoch

zeigt sich im Tristan zum ersten Mal auf besonders drastische Weise die Überlegenheit

klugen Vorgehens auch im direkten Kampf. Die Frage nach der Ethik solchen Vorgehens,

die Gottfried in der Frage des Ehebruchs aber eher unbestimmt und vage beantwortet, wird

im blutigen Konflikt aber durchaus deutlich als negativ bewertet – wobei aber eher das

Kriegshandwerk als Gesamtheit und weniger die spezifische Kampfesweise Tristans

kritisiert wird.

Dieser Zwiespalt ist im Daniel aufgehoben. Selbstverständlich nutzt Daniel auch im

Kampf seine Listigkeit, um seine meist übermächtigen Gegner zu bezwingen. Aber nicht

nur Daniel, auch andere Artusritter bedienen sich der Kampflisten, um etwa gegen die

Übermacht der Riesen bestehen zu können – es ist Gawein, der rät, den letzten Riesen zu

blenden, um so seiner Macht zu entkommen. Die Übermenschlichkeit der Antagonisten

läßt so die Frage nach ethischer Wertung nicht erst aufkommen, ein interessanter

Gegensatz zu Tristans Kampf mit dem Riesen Urgan. Grundsätzlich wird Daniel – wie

auch Tristan – kluges und überlegtes Handeln so fest zugeschrieben, daß die Listigkeit im

Kampf selbst nicht auf übermäßige Weise hervorgehoben wird. Im Gegenteil malt der

Stricker in seinem Artusroman derart epische Schlachtschilderungen in so großer Zahl und

Wiederholung, daß sich die Interpretation vorerst mit Kopfschütteln des Themas

angenommen hat.307 Obwohl im Daniel die allermeisten Weg-âventiuren mit dem Kampf

und dem Tod des Gegners enden, so sind es letztendlich doch jene unblutigen Listen, die

dem Land Frieden schenken, nämlich die letzte Schlacht, die mit Hilfe des goldenen Tiers

gewonnen wird, und die Überwindung des geschwinden Alten. Im Pfaffen Amis schließlich

ist Bewährung im Kampf mit listigen Mitteln naturgemäß kein Thema mehr.

161

Page 162: Die Unmoral des Intellekts

2.4. Magische Gegenstände und Trickobjekte

Der listige Held kann auch Objekte verwenden, deren Natur vom Gegner nicht richtig

eingeschätzt werden kann oder die zu unkonventionellen oder überraschenden Zwecken

benutzt werden können. Oberflächlich betrachtet scheint die Benutzung eines magischen

Gegenstandes oder eines Trickobjektes wenig über die tatsächliche Listigkeit des Besitzers

auszusagen. „Die Figuren, die über magische Mittel verfügen bzw in der Lage sind, sie

sich zu beschaffen, werden öfters der Sphäre des Numinosen zugerechnet, sei es der

Unterwelt oder dem Göttlichen, bösen oder guten Mächten.“308 Dennoch sind die Grenzen,

wie die Figur des Môrolf zeigt, weit weniger klar abgesteckt. Auf das Gegensatzpaar

zwischen bösem zouber und guter liste ist schon bei der Besprechung des Salmân und

Môrolf hingewiesen worden, und auch Daniel, der im Gegensatz zu Môrolf nichts

Dämonisches mehr an sich hat, verläßt sich zum Großteil auf magische Gegenstände, deren

Fremdartigkeit und Originalität fester Bestandteil des Artusepos des Strickers sind. Rothers

Welt ist derart von Realismus geprägt, daß, abgesehen von den Riesen, eigentlich nichts an

Numinosem vorkommt; ähnlich ist es im Tristan Gottfrieds, wenn man von der einzigen

Ausnahme des Zaubertrankes absieht. Gottfried „verzichtet auf spektakuläre Accessoires,

die handelnden Figuren müssen sich mit den im Rahmen ihrer sozialen Schicht

grundsätzlich verfügbaren Mitteln behelfen.“309

Môrolf hingegen verfügt über ein erstaunliches Arsenal an Trickobjekten, die er

wiederholt einsetzt. Das wichtigste und bemerkenswerteste ist sicherlich sein Lederboot,

das Unterwasserfahrten ermöglicht, und der Schlaftrunk, mit dem er die Wachen gleich

zweimal überlistet. Weiters besitzt Môrolf den mechanischen Vogelring, die entstellende

Wurzel und das Stabschwert, das er Salmân als rettende letzte Waffe anvertraut. Das

Ausmaß, in dem sich Môrolf auf eben diese Gegenstände verläßt, ist wohl mit der

Begeisterung für derartige Gegenstände und dem Willen zur Schwankhaftigkeit erklärbar,

anders ist z.B. die Wiederholung des Schlaftrunk-Motivs auch nur schwer nachvollziehbar.

307 Vgl. dazu Hahn, I.: Das Ethos der kraft. Zur Bedeutung der Massenschlachten in Strickers Daniel vom Blühenden Tal. In: DVjS 59 (1985). S173-194 308 Semmler, H.: Listmotive in der mittelhochdeutschen Epik. Zum Wandel ethischer Normen im Spiegel der Literatur. Berlin 1991. S.55 309 ebd., S.74

162

Page 163: Die Unmoral des Intellekts

Bemerkenswert ist, daß Môrolf, der sich selbst auf Trickobjekte verläßt, zu Beginn unfähig

ist, die zouberlist des magischen Liebesringes, der Salmê in Bann schlägt, zu erkennen

oder die Wirkung zu verhindern. Dies ist vielleicht auch durch die bewußt gesuchte

Abgrenzung der liste Môrolfs von der verwerflichen heidnischen zouberlist zu erklären,

immerhin wird auch der mechanischen Konstruktion des Lederbootes besondere

Aufmerksamkeit geschenkt.

Auch Daniel erwirbt sich im Lauf seiner âventiuren magische Gegenstände, die

allerdings zu Beginn im Besitz von überirdischen Unholden sind.310 Bemerkenswert

erscheint die Zerstörung des Gorgonenhauptes; diese schreckliche Waffe ist einerseits

unvereinbar mit ritterlichem Ethos und andererseits in den falschen Händen ein

gefährliches Risiko. (Man bedenke, was ein Môrolf mit einem derartigen Objekt

angefangen hätte!) Überhaupt ist die ritterliche Idealgestalt des Strickers stets auf

Angemessenheit der Mittel bedacht: erst als der Zwerg Juran selbst die Regeln des

Kampfes verletzt, tötet ihn Daniel, die Riesen sind nur durch das Schwert zu überwinden

und die enorme Übermacht der Heere von Cluse rechtfertigt auch hier den Einsatz der

Zauberwaffe. Das Zaubernetz schließlich stellt die einzige Möglichkeit dar, den Alten zu

besiegen und Artus und Parzival zu retten. Das System von Aufgabenstellung und

Lösungsweg ist stets logisch und ethisch gerechtfertigt; die Aufgaben, die der Stricker

seinem Protagonisten stellt, lassen sich eben nur durch die bereitgestellten Hilfsmittel

lösen. Wohl fordert deren Einsatz weniger an List als es etwa ein kompliziertes System an

Lügen wie an Markes Hof tun würde, aber dennoch zeigt die Auswahl der jeweils

geeigneten Mittel den berechnenden Verstand des listigen Helden und seine Fähigkeit,

situationsgerecht zu handeln. Im Salmân und Môrolf hingegen scheint tatsächlich mehr das

Spektakuläre im Vordergrund zu stehen.

Soviel der Pfaffe Amis dem Artusritter Daniel an Verkleidungskünsten überlegen ist, so

wenig verwendet Amis ähnliche Objekte. Will man nicht gerade den wiederauferstandenen

Hahn, den lesenden Esel (eigentlich eher das Buch) und die Fische im Brunnen als

objektbezogene Listen betrachten, bleibt tatsächlich nur eine einzige Episode, in der sich

der Pfaffe auf ein trickreich manipuliertes Objekt verläßt, nämlich das brennende Tuch.

Ansonsten liegt es nahe, daß der Stricker die beiden Elemente Verkleidung und magische

Objekte streng dem angemessenen Genre nach verwenden wollte. Sowenig es sich für

163

Page 164: Die Unmoral des Intellekts

einen Artusritter schicken würde sich zu verkleiden, so unrealistisch und störend wären

magische Objekte in der trickbetrügerischen Realität des Amis.

Betrachtet man die Grundelemente der Listanwendung in den behandelten Werken, so

fällt es schwer, eine Entwicklung in Hinblick auf zeitliche Vorlieben für bestimmte

Elemente zu definieren. Das Problem der unklaren Datierung des Salmân und Môrolf läßt

es auch problematisch erscheinen, eine durchgehende Linie zu finden. Natürlich ist auch

die Unterschiedlichkeit der Werke und des Publikums in Betracht zu ziehen. Pfaffe Amis,

Salmân und Môrolf und Daniel zeigen einen spielerischen, fast verschwenderischen

Umgang mit der List, während im König Rother ein stark staatspolitisches Element der

Ernsthaftigkeit jede sparsam eingesetzte List zur Strategie werden läßt. Im Tristan, dem

zweifellos komplexesten Epos unter den behandelten Werken, ist ein ebenso großer

Realismus festzustellen, was auch durch die Intrigen, Wechselreden und Lügen zwischen

Isolde und Marke noch betont wird. Der Realismus zeigt sich auch im Verzicht auf

magische Gegenstände, in der differenzierten Darstellung der Verkleidungslisten Tristans

und in der drastischen Kampfschilderung.

310 Das Zaubernetz des Fräuleins von der grünen Aue kann in diesem Zusammenhang als Objekt einer

164

Page 165: Die Unmoral des Intellekts

V. Der Wandel des listigen Helden

1. Vom König zum Schelm

Zu Beginn dieser Arbeit wurde konstatiert, daß sich kurz vor 1200 ein bemerkenswerter

Wandel des Heldenbildes in der epischen Literatur des Mittelhochdeutschen abzuzeichnen

begann. Der klassische Heldentypus der Heldenepik differenzierte sich und brachte fast

gleichzeitig zwei neue Typen des Heroischen hervor – einerseits den barmherzigen Ritter

nach Art des Parzival oder der Hartmannschen Helden, andererseits eben den Typus des

listigen Helden, der im König Rother seine epische Urform findet. Bei der Untersuchung

der Werke, die listige Helden als Protagonisten besitzen, stößt man aber auch auf große

Unterschiede zwischen den einzelnen Hauptfiguren, die teilweise durch die

Gattungsunterschiede und natürlich auch auf die spezifischen Intentionen des jeweiligen

Autors zurückzuführen sind. Es fällt schwer, König Rother einerseits und den Pfaffen

Amis andererseits als Werke nebeneinanderzustellen und zu vergleichen; bis auf die

Listigkeit der Protagonisten trennen die beiden Werke nicht nur entstehungsgeschichtlich

etwa 50-70 Jahre, sondern die gesamte Hochblüte der mittelhochdeutschen höfischen Epik

eines Hartmann, Wolfram oder Gottfried. Trotz dieser grundlegenden Problematik, die

logischerweise bereits in der Auswahl der Werke begründet liegt, soll nun dennoch

versucht werden, kurz den erfolgten Wandel des Heldenbildes noch einmal zu skizzieren.

Ein derartiges Unternehmen, eine Entwicklung innerhalb literarischer Werke zu definieren,

würde nun aber notwendigerweise eine feststehende Chronologie der Entstehungsdaten

erfordern, und unglücklicherweise hemmt uns hier das bereits besprochene Problem der

umstrittenen Datierung des Salmân und Môrolf. Bei der traditionellen frühen Datierung

etwa nach de Boor wäre das Epos tatsächlich an den Anfang der Entwicklung, kurz nach

dem König Rother nach 1150, zu stellen. Folgt man jedoch der Argumentation Spiewoks,

so muß das Epos tatsächlich als Schelmenroman sogar in die zeitliche Nachfolge des

Strickers gestellt werden, also etwa ins erste Drittel des 13. Jhs. Es erscheint

problematisch, das Werk sicher der einen oder anderen Zeit zuordnen zu wollen. Aus

diesen Gründen soll in der folgenden Untersuchung das Spielmannsepos auch außerhalb

des Zeitrahmens gestellt und abschließend eine vorsichtige Einschätzung der tatsächlichen

Entstehungszeit versucht werden.

Anderswelt, die durch den Quellstein von unserer getrennt ist, betrachtet werden.

165

Page 166: Die Unmoral des Intellekts

Sicher ist, daß König Rother als „ältester listiger Held der deutschen Literatur“311 gelten

kann. In dieser Figur zeigt sich das Ideal des Heldenkönigs, der, ganz im (Wort-)Sinne

zeitgenössischer Fürstenspiegel, alle menschlichen Gaben und Vorzüge in sich vereint. Die

außergewöhnliche Betonung des geplanten, strategischen Vorgehens entspricht der

Forderung nach prudentia, wobei größter, fast übermäßiger Wert auf das consilium, die

Beratung mit den Vertrauten, gelegt wird. Bei Rother entspringt das listige Handeln nicht

so sehr aus einem ihm eigenen Wesenszug, sondern vielmehr der Prämisse, als idealer

Herrscher zu handeln und die bestmöglichen Entscheidungen zu treffen; diese

Entscheidungen sollen wohlüberlegt und durchdacht sein, wobei ihm seine Ratgeber

wertvolle Dienste leisten. Es handelt sich also weniger um spontane, dem Helden

wesensmäßig zugeordnete Neigung zur Listanwendung, sondern vielmehr um staatskluges

Handeln, das im Falle der Bedrohung eben auch die List als ein mögliches, vorteilhaftes

Mittel erfordert. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Motivation aller

untersuchten Helden zum listigen Handeln ursprünglich einer zwingenden Sachlage

entspringt, die andere – konventionellere – Methoden der Konfliktbewältigung unmöglich

werden läßt. In diesen Zwangslagen ist es einzig die abwägende Vernunft, die den Weg zur

Überwindung des Problems erkennen läßt. Bei Rother zeigt sich List als Akt der

staatsmännischen Räson, gerade durch ihre Anwendung im richtigen Fall erweist er sich

als idealer König. Listanwendung ist also politisches Handeln, ein Aspekt, den Hartmut

Semmler als das Ideal der „schönen“ oder „großen List“312 in der frühen Epik beschreibt.

Dementsprechend sparsam ist die Listigkeit auch strategisch und staatspolitisch eingesetzt,

das listige Handeln ergibt sich eher aus der politischen Notwendigkeit als aus der

spezifischen Eigenschaft Rothers, listig zu handeln.

Stellt man nun Môrolf als möglicherweise zeitlich nächstes Werk dieser Idealgestalt des

politisch listigen Rother gegenüber, so zeigen sich bemerkenswerte Unterschiede –

vielleicht auch bedingt durch spätere Überformungen, die schriftliche Überlieferung des

Salmân und Môrolf stammt erst aus dem 15.Jh. – , aber auch Gemeinsamkeiten. Im

Gegensatz zu Rother ist es Môrolf offenbar eine Lust, seine Gegenspieler zu überlisten und

damit zu demütigen. Es ist eine ganz charakterspezifische Neigung zur List, die Môrolf

auch von Anfang an zugeordnet wird, und die der Autor auch zur Genüge und sicher zum

Gaudium des Publikums wirksam ausbreitet und durch Wiederholungen spektakulärer 311 Birkhan, H.:Geschichte der altdeutschen Literatur im Überblick II (Skriptum zur Vorlesung SS98). Wien 1998. S.154.

166

Page 167: Die Unmoral des Intellekts

Listhandlungen hervorhebt. Dennoch ist dem Werk auch ein gewisser politischer Aspekt

des Listhandelns nicht abzusprechen; es existiert tatsächlich die Notwendigkeit, vorerst mit

List an die Rückführung der Untreuen heranzugehen. Môrolfs Ausfahrten sind zwar um

einiges persönlicher motiviert, als Rothers Reise nach Konstantinopel, aber dennoch ist es

im einen wie anderen Epos die Entscheidung eines Königs, also eine politische

Entscheidung, die die Listhandlungen in Gang setzt. In der reichen Ausstattung mit

Listmotiven wie Verkleidung und besonders Trickobjekten zeigt sich deutlich die Lust des

Autors und der Zuhörer an der schelmenhaften Figur des dunklen Helden Môrolf; dennoch

legt der Autor Wert darauf, alle Elemente des Spielmannsepos gewissenhaft miteinfließen

zu lassen: orientalische Länder, weite Reisen und natürlich ausführliche Schlachten. Und

trotz aller schelmenhaften Züge bleibt Môrolf dennoch heldenhaft, wenngleich von

zwiespältiger halbdämonischer Provenienz, die latent im Epos mitschwingt.

Die Frage der Datierung des Epos, die sich ja vor allem wegen der Überlieferung des

Textes erst aus dem 15. Jh. stellt, gerät somit vor allem zur Frage nach der Intention des

Autors: sind die erwähnten spielmännischen Züge nur Versatzstücke, die bewußt als

Requisiten, oder gar in parodistischer Absicht verwendet werden? Oder handelt es sich bei

diesem Werk tatsächlich um ein „ernstgemeintes“, frühes Spielmannsepos, dessen Held,

erklärbar durch die Tradition des dämonischen Markolf, so außergewöhnlich und aus Lust

an den neuen Elementen als Mischwesen zwischen Ritter und Schelm dargestellt wird?

Eine eindeutige Beantwortung fällt nicht leicht, doch einiges spricht für die zweitere

Theorie, vor allem auch die motivisch stark verwandte Figur des Oswalds-Raben. Freilich

stammen auch alle schriftlichen Überlieferungen des Oswald erst aus dem 15. Jh., doch es

erscheint wohl etwas weithergeholt, beide Epen aufgrund des Elements eines

„schelmenhaften Protagonisten“ ins spätere 13. Jh. datieren zu wollen. Die eindeutige

Datierbarkeit des König Rother zeigt, daß Listdarstellung schon vor 1200 in der Epik

möglich war – wenn auch möglicherweise spätere Überformungen sowohl des Salmân und

Môrolf als auch des Oswald vorliegen sollten, so kann wohl dennoch bei beiden auch bei

der frühen Datierung getrost die Existenz der listigen Akteure auch schon in der

Ursprungsfassung angenommen werden.

Die leichtere Datierung des Tristan stellt den Helden Gottfrieds nun jedenfalls nach

Rother, und ziemlich sicher auch nach Môrolf. Wie Môrolf ist Tristan die Listigkeit als 312 Semmler, H.: Listmotive in der mittelhochdeutschen Epik. Zum Wandel ethischer Normen im Spiegel der

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Page 168: Die Unmoral des Intellekts

Wesenszug klar zugeordnet, doch hier zeigt sich ein ungleich verfeinertes Bild der

Listanwendung, das den derben Schelm vom höfischen Spielmann Tristan klar

unterscheidet. Ähnlich dem König Rother wird auch hier die strategische und vor allem

diplomatische Nützlichkeit der Listanwendung betont, die Tristan in seinen gefährlichen

Missionen für Marke wiederholt unter Beweis stellt. Es sei wiederholt, daß Tristan

grundsätzlich aus Neigung zur List greift, wenngleich sich nach dem Minnetrank zwingend

die Notwendigkeit zur Listhaftigkeit ergibt. Ähnlich der differenzierten Motivation stellt

sich auch die Art der Listanwendung dar: in keinem anderen Werk wird der

Kommunikation und somit der Lüge und der Intrige mehr Bedeutung zugemessen als im

Tristan. Die Unterschiede zu Rother sind deutlich: die unpersönliche, politische List, die

aus staatspolitischen Gründen gewählt wird, wandelt sich zur charakterlichen

Grundhaltung, die zwar natürlich auch für politische Zwecke einsetzbar ist, aber vor allem

fest mit der Figur des Tristan verbunden ist. List wird zur alltäglich einsetzbaren

Eigenschaft des Helden, die ihm in ausweglosen Situationen hilft und jedes persönliche

Verhalten prägt.

Noch drastischer zeigt der Stricker die tatsächliche Praktikabilität der Listanwendung.

Nicht nur, daß im Daniel die List als selbstverständliche Kategorie des politischen

Verhaltens vorausgesetzt wird, auch und gerade durch das vernunftbetonte Handeln im

Alltäglichen kann Daniel als Ideal des Artusritters gelten. Natürlich ist die moralische

Vielschichtigkeit eines Tristan nicht mit der verhältnismäßigen Eindimensionalität des

Strickerschen Helden gleichzusetzen, aber Daniel zieht gewissermassen die Lehren aus den

Vorgaben des listigen Helden Tristan: er nutzt seinen überlegenen Intellekt, ohne jedoch

den moralischen und ethischen Konflikt Tristans bewältigen zu müssen. Die List oder

besser: die Klugheit, die als höchste Tugend des idealen Herrschers im König Rother

eingeführt wird, wird vom Stricker auf die Ebene des alltäglichen Lebens und ihrer realen

Nutzbarkeit gezogen. Klugheit, so der didaktische Standpunkt des Strickers, ist jene

Tugend, die den, der sie besitzt, über alle anderen erhebt, die sie nicht recht zu nutzen

wissen. Dies bedeutet keine Verleugnung der anderen Tugenden und auch keine Parodie;

vielmehr ist für den Stricker die Klugheit jene Eigenschaft, die hilft, wo andere versagen

müssen. Zweifellos ist es die Notwendigkeit, die Daniel zum Einsatz seiner List treibt; es

ist jedoch auch seine Befähigung zu diesem Handeln, die ihn darauf zurückgreifen läßt.

Literatur. Berlin 1991. S.232.

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Page 169: Die Unmoral des Intellekts

Der Stricker selbst führt den Wandel des listigen Helden mit der Figur des Amis einen

entscheidenden Schritt weiter. Bei Amis ist von der Notwendigkeit zum listigen Handeln

nur mehr im entferntesten zu sprechen: Amis ist vielmehr eine Schelmenfigur, der die List

zugleich Passion und Genugtuung ist. War List zuvor großteils Reaktion auf die

Herausforderungen ansonsten unbewältigbarer Aufgaben, so erlangt sie im Pfaffen Amis

neue offensive Qualitäten. Wohl muß sich Amis zu Beginn des habgierigen Bischofs

erwehren, aber später ist von keiner Notwendigkeit mehr die Rede, sieht man von dem

eigentümlichen Motiv der Gastfreundschaft und milte ab. Der listige Held gerät mit dem

Pfaffen Amis aus der Defensive; der Strickersche Schwankheld setzt seine Listen aus

eigenen Überlegungen in Szene. Abgesehen von den Episoden um den gierigen Bischof

und den zornigen Ritter sind alle Listhandlungen offensive, unprovozierte Attacken des

Listigen auf Opfer, die durch ihre spezifischen Schwächen anfällig für die Betrügereien

des Protagonisten sind. Der Typus des Schelmen konstituiert sich in diesem Werk als

Randfigur, die von sich aus den Kampf mit den sozial Starken und Mächtigen aufnimmt,

und diese damit als Toren bloßstellt.

Spiewoks Argumentation folgend wäre der Salmân und Môrolf aus ähnlichen Gründen in

die zeitliche Nachfolge des Strickerschen Werkes zu stellen. Meiner Meinung nach zeigen

sich trotz der erwähnten Gemeinsamkeiten, nämlich der Lust am listigen Handeln und der

teilweise derben Komik, aber gravierende Unterschiede in der grundsätzlichen

Figurenauffassung. Wohl begibt sich Môrolf mehr oder weniger freiwillig in Feindesland,

dort angelangt beschränken sich seine Listen aber hauptsächlich auf defensive Reaktionen.

Offensives Agieren bleibt im Salmân und Môrolf eine Domäne des Kriegerischen, was

auch die Schlachtenschilderungen demonstrieren. Der bedeutende Schritt vom rein

reagierenden Helden, der List aus Notwendigkeit einsetzt, zum rein aus Neigung und

freiem Willen offensiv listigen Helden ist im Môrolf weniger festzustellen –

bezeichnenderweise hat er auch zum Großteil Fluchtabenteuer zu bestehen. Dieser Schritt

von der Reaktion zum bewußten Agieren ergibt sich aber konsequent aus der

typologischen und literarhistorischen Figurenfolge von Tristan zum Daniel und Amis, in

denen der Stricker das Motiv des listigen Helden selbständig fortführt und im Amis zum

Typ des Schelmen umformuliert. Betrachtet man die vorgeführte Entwicklung als

plausibel, muß die Datierung Spiewoks stark relativiert werden. Wohl finden sich im

Salmân und Môrolf stark schwankhafte und schelmenartige Elemente, aber zur

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Page 170: Die Unmoral des Intellekts

Begründung für eine Umdatierung in die Mitte des 13. Jhs. könnten und dürften diese

kaum herangezogen werden.

Vom König Rother zum Schelmen Amis – so stellt sich die Entwicklung des Typus des

listigen Helden in den behandelten Werken dar. Von der List als politischer Handlung aus

Notwendigkeit führt die Entwicklung in mehreren Stufen zur List als willkürlichem Akt

eines überlegenen Intellekts. Die Figur des Schelmen, die der Stricker mit dem Pfaffen

Amis in die mittelhochdeutsche epische Literatur mit bis dahin ungekannter Konsequenz

einführt, setzt ihren Siegeszug mit zeitlicher Verzögerung in den Schwankromanen des

späteren Mittelalters, in Volksbüchern und Schelmenromanen fort.

2. Das Phänomen des listigen Helden

Nachdem nun der Typus des listigen Helden anhand der Literatur in Bezug auf

literarische Ausformungen, Charakteristika und Veränderungen innerhalb des Typus

untersucht wurde, stellt sich die Frage nach den möglichen Gründen für die

Ausformulierung eines derartigen Wandels vom klassischen Heldenbild zum

intellektuelleren Typus des listigen Helden.

2.1. Die List als Gewalt der neuen Zeit: der bürgerliche Held?

Es steht außer Frage, daß die Zeitumstände der Entstehung eines Werkes unmittelbar und

untrennbar mit dessen Gehalt und Aussage verbunden sind. Die politischen Machtkämpfe

zwischen Staufern und Welfen und die andauernden Konflikte zwischen Kaiser und Papst,

also weltlicher und geistlicher Herrschaft, lassen das 12. und 13. Jahrhundert als sicherlich

für die Zeitgenossen verwirrende und unsichere Periode erscheinen. Auch die sozialen

Veränderungen jener Übergangszeit vom Hoch- zum Spätmittelalter, die mit dem

Jahrhundert um 1200 zusammenfallen, müssen maßgebliche Motoren der Veränderung des

Heldenbildes in der epischen Literatur jener Zeit gewesen sein. Der wirtschaftliche und

kulturelle Aufstieg der Städte wurde nicht zuletzt auch durch die Verbindungen der

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Page 171: Die Unmoral des Intellekts

deutschen Kaiser zu Italien und dessen Handels- und Finanzzentren bedingt; der neue

internationale Handel und das moderne Banken- und Geldwesen, dessen Begriffe

eigentlich bis heute auf das Italienische zurückgehen, ließen die Städte auch nördlich der

Alpen innerhalb weniger Jahrzehnte immens an Bedeutung zunehmen. Diese soziale

Revolution, die mit der Erstarkung des kapitalistischen Wirtschaftssystems zugleich

natürlich ein neues Selbstbewußtsein der Städte auch gegenüber dem Adel mit sich

brachte, ist als zeitgleich mit der hochhöfischen Blütezeit und dem ideologischen

Bedeutungszuwachs des Begriffs des Rittertums zu datieren. Es erscheint in diesem

Zusammenhang problematisch, nach einem einzigen Faktor zu suchen, der das Auftreten

des in der deutschen epischen Literatur neuen Typs des listigen Helden bedingen hätte

können. Wahrscheinlicher ist ein Zusammenwirken der verschiedensten sozialen,

politischen und ästhetischen Parameter, die den Zeitgeschmack jener Epoche maßgeblich

beeinflußt und so die Entwicklung des listigen Helden begünstigt haben müssen.

Die epische Heroik verliert, besonders anschaulich am Bild des listigen Helden,

einerseits an mythischer Idealität, gewinnt aber – weniger in den Motiven als in der

Darstellung der Figuren – entscheidend an Realismus. Die Zeichnung jener teils auch

ethisch immer ambivalenter werdenden Protagonisten bis hin zum „Anti-Helden“ Amis

erfordert die graduelle Loslösung von moralischer Schwarz-Weiß-Zeichnung und erschafft

gleichzeitig komplexere Charaktere, deren intellektuellem und geistigen Innenleben bei

weitem größere Aufmerksamkeit geschenkt wird als zuvor. Während sich im

hartmannschen Helden diese Tendenz am stärksten auf ethischer, moralischer und

religiöser Ebene manifestiert, zeigt der listige Held als Charakteristikum zusätzlich die

große Bedeutung, die intellektuellen Vorgängen wie Planung, Bedachtsamkeit und

Verhältnismäßigkeit zugeschrieben wird. Der Psychologisierung einer komplexen Figur

wie Parzival auf mystisch-religiöser und moralisch-ethischer Ebene steht mindestens

gleichberechtigt die Zeichnung Tristans im Zwiespalt zwischen Intellekt, Irrationalität

(minne) und höfischer Ethik gegenüber.

Der Grund für die zunehmende Darstellung des Innenlebens beider Figurentypen ist

zweifellos in der geistigen und kulturellen Hochblüte des höfischen Lebens begründet; die

Verunsicherung dieser Werte durch die Frage nach der individuellen ethischen Beurteilung

dieser Normen zeigt sich aber im Typus des listigen Helden am deutlichsten. Der Hang zur

Individualisierung bedingt einen darstellerischen Realismus, der die schematisierende,

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Page 172: Die Unmoral des Intellekts

weniger individuelle Menschendarstellung etwa der früheren Heldenepik in der

hochhöfischen Literatur ablöst. Dies geschieht nun einerseits in der neuen Figur des

barmherzigen, andererseits in jener des listigen Helden.

Freilich ist damit noch immer keine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem Grund

für diese Veränderung gefunden. Die oft strapazierte These, der listige Held sei

literarischer Ausdruck bürgerlichen Gedankengutes, und somit eigentlich als Figur Produkt

des Aufstiegs des vierten Standes,313 kann als zu undifferenziert und verallgemeinernd mit

Sicherheit nicht der Weisheit letzter Schluß sein. Als Hauptargument gegen diese Thesen

muß vor allem gelten, daß das postulierte, nicht näher beschriebene „Bürgertum“ wohl

kaum als primäres Publikum für die genannten Werke betrachtet werden kann; welchen

Grund hätte dann aber die Verherrlichung bürgerlicher Tugend und gar „Erwerbsform“314

im Vortrag vor adeligem Publikum, als dessen Konterpart die Verfechter jener Hypothese

ja jenes „Bürgertum“ betrachten? Zweifellos verfolgt zumindest der Stricker stark

didaktische Absichten, und selbst mit König Rother wird dem Zuhörer ein Ideal und

Vorbild eines Herrschers gegeben, aber das primäre Publikum und somit Rezipient dieser

Didaxe war zum Zeitpunkt des Entstehens der Werke das hochadelige oder höfische

Umfeld, später sicher auch der niedere Adel und Ministeriale, Teile der Geistlichkeit und

nur teilweise das städtische Patriziertum. Der Terminus des listigen als „bürgerlichen

Helden“ greift vor allem deshalb zu kurz, weil dessen Tugenden keineswegs spezifisch

bürgerlicher Natur sind, sondern vielmehr auch dem Adel als Handlungsmodell vorgestellt

und angeraten werden. Die zentrale Forderung nach prudentia ist zuallererst an das

höfische Publikum gerichtet; gerade beim Stricker zeigt sich im Daniel auf didaktisch

eindeutiger und auf sekundärer interpretatorischer Ebene der Aufruf des Dichters zu

klugem, reflektiertem Handeln.315 Ein weiteres Argument gegen die Festlegung des

313 Hierbei verweise ich besonders auf Hedda Ragotzkys ausführliche und der Interpretation ebenfalls ablehnend gegenüberstehende Zusammenfassung dieser problematischen Auslegung am Beispiel des Pfaffen Amis. Vgl. Ragotzky, H.: Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers. Tübingen 1981. S. 141, Anm.1. Als Beispiel: Barbara Könneker sieht bei der Interpretation des Pfaffen Amis die Klugheit vor allem als „spezifisch bürgerliche Tugend“, als „wichtigste Tugend eines Standes, der vornehmlich auf Erwerb und somit auf Sicherheit bedacht war, selbst aber über keinerlei Machtmittel verfügte, um sich zu schützen und durchzusetzen.“ Könneker, B.: Strickers Pfaffe Amis und das Volksbuch von Ulenspiegel. In: Euphorion 64 (1970) S.257. Auch Thomas Cramers Analyse, mit listigem Handeln sei vor allem „bürgerliche Erwerbsform“ paraphrasiert, greift wohl zu kurz. Cramer, T.: Normenkonflikte im Pfaffen Amis und im Willehalm von Wenden. In: ZfdPh 93 (1974) Sonderheft. S. 124-140. Hier S.129. 314 Cramer, T.:Normenkonflikte im Pfaffen Amis und im Willehalm von Wenden. Überlegungen zur Entwicklung des Bürgertums im Spätmittelalter. ZfdPh 93 (1974) Sonderheft, S.124-140, hier S.129. 315 Als „sekundäre Ebene“ bezeichne ich zum Beispiel die nachvollziehbare Interpretation Bralls, die illegitimen Forderungen Maturs mit dem Territorialisierungsprozeß in Österreich um 1200 in Verbindung zu bringen.. Brall, H.: Strickers Daniel vom Blühenden Tal. Zur politischen Funktion späthöfischer Artusepik im Territorialisierungsprozeß. In: Euphorion 70 (1976). S. 222-257.

172

Page 173: Die Unmoral des Intellekts

Phänomens „listiger Held“ auf bürgerliche Anliegen und Identifikation liegt außerdem in

der Tatsache, daß trotz des Bedeutungszuwachses der städtischen Gesellschaften zum

Zeitpunkt des Entstehens der Werke und auch später das hypostasierte „Bürgertum“

vermutlich noch keinen eigenständigen Wertekanon zur Verfügung hatte, sondern sich vor

allem am Höfischen zu orientieren suchte.316

Zu spekulieren, mit dem listigen Helden würde der Rezeptionsgemeinschaft höfischer

Gesellschaft und Adel ein „bürgerliches Ideal“ in didaktischer Absicht nähergebracht,

heißt eigentlich, die Sachlage auf den Kopf zu stellen. Unbestreitbar ist aber, daß der

realistischere Typus des in einer spezifischen Situation an Kraft schwächeren, aber durch

List überlegenen Helden dem Selbstverständnis des sekundären, nicht-adeligen Publikums

sehr entgegen kam. Die List als „Gewalt der neuen Zeit“317 konnte mit der täglichen

Erfahrung des nicht-adeligen Publikums zunächst um einiges besser harmonieren als etwa

die höfischen Helden Hartmanns, deren Ethos und Motivation auf weit spezifischere Art

und Weise dem Adel zugedacht war.

Betrachtet man die „spätmittelalterliche Kulturkrise“,318 also die sozialen, politischen

und wirtschaftlichen Veränderungen der Entstehungszeit der behandelten Werke, als

auslösendes Moment für die Entwicklung neuer literarischer Momente und Typen, so kann

der „listige Held“ weniger als plötzlich auftretendes Symptom dieser Veränderung gelten,

sondern eher als Versuch der Literatur, diesen Entwicklungen in didaktischer Absicht

tragfähige Handlungsmodelle gegenüberzustellen. Es wird schwer fallen, konkrete und real

faßbare Anlaßpunkte für die spezifische Entwicklung des Typus „listiger Held“ und somit

der Betonung von prudentia in der Literatur herauszustreichen. Mit Sicherheit werden auch

316 Ich will und kann der Widerlegung dahingehender Überlegungen durch Hedda Ragotzky eigentlich nichts mehr hinzufügen:“Meist wird der Begriff des „Bürgertums“ in diesen Erklärungsversuchen unreflektiert und ohne Bemühen um historische Konkretisierung verwendet, so daß er als zeitgeschichtliche Kategorie unbrauchbar ist und weiterhin geistesgeschichtliche Projektionen erneuert, die von der Resignation und der apologetischen Haltung des Bürgertums im 19. Jahrhundert geprägt sind. In der Regel bleibt unklar, ob mit der „Entwicklung des Bürgertums“ ausschließlich oder vorrangig die Entstehung von Handelskapital in den Städten gemeint ist. Wäre dies der Fall, so ließe sich der Bezugspunkt der Argumentation zwar empirisch identifizieren, mit Sicherheit aber erwiese sich bei der Studie eines konkreten Falls die stillschweigend gesetzte Prämisse als falsch, daß neue Wirtschaftspraktiken unmittelbar und konsequent einen ihnen entsprechenden Wertekanon des praktischen Verhaltens erzeugen, der sich wiederum ebenso unvermittelt in der Literatur niederschlägt.“ Ragotzky, H.:Das Handlungsmodell der list und die Thematisierung von guot. Zum Problem einer sozialgeschichtlich orientierten Interpretation von Strickers „Daniel vom blühenden Tal“ und dem „Pfaffen Amis“. In: Literatur- Publikum- historischer Kontext. Hrsg. von G. Kaiser. Bern [u.a.] 1977. S.185. 317 Aichmayr, J.: Der Symbolgehalt der Eulenspiegel-Figur im Kontext der europäischen Narren- und Schelmenliteratur. GAG 541. Göppingen 1991. S.103. 318 Bögl,H.: Soziale Anschauungen bei Heinrich dem Teichner. Göppinger Arbeiten zur Germanistik 175. Göppingen 1975.S.9-32

173

Page 174: Die Unmoral des Intellekts

realienkundliche Aspekte, wie etwa technologische Weiterentwicklungen im militärischen

Wesen oder wissenschaftliche Befruchtung durch die arabische Welt eine maßgebliche

Rolle in der verstärkten Hinwendung und Hochachtung der intellektuellen Leistung

gespielt haben. Obwohl der Versuch Klaus Siegmunds, den literarischen König Rother auf

die historische Figur Heinrichs VI. (*1165-1197) zu beziehen,319 letztlich nicht als

überzeugend gewertet werden kann, zeigt uns das Bild Heinrichs dennoch auch ein neues

reales Bild eines Herrschers, dem in komplexen politischen Situationen Planung,

Gedankenarbeit und kluges staatsmännisches Handeln von späteren Biographen in

außerordentlicher Weise zugeschrieben werden.320

Die Forderung nach prudentia, die bei den Figuren der behandelten Werke mit

besonderer Anschaulichkeit und Nachdruck vorgeführt wird, stellt sich somit als durch die

sich rasch verändernden sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse bedingte reale

Notwendigkeit dar. In dem Ausmaß, in dem die Realität die traditionell ausreichenden

Handlungsmuster des Adels (Ausübung militärischer Gewalt, Landbesitz, Feudalstruktur)

als inadäquat erscheinen ließ, wurde zugleich prudentia als notwendige Begabung und

Tugend thematisiert. Das aufsteigende Bürgertum stellt gleichsam denjenigen Stand dar,

der von dieser Entwicklung in besonderem Maße profitieren und sie noch ausbauen

konnte.

Die Frage nach der tatsächlichen Ursache des Wandels zum Typen des listigen Helden

kann demnach konsequenterweise nur unzureichend beantwortet werden. Es scheint

unzulässig, das „Bürgertum“ als Motor der Entwicklung zur Forderung nach prudentia zu

instrumentalisieren; am wahrscheinlichsten ist die leider an konkreter Faßbarkeit

mangelnde Aussage, daß es die unterschiedlichsten Einflüsse politischer, sozialer,

wirtschaftlicher, technologischer und wissenschaftlicher Natur waren, die dem Bild des

Helden – und somit dem (literarischen) Idealbild des aktiv Handelnden – die List als

konstituierende Eigenschaft hinzufügten.

319 Siegmund, K.: Zeitgeschichte und Dichtung im König Rother. Versuch einer Neudatierung. Berlin 1959. S.12ff. 320 Besonders hebt Gervais von Tilbury, der sein Geschichtswerk dem Nachfolger Heinrichs, Otto IV. widmete, diesen Charakterzug des Staufers hervor. Vgl. dazu Siegmund, K.: Zeitgeschichte und Dichtung im König Rother. Versuch einer Neudatierung. Berlin 1959. S.17.

174

Page 175: Die Unmoral des Intellekts

2.2. Prudentia und Klugheit in der philosophischen Diskussion des 13. Jh.

Ein weiterer Hinweis für die Relevanz, die klugem Handeln und prudentia in der Zeit um

1200 im allgemeinen Bewußtsein als Forderung zukamen, ist auch die theologisch-

philosophische Diskussion des Themas.321 Es ist freilich problematisch, beide

unterschiedliche Ebenen – die Philosophie und die epische Literatur – in Bezug auf

gegenseitige Beeinflussung gegenüberzustellen. Eine derartige direkte und nachweisbare

Beeinflussung im Sinne von Kenntnis der jeweiligen philosophischen Werke bei den

Epikern wird im Einzelfall meist nicht nur schwer plausibel nachzuweisen sein, sondern

reduziert auch das eigenständige literarische Werk in zu vereinfachender Weise. Vielmehr

soll die Betrachtung der philosophischen Beurteilung der prudentia im 12. und 13.Jh.

verdeutlichen, daß sich die Beschäftigung mit dem Wert der Klugheit keinesfalls alleine

auf den literarisch-fiktiven Bereich erstreckte.

Die Einschätzung der Klugheit und Weltklugheit in der theologisch-philosophischen

Diskussion orientierte sich bis ins 12. Jh. zum größten Teil an Augustinus. prudentia wird

verstanden als Auswahl des Nützlichen und zur Zurückweisung des Schädlichen, wobei

allerdings durch die täuschungsanfällige menschliche Wahrnehmung kein allgemein

gültiges Bild gewährleistet ist. Allein die amor Dei setzt fest, was als kluge Auswahl gelten

darf, sie wird somit zum zentralen Beurteilungskriterium menschlichen Handelns.

Augustinus läßt jedoch im Bereich der Notlüge einen gewissen Interpretationsspielraum,

der in Ausnahmefällen situationsbedingt die bewußte Täuschung in guter Absicht (etwa,

um jemanden zu retten) zwar nicht gutheißt, aber toleriert. Augustinus‘ Vorgaben blieben

zum größten Teil bis zum 12. Jh. unangefochten und als Fundamente jeder prudentia-

Diskussion bestehen. Erst zu Beginn des 12. Jhs. mit Anselm von Canterbury, Abaelard

und Hugo von St. Viktor beginnt eine neue Phase der Reflexion über die Zusammenhänge

von theologischer Weltanschauung und ethischer Handlungsweise.

Besonders das Werk Hugos von St. Viktor (ca.1100-1141) war bereits um 1150 auch im

deutschen Sprachraum, vor allem im Süden, weit verbreitet.322 Der Autor stützt sich

321 Im Hinblick auf die Entstehungszeit der behandelten Werke soll im folgenden hauptsächlich die theologisch-philosophische Diskussion des 12. Jhs. bis kurz vor 1200 behandelt werden. Die Schriften Albertus‘ Magnus, die im Zusammenhang mit der Beurteilung der prudentia auch von großem Interesse wären, sind wegen ihrer Veröffentlichung erst um 1240 für die behandelten Werke mit Sicherheit nicht als Einfluß oder moralischer „Unterbau“ anzunehmen. 322 Vgl. Semmler, H.: Listmotive in der mittelhochdeutschen Epik. Zum Wandel ethischer Normen im Spiegel der Literatur. Berlin 1991. S.201.

175

Page 176: Die Unmoral des Intellekts

wesentlich auf Augustin, betont aber den Vorgang des sinnlichen Erfassens als

unverzichtbaren und zuverlässigen Vorgang zum Erlangen der Erkenntnis, wobei der

Reflexion auf Grundlage der Sinneseindrücke größte Bedeutung zugeschrieben wird. Diese

Reflexion ist es jetzt, der eher der Mangel der Unvollkommenheit zugestanden werden

kann: wir ziehen aus unseren Wahrnehmungen der Welt nicht die richtigen Schlüsse, wenn

unsere Urteilsfähigkeit getrübt ist. Als Verhaltensmaxime fungiert die Vernunft (ratio) als

Vermittlerin zwischen den Begierden und der Intelligenz, die zugleich die höchste, von

Gott inspirierte Form der Erkenntnis ist.

Aber auch in der philosophischen Lehre, im Unterricht der Ethik, die der Abteilung der

Grammatik zugeschlagen wurde323, zeigt sich deutlich die intensive Beschäftigung mit

dem Thema der Klugheit und der Wahrnehmung. Die Auseinandersetzung um die

Kardinaltugenden bildete einen wesentlichen Bestandteil der ethischen Diskussion des 12.

Jahrhunderts. Alanus de Insulis und Simon von Tournai bemühten sich besonders um eine

Grundlage für ein neues Klugheitsverständnis, wobei der prudentia eine theoretische und

eine praktische Dimension zugesprochen wurde, wobei dem politischen Handeln durch sie

stets der Rückbezug zur göttlichen Instanz ermöglicht sein sollte. „Zwar galt die ganze Zeit

über das Beurteilungsvermögen des Menschen als durch den Sündenfall getrübt und daher

die menschliche Klugheit als defizient, aber vorgegeben war auch die Perspektive, durch

eigene, richtige, d.h. Gottes Forderungen beachtende Anspannung des Verstandes diesen

Makel überwinden zu können. Und so behauptete Alanus nun die Aufspaltung von

prudentia in eine (zu verwerfende) Weltklugheit, die falschen Gebrauch von Intellekt im

irdischen Leben macht, und eine andere nun positiv verstandene Klugheit im alltäglichen

Verhalten, die mit der bisherigen sapientia (göttlichen Weisheit) zu einer begrifflichen

Einheit verschmilzt. .. Hier konnte die Integration der Klugheit in das Schema vom

Fortschritt der Erkenntnis und damit dem Weg zum Heil einsetzen.“324 Die intellektuelle

Seite der prudentia wird somit nicht mehr nur im Verhältnis zu Gott, sondern auch im

täglichen Leben als wichtiges Werkzeug aufgefaßt. Alanus formuliert, daß Klugheit die

Fähigkeit ist, Gut und Böse voneinander zu unterscheiden, und gleichzeitig das Gute zu

wählen. Der menschliche Intellekt ist somit zum wichtigsten Instrument klugen, d.h.

gottgefälligen Handelns auch im Alltag geworden.

323 Ebd., S.205 324 Ebd. S.207

176

Page 177: Die Unmoral des Intellekts

Diese Aufwertung des Verstandes, die tendenziell der theologisch-philosophischen

Diskussion des 12. Jhs. eigen ist, ergab sich aus zwei widersprüchlichen Voraussetzungen.

Zum ersten wurde die sinnliche Wahrnehmung, im Gegensatz zu Augustinus, als

geeignetes Instrument für jede Art menschlichen Erkennens wiedereingesetzt. Zum

anderen wurde in der neuplatonischen Vorstellung der Weltvernunft der Aufstieg zur

Schau des Göttlichen mit Hilfe des Intellekts für möglich erachtet, wobei der

Wahrnehmung allerdings kein Anspruch auf Wahrheit eingeräumt wurde. Obwohl diese

gegnsätzlichen Anschauungen nur unvollständig miteinander zu vereinbaren waren, bleibt

dennoch die Aufwertung des Intellekts und ebenso der Wahrnehmung, die als

Voraussetzung für die intellektuelle Leistung verstanden wurde.

Mit Radulfus Ardens, dessen speculum universale (ca. 1195 verfaßt) die bisher

umfassendste und bedeutendste systematische Abhandlung zur Ethik darstellt, wird die

prudentia nach dem Glauben zur höchsten Tugend erhoben, wobei allerdings zwischen

wahrer und falscher Klugheit unterschieden wird. Die falsche Klugheit ist stolz,

eigensüchtig, hinterlistig, macht blind und ihr Urteil ist erlogen, während die wahre

Klugheit demütig, arglos, erleuchtet, friedensstiftend und wahrheitssuchend ist.325

Zugleich weist Radulfus aber auf circumstantiae hin, die eine Tat von ihrem sündhaften

Charakter befreien können und somit Ansätze einer Situationsethik zeigen, die

selbstverständlich die natur- und gottgegebenen Normgrenzen nicht verlassen darf.

Dennoch findet eine Aufwertung der natürlichen Verfaßtheit des Menschen statt

(Einbeziehung psychischer und physischer Faktoren!326), die als ein in Einklang mit Gottes

Geboten stehendes Gesetz betrachtet werden kann. Die prudentia ist bei Radulfus jene

Instanz, die zur Erkenntnis und Einhaltung dieser Normen, aber auch zum klugen Handeln

in der Welt befähigt. Ich stimme Semmler zu, daß mit dieser Konzeption der Überprüfung

des eigenen Handelns anhand eingehender Reflexion ein Zusammenhang zur Dichtung

hochhöfischer Zeit zu finden ist, das „Handeln der Protagonisten immer wieder von neuem

in Frage zu stellen, zu korrigieren aufgrund erweiterter Erfahrung. Gerade

Täuschungsmanöver werden zur Nagelprobe: nur in der konkreten Situation nämlich läßt

sich entscheiden, ob sie ethisch vertretbar sind oder nicht. Voraussetzung für die

Beurteilung der Vertretbarkeit bleibt in jedem Fall die Verstandesleistung.“327 Die

325 Vgl. Gründel, J.: Die Lehren des Radulfus Ardens von den Verstandestugenden auf dem Hintergrund seiner Seelenlehre. München/Paderborn/Wien 1976. S.313f. 326 Semmler, H.: Listmotive in der mittelhochdeutschen Epik. Zum Wandel ethischer Normen im Spiegel der Literatur. Berlin 1991. S.211. 327 Ebd. S.212.

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Page 178: Die Unmoral des Intellekts

Tugenddiskussion des 12. Jhs., so kann zusammenfassend festgestellt werden, führt zu

einer auch philosophischen Akzeptanz der Notwendigkeit, in ganz bestimmten Situationen

Täuschung und Lüge als ethisch vertretbar zu beurteilen – und diese Erkenntnis bezieht

nicht nur politisches, sondern alltägliches Handeln mit ein. „Der Mensch darf und muß in

einer Problemsituation nach den Tatumständen entscheiden, dabei hat er äußere Umstände

(etwa das Interesse des Kommunikationspartners) ebenso zu berücksichtigen wie das

subjektive Kriterium der guten Absicht.“328

Wie bereits erwähnt soll nicht der Eindruck vermittelt werden, die hier in aller Kürze

vorgestellten philosophischen Überlegungen wären in nachweislicher Weise als direkter

Einfluß für die behandelten Epen zu betrachten. Indirekte Beeinflussungen freilich sind

insofern vorauszusetzen, als die gleichzeitige Thematisierung des Themas „kluges

Handeln“ in Epik und Philosophie die große Bedeutsamkeit unterstreicht, die der prudentia

in den sich verändernden sozialen und wirtschaftlichen Umständen beigemessen wurde.

Die Gründe für die intensive Beschäftigung der Philosophie und Theologie mit der

Klugheit werden, entsprechend der dahingehenden Untersuchungen zu den Gründen für

das veränderte Heldenbild, ebenso in den Veränderungen der Gesellschaft, dem Beginn der

spätmittelalterlichen Kulturkrise zu suchen sein.

In dem Ausmaß, in dem Klugheit als positive Eigenschaft im politischen,

wirtschaftlichen, sozialen und persönlichen alltäglichen Leben an Bedeutung gewann,

nahmen auch Philosophie und Literatur sich des Themas an. Die ethische Neubewertung

der prudentia als wichtiges Instrument zur Erkenntnis und die gleichzeitige Erweiterung

zur Situationsethik fand zuerst in der philosophischen Diskussion statt, um dann im Typus

des listigen Helden ihre literarische Manifestation zu finden. Die Listanwendung aus

Notwendigkeit, die in den behandelten Werken nur in Ausnahmefällen ethischer Kritik

unterzogen wird, wird zum in spezifischen Situationen moralisch akzeptablen

Handlungsmodell, das schließlich vom jüngsten der behandelten Autoren, dem Stricker, im

Daniel in stärkster didaktischer Absicht propagiert und im Pfaffen Amis (in ethisch

durchaus komplexerer Ambivalenz) zum Typus des Schelms ausgebaut wird, der freilich

als Schwankheld anderen Gesetzen ethischer Beurteilung unterliegt.

328 Ebd. S.223.

178

Page 179: Die Unmoral des Intellekts

2.3. Vom Volksmärchen zum Volksbuch: der Weg des listigen Helden durch die Gattungen

Die vorhergehenden Kapitel haben ergeben, daß die philosophisch-theologische

Diskussion der prudentia und die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zeitumstände

das Entstehen des Typus des listigen Helden nicht nur begünstigten, sondern daß im Sinne

der sich verändernden Alltagsanforderungen der Rezeptionsgemeinschaft das

althergebrachte Heldenbild zumindest vorübergehend schlicht an Attraktivität als Idealbild

eingebüßt haben mußte. Es wurde bereits zu Beginn erwähnt, daß das Ideal des listigen

Helden aber keinesfalls als Neuerfindung jener Zeitspanne betrachtet werden kann, und

auch wenn von einer Kenntnis literarischer Vorbilder etwa aus der Spätantike nur begrenzt

gesprochen werden kann, so muß mit Sicherheit die Existenz listiger Protagonisten in den

volkssprachlichen kleinen Formen in Märchen und Sage angenommen werden. Es wäre

unrealistisch anzunehmen, die Autoren der vorliegenden Epik hätten nicht zumindest

ungefähre Kenntnis von den zahlreichen listigen Helden des Volksmärchens und der Sage

gehabt. Aus den erwähnten Gründen hat sich aber erst die Zeitspanne jener großen

politischen, sozialen und geistigen Veränderung, deren Beginn literarisch wohl in der

zweiten Hälfte des 12. Jhs. anzusiedeln ist, als fruchtbar für die Einführung eines ähnlichen

Typs in die (früh- und hoch-)höfische Epik erwiesen.

Natürlich kann beim ersten listigen Helden der deutschen Epik, König Rother, nur

schwer von einer Beeinflussung durch „niedere“ Formen wie das Volksmärchen

gesprochen werden – Rother ist das Idealbild des Herrschers, dessen Tugenden und

Eigenschaften wie aus den Fürstenspiegeln jener Zeit transkribiert erscheinen. Auch die

Tatsache, daß das von der Forschung ungeliebte „sogenannte“ Genre des

„Spielmannsepos“ vermutlich durch die Art des Vortrags ein breiteres Publikum haben

konnte als dies bei späteren Werken der hochhöfischen Epik der Fall gewesen sein dürfte,

kann nicht als Beweis für eine derartige hypothetische, zumindest teilweise Übertragung

eines Figurentyps aus dem Fundus der mündlichen Überlieferung in Märchen und Sage

gelten.

Folgt man allerdings der auch hier favorisierten Datierung des Salmân und Môrolf als

zweitältestes Epos der behandelten Werke, so fällt die Verbindung schon bedeutend

leichter. Es erscheint plausibler, sich dieses Epos auch abseits der Fürstenhöfe im Vortrag

179

Page 180: Die Unmoral des Intellekts

vorzustellen, und zahlreiche Elemente, etwa der Wiederholung, des Obszönen und vor

allem der Figur des Môrolf selbst weisen auf eine engere Verbindung zu Formen des

Zaubermärchens und natürlich Schwankmärchens hin.329 Ohne hier, gerade in Bezug auf

die mythische Vorgeschichte Môrolfs, eine direkte Märchenfigur als Vorbild für Môrolf

konstruieren zu wollen, scheint ein Zusammenhang zwischen Elementen und Typen des

Volksmärchens und dem Spielmannsepos nicht von der Hand zu weisen. Die

phantastischen Reisen, die „magische Flucht“, die Verbindung Môrolfs zum

Übernatürlichen weisen aber, ebenso wie ähnliche Elemente bei den anderen

„legendenhaften“ Spielmannsepen Oswalt und Orendel330 auf eine teilweise Übernahme

und Umformung mündlich tradierter Formen hin – betrachtet man das romantische Bild

des fahrenden Spielmanns als Autor jener Epen auch teils mit Recht als unzutreffend, so

bleibt doch im anzunehmenden Vortrag vor Publikum ein starker Bezug des Werkes (oder

zumindest von Teilen davon) zum „einfachen Volk“ und seinem Bewußtsein mündlich

tradierter Formen bestehen.

Entstammt Rother als Figur dem (sicher auch didaktischen und politischen) Bedürfnis,

den idealen Herrscher darzustellen, so kann Môrolf auch als Märchenheld gesehen werden;

auch in dieser Hinsicht fällt das Epos aus dem zeitlichen und typengeschichtlichen

Rahmen. Denn Tristan, der als nächste Ausprägungsform des listigen Helden behandelt

wurde, muß als überaus umfassende und unerhörte Weiterentwicklung des Typus einen

direkten Vergleich mit den beiden Spielmannsepen zumindest erschweren. Wohl ist das

Thema und die märchenhafte Welt auch der Artusepik der keltischen Mythologie und

somit einem Märchen- und Sagenkreis entnommen, der matière de Bretagne, und es finden

sich auch noch genügend Anklänge und Elemente davon bei Gottfried. Dennoch

unterscheidet den hochhöfischen Tristanroman die komplexe Psychologisierung und die

Verlegung des Konfliktes auf die moralische und ethische Ebene in größtem Maße von

einem faszinierenden, aber zugegeben recht simplen Heldenbild nach Art eines Môrolf und

auch der dennoch schematischen Figur eines Rother. Im Tristan Gottfrieds erhebt sich der

listige Held zur unbestritten größten Komplexität und Widersprüchlichkeit, eigentlich

vergleichbar nur der Figur des Parzival, der die vollkommenste Inkarnation des anderen

bedeutenden Heldenbildes jener Epoche, dem barmherzigen Ritter nach Hartmannscher

329 Obwohl selbstverständlich das Genre der Schwankmärchen zeitlich später als das Zaubermärchen anzusetzen ist, zeigt doch etwa der Entstehungsraum des lateinischen Unibos und die ihm verwandte Figur des Bürle , daß mit hoher Wahrscheinlichkeit auch im deutschen Sprachraum mit ähnlichen Märchen zu rechnen ist. 330 Ich erinnere wiederum an die zuvor festgestellte „Verwandtschaft“ Môrolfs zum Oswalds-Raben, der eindeutig der Sphäre des Numinosen zugeordnet werden muß!

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Page 181: Die Unmoral des Intellekts

Prägung, darstellt. Der Figur des Tristan kann, insofern ihre (auch list-)motivlichen

Wurzeln durchaus dem mythologischen Fundus entstammen, in gewisser sublimierter

Weise ebenso eine entfernte Verwandtschaft zum listigen Helden des Volksmärchens

natürlich nicht ganz abgesprochen werden. Freilich entwickelt sich eben in der Figur des

Gottfriedschen Tristans der Grundtypus in höchst intellektueller und anspruchsvoller

Weise auch zum verfeinerten Bild des hochhöfischen Helden, es wäre vielleicht

angemessen, von der höchsten erreichten Sublimation eines Typs zu sprechen, die diesen

fast bis zur Unkenntlichkeit erweitert und bereichert. Über diese Stufe sollte die

Darstellung des listigen Helden in der mittelhochdeutschen Literatur eigentlich nicht mehr

hinauswachsen, denn beim Stricker sind bereits völlig andere Ansprüche maßgeblich.331

Im Daniel nämlich zeigt sich vornehmlich der didaktische Wert, den der Stricker seinem

listigen Helden zuweist: er liefert Handlungsmodelle, die gerade in ihrer eigentlich

vorhersehbaren Mechanik den Wert der prudentia besonders hervorheben. Daniel übertrifft

alle anderen, selbst die ausgezeichnetsten Ritter, durch den Einsatz seiner Klugheit. Ich

stimme Hedda Ragotzky zu, die speziell „die Verdeutlichung des sozialen

Leistungsvermögens von list“332 als zentrale didaktische Aussage des Artusromans

interpretiert. In der Auffassung Bralls zeigt sich ja zudem auch die praktisch abzuleitende

indirekte Aufforderung des Werkes an den Landadel, dem Territorialisierungsprozeß

entschlossen gemeinsam entgegenzutreten.333 Der Stricker weitet freilich, auf

unvergleichlich praxisbezogenerer Ebene als Gottfried, den Anspruch der prudentia aus,

331 Für Hartmut Semmler markiert der Tristan „genau die Grenze, die für die damalige psychologische Anthropologie nicht übersteigbar war.“ Daraus folgt für Semmler: „Da menschliche Triebe und Empfindungen in das Stufenmodell des Aufstiegs zur göttlichen Erkenntnis nicht sinnvoll integriert werden konnten, mußten sie als unberechenbare Macht des Bösen, als Folge des Sündenfalls erscheinen.“ Diese Interpretation, die sich, wie die ganze Arbeit Semmlers, natürlich hauptsächlich auf die theologisch-philosophische Diskussion spezialisiert und erst dann diese in Einklang mit der Epik jener Zeit zu bringen versucht, geht aber weit an der Darstellung der Liebe im Tristan-Roman Gottfrieds vorbei. Trotz aller ethischen Konflikte kann wohl im Zusammenhang mit der Liebe Tristans zu Isolde keineswegs von einer „Macht des Bösen“gesprochen werden! Auch die weitere Interpretation der späteren Epik (ab 1240) erscheint mir wenig überzeugend: Daß nämlich nun gerade dieses angeblich „unattraktive“ Heldenideal des listigen Helden ausgerechnet für den „Niedergang“ der gesamten höfischen Epik im späteren 13. Jahrhundert verantwortlich machen will, erscheint mir nicht nur überzogen, sondern schlichtweg als zu vereinfachend und daher falsch. Semmler behauptet in seiner abschließenden Zusammenfassung, „...daß ein solches Heldenideal für erzählende Dichtung denkbar unattraktiv“ sei, womit er spezifisch das neue Ideal einer „kontemplativen Tugend“anspricht. Dabei übersieht er aber nicht nur die außerliterarischen sozialen Veränderungen, die die intellektuellere Rezeptionsgemeinschaft eines Wolfram und Gottfried quasi aussterben oder verdünnen ließen, sondern auch, daß der Typus des listigen Helden eben nicht nur aufgrund der theologisch-philosophischen Diskussion der prudentia, sondern sicherlich primär wegen seiner offensichtlichen Akzeptanz und sogar Beliebtheit beim Publikum als neuer Heldentypus verwendet wurde. Alle Zitate vgl. Semmler, H.: Listmotive in der mittelhochdeutschen Epik. Zum Wandel ethischer Normen im Spiegel der Literatur. Berlin 1991. S.234f. 332 Ragotzky, H.: Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers.Tübingen 1981. S.80f. 333 Brall, H.: Strickers Daniel vom Blühenden Tal. Zur politischen Funktion späthöfischer Artusepik im Territorialisierungsprozeß. In: Euphorion 70 (1976). S. 222-257.

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Page 182: Die Unmoral des Intellekts

als rettendes Instrument im Alltäglichen zu dienen. Daniel, der im Vergleich zu Tristan

charakterlich schablonenhaft und unbestimmt bleibt, kann tatsächlich als Rollenmodell

gesehen werden; dieser didaktische Grundtenor zeigt sich auch im Vergleich mit dem

Iwein, insofern, als es im Daniel tatsächlich keinen persönlichen Konflikt des Helden,

keine „Entehrung“ und somit auch keinen doppelten cursus im Sinne einer Läuterung gibt.

In dieser Hinsicht erscheinen die einleitenden Worte des Strickers im Pfaffen Amis in

einem anderen Licht: das „mere/daz gut den lueten were/fur sorgen und vur armut“ (V9ff)

kann wohl nur im weitesten Sinne für den Pfaffen Amis gelten, umso mehr aber für den

Daniel.334 Zeitbedingt stellt sich auch das Publikum und dessen Anspruch bereits anders

dar als das des Straßburgers; der Verfeinerung und individualistischen Psychologisierung

des listigen Helden im Tristan folgt nun dessen Schematisierung und gewissermassen die

Darstellung der vorteilhaften Klugheit am Paradebeispiel Daniel, der durch einen Mangel

an individueller Charakterisierung auffällt. Auch als „Unterhaltungsroman“ war das Werk

des Strickers an ein späteres und signifikant breiteres Publikum gerichtet: Daniel entspricht

in vieler Hinsicht deshalb am konsequentesten dem Bild des listigen Helden, gerade weil er

in didaktischer Absicht überwiegend durch seine Fähigkeit zur List charakterisiert wird. So

wirken auch die einzelnen Episoden der Listanwendungen wie ein Konzentrat aus Listen

anderer listiger Helden aus Märchen und der antiken Mythologie. Um den Typus

eindringlicher darzustellen, verwendet der Stricker Motive der Perseus-Sage und der 334 Die hochkomplexe Untersuchung Hedda Ragotzkys zu eben diesen Versen im Amis mündet in der Folgerung, mit jenem mere könne nur das Werk, der Pfaffe Amis selbst, gemeint sein; „das Werkverständnis ist also konzipiert als ein Prozeß, in dem sich das Publikum der Bedingungen intakter Wertrealisierung erneut bewußt wird.“ Gerade im Hinblick auf die Thematisierung der list in Daniel und Amis stellt sich dennoch die Frage, ob dem Stricker nicht aber mit diesen Versen doch ein ironischer Seitenhieb auf die Niveaulosigkeit des Publikums zuzutrauen wäre, möglicherweise sogar im Zusammenhang mit seinem von eben diesem Publikum anscheinend eher wenig geschätzten Artusroman. Nimmt man tatsächlich den Amis als Antwort auf den Ruf des Publikums nach einem „mere /fur sorgen und vur armut“, so ergibt sich wie für Ragotzky die Notwendigkeit, dem Werk durch hochkomplizierte Interpretationshilfen ein „höchst anspruchsvolles literarisches Programm“ zuzusprechen. (Beide Zitate Ragotzky, H.:Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers. Tübingen 1981. S.146.) Ohne die Existenz eines solchen Programms jetzt verneinen zu wollen, scheint mir aber dennoch die Verbindung der Tatsache des geringen literarischen Erfolges des Daniel – der immerhin in seinem enormen didaktischen Anspruch ja tatsächlich eine Art von „Lebenshilfe“ darstellen sollte! - mit der Klage über das Desinteresse des Publikums zumindest als ein lohnendes Gedankenexperiment. Gerade die Tatsache, daß der Stricker nach seiner ersten großen Thematisierung der Nützlichkeit von list im Daniel eine derart ethisch ambivalente Figur wie den betrügerischen Amis als zweiten listigen Helden einführt, läßt aber meiner Meinung nach die Thematisierung von Didaxe und Publikum im Prolog des Amis in recht ironischem Licht erscheinen. Ragotzkys Interpretation der Werkaussage in Bezug auf die Eingangsverse hingegen spricht dem Roman den Anspruch zu, „diese Misere [der eigenen Gegenwart, Anm.] zu überwinden und damit der Verpflichtung des Lehrbildes gerecht zu werden. (...) Er [der Roman, Anm.] realisiert ihn, indem er das angemessene Werkverständnis als einen Erkenntnisprozeß entwirft, an dessen Ende sich das Publikum der Bedingungen intakter Wertrealisierung erneut bewußt geworden ist.“ (Ebd., S.167) So schlüssig diese Lösung auch dargestellt wird, meine ich doch, daß vielleicht ein gewisser Zusammenhang zwischen diesen Versen und dem Schicksal des Vorgängerwerkes nicht ohne weiteres von der Hand gewiesen werden kann. Natürlich wäre es verwegen, den gesamten Amis in diesem Zusammenhang als bewußte Antithese zum Daniel darstellen zu wollen, aber

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Page 183: Die Unmoral des Intellekts

Odyssee (etwa die Blendung des Riesen), aber auch vor allem die aus der Artusepik

bekannten Motive des Zaubermärchens. In gewisser Weise wird im Daniel, gerade durch

die schematisierende genaue Beleuchtung des Typus in möglichst vielen Beispielen, der

listige Held seinem Urbild in Sagen und Märchen motivlich wieder nähergebracht. Die

Sublimierung des listigen Helden in der beeindruckend genau gezeichneten Figur des

Tristan senkt sich zur Ausformulierung eines eigentlich wenig individuellen Typs, wie er

als „listiger Königssohn“ oder ähnliches im Volksmärchen bekannt ist.

Der Pfaffe Amis schließlich zeigt eine in der deutschen Literatur (abgesehen von der in

mancher Hinsicht ähnlichen Figur des Môrolf) neuartige Verwendung des Typen des

listigen Helden in einer völlig neuen Gattung. Mit dem ersten deutschen Schwankroman

begründet der Stricker die Darstellung eines Typs, die sich Jahrhunderte später in fast

direktem Anschluß an den Stricker in unzähligen Volksbüchern größter Beliebtheit

erfreuen wird: dem Schelm. Wiederum können die vereinzelten Helden des

Schwankmärchens als Maßstab angelegt werden, aber die epische Ausformulierung dieser

Motive zum strukturierten Gesamtbild des Pfaffen Amis muß dem Stricker als bedeutende

Leistung angerechnet werden. Obwohl der Pfaffe Amis kein eigentlicher Schelmenroman

ist – dagegen sprechen die epischen Qualitäten und die Komplexität der Aussage –, nimmt

er in der Ahnenreihe späterer Schelmen wie Neidhart Fuchs, dem Kahlenberger und

besonders Eulenspiegel den Ehrenplatz des frühen Vorgängers ein. Und mit dieser ethisch

so ambivalenten Figur gelangt der listige Held, der in den Volksmärchen seit jeher einen

bedeutenden Platz behauptete, im späteren Volksbuch wieder zu breitester Aufnahme bei

seinen Wurzeln: als Typus im kollektiven Unterbewußtsein der Allgemeinheit.

Die Entwicklung, die ich darzustellen versuchte, führt somit aus dem motivlichen Fundus

des Zauber- und Schwankmärchens über vorhöfische spielmännische Vermittlung zur

hochhöfischen Literatur, und danach, auch im Zuge einer veränderten

Rezeptionsgemeinschaft, über den Unterhaltungsroman zum Schwankroman und weiters

zum Volksbuch späterer Jahrhunderte. Vereinfachend könnte man vielleicht von einer

vorübergehenden Übernahme eines plötzlich von Interesse scheinenden Figurentyps in die

„Hochkultur“ sprechen, die diesen in veränderter Form später wieder an ein breiteres

Publikum abtritt. Denn in der Punktualität, in der in der Zeit um 1200 der Typus des

listigen Helden in der Epik so prominent verwendet wurde, zeigt sich auch die spezielle gerade in der Untersuchung der listigen Helden Daniel und Amis zeigt sich im Amis ein seltsam ironisierendes

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Page 184: Die Unmoral des Intellekts

Problematik einer sich politisch, sozial, kulturell und wirtschaftlich verändernden

Zivilisation, die vermehrt nach Lösungsansätzen für die unsichere Zukunft sucht. Ohne

jetzt die spätmittelalterliche Kulturkrise auf die Zeit des Auftretens des listigen Helden

reduzieren zu wollen, scheint doch eben die behandelte Zeitspanne einen großen Bedarf an

Reflexion (in der theologisch-philosophischen Diskussion) und Demonstration (in der

Literatur) des Themenkomplexes der prudentia gezeigt zu haben. Konträr zu den

behandelten Interpreten kann ich aus den erwähnten Gründen nicht die Vorlieben eines

„Bürgertums“ für diese Veränderung als akzeptabel ansehen; vielmehr neige ich sogar zur

gegenteiligen Annahme, daß nämlich eben der spätere Einfluß des Bürgertums auf die

literarische Produktion die vermehrte Darstellung „konventionellerer“ Heldentypen wieder

begünstigt haben könnte. Die Romantisierung der vergangenen „goldenen Zeitalter“ der

Heroik und des Rittertums, die sich ja auch im Adel späterer Zeiten in teils krausen

Auswüchsen präsentiert335, und die Neigung des höheren Bürgertums, sich nach Vorbild

eben dieses Adelsideals darstellen zu wollen, erscheinen mir als mögliche Motivationen für

die spätere vermehrte Rückkehr zum Heldenideal einer eindeutigeren Heroik – und somit

zur Unpopularität des Ideals des listigen Helden in der Epik – als nicht unplausibel.

Bild von der Nützlichkeit der Klugheit, die im Daniel noch auf das eindringlichste beschworen wurde. 335 Vgl. dazu die„neuhöfische Renaissance“ im 14. Jahrhundert; das Rittertum versuchte, seine Existenz durch gespieltes Wiederauflebenlassen seiner einstigen Größe noch Legitimation zu bewahren. So etwa die Gründung eines Stiftes Monsalvatsch in Ettal durch Ludwig den Bayern oder die begonnene Nachbildung eines Gralstempels in Prag durch den Luxemburger Karl IV. (Beispiele aus: Rupprich, H.:Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock. In:De Boor-Newald, Geschichte der dt. Literatur, Bd.IV, 1. -München 1970. - S.14.)

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Page 185: Die Unmoral des Intellekts

VI. Abschluß und Zusammenfassung

Es war das Ziel dieser Arbeit, den Typus des listigen Helden, wie er sich in der epischen

mittelhochdeutschen Literatur von ca. 1150-1240 als neues Heldenideal zeigt, vom König

Rother bis zum Pfaffen Amis zu untersuchen und zu beschreiben, sodann mögliche

Erklärungen für diese Veränderung des Heldenbildes aufzuzeigen und schließlich auch den

Wandel, dem auch dieses neue Bild unterworfen war, näher zu beleuchten. Durch die

Heterogenität der ausgewählten Epen in Genre, Anspruch und natürlich Entstehungs- und

Rezeptionszeit zeigt sich ein differenziertes Bild des Phänomens des listigen Helden,

wobei allerdings einige Unsicherheitsfaktoren (die umstrittene Datierung des Salmân und

Môrolf, der Fragmentcharakter des Gottfriedschen Tristan und die Ausnahmestellung des

Pfaffen Amis als erster, zunächst folgenloser Schwankroman) mit in Betracht gezogen

werden müssen. Obwohl die Untersuchung des relativ unvermittelt auftretenden und oft als

irritierend empfundenen neuen Heldenideals schon teilweise von der Germanistik in

Arbeiten zu den einzelnen Epen in unterschiedlichem Ausmaß und auch wechselnder

Qualität unternommen wurde, kann einzig auf Hartmut Semmlers Untersuchung als

weitere Arbeit mit breiterer Textgrundlage verwiesen werden, wobei hier das

Hauptaugenmerk auch spezifisch auf der angenommenen gegenseitige Beeinflussung der

theologisch-philosophischen Diskussion des Themas der prudentia und der Epik liegt.336

Bei aller Unterschiedlichkeit der angeführten Werke zeigt sich uns das Bild des listigen

Helden dann auch weniger in den vorab konstatierten Gemeinsamkeiten (wesensmäßig

zugeordnete Fähigkeit zu zweckrationalem Handeln, eindeutige Zentrierung der Handlung

auf den listigen Helden als Hauptfigur), als vielmehr in der fortschreitenden Abwandlung

dieses Typus, die als kontinuierliche Entwicklung interpretiert werden kann. Der älteste

listige Held der deutschen Epik, König Rother, stellt sich als idealer König auch und

besonders mit der Begabung zu politisch klugem Verhalten dar, wobei die Wichtigkeit des

consiliums und der politisch klugen Entscheidung besonders betont wird. List erscheint als

notwendiges Instrument in ansonsten schwierig zu lösenden Konfliktsituationen, ihre

richtige Anwendung gereicht dem Helden zu noch höherer Ehre. Ein signifikanter Abstand

trennt diesen ersten Vertreter dann schon vom mutmaßlich nächsten Protagonisten, dem

336 Um den unterschiedlichen Anspruch der Arbeit Semmlers weiters zu verdeutlichen, sei der Titel der Dissertation von 1989, die als Grundlage für die Untersuchung diente, genannt: im Titel „Triumph der Klugheit oder Blendwerk des Bösen? Die Darstellung der Listmotive in der mittelhochdeutschen Epik“ zeigt sich deutlicher die Betonung des ethisch-philosophischen Aspekts, dem in dieser Untersuchung weniger Raum gewidmet wurde.

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spielmännischen Helden des Salmân und Môrolf. Wohl bleibt der Hang zur „großen List“

im Sinne politisch klugen Handelns in den Grundelementen vorhanden, aber die jeder

Einordnung widerstrebende Figur des Môrolf zeigt sich in schwank- oder schelmenhafter

Manier vielmehr schon eher aus Neigung denn aus Notwendigkeit zur Listanwendung

bereit. Trotz des gänzlich anderen Anspruchs der beiden Spielmannsepen zeigen sich trotz

der späten Überlieferung und möglichen späteren Umbearbeitung des Salmân und Môrolf

doch Gemeinsamkeiten, die jenen fast abrupten Übergang doch als die wahrscheinlichste

Möglichkeit einer chronologischen Einordnung erscheinen lassen.

Im Salmân und Môrolf zeigt sich außerdem, besonders anschaulich im Vergleich zum

Oswald, erstmals in Anklängen das Phänomen der Umbewertung des ursprünglich

getrennten Gegensatzpaares von schlauem Diener und edlem Herren. Der Sprung vom

Raben des Oswald, der trotz aller Bedeutung, die er im Epos besitzt, dennoch nicht als

Hauptfigur bezeichnet werden kann, zu Môrolf, der seinen Widerpart Salmân an

Wichtigkeit bei weitem übertrifft, führt weiter zur Personalunion des gerissenen Helfers

mit der Figur des zentralen Helden des Werkes. Diese Synthese zeigt sich am

vollkommensten in der Figur des Tristan Gottfrieds, wobei auf die anders gestaltete

Funktionstrennung im Prosa-Tristan bereits verwiesen wurde.

Im Tristan zeigt sich auch anderweitig geschlossen die eindrucksvoll realisierte Synthese

zuvor besprochener Charakteristika anderer listiger Helden: zugleich in spielmännischer

Manier der List aus Neigung zugetan, ergibt sich die Notwendigkeit zu listigem Handeln

auf staatspolitischer, militärischer und gesellschaftlicher Ebene. Im Tristan Gottfrieds

erhebt sich die Figur des listigen Helden zu größter literarischer und psychologischer

Komplexität, ein Aspekt, der im Vergleich zur ausufernden, Bibliotheken füllenden

Interpretation der minne-Problematik relativ wenig von der Forschung beleuchtet wurde.

Zugleich zeigt sich das Phänomen der Überwindung der âventiure durch die planende List

des Helden; wie auch später bei Daniel läßt das sorgfältige Abwägen jeder Situation nur

mehr an wenigen Punkten die zufallhafte Fügung der âventiure als Motor der Handlung zu.

Daß diese vielleicht sogar als elementar zu bezeichnende Negation des Erzählmodells

âventiure mit großer Konsequenz das konträre Handlungsmodell überlegten, genau

vorausplanenden Agierens ins Zentrum der Geschichte stellt, ist ein Aspekt, der von der

Tristan-Forschung meines Wissens bisher eher stiefmütterlich behandelt wurde. Im listigen

Helden Tristan zeigt sich das individualistischste und ethisch sicher komplexeste Bild des

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Page 187: Die Unmoral des Intellekts

listigen Helden in der auch motivisch und darstellerisch reichsten Verwendung. In Tristan

und Parzival stehen sich somit nicht nur die größten und beeindruckendsten Werke der

hochhöfischen Epik sondern auch zwei grundverschiedene Heldentypen gegenüber: hier

der reine Tor Parzival, schlußendlich die Personifikation des barmherzigen Helden, und da

der spielmännisch-künstlerische Held Tristan, dessen Wesen List und Minnetragödie

bestimmen.

Von der Vielschichtigkeit und Größe des Gottfriedschen Meisterwerks ausgehend

müssen die listigen Helden des Stricker in ihrer Zeichnung eindimensional erscheinen;

natürlich zeigen sich aber im Daniel und auch im Pfaffen Amis die geänderten Ansprüche,

Absichten und Rezeptionsbedingungen des späteren Autors. Nun ist es der didaktische

Aspekt, der die List gleichsam von der Ebene des Herrschertugend eines Rother, der

dämonischen Listbefähigung eines Môrolf und der individuellen heroischen Persönlichkeit

eines Tristan auf die allgemein umdeutbare, konkreter Lebenshilfe ähnelnden Vorbildfigur

eines Daniel transferiert. Obwohl Daniel als perfekter Artusritter wohl übermenschlich

erscheinender Heldentaten fähig ist, zeigt sich, überdeutlich im list-Exkurs des Autors, die

konkrete Anleitung des Strickers, kluges und zweckrationales Handeln als Instrument zur

Lebensbewältigung zu begreifen. Die List wird, wohl im phantastischen Gewand des

Artusromans, auf die realisierbare Stufe alltäglicher Realität bezogen. Im Pfaffen Amis

zeigt sich diese didaktische Absicht in gänzlich anderem Licht, auch bedingt durch die, erst

später folgenreiche, beispiellose Erfindung der neuen Gattung des deutschen

Schwankromans. Unter der nur scheinbar harmlos-belustigenden Oberfläche des Werkes

verbergen sich allerdings interpretatorische Probleme, deren restlose Bewältigung wohl

noch nicht als letztendlich geglückt bezeichnet werden kann.337 Es wurde auch bereits auf

die unterschiedliche Zuordnung von Elementen der Listhandlung zu Amis und Daniel

erwähnt; während im Daniel objektbasierte Listen (etwa durch magische Gegenstände)

dominieren, zeigt sich im Pfaffen Amis ein dem Schwank angemessener Realismus, der

dafür das im Daniel nicht vertretene Handlungsmodell der Verkleidung favorisiert. Diese

sicherlich bewußte Zuordnung unterschiedlicher Mittel durch den Autor stellt m.E. auch

die didaktische Absicht und den sehr absichtsvollen und sicheren Umgang mit der Figur

des listigen Helden beim Stricker außer Frage.

337 Ähnlich dem Salmân und Môrolf, bei dem sich die grundsätzliche Frage nach der Datierung eigentlich aufgrund völlig konträrer Interpretation als Schelmenroman einerseits und als geradezu beispielhaftes Spielmannsepos andererseits erst sekundär stellt.

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Page 188: Die Unmoral des Intellekts

Tatsächlich kann aber in der schelmenhaften Figur des Pfaffen Amis der vorläufige

Endpunkt der kontinuierlichen Entwicklung des Typus „listiger Held“ vom nahezu

abstrakt-idealisierten Bild des Rother zum alltäglichen, realistischen Bild des durch List

überlegenen Menschen schlechthin gesehen werden. In dem Maß, in dem sich die

Protagonisten den sozial höchsten Schichten eines Königs über Westrom entfernen,

gewinnt die Darstellung des listigen Helden an Realismus und somit didaktischem Wert –

gleichzeitig nähert sich das dem Volksmärchen stets geläufige und bekannte Bild des

listigen Märchenhelden in verwandelter Form, anderem Genre und mit einer

Zeitverzögerung von zwei Jahrhunderten im Volksbuch in der direkten Tradition des

Pfaffen Amis wieder seinem eigentlichen Träger an, dem Volk selbst. Es wurde die

Möglichkeit angesprochen, daß sich im Verlauf dieser Veränderung des Typus

schlußendlich der nachmittelaterliche Schelmenroman als später, aber direkter „Erbe“ des

Figurentyps des listigen Helden der behandelten Zeit anbietet.

Gerade diese seltsam erscheinende Pause von beinahe zwei Jahrhunderten bis zur

Wiederaufnahme der kurzzeitig häufigeren Figur des listigen Helden kann auch als

Hinweis für die Unzulänglichkeit jener Interpretationen geltend gemacht werden, die ein

hypostasiertes „Bürgertum“ und seinen Aufschwung für das gesamte Phänomen des

listigen Helden um 1200 verantwortlich machen wollen. Während für die späteren

Volksbücher eine derartige Rezeptionsgemeinschaft sicherlich entscheidend war, so

scheint es bei den behandelten Werken doch eher die von Autor und adeligem Publikum

verspürte Relevanz des Themas der prudentia gewesen sein, die in Zeiten der beginnenden

sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Umwandlung als Notwendigkeit zur

Bewältigung von zuerst politischen und schließlich auch alltäglichen Konflikten erkannt

und thematisiert wurde.

Im Auftreten des Typus des listigen Helden in den behandelten Epen zeigt sich somit ein

geistesgeschichtliches Phänomen, das als von den unterschiedlichsten Faktoren bedingt

und beeinflußt beschrieben werden kann. Es spricht für die zeitlose, archetypische

Gültigkeit dieser Figur, daß sie sowohl vor dem behandelten Zeitraum – im Mythos, der

Antike, Märchen und Sagen – als auch danach in wechselnder Gestalt bis zum heutigen

Tag nichts von ihrer Attraktivität und Faszination eingebüßt hat.

188

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