Mathematik E 3
Agnes Lamacz
Material fur das Wintersemester 2017/2018
Inhaltsverzeichnis
1 Fourierreihen und Integraltransformationen 5
1.1 Fourierreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51.1.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51.1.2 Trigonometrische Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61.1.3 Punktweise und gleichmaßige Konvergenz . . . . . . . . . . . . . . . . 121.1.4 Gibbsches Phanomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171.1.5 Beliebige Perioden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181.1.6 Approximation durch trigonometrische Polynome . . . . . . . . . . . 191.1.7 Vollstandigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
1.2 Fourier-Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241.2.1 Definition und Eigenschaften der Fourier-Transformation . . . . . . 251.2.2 Das Faltungsprodukt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311.2.3 Die inverse Fourier-Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341.2.4 Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
1.3 Die Laplace-Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451.3.1 Definition und Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451.3.2 Rechenregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491.3.3 Bestimmung der inversen Laplace-Transformierten . . . . . . . . . . 551.3.4 Asymptotische Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
2 Gewohnliche Differentialgleichungen 59
2.1 Gewohnliche Differentialgleichungen 1.Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . 592.1.1 Lineare Differentialgleichungen 1. Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . 602.1.2 Differentialgleichungen mit getrennten Variablen . . . . . . . . . . . 65
2.2 Lineare Differentialgleichungen 2. Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692.2.1 Der Losungsraum einer linearen Differentialgleichung . . . . . . . . . 692.2.2 Lineare Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten . . . . 742.2.3 Reduktion der Ordnung nach d’Alembert . . . . . . . . . . . . . . . . 772.2.4 Die inhomogene Gleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 792.2.5 Spezielle Ansatze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
2.3 Reihenlosungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
2.4 Lineare Systeme 1. Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 872.4.1 Lineare homogene Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 892.4.2 Lineare inhomogene Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 912.4.3 Systeme mit konstanten Koeffizienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 932.4.4 Losung von Systemen mit der Laplacetransformation . . . . . . . . . 104
3 Funktionentheorie 105
3
3.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
3.2 Holomorphe Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
3.3 Analytische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
3.4 Die Cauchy’sche Integralformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1213.4.1 Komplexe Kurvenintegrale und Stammfunktionen . . . . . . . . . . . 1213.4.2 Der Satz von Cauchy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1263.4.3 Der komplexe Logarithmus als Stammfunktion von 1
z . . . . . . . . . 1293.4.4 Die Integralformel von Cauchy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
3.5 Laurent-Reihen und Residuenkalkul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1333.5.1 Isolierte Singularitaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1333.5.2 Laurent-Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1353.5.3 Der Residuensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1383.5.4 Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
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1 Fourierreihen undIntegraltransformationen
1.1 Fourierreihen
1.1.1 Einleitung
Periodische Vorgange spielen in vielen Bereichen der Ingenieurwissenschaften eine bedeu-tende Rolle, z.B. in der Elektrotechnik und der Signalverarbeitung.
Definition 1.1.1. Eine Funktion f ∶ R→ C heißt periodisch mit Periode L > 0, falls
f(x +L) = f(x) fur alle x ∈ R.
Wir bemerken, dass eine L-periodische Funktion auch periodisch mit den Perioden 2L,3L,4L, . . .ist. Die wichtigsten Beispiele periodischer Funktionen sind die Sinus- und Kosinusschwingungen,
f(x) = sin(kx) bzw. g(x) = cos(kx)
mit k ∈ N0, die bekanntliche periodisch mit Periode 2π sind. Die Theorie der Fourier-Reihen befasst sich nun mit der Frage, ob man eine beliebige 2π-periodische Funktionu ∶ R → C als Uberlagerung (auch: Superposition) von Sinus- und Kosinusfunktionendarstellen, also in der Form
u(x) = a0
2+
∞∑k=1
ak cos(kx) + bk sin(kx), ak, bk ∈ C, (1.1)
schreiben kann. Reihen der obigen Form werden Fourier-Reihen genannt.
Bemerkung: Eine mit Periode L periodische Funktion f lasst sich leicht zu einer 2π-periodischen Funktion modifizieren: Die Funktion f(x) ∶= f (x L
2π) ist 2π-periodisch. Es ist
also kein Verlust an Allgemeinheit, wenn wir uns im Folgenden nur mit 2π-periodischenFunktionen beschaftigen.
Eine Darstellung wie in (1.1) hat z.B. Vorteile beim Losen bestimmter Differentialglei-chungen:
Anwendung: Die Auslenkung u(x, t) einer an beiden Enden fest eingespannten Saite derLange 2π wird durch die partielle Differentialgleichung
∂2u
∂t2= c2∂
2u
∂x2
mit einem c > 0 beschrieben. Es seien die Randbedingungen
u(0, t) = u(2π, t) = 0 ∀t > 0
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und die Anfangsbedingungen
u(x,0) = u0(x) und ut(x,0) = v0(x)
gegeben. Diese Differentialgleichung lasst sich im Allgemeinen nicht so ohne Weiteresexplizit losen. Im Spezialfall u0(x) = sin(kx) und v0 = 0 lasst sich die Losung uk abersofort hinschreiben, namlich
uk(x, t) = sin(kx) cos(ckt), k ∈ N0. (1.2)
Falls man nun die Anfangswerte als Uberlagerung von Sinusschwingungen darstellen kann,also als
u(x,0) = u0(x) =∞∑k=1
ak sin(kx),
so ergibt sich die Losung mit diesen Anfangswerten u0 und v0 = 0 als Uberlagerung derLosungen aus (1.2), d.h.
u(x, t) =∞∑k=1
ak sin(kx) cos(ckt).
1.1.2 Trigonometrische Reihen
Wir wenden uns nun der Frage zu, wie man die Koeffizienten ak, bk in der Fourier-Reihe(1.1) bestimmt.
Definition 1.1.2 (Trigonometrische Polynome und Reihen).
i) Eine Funktion der Form
TN(x) = a0
2+
N
∑k=1
ak cos(kx) + bk sin(kx), ak, bk ∈ C, (1.3)
oder in komplexer Schreibweise
TN(x) =N
∑k=−N
ckeikx, ck ∈ C (1.4)
heißt trigonometrisches Polynom.
ii) Eine Funktion der Form
T (x) = a0
2+
∞∑k=1
ak cos(kx) + bk sin(kx), ak, bk ∈ C, (1.5)
oder in komplexer Schreibweise
T (x) =∞∑k=−∞
ckeikx, ck ∈ C (1.6)
heißt trigonometrische Reihe.
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Zur Erinnerung: Die Reihe (1.5) konvergiert, wenn die Folge der Partialsummen
SN(x) ∶= a0
2+
N
∑k=1
ak cos(kx) + bk sin(kx)
konvergiert. In diesem Fall setzen wir T (x) ∶= limN→∞ SN(x). Entsprechend konvergiertdie Reihe (1.6), wenn die Folge der Partialsummen SN(x) ∶= ∑Nk=−N ckeikx konvergiert.
Zwischen den komplexen Zahlen ak, bk und ck besteht der folgende Zusammenhang. Nachder Eulerschen Formel eix = cos(x) + i sin(x) gilt fur k ∈ N0
ckeikx + c−ke−ikx = (ck + c−k) cos(kx) + i(ck − c−k) sin(kx),
also
a0 = 2c0, ak = ck + c−k, bk = i(ck − c−k), k ∈ N (1.7)
und umgekehrt
c0 =a0
2, ck =
1
2(ak − ibk), c−k =
1
2(ak + ibk), k ∈ N. (1.8)
Die beiden Formen (1.3) und (1.4) sind also aquivalent. (1.3) kann in (1.4) uberfuhrtwerden und umgekehrt. Analoges gilt fur (1.5) und (1.6).
Fur m,n ∈ N0 gelten die folgende Orthogonalitatsrelationen
∫π
−πcos(nx) cos(mx)dx = 1
2 ∫π
−π(cos((n −m)x) + cos((n +m)x)dx = 0, m ≠ n (1.9)
∫π
−πsin(nx) sin(mx)dx = 1
2 ∫π
−π(cos((n −m)x) − cos((n +m)x)dx = 0, m ≠ n (1.10)
∫π
−πcos(nx) sin(mx)dx = 1
2 ∫π
−π(sin((n +m)x) − sin((n −m)x)dx = 0, (1.11)
sowie
∫π
−πcos2(nx)dx = π, ∫
π
−πsin2(nx)dx = π. (1.12)
In der komplexen Schreibweise lauten die Orthogonalitatsrelationen fur k, l ∈ Z
∫π
−πeikte−ilt dt = ∫
π
−πei(k−l)t dt = 2πδkl. (1.13)
Mittels obiger Relationen lassen sich die Koeffizienten trigonometrischer Polynome undReihen leicht angeben.
Multiplizieren wir (1.3) mit cos(nx) bzw. sin(nx) und integrieren anschließend von −πbis π, so folgt mit den Orthogonalitatsrelationen (1.9) - (1.11)
an =1
π ∫π
−πTN(x) cos(nx)dx, n = 0,1, . . . ,N (1.14)
und
bn =1
π ∫π
−πTN(x) sin(nx)dx, n = 1, . . . ,N. (1.15)
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Analog erhalt man mit (1.12)
cl =1
2π ∫π
−πTN(x)e−ilx dx, l = −N, . . . ,N. (1.16)
Unter der Voraussetzung der gleichmaßigen Konvergenz gelten die obigen Formeln auchfur trigonometrische Reihen.
Satz 1.1.3. Wenn die trigonometrische Reihe (1.5) gleichmaßig auf [−π,π] konvergiert,so ist T eine 2π-periodische Funktion, und es gilt
an =1
π ∫π
−πT (x) cos(nx)dx, bn =
1
π ∫π
−πT (x) sin(nx)dx.
Beweis. Gleichmaßig konvergente Reihen konnen gliedweise integriert werden. Es folgt
∫π
−πT (x) cos(nx)dx = ∫
π
−πlimN→∞
SN(x) cos(nx)dx = limN→∞∫
π
−πSN(x) cos(nx)dx (1.14)= πan,
und analog
∫π
−πT (x) sin(nx)dx (1.15)= πbn.
Dieses Resultat legt die folgende Definition nahe.
Definition 1.1.4. Die Funktion f ∶ R→ C sei 2π-periodisch und auf [−π,π] integrierbar.Die Zahlen
ak = 1
π ∫π
−πf(x) cos(kx)dx, k ∈ N0 (1.17)
bk = 1
π ∫π
−πf(x) sin(kx)dx, k ∈ N (1.18)
heißen die Fourierkoeffizienten von f . Die Summe
SN(f ;x) ∶= a0
2+
N
∑k=1
ak cos(kx) + bk sin(kx)
heißt N-te Fourier-Partialsumme von f und die Reihe
Tf(x) ∶= a0
2+
∞∑k=1
ak cos(kx) + bk sin(kx)
heißt Fourierreihe von f . Entsprechend heißen die Zahlen
ck =1
2π ∫π
−πf(x)e−ikx dx, k ∈ Z (1.19)
komplexe Fourierkoeffizienten von f . Die Summe
SN(f ;x) ∶=N
∑k=−N
ckeikx
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heißt N-te komplexe Fourier-Partialsumme von f und die Reihe
∞∑k=−∞
ckeikx
heißt komplexe Fourierreihe von f . Die Koeffizienten ak, bk und ck lassen sich gemaß(1.7)-(1.8) ineinander umrechnen.
Warnung: Die Fourierreihe in Definition 1.1.4 ist rein formal! Insbesondere ist die Kon-vergenz der Reihe nicht garantiert und der Grenzwert (falls vorhanden) nicht notwendi-gerweise f . Wir werden die Frage der Konvergenz etwas spater behandeln.
Bemerkung 1.1.5. Sei f eine Funktion wie in Definition 1.1.4.
i) Fur jedes x0 ∈ R ist
∫π
−πf(x)dx = ∫
π+x0
−π+x0f(x)dx.
Tatsachlich gilt
∫π+x0
−π+x0f(x)dx = ∫
−π
−π+x0f(x)dx + ∫
π+x0
−πf(x)dx = ∫
−π
−π+x0f(x + 2π)dx + ∫
π+x0
−πf(x)dx
= ∫π
π+x0f(x)dx + ∫
π+x0
−πf(x)dx = ∫
π
−πf(x)dx.
Insbesondere kann fur die Berechnung der Fourierkoeffizienten statt uber [−π,π]uber jedes andere Intervall der Lange 2π integriert werden, denn die Funktionenf(x) cos(kx) und f(x) sin(kx) bzw. f(x)e−ikx sind ebenfalls 2π-periodisch und auf[−π,π] integrierbar.
ii) Jede Funktion g ∶ [−π,π) → C kann wie folgt zu einer 2π-periodischen Funktion aufganz R fortgesetzt werden
g(x) ∶= g(x − 2πk) fur x ∈ [(2k − 1)π, (2k + 1)π) und k ∈ Z. (1.20)
Eine 2π-periodische Funktion ist daher durch ihre Werte auf dem Intervall [−π,π)eindeutig bestimmt.
Wir wollen nun die Spezialfalle gerader, ungerader und reeller Funktionen betrachten.
Lemma 1.1.6. Sei f eine Funktion wie in Deifinition 1.1.4.
i) Ist f gerade, d.h. f(−x) = f(x), so sind alle bk = 0 und fur die ak gilt
ak =2
π ∫π
0f(x) cos(kx)dx, k ∈ N0 .
Die Fourier-Reihe ist also eine reine Kosinus-Reihe, d.h.
Tf(x) = a0
2+
∞∑k=1
ak cos(kx).
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ii) Ist f ungerade, d.h. f(−x) = −f(x), so sind alle ak = 0 und fur die bk gilt
bk =2
π ∫π
0f(x) sin(kx)dx, k ∈ N .
In diesem Fall ist die Fourier-Reihe also eine Sinus-Reihe, d.h.
Tf(x) =∞∑k=1
bk sin(kx).
iii) Ist f reellwertig, also f(x) ∈ R fur alle x ∈ R, so sind ak, bk ∈ R und es gilt ck =12(ak + ibk) = c−k sowie √
a2k + b2
k = 2∣ck∣ = 2∣c−k∣.
Ferner giltak cos(kx) + bk sin(kx) = 2∣ck∣ cos(kx + arg ck).
Die Folge (2∣ck∣)k∈Z heißt Amplitudenspektrum, die Folge (arg ck) Phasenspektrum.
Beweis. Zu i) und ii): Der Cosinus ist eine gerade, der Sinus eine ungerade Funktion. DasIntegrationsintervall [−π,π] ist symmetrisch bzgl. 0. Die Behauptung ergibt sich dann auseiner elementaren Anwendung der Substitutionsregel.
Behauptung iii) folgt aus den Relationen (1.7), da im Fall reellwertiger Funktionen dieFourierkoeffizienten ak und bk reell sind.
Vorsicht: Nicht jede Funktion ist gerade oder ungerade.
Beispiel 1 f(x) ∶= ex, −π ≤ x < π ist weder gerade noch ungerade.
Es gilt jedoch:
a) Das Produkt von zwei geraden Funktionen ist eine gerade Funktion.
b) Das Produkt von zwei ungeraden Funktionen ist eine gerade Funktion.
c) Das Produkt einer geraden Funktion und einer ungeraden Funktion ist eine ungeradeFunktion.
Beispiel 2 Sagezahnkurve (Kippspannung). Sei
f(x) ∶= x fur − π ≤ x < π.
Die Funktion f bzw. ihre 2π-periodische Fortsetzung besitzt in x = kπ mit k ∈ Z ungeradeSprungstellen und ist ungerade. Daher gilt ak = 0 ∀ k ∈ N0 und
bk =2
π ∫π
0x sin(kx)dx = 2
π[(−1/k)x cos(kx)]π0 + (1/k)∫
π
0cos(kx)dx
= 2
π[(−1/k)x cos(kx) + (1/k2) sin(kx)]π
0= 2
π−πk(−1)k = −2
k(−1)k = 2
k(−1)k+1 ∀ k ∈ N ,
so dass die Fourierreihenentwicklung von f folgendermaßen lautet:
Tf(x) =∞∑k=1
2
k(−1)k+1 sin(kx).
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Fur die komplexen Fourierkoeffizienten ck gilt, fur k ≠ 0,
ck = 1
2π ∫π
−πxe−ikx dx = 1
2π([xe
−ikx
−ik]π
−π+ 1
ik ∫π
−πe−ikx dx)
= i cos(kπ)k
= i(−1)kk
.
Fur k = 0 erhalten wir
c0 =1
2π ∫π
−πxdx = 0.
Also lautet die Fourierreihe von f in komplexer Schreibweise
Tf(x) =∞∑k=−∞k≠0
(−1)kik
eikx.
Wegen Tf(π) = 0 /= −π = f(π) zeigt dieses Beispiel, dass die Fourierreihe nicht in jedemPunkt gegen den Funktionswert konvergiert.
Beispiel 3 Seif(x) ∶= ∣x∣ fur − π ≤ x < π.
Die periodische Fortsetzung von f ist stetig und gerade. Es folgt bk = 0 ∀ k ∈ N,
a0 =2
π ∫π
0∣x∣ dx = 2
π ∫π
0x dx = π
und fur k ∈ N
ak = 2
π ∫π
0∣x∣ cos(kx) dx
= 2
π ∫π
0x cos(kx) dx
= 2
π([x1
ksin(kx)]
π
0
− 1
k ∫π
0sin(kx) dx)
= 2
π[ 1
k2cos(kx)]
π
0
= 2
π( 1
k2((−1)k − 1))
= 2
πk2
⎧⎪⎪⎨⎪⎪⎩
0 falls k gerade
−2 falls k ungerade.
Damit erhalten wir die Fourierreihe
Tf(x) = π2+ 2
π
∞∑k=1
( 1
k2((−1)k − 1)) cos(kx) = π
2− 4
π
∞∑`=0
1
(2` + 1)2cos((2` + 1)x).
Beispiel 4 Wir bestimmen die komplexe Fourierreihe von
f(x) = 1
2 − eix.
11
Es ist
f(x) = 1
2
1
1 − eix/2.
Wegen ∣eix/2∣ = 1/2 < 1 kann die Summenformel fur die geometrische Reihe benutzt wer-den. Es folgt
f(x) = 1
2
∞∑k=0
(eix
2)k
=∞∑k=0
1
2k+1eikx.
1.1.3 Punktweise und gleichmaßige Konvergenz
Wir untersuchen nun, inwieweit die Fourierreihe punktweise bzw. gleichmaßig konvergiert.Außerdem wollen wir im Fall der Konvergenz den Grenzwert bestimmen. Dazu benotigenwir zwei wichtige Lemmata.
Lemma 1.1.7 (Der Dirichlet-Kern). Sei f ∶ R → C eine 2π-periodische, auf [−π,π]integrierbare Funktion und SN(f ;x) die N-te Fourier-Partialsumme von f . Dann gilt
SN(f ;x) = 1
π ∫π
−πf(y)σN(y − x)dy
mit dem geraden, stetigen, 2π-periodischen Dirichlet-Kern
σN(x) ∶= 1
2+
N
∑k=1
cos(kx) =⎧⎪⎪⎨⎪⎪⎩
sin((N+ 12)x)
2 sin(x/2) fur x ∉ 2πZ,12 +N sonst.
(1.21)
Die letzte Gleichheit in Formel (1.21) lasst sich z.B. durch vollstandige Induktion beweisen.
Beweis von Lemma 1.1.7. Mit den Formeln fur die Fourier-Koeffizienten und dem Addi-tionstheorem fur die Kosinus-Funktion folgt
SN(f ;x) = a0
2+
N
∑k=1
(ak cos(kx) + bk sin(kx))
= 1
π ∫π
−πf(y)1
2+
N
∑k=1
(cos(ky) cos(kx) + sin(ky) sin(kx))dy
= 1
π ∫π
−πf(y)1
2+
N
∑k=1
cos(k(y − x))dy .
Nach Multiplikation mit sin (y−x2
) erhalten wir fur die Summe (setze z ∶= y − x)
(1
2+
N
∑k=1
cos(kz)) sin(z2) = 1
2sin(z
2) +
N
∑k=1
cos(kz) sin(z2)
= 1
2sin(z
2) +
N
∑k=1
(sin((k + 1
2) z) − sin((k − 1
2) z))
= 1
2sin(z
2) +
N
∑k=1
(sin(((k + 1) − 1
2) z) − sin((k − 1
2) z))
= 1
2sin((N + 1
2) y) ,
wobei wir in der zweiten Zeile das Additionstheorem fur den Sinus verwendet haben.
12
Lemma 1.1.8 (Riemannsches Lemma). Es sei [a, b] ⊂ [−π,π] und ψ ∶ [a, b] → C, stuck-weise stetig, d.h. es existiere eine Zerlegung a = x0 < x1 < ⋅ ⋅ ⋅ < xm = b des Intervalls [a, b]und stetige Funktionen ψj ∶ [xj−1, xj] → C (mit einseitigen Grenzwerten der Funktion amRand), so dass ψ(x) = ψj(x) fur xj−1 < x < xj. Dann gilt
limn→∞∫
b
aψ(x) cos(nx)dx = 0 und lim
n→∞∫b
aψ(x) sin(nx)dx = 0.
Wir werden den Beweis des Riemannschen Lemmas etwas spater in Kapitel 1.1.7 fuhren.
Zunachst beschaftigen wir uns mit der punktweisen Konvergenz der Fourier-Reihe. MitHilfe obiger Lemmata werden wir zeigen, dass die Fourierreihe stuckweise stetig differen-zierbarer Funktionen konvergiert (nicht zwangslaufig gegen f , siehe Satz 1.1.10 unten).
Definition 1.1.9. Eine 2π-periodische Funktion f ∶ R → C heißt stuckweise stetig diffe-renzierbar, wenn es eine Zerlegung
−π = x0 < x1 < x2 < ⋅ ⋅ ⋅ < xm = π
des Intervalls [−π,π] und stetig differenzierbare Funktionen fj ∶ [xj−1, xj] → C gibt (miteinseitigen Grenzwerten der Funktion und der Ableitung am Rand), so dass f(x) = fj(x)fur xj−1 < x < xj.
Fur die links- und rechtsseitigen Grenzwerte von f im Punkt x ∈ [−π,π] schreiben wir
f(x−) ∶= limh→0,h<0
f(x + h) und f(x+) ∶= limh→0,h>0
f(x + h).
Dabei gilt wegen der Periodizitat von f , dass f(π+) = f((−π)+) sowie f((−π)−) = f(π−).Fur die links- und rechtseitigen Ableitungen schreiben wir
f ′(x−) = limh→0,h<0
f(x + h) − f(x−)h
und f ′(x+) = limh→0,h>0
f(x + h) − f(x+)h
.
Ist f im Punkt x stetig, so gilt f(x−) = f(x+) = f(x). Ist f in x differenzierbar, so giltf ′(x−) = f ′(x+) = f ′(x). Eine 2π-periodische stuckweise stetig differenzierbare Funktionist auf [−π,π] integrierbar.
Satz 1.1.10 (Konvergenz der Fourier-Reihe). Sei f ∶ R → C eine 2π-periodische, stuck-weise stetig differenzierbare Funktion. Dann konvergiert die Fourierreihe von f in jedemPunkt x ∈ [−π,π] gegen den Mittelwert aus linksseitigem und rechtsseitigem Grenzwert,
limN→∞
SN(f ;x) = 1
2(f(x+) + f(x−)). (1.22)
Bemerkung 1.1.11. Sei f ∶ R→ C wie in Satz 1.1.10.
i) Ist f im Punkt x stetig, so konvergiert die Fourierreihe gegen f(x).
ii) Ist insbesondere f auf R stetig, so konvergiert die Fourierreihe uberall gegen f .
13
Beweis von Satz 1.1.10. Wir schreiben die N -te Fourier-Partialsumme von f mit Hilfedes Dirichlet-Kerns aus (1.21),
SN(f ;x) = 1
π ∫π
−πf(y)σN(y − x)dy
= 1
π ∫π+x
−π+xf(y)σN(y − x)dy
= 1
π ∫x
−π+xf(y)σN(y − x)dy + 1
π ∫x+π
xf(y)σN(y − x)dy,
wobei wir in der zweiten Zeile die 2π-Periodizitat von σN ausgenutzt haben. Substituierenwir im ersten Integral z ∶= x − y und im zweiten z ∶= y − x, so erhalten wir
SN(f ;x) = 1
π(−∫
0
πf(x − z)σN(−z)dz + ∫
π
0f(x + z)σN(z)dz)
= 1
π(∫
π
0f(x − z)σN(z)dz + ∫
π
0f(x + z)σN(z)dz) ,
(1.23)
da σN gerade ist. Wegen σN(y) = 12 +∑
Nk=1 cos(ky) ergibt sich
∫π
0σN(y)dy = π
2
und somit
1
2(f(x+) + f(x−)) = 1
π(f(x+) + f(x−))∫
π
0σN(y)dy
= 1
π(∫
π
0f(x+)σN(y)dy + ∫
π
0f(x−)σN(y)dy) .
Damit folgt, unter Verwendung von (1.23),
SN(f ;x) − 1
2(f(x+) + f(x−))
= 1
π ∫π
0(f(x − y) − f(x−))σN(y)dy + 1
π ∫π
0(f(x + y) − f(x+))σN(y)dy
= 1
π ∫π
0
f(x − y) − f(x−)2 sin(y/2)
sin((N + 1/2)y)dy + 1
π ∫π
0
f(x + y) − f(x+)2 sin(y/2)
sin((N + 1/2)y)dy
= 1
π ∫π
0
f(x − y) − f(x−)y
y
2 sin(y/2)sin((N + 1
2)y)dy
+ 1
π ∫π
0
f(x + y) − f(x+)y
y
2 sin(y/2)sin((N + 1
2)y)dy
Weil f nach Voraussetzung stuckweise stetig differenzierbar ist, sind die Funktionen
y ↦ f(x − y) − f(x−)y
und y ↦ f(x + y) − f(x+)y
(1.24)
stuckweise auf [0, π] stetig. Insbesondere existieren die Grenzwerte y → 0. Damit sindauch die Funktionen
ψ(y) = f(x − y) − f(x−)y
⋅ y
2 sin(y/2),
φ(y) = f(x + y) − f(x+)y
⋅ y
2 sin(y/2).
14
stuckweise auf [0, π] stetig, da der Limes limy→0y
2 sin(y/2) = 1 existiert. Ferner gilt
∫π
0ψ(y) sin((N + 1
2)y)dy = 2∫π/2
0ψ(2z) sin((2N + 1)z)dz,
∫π
0φ(y) sin((N + 1
2)y)dy = 2∫π/2
0φ(2z) sin((2N + 1)z)dz.
Laut Riemannschem Lemma konvergieren die obigen Terme fur N →∞ gegen 0. Es folgt
SN(f ;x) − 1
2(f(x+) + f(x−))
= 1
π ∫π
0ψ(y) sin((N + 1
2)y)dy +1
π ∫π
0φ(y) sin((N + 1
2)y)dyN→∞→ 0.
Warnung: Die Stetigkeit von f reicht nicht aus, damit die Fourierreihe konvergiert: Esgibt stetige Funktionen, deren Fourierreihe an vielen Stellen gar nicht konvergiert! DieZusatzvoraussetzung, dass f stuckweise stetig differenzierbar ist, ist wesentlich fur dieKonvergenz der Fourierreihe
Wir wenden uns nun der Frage zu, wann die Fourierreihe gleichmaßig konvergiert.
Beobachtung: Da der Grenzwert einer gleichmaßig konvergenten Folge stetiger Funktio-nen stetig ist, kann die Fourierreihe von f hochstens dann gleichmaßig gegen f konver-gieren, wenn f stetig ist, insbesondere muss f(−π) = f(π) gelten.
Satz 1.1.12. Es sei f ∶ R → C eine 2π-periodische Funktion. Weiterhin sei f stuckweisestetig differenzierbar und auf ganz R stetig. Dann konvergiert die Fourierreihe von fabsolut und auf jedem kompakten Intervall gleichmaßig gegen f .
Fur den Beweis verweisen wir auf das Buch von Klemens Burg [?].
Beispiel 5 (Sagezahnkurve) Sei
f(x) = x fur − π ≤ x < π.
Laut Beispiel 2 gilt
Tf(x) = 2(sinx − 1
2sin 2x + 1
3sin 3x −⋯) .
Die (periodische Fortsetzung dieser) Funktion ist stuckweise stetig differenzierbar unddie Fourierreihe konvergiert punktweise gegen f(x) fur x ∈ (−π,π). In den Randpunktenx = ±π erhalten wir die punktweise Konvergenz gegen den Mittelwert,
1
2(f(π+) + f(π−)) = 1
2(f((−π)+) + f((−π)−)) = 0.
Selbst wenn wir die Sagezahnkurve in den Randpunkten anpassen, also
f(x) ∶=⎧⎪⎪⎨⎪⎪⎩
x fur − π < x < π0 fur x = −π
15
betrachten, ist die Konvergenz der Fourierreihe nicht gleichmaßig, denn f ist ja nichtstetig.
Beispiel 6 Rechteckfunktion Sei
f(x) ∶=
⎧⎪⎪⎪⎪⎨⎪⎪⎪⎪⎩
−1 fur − π ≤ x < 0,
1 fur 0 < x < π,0 fur x = 0.
Weil die Funktion ungerade ist, ist die Fourierreihe eine Sinusreihe. Wir erhalten
Tf(x) = 4
π(sinx + 1
3sin 3x + 1
5sin 5x +⋯) .
Da f stuckweise stetig differenzierbar ist, konvergiert die Fourierreihe punktweise. Furx ∈ (−π,π) entspricht der Grenzwert dem Funktionswert, da in der Unstetigkeitsstellex = 0 auch 1
2(f(0+) + f(0−)) = 0 = f(0) gilt. In den Randpunkten x = ±π erhalten wir dieKonvergenz gegen den Mittelwert. Insbesondere folgt fur x = π/2 die Leibnizsche Reihe
π
4= 1 − 1
3+ 1
5−⋯.
Beispiel 7 (vgl. Beispiel 3) Sei f(x) = ∣x∣ fur −π ≤ x < π. Die Fourierreihe ist eine reineCosinusreihe,
f(x) = π2− 4
π(cosx + 1
32cos(3x) + 1
52cos(5x)) +⋯) .
Da die periodische Fortsetzung von f stuckweise stetig differenzierbar und auf ganz Rstetig ist, konvergiert die Fourierreihe sogar gleichmaßig gegen f . Fur x = 0 bekommenwir die Formel
1 + 1
32+ 1
52+ 1
72+⋯ = π
2
8.
Beispiel 8 Sei f(x) = x2 fur −π ≤ x < π. Die Fourierreihe ist eine reine Cosinusreihe,
f(x) = π2
3+ 4
∞∑k=1
(−1)k 1
k2cos(kx).
Fur x = 0 ergibt sich
1 − 1
22+ 1
32− 1
42+⋯ = −
∞∑k=1
(−1)k 1
k2= π
2
12.
und fur x = ππ2 = π
2
3+ 4
∞∑k=1
1
k2⇔ π2
6=
∞∑k=1
1
k2.
Unter geeigneten Annahmen lassen sich Fourierreihen gliedweise integrieren und differen-zieren.
16
Satz 1.1.13 (Differentiation und Integration von Fourierreihen). Die Funktion f ∶ R→ Csei 2π-periodisch und auf ganz R stetig. Sei
Tf(x) = a0
2+
∞∑k=1
ak cos(kx) + bk sin(kx)
die zu f assoziierte Fourierreihe.
i) Die gliedweise integrierte Reihe
F (x) ∶= a0
2x +
∞∑k=1
akk
sin(kx) − bkk
cos(kx) (1.25)
ist fur jedes x ∈ R konvergent, die Funktion F ist auf R differenzierbar und esgilt F ′(x) = f(x). Falls a0 = 0, ist die Funktion F 2π-periodisch und (1.25) ihreFourierreihe (mit a0 = 0).
ii) Falls f stuckweise stetig differenzierbar ist, so besitzt die stuckweise gebildete Ablei-tung f ′ die Fourierreihe
Tf ′(x) =∞∑k=1
(−k ak sin(kx) + k bk cos(kx)) .
1.1.4 Gibbsches Phanomen
An Unstetigkeitsstellen stuckweise stetig differenzierbarer Funktionen wie z.B. der Recht-eckfunktion aus Beispiel 6 tritt das Gibbs’sche Phanomen auf. Alle Partialsummen SN(f ;x)fur große N uber-bzw. unterschwingen die Sprunghohe um rund 9%.
Beispiel 9 (Sagezahnkurve) Sei f(x) ∶= x fur −π ≤ x < π. Dann ist die Fourierreihegegeben durch
Tf(x) =∞∑k=1
2
k(−1)k+1 sin(kx).
Wir betrachten nun die Folge xN = π − πN und berechnen SN(f ;xN). Es gilt
SN(f ;xN) =N
∑k=1
2
k(−1)k+1 sin (k (π − π
N)) =
N
∑k=1
2
ksin (kπ
N) = 2
N
∑k=1
sin(kπN)(kπ/N)
π
N,
da sin (k (π − πN)) = sin(kπ) cos(kπN ) − sin(kπN ) cos(kπ) = (−1)k+1 sin(kπN ). Die Summe kann
als Riemannsche Zwischensumme des Integrals
2∫π
0
sinx
xdx
interpretiert werden. Damit folgt
limN→∞
SN(f ;xN) = 2∫π
0
sinx
xdx ∼ 1,18π.
Damit erhalten wir fur große Werte von N ∈ NSN(f ;xN) − f(xN)f(π−) − f(π+)
∼ 1,18π − π2π
= 0,09.
Allgemein gilt der folgende Satz.
17
Satz 1.1.14. Sei f stuckweise stetig differenzierbar und d eine Sprungstelle von f . Danngibt es eine Folge (xN)N∈N von Punkten mit xN → d fur N →∞, so dass fur alle hinrei-chend großen Werte von N ∈ N gilt
SN(f ;xN) − f(xN)f(d+) − f(d−)
≥ 0,089.
Zur besseren Approximation benutzt man daher Fejer-Summen.
Satz 1.1.15 (Fejer). Ist f ∶ R → C eine stetige 2π-periodische Funktion, so konvergierendie arithmetischen Mittel (Fejer-Summe)
FN(f ;x) ∶= 1
N(S0(f ;x) + S1(f ;x) +⋯ + SN−1(f ;x)), N ∈ N
fur N →∞ gleichmaßig gegen f .
1.1.5 Beliebige Perioden
Sei nun f ∶ R→ C eine periodische Funktion mit der Periode 2L > 0 anstelle von 2π.
Satz 1.1.16. Die Funktion f ∶ R → C habe die Periode 2L > 0 und sei auf [−L,L]integrierbar. Dann ist die zu f assoziierte Fourierreihe gegeben durch
Tf(x) = a0/2 +∞∑k=1
(ak cos(kπx/L) + bk sin(kπx/L)) (1.26)
bzw. in der komplexen Schreibweise
Tf(x) =∞∑k=−∞
ck exp(kπix/L) (1.27)
mit
ck = 1
2L ∫L
−Lf(x) exp(−kπix/L)dx ,
ak = 1
L ∫L
−Lf(x) cos(kπx/L)dx ,
bk = 1
L ∫L
−Lf(x) sin(kπx/L)dx .
Beweis. Die Koordinatentransformation y ∶= πx/L bildet das Intervall [−L,L] bijektivauf das Intervall [−π,π] ab. Die Funktion
F (y) ∶= f (Lπy)
ist daher 2π-periodisch und hat die Fourierreihenentwicklung
TF (y) = a0
2+
∞∑k=1
(ak cos(ky) + bk sin(ky)) ,
ak = 1
π ∫π
−πF (y) cos(ky)dy , k = 0,1,2, . . .
bk = 1
π ∫π
−πF (y) sin(ky)dy , k = 1,2, . . . .
18
Mit der Substitution y = πx/L folgt dann:
Tf(x) = a0
2+
∞∑k=1
(ak cos(kπx/L) + bk sin(kπx/L)) ,
ak = 1
π ∫π
−πf(Ly/π) cos(ky) dy = 1
L ∫L
−Lf(x) cos(kπx/L)dx ,
bk = 1
π ∫π
−πf(Ly/π) sin(ky) dy = 1
L ∫L
−Lf(x) sin(kπx/L)dx .
Analoges erhalt man fur die komplexe Form der Fourierreihe.
1.1.6 Approximation durch trigonometrische Polynome
Die trigonometrischen Polynome vom Grad ≤ N bilden einen (2N + 1)-dimensionalenkomplexen Vektorraum UN ,
UN ∶= N
∑k=−N
ckeikx ∣ ck ∈ C,
oder, in reeller Schreibweise,
UN = a0
2+
N
∑k=1
ak cos(kx) + bk sin(kx) ∣ ak, bk ∈ C.
Problemstellung: Wir wollen zu einer gegebenen 2π-periodischen, auf [−π,π] Riemann-integrierbaren Funktion f ein trigonometrisches Polynom pN ∈ UN derart finden, dass
∫π
−π∣f(x) − pN(x)∣2 dx (1.28)
minimal wird. (1.28) ist der sogenannte mittlere quadratische Fehler, der bei der Appro-ximation durch pN entsteht.
Bevor wir das obige Problem losen, klaren wir zunachst den geometrischen Sachverhalt.Sei
R2π ∶= f ∶ R→ C ∣ f ist 2π-periodisch und Riemann-quadratintegrierbar
Auf R2π definieren wir eine hermitesche Sesquilinearform ⟨⋅, ⋅⟩ durch
⟨f , g⟩ ∶= ∫π
−πf(x)g(x)dx
und setzen
∥f∥2 ∶=√
⟨f , f⟩ =√
∫π
−π∣f(x)∣2 dx.
Lemma 1.1.17. ⟨⋅ , ⋅⟩ ist eine positiv semidefinite hermitesche Sesquilinearform, d.h. furalle f, g, h ∈R2π und λ ∈ C gilt
a) ⟨f , g⟩ = ⟨g , f⟩b) ⟨f , f⟩ ≥ 0
19
c) ⟨f + g , h⟩ = ⟨f , h⟩ + ⟨g , h⟩d) ⟨f , g + h⟩ = ⟨f , g⟩ + ⟨f , h⟩e) ⟨λf , g⟩ = λ⟨f , g⟩
Die hermitesche Sesquilinearform ist kein Skalarprodukt, weil aus ⟨f , f⟩ = 0 nicht folgt,dass f(x) = 0 fur alle x ∈ [−π,π]. Bespiel dafur ist die Funktion f mit f(x) = 0 furx ∈ [−π,π] ∖ 0 und f(0) = 1.
Fur solche Sesquilinearformen gilt ebenfalls die Schwarzsche Ungleichung, also
∣⟨f , g⟩∣ ≤ ∥f∥2 ∥g∥2.
Lemma 1.1.18. Die Abbildung f ↦ ∥f∥2 ist eine Halbnorm, d.h. es gilt
a) ∥f∥2 ≥ 0
b) ∥λf∥2 = ∣λ∣∥f∥2 fur alle λ ∈ Cc) ∥f + g∥2 ≤ ∥f∥2 + ∥g∥2
Beweis. Die Punkte a) und b) folgen direkt aus der Definition. Punkt c) folgt mit derSchwarzschen Ungleichung:
∥f + g∥22 = ⟨f + g , f + g⟩ = ∥f∥2
2 + ∥g∥22 + ⟨f, g⟩ + ⟨f, g⟩ = ∥f∥2
2 + ∥g∥22 + 2Re⟨f , g⟩
≤ ∥f∥22 + ∥g∥2
2 + 2∥f∥2 ∥g∥2 = (∥f∥2 + ∥g∥2)2.
Wir benutzen im Folgenden die komplexe Schreibweise der Fourierreihen.
Bemerkung 1.1.19. Bezuglich der Sesquilinearform ⟨⋅ , ⋅⟩ sind die Funktionen
eikx, k ∈ Z
orthogonal. Die normalisierten Funktionen
ϕk(x) ∶=1√2πeikx
bilden dann ein Orthonormalsystem, d.h.
⟨ϕk , ϕl⟩ =1
2π ∫π
−πei(k−l)x dx = δkl k, l ∈ Z.
Die Funktionen ϕk fur −N ≤ k ≤ N spannen den Raum UN auf, insbesondere bilden sieeine Orthonormalbasis von UN .
Fur die Fourier-Koeffizienten einer Funktion f gilt mit dieser Schreibweise
ck = 12π ∫
π
−πf(x)e−ikx dx = 1√
2π⟨f,ϕk⟩, (1.29)
d.h. die N -te Fourier-Partialsumme ist gegeben durch
SN(f ;x) =N
∑k=−N
⟨f,ϕk⟩ϕk(x). (1.30)
Geometrisch lasst sich die N -te Fourier-Partialsumme als orthogonale Projektion von fauf den Unterraum UN interpretieren.
20
Lemma 1.1.20. Fur alle f ∈ R2π und N ∈ N ist f − SN(f ; ⋅) orthogonal zum UnterraumUN , d.h.
⟨f − SN(f ; ⋅), ϕ`⟩ = 0 fur −N ≤ ` ≤ N,
und insbesondere
⟨f − SN(f ; ⋅), SN(f ; ⋅)⟩ = 0.
Beweis. Aus der Formel (1.30) folgt fur −N ≤ ` ≤ N
⟨SN(f ; ⋅), ϕ`⟩ =N
∑k=−N
⟨f,ϕk⟩⟨ϕk, ϕ`⟩ =N
∑k=−N
⟨f,ϕk⟩δk` = ⟨f,ϕ`⟩,
woraus die erste Behauptung durch Subtraktion der beiden Seiten folgt. Fur die zweiteBehauptung benutzen wir nochmal (1.30) und die schon bewiesene Identitat, um zu sehen,dass
⟨f − SN(f ; ⋅), SN(f ; ⋅)⟩ =N
∑k=−N
⟨f,ϕk⟩⟨f − SN(f ; ⋅), ϕk⟩ = 0.
Hieraus folgt nun, dass SN(f ; ⋅) die beste Approximation von f durch trigonometrischePolynome vom Grad ≤ N ist, und zwar in dem Sinne, dass der mittlere quadratischeFehler minimal wird:
Lemma 1.1.21. Sei f ∈R2π und N ∈ N. Dann wird der mittlere quadratische Fehler
12π ∫
π
−π∣f(x) − pN(x)∣2 dx = 1
2π∥f − pN∥22
unter allen trigonometrischen Polynomen pN ∈ UN vom Grad ≤ N minimal fur pN =SN(f ; ⋅). Genauer gilt: Fur jedes pN ∈ UN ist
∥f − pN∥22 = ∥f − SN(f ; ⋅)∥2
2 + ∥SN(f ; ⋅) − pN∥22 ≥ ∥f − SN(f ; ⋅)∥2
2.
Beweis. Zunachst folgt aus der Orthogonalitat aus dem vorigen Lemma
⟨f − SN(f ; ⋅) , SN(f ; ⋅) − pN⟩ = 0,
weil SN(f ; ⋅) − pN ∈ UN eine Linearkombination der ϕ` mit −N ≤ ` ≤ N ist. Der Satz vonPythagoras folgt hieraus durch die binomische Formel:
∥f − pN∥22 = ∥(f − SN(f ; ⋅)) + (SN(f ; ⋅) − pN)∥2
2
= ∥f − SN(f ; ⋅)∥22 + ∥SN(f ; ⋅) − pN∥2
2 + 2Re⟨f − SN(f ; ⋅) , SN(f ; ⋅) − pN⟩= ∥f − SN(f ; ⋅)∥2
2 + ∥SN(f ; ⋅) − pN∥22.
Wegen ∥SN(f ; ⋅) − pN∥22 ≥ 0 liefert das die behauptete Minimalitat.
21
1.1.7 Vollstandigkeit
Man kann zeigen, dass der Fehler ∥f − SN(f)∥2 der Approximation beliebig klein werdenkann, wenn N hinreichend groß ist. Dies ist der entscheidende Satz fur die Theorie derFourier-Reihen. Wir geben ihn ohne Beweis an.
Satz 1.1.22 (Vollstandigkeit). Sei f ∈R2π und SN(f ; ⋅) die N-te Fourier-Partialsumme.Dann gilt
∥f − SN(f ; ⋅)∥2 → 0 fur N →∞.
Es gilt also
∫π
−π∣f(x) − SN(f ;x)∣2 dx→ 0 fur N →∞. (1.31)
Man sagt dann, dass die Folge der Fourier-Partialsummen im quadratischen Mittel gegenf konvergiert. Hieraus folgt z.B. die folgende Aussage.
Satz 1.1.23 (Parsevalsche Gleichung). Es seien ck, dk ∈ C fur k ∈ Z die komplexenFourier-Koeffizienten der Funktionen f, g ∈R2π. Dann gilt
1
2π⟨f, g⟩ = 1
2π ∫π
−πf(x)g(x)dx =
∞∑k=−∞
ckdk. (1.32)
Beweis. Die Formel (1.30) liefert
⟨SN(f ; ⋅), SN(g; ⋅)⟩ = ⟨N
∑k=−N
⟨f,ϕk⟩ϕk ,N
∑`=−N
⟨g,ϕ`⟩ϕ`⟩
=N
∑k,`=−N
⟨f,ϕk⟩⟨g,ϕ`⟩⟨ϕk, ϕ`⟩
=N
∑k,`=−N
⟨f,ϕk⟩⟨g,ϕ`⟩δkl
=N
∑k=−N
⟨f,ϕk⟩⟨g,ϕk⟩ = 2πN
∑k=−N
ckdk,
wobei die letzte Gleichung aus (1.29) folgt. Andererseits gilt wegen Lemma 1.1.20
⟨SN(f ; ⋅), SN(g; ⋅)⟩ = ⟨f,SN(g; ⋅)⟩ − ⟨f − SN(f ; ⋅), SN(g; ⋅)⟩ = ⟨f,SN(g; ⋅)⟩,
weil SN(g; ⋅) eine Linearkombination der ϕ` mit −N ≤ ` ≤ N ist. Satz 1.1.22 impliziert
⟨f,SN(g; ⋅)⟩ − ⟨f, g⟩ = ⟨f,SN(g; ⋅) − g)⟩ ≤ ∥f∥2 ∥SN(g; ⋅) − g∥2 Ð→ 0
fur N →∞, wobei wir die Cauchy-Schwarz-Ungleichung verwendet haben. Die letzten dreiRelationen zusammen ergeben
2πN
∑k=−N
ckdk = ⟨SN(f), SN(g)⟩ = ⟨f,SN(g)⟩Ð→ ⟨f, g⟩
fur N →∞ und damit die Behauptung.
22
Als Spezialfall erhalten wir
1
2π ∫π
−π∣f(x)∣2 dx =
∞∑k=−∞
∣ck∣2 (1.33)
und wegen ∣ak∣2 + ∣bk∣2 = 2(∣ck∣2 + ∣c−k∣2) und ∣a0∣22 = 2∣c0∣2 auch
∣a0∣22
+∞∑k=1
(∣ak∣2 + ∣bk∣2) =1
π ∫π
−π∣f(x)∣2 dx. (1.34)
Bemerkung 1.1.24 (Folgerungen aus der Parsevalschen Gleichung). Es sei f ∈R2π.
i) Es gilt die Besselsche Ungleichung,
∣a0∣22
+N
∑k=1
(∣ak∣2 + ∣bk∣2) ≤1
π ∫π
−π∣f(x)∣2 dx fur alle N ∈ N,
bzw. in der komplexen Schreibweise
N
∑k=−N
∣ck∣2 ≤1
2π ∫π
−π∣f(x)∣2 dx fur alle N ∈ N.
ii) Riemannsches Lemma: Sei [a, b] ⊂ [−π,π] und ψ ∶ [a, b]→ C stuckweise stetig. Danngilt
limn→∞∫
b
aψ(x) cos(nx)dx = 0 und lim
n→∞∫b
aψ(x) sin(nx)dx = 0.
Beweis des Riemannschen Lemmas. Wir setzen
f(x) ∶=⎧⎪⎪⎨⎪⎪⎩
ψ(x) fur a ≤ x ≤ b0 fur x ∈ [−π,π) ∖ [a, b].
Dann ist die periodische Fortsetzung von f auf [−π,π] im Raum R2π. Da nach derBesselschen Ungleichung die Reihe uber die Quadrate der Fourierkoeffizienten vonf durch 1
π ∫π
−π ∣f(x)∣2 dx beschrankt ist, gehen die Fourierkoeffizienten von f gegen0, also
limn→∞∫
b
aψ(x) sinnxdx = lim
n→∞∫π
−πf(x) sinnxdx = 0.
Die Parsevalsche Gleichung kann unter anderem zur Berechnung von Reihenwerten be-nutzt werden.
Beispiel 10 Wir wollen den Reihenwert von
∞∑k=1
1
k4
23
bestimmen. Dazu beginnen wir mit der Fourierreihe von f(x) = x2 fur −π ≤ x < π. LautBeispiel 8 besitzt f die Fourierreihe
Tf(x) = π2
3+ 4
∞∑k=1
(−1)k 1
k2cos(kx).
Die Parsevalsche Gleichung (1.34) liefert
1
2⋅ 4π4
9+ 16
∞∑k=1
1
k4= 1
π ∫π
−πx4 dx = 1
π⋅ 2
5π5 = 2
5π4,
also ∞∑k=1
1
k4= 1
16(2
5π4 − 2
9π4) = π
4
90.
Die Große
P ∶= 1
2π ∫π
−π∣f(x)∣2 dx
heißt die Leistung von f . Gemaß der Parsevalschen Gleichung kann man die Leistung vonf durch das Spektrum (ck)k∈Z beschreiben, namlich
P = 1
2π ∫π
−π∣f(x)∣2 dx =
∞∑k=−∞
∣ck∣2.
1.2 Fourier-Transformation
Eine Funktion f ∶ R→ C heißt absolut integrierbar, wenn
∫∞
−∞∣f(x)∣dx <∞ .
Die Menge
L1(R) ∶= f ∶ R→ C ∣ ∫∞
−∞∣f(x)∣dx <∞
der absolut integrierbaren Funktionen ist ein unendlich-dimensionaler komplexer Vektor-raum. Mit
L2(R) ∶= f ∶ R→ C ∣ ∫∞
−∞∣f(x)∣2dx <∞
bezeichnen wir den Vektorraum der quadratisch integrierbaren Funktionen.
Bei den Integralen handelt es sich um sogenannte Lebesgue-Integrale. Lebesgue-Integralesollen hier nicht exakt eingefuhrt werden. Eine ausfuhrliche Darstellung findet sich in denBuchern von Bauer oder Elstrodt.
Eine Funktion f ∶ R→ C heißt stuckweise stetig, wenn f ∣[a,b], [a, b] ⊂ R endliches Intervall,stuckweise stetig ist. Das heißt, dass f zwar abzahlbar viele Unstetigkeitsstellen habenkann, dass aber in jedem endlichen Intervall nur endlich viele vorkommen konnen.
Eine stw. stetige Funktion, die der Abschatzung
∣f(x)∣ ≤ const
1 + x2∀x ∈ R
genugt, ist Lebesgue-integrierbar.
24
1.2.1 Definition und Eigenschaften der Fourier-Transformation
Eine Funktion f ∶ [−π,π) → C kann in eine Fourierreihe nach den Funktionen eikx, k ∈Z, entwickelt werden. Wir wollen nun eine Funktion f ∶ R → C als Superposition derFunktionen eiωx, ω ∈ R, darstellen, und zwar in der Form
f(x) = 12π ∫
∞
−∞f(ω)eiωx dω
mit einer Funktion f ∶ R→ C. Im Gegensatz zur Fourierreihe ist es mit dieser Darstellungmoglich, nichtperiodische Funktionen zu analysieren.
Definition 1.2.1. Sei f ∈ L1(R). Dann heißt
F[f](ω) ≡ f(ω) ∶= ∫∞
−∞f(x)e−iωxdx (1.35)
die Fourier-Transformierte von f .
Weil∣e−iωx∣ = ∣ cos(ωx) − i sin(ωx)∣ = (cos2(ωx) + sin2(ωx))1/2 = 1
ist die Fourier-Transformierte (1.35) fur f ∈ L1(R) wohldefiniert.
Die Funktion f(ω) heißt auch Spektralfunktion; ∣f(ω)∣ interpretiert man als die Amplitudevon f zur Schwingung eiωx.
Beispiel 1 Sei f = χ[a,b] charakteristische Funktion (Rechteckimpuls) , d.h.
χ[a,b](x) =⎧⎪⎪⎨⎪⎪⎩
1, x ∈ [a, b]0, x /∈ [a, b] .
Dann gilt fur ω /= 0
F[χ[a,b]](ω) = ∫∞
−∞χ[a,b](x)e−iωxdx
= ∫b
ae−iωxdx
= [ 1
−iωe−iωx]
b
a
= 1
iω(e−iaω − e−ibω)
= 1
iω(ei(b−a)ω/2 − e−i(b−a)ω/2) e−i(a+b)ω/2
= 2 sin((b − a)ω/2)ω
e−i(a+b)ω/2
und fur ω = 0
F[χ[a,b]](0) = ∫∞
−∞χ[a,b](x)dx = b − a .
Insbesondere erhalten wir fur den symmetrischen Rechteckimpuls mit a = −T, b = T
F[χ[−T,T ]](ω) = 2sin(ωT )
ω,ω ≠ 0, F[χ[−T,T ]](0) = 2T. (1.36)
25
Abbildung 1.1: 2 sin(ω)ω , −5π ≤ ω ≤ 5π
Interpretation: Am Aufbau des Rechteckimpulses sind harmonische Schwingungen allerFrequenzen beteiligt. Wird T kleiner, so wird das Frequenzband breiter und umgekehrt.
Beispiel 2 Die Funktion f(x) = e−∣x∣ ist absolut integrierbar und stetig. Es gilt:
f(ω) = ∫∞
−∞e−∣x∣e−iωx dx
= ∫0
−∞exe−iωx dx + ∫
∞
0e−xe−iωx dx
= [ 1
1 − iωex(1−iω)]
0
−∞+ [− 1
1 + iωe−x(1+iω)]
∞
0
= 1
1 − iω+ 1
1 + iω= 2
1 + ω2.
Beispiel 3 Sei
u(x) =⎧⎪⎪⎨⎪⎪⎩
0, x < 0
1, x ≥ 0
die Heavisidefunktion und f(x) = e−axu(x), a > 0. Dann gilt:
f(ω) = ∫∞
−∞e−axu(x)e−iωx dx
= ∫∞
0e−(a+iω)x dx
= [ 1
−(a + iω)e−(a+iω)x]
∞
0
= 1
a + iω.
Wir kommen nun zu den Eigenschaften der Fourier-Transformation.
Satz 1.2.1 (Riemann-Lebesgue). Sei f ∈ L1(R). Dann gilt:
i) f ist stetig und beschrankt;
ii) Ist f stw. stetig, so gilt limω→±∞ f(ω) = 0.
26
Beweis. i) Wegen
∣f(ω)∣ ≤ ∫∞
−∞∣f(x)e−iωx∣dx = ∫
∞
−∞∣f(x)∣dx <∞
ist f beschrankt.
Zur Stetigkeit: Sei ω ∈ R und sei (ωn)n∈N eine Folge, die gegen ω konvergiert. Wir betrach-ten fn(x) ∶= f(x)e−iωnx. Dann gilt
limn→∞
fn(x) = f(x)e−iωx ∀x ∈ R
und
∣fn(x)∣ = ∣f(x)e−iωnx∣ = ∣f(x)∣
Weil f integrierbar ist, folgt mit dem Satz von Lebesgue (majorisierte Konvergenz)
limn→∞
f(ωn) = limn→∞∫
∞
−∞f(x)e−iωnx dx = ∫
∞
−∞limn→∞
f(x)e−iωnx dx = ∫∞
−∞f(x)e−iωx dx = f(ω).
ii) Es gilt
limω→±∞
f(ω) = limω→±∞∫
∞
−∞f(x)e−iωx dx
= limω→±∞
(∫∞
−∞f(x) cos(ωx)dx − i∫
∞
−∞f(x) sin(ωx)dx) .
Deshalb genugt es zu zeigen, dass
limω→±∞∫
∞
−∞f(x) cos(ωx)dx = 0
und
limω→±∞∫
∞
−∞f(x) sin(ωx)dx = 0 .
Wir beweisen nur die erste Behauptung. Weil f absolut integrierbar ist, gibt es zu jedemε > 0 ein M > 0, so dass
∫∣x∣>M
∣f(x)∣dx < ε.
Damit folgt
∣∫∣x∣>M
f(x) cos(ωx)dx∣ ≤ ∫∣x∣>M
∣f(x) cos(ωx)∣dx ≤ ∫∣x∣>M
∣f(x)∣dx < ε .
Weil f auf [−M,M] stuckweise stetig ist, gibt es eine Zerlegung des Intervalls [−M,M] ,
−M = x0 < x1 < ⋯ < xm =M,
so dass die Treppenfunktion
h(x) = f(xk), xk−1 < x ≤ xk. k = 1, . . . ,m,
27
der Beziehung
∫M
−M∣f(x) − h(x)∣dx < ε
genugt. Offenbar gilt
∫M
−Mf(x) cos(ωx)dx = ∫
M
−M(f(x) − h(x)) cos(ωx)dx + ∫
M
−Mh(x) cos(ωx)dx .
Der erste Summand lasst sich leicht abschatzen:
∣∫M
−M(f(x) − h(x)) cos(ωx)dx∣ ≤ ∫
M
−M∣f(x) − h(x)∣ ∣ cos(ωx)∣dx
≤ ∫M
−M∣f(x) − h(x)∣dx
< ε.
Fur den zweiten Summanden gilt die Abschatzung
∣∫M
−Mh(x) cos(ωx)dx∣ = ∣
m
∑k=1∫
xk
xk−1f(xk) cos(ωx)dx∣
= ∣m
∑k=1
f(xk)sin(ωxk) − sin(ωxk−1)
ω∣
≤m
∑k=1
∣f(xk)∣2
∣ω∣
≤ 2m
∣ω∣max
−M≤x≤M∣f(x)∣ .
Fur genugend großes ∣ω∣ gilt2m
∣ω∣max
−M≤x≤M∣f(x)∣ < ε .
Somit gilt fur genugend großes ∣ω∣, dass
∣∫∞
−∞f(x) cos(ωx)dx∣ < 3ε .
Satz 1.2.2. Seien f, g ∈ L1(R). Fur die Fouriertransformation gelten die folgenden Re-chenregeln.
i) (Linearitat) Fur α,β ∈ C gilt
F[αf + βg] = αF[f] + βF[g]
ii) (Reellwertigkeit) Fur reellwertiges f gilt
F[f](−ω) = F[f](ω) .
iii) (Verschiebungssatz) Fur a ∈ R gilt
F[f(x − a)](ω) = e−iaωf(ω) und F[eiaxf(x)](ω) = f(ω − a).
28
iv) (Skalierungssatz) Ist a > 0 und fa(x) ∶= a−1f(x/a), so gilt
fa(ω) = f(aω) und F[f(ax)](ω) = [f]a(ω) .
Beweis. Die Linearitat ist klar. Bezuglich ii) stellen wir fest, dass fur reelwertiges f
F[f](−ω) = ∫∞
−∞f(x)e−i(−ω)x dx
= ∫∞
−∞f(x)eiωx dx
f=f= ∫∞
−∞f(x)e−iωx dx
= F[f](ω).
Zu iii). Es ist
F[f(x − a)](ω) = ∫∞
−∞e−iωxf(x − a)dx
x−a=y= ∫∞
−∞e−iωy−iωaf(y)dy
= e−iωaf(ω) ,
und
F[eiaxf(x)](ω) = ∫∞
−∞e−iωxeiaxf(x)dx
= ∫∞
−∞e−i(ω−a)xf(x)dx
= F[f](ω − a) .
Zu iv). Es gilt
F[fa(x)](ω) = ∫∞
−∞e−iωxa−1f(x/a)dx
x/a=y= ∫∞
−∞e−iωayf(y)dy
= F[f](aω) ,
und
F[f(ax)](ω) = ∫∞
−∞e−iωxf(ax)dx
ax=y= ∫∞
−∞e−i(ω/a)yf(y)a−1dy
= a−1F[f](ω/a)= [f]a(ω) .
Eine wichtige Eigenschaft der Fourier-Transformation ist der Zusammenhang zwischenAbleitung im Zeitbereich und Multiplikation im Frequenzbereich.
29
Satz 1.2.3. Sei f ∈ L1(R) und n ∈ N.
i) Ist xkf(x) absolut integrierbar fur alle k = 1, . . . , n, so ist f n-mal differenzierbarund es gilt
f (k)(ω) = (−i)kF[xkf(x)](ω), k = 1,2, . . . , n .
ii) Ist f ∈ Cn(R) ∩ L1(R) und sind alle Ableitungen f (k), k = 1,2, . . . , n in L1(R), sogilt
F[f (k)](ω) = (iω)kf(ω), k = 1,2, . . . , n .
Mit diesen Satzen konnen weitere Fourier-Transformierte bestimmt werden.
Beispiel 4 Es gilt
F [xk
k!e−axu(x)] (ω) = 1
(a + iω)k+1(1.37)
wobei u(x) wieder die Heavisidefunktion und a > 0 ist. Tatsachlich gilt
F [xk
k!e−axu(x)] (ω) = 1
k!F [xke−axu(x)] (ω)
= 1
k!
1
(−i)kdk
dωkF [e−axu(x)] (ω) = 1
k!
1
(−i)kdk
dωk( 1
a + iω) = 1
(a + iω)k+1.
Beispiel 5 Es gilt fur a > 0
F [e−a∣x∣] (ω) = 2a
a2 + ω2, (1.38)
denn wegen der Skalierungsregel ist:
F [e−a∣x∣] (ω) = 1
aF [e−∣x∣] (ω
a) = 1
a⋅ 2
1 + (ω/a)2= 2a
a2 + ω2.
Beispiel 6 Berechnet werden soll F[e−ax2], a > 0 . Offenbar genugt f(x) = e−ax2 derDifferentialgleichung
f ′(x) + 2ax f(x) = 0 .
Anwenden der Fourier-Transformation liefert
F [f ′(x)] (ω) + 2aF [xf(x)] (ω) = 0 ,
alsoiω f(ω) + 2ai f ′(ω) = 0 .
Das ist eine DGL 1. Ordnung mit der Losung
f(ω) = C e−ω2/4a ,
mit einer Konstanten C ∈ R (da f reell). Die Konstante C ergibt sich aus
= f(0) =∞
∫−∞
e−ax2
dx = 1√a
∞
∫−∞
e−y2
dy =√π
a
und somit gilt
f(ω) =√π
ae−
ω2
4a . (1.39)
30
1.2.2 Das Faltungsprodukt
Definition 1.2.2. Es seien f, g ∶ R→ C Funktionen. Dann heißt
(f ∗ g)(x) ∶= ∫∞
−∞f(x − y)g(y)dy = ∫
∞
−∞f(z)g(x − z)dz,
vorausgesetzt das uneigentliche Integral existiert, die Faltung von f und g.
Einige Falle, in denen das Faltungsintegral wohldefiniert ist, sind:
(a) Ist f ∈ L1(R) und g beschrankt (∣g∣ ≤M), so gilt
∫∞
−∞∣f(x − y)g(y)∣dy ≤M ∫
∞
−∞∣f(y)∣dy <∞ .
Entsprechendes gilt, wenn g ∈ L1(R) und f beschrankt ist.
(b) Sind f, g ∈ L2(R), so folgt aus der Cauchy-Schwarzschen Ungleichung
∫∞
−∞∣f(x − y)g(y)∣dy ≤
√
∫∞
−∞∣f(x − y)∣2 dy
√
∫∞
−∞∣g(y)∣2 dy <∞ .
(c) Falls f stw. stetig ist, und g eine beschrankte Funktion ist, die außerhalb einesendlichen Intervalles [a, b] verschwindet, existiert f ∗ g(x) fur alle x ∈ R.
(d) Falls f, g ∈ L1(R) lasst sich zeigen, dass (f ∗ g) ∈ L1(R).Diese Liste lasst sich fortsetzen. Wir nehmen von nun an an, dass alle auftretenden Inte-grale wohldefiniert sind.
Beispiel 7 Sei
f(x) = χ[0,1](x) =⎧⎪⎪⎨⎪⎪⎩
1, fur x ∈ [0,1],0 sonst .
Dann gilt
(f ∗ f)(x) = ∫∞
−∞f(x− y)f(y)dy = ∫
1
0f(x− y)dy = ∫
x
x−1f(z)dz =
⎧⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎨⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎩
0, falls x ≤ 0
x, falls 0 ≤ x ≤ 1
2 − x, falls 1 ≤ x ≤ 2
0, falls 2 ≤ x
Die Faltung ist in diesem Beispiel eine stetige Funktion. Man kann folgendes zeigen:
Satz 1.2.4. Sei f ∈ L1(R) und g ∈ Cn(R). Sei ferner g(k) fur k = 1, . . . , n beschrankt.Dann gilt:
i) f ∗ g ∈ Cn(R),
ii) (f ∗ g)(k) = f ∗ g(k) fur k = 1, . . . , n.
Beweis. Weil ∂∂xg(x − y)f(y) existiert und ∣ ∂
∂xg(x − y)f(y)∣ ≤ M ∣f(y)∣ konnen wir nachdem Satz von Lebesgue (siehe Anhang) die Ableitung unter das Integral ziehen. Daswiederholen wir k-mal, mit dem Ergebnis
(f ∗ g)(k)(x) = dk
dxk ∫∞
−∞g(x − y)f(y)dy = ∫
∞
−∞g(k)(x − y)f(y)dy = (f ∗ g(k))(x) .
31
Abbildung 1.2: Faltung aus Beispiel 7
f ∗ g ist also mindestens so oft differenzierbar wie g, egal wie irregular f ist. Die Faltungglattet die Unstetigkeiten von f .
Das Faltungsprodukt genugt denselben algebraischen Gesetzen wie das gewohnliche Pro-dukt.
Satz 1.2.5. Seien f, g, h ∈ L1(R). Dann gilt
i) (αf + βg) ∗ h = α(f ∗ h) + β(g ∗ h), α, β ∈ Cii) f ∗ g = g ∗ f
iii) f ∗ (g ∗ h) = (f ∗ g) ∗ h
Beweis. i) ist wegen der Linearitat des Integrals klar.ii Es ist)
(f ∗ g)(x) = ∫∞
−∞f(x − y)g(y)dy = ∫
∞
−∞f(z)g(x − z)dz = (g ∗ f)(x) .
iii)
((f ∗ g) ∗ h)(x) = ∫∞
−∞(f ∗ g)(x − y)h(y)dy
= ∫∞
−∞(∫
∞
−∞f(z)g(x − y − z)h(y)dz)dy
= ∫∞
−∞(∫
∞
−∞f(z)g(x − z − y)h(y)dy)dz = (f ∗ (g ∗ h))(x).
Das Faltungsprodukt unterscheidet sich von der gewohnlichen Multiplikation in einemwichtigen Punkt. Es gibt keine Funktion g, so dass f ∗ g = f fur alle f gilt. Man kannjedoch eine Folge gn konstruieren, so dass f ∗ gn → f fur n→∞ gilt.
Fur eine beliebige Funktion g ∈ L1(R) definieren wir dazu die Funktionenfolge
gε(x) ∶=1
εg (x
ε) .
gε ist gerade so definiert, dass
∫∞
−∞gε(x)dx =
1
ε ∫∞
−∞g (x
ε)dx = ∫
∞
−∞g(y)dy .
32
Satz 1.2.6. Sei g ∈ L1(R) mit ∫∞−∞ g(y)dy = 1 und seien α ∶= ∫
0
−∞ g(y)dy und β =∫∞
0 g(y)dy. Ferner sei f ∶ R→ C stw. stetig und beschrankt. Dann gilt
limε→0
(f ∗ gε)(x) = αf(x+) + βf(x−)
fur alle x ∈ R. Ist f stetig, so gilt
limε→0
(f ∗ gε)(x) = f(x).
Beweis. Es gilt
(f ∗ gε)(x) − αf(x+) − βf(x−) =
∫0
−∞(f(x − y) − f(x+))gε(y)dy + ∫
∞
0(f(x − y) − f(x−))gε(y)dy. (1.40)
Wir mussen zeigen, dass beide Integrale auf der rechten Seite von Gleichung (1.40) furε → 0 gegen Null gehen. Das wird nur fur das Integral ∫
∞0 gezeigt. Zu δ > 0 gibt es ein
c > 0 , so dass ∣f(x − y) − f(x−)∣ < δ fur 0 < y < c gilt. Nun zerlegen wir das Integral ∫∞
0
aus Gleichung (1.40) in zwei Teilintegrale
∫c
0(f(x − y) − f(x−))gε(y)dy + ∫
∞
c(f(x − y) − f(x−))gε(y)dy
und schatzen diese getrennt ab. Fur das erste Teilintegral gilt
∣∫c
0(f(x − y) − f(x−))gε(y)dy∣ ≤ δ∫
c
0∣gε(y)∣dy
= δ∫c/ε
0∣g(y)∣dy
≤ δ∫∞
0∣g(y)∣dy.
Zur Abschatzung des zweiten Teilintegrals nutzen wir aus, dass f beschrankt ist (∣f ∣ ≤M).
∣∫∞
c(f(x − y) − f(x−))gε(y)dy∣ ≤ 2M ∫
∞
c∣gε(y)∣dy
= 2M ∫∞
c/ε∣g(y)∣dy.
Fur ε → 0 geht dieses Integral gegen 0, da g absolut integrierbar ist. Beide Teilintegralekonnen daher fur hinreichend kleines ε beliebig klein gemacht werden.
Die Familie gεε>0 ist also naherungsweise die Eins bezuglich der Faltung. In diesemZusammenhang wird haufig die Funktion
g(y) = 1√πe−y
2
zur Approximation benutzt.
Der folgende wichtige Satz stellt zwischen der Faltung zweier Funktionen und der Fourier-Transformation einen Zusammenhang her.
33
Satz 1.2.7 (Faltungssatz). Es seien f, g ∈ L1(R). Dann gilt
F[f ∗ g] = F[f]F[g].
Beweis. Man kann zeigen, dass (f ∗ g) ∈ L1(R). Das werden wir hier nicht beweisen. DieBerechnung von F[f ∗ g] ist dann eine direkte Anwendung des Satzes von Fubini,
F[f ∗ g](ω) = ∫∞
−∞(∫
∞
−∞e−iωxf(x − y)g(y)dy)dx
= ∫∞
−∞(∫
∞
−∞e−iω(x−y)f(x − y)e−iωyg(y)dx)dy
z=x−y= ∫∞
−∞(∫
∞
−∞e−iωzf(z)e−iωyg(y)dz)dy
= ∫∞
−∞(∫
∞
−∞e−iωzf(z)dz) e−iωyg(y)dy
= F[f](ω) F[g](ω) .
Beispiel 8 Wir berechnen die Fourier-Transformierte von
f(x) = ∫x
−∞e−(x−y)e−y
2/4 dy.
Fur die Funktionen
g(x) =⎧⎪⎪⎨⎪⎪⎩
0, x < 0
e−x, x ≥ 0und h(x) = e−x2/4
gilt
(g ∗ h) (x) = ∫∞
−∞g(x − y)h(y)dy = ∫
x
−∞e−(x−y)e−y
2/4 dy = f(x).
Mit dem Faltungssatz folgt dann
f(ω) = g(ω) h(ω) = 1
1 + iω√
4πe−ω2
.
1.2.3 Die inverse Fourier-Transformation
Unter geeigneten Voraussetzungen lasst sich aus der Kenntnis der Fouriertransformiertendie Funktion f rekonstruieren.
Satz 1.2.8. Sei f absolut integrierbar und stw. stetig. Dann gilt
1
2[f(x + 0) + f(x − 0)] = lim
ε→0
1
2π ∫∞
−∞eiωxe−ε
2ω2/2f(ω)dω. (1.41)
Beweis. Fur f ∈ L1(R) berechnen wir
1
2π ∫∞
−∞eiωxe−ε
2ω2/2f(ω)dω = 1
2π ∫∞
−∞(∫
∞
−∞eiω(x−y)e−ε
2ω2/2f(y)dy)dω.
34
Da das doppelte Integral absolut konvergent ist, kann die Reihenfolge der Integrationvertauscht werden. Fur das ω−Integral erhalten wir (vgl. Beispiel 6 mit a = ε2/2):
∫∞
−∞eiω(x−y)e−ε
2ω2/2dω = F[e−ε2ω2/2](y − x) =√
2π
εe−(x−y)
2/2ε2
und damit
1
2π ∫∞
−∞eiωxe−ε
2ω2/2f(ω)dω = 1
ε√
2π∫
∞
−∞f(y)e−(x−y)2/2ε2dy = (gε ∗ f)(x) ,
wobei
gε(x) =1
εg (x
ε) mit g(x) ∶= 1√
2πe−x
2/2.
Falls f stw. stetig ist, folgt dann weiter mit Satz 1.2.6
limε→0
1
2π ∫∞
−∞eiωxe−ε
2ω2/2f(ω)dω = 1
2[f(x+) + f(x−)].
Fur Funktionen, deren Fouriertransformierte ebenfalls absolut integrierbar ist, vereinfachtsich die obige Aussage wie folgt.
Satz 1.2.9. Sei f absolut integrierbar und stw. stetig und es gelte f ∈ L1(R). Dann ist fstetig und es gilt
f(x) = 1
2π ∫∞
−∞eiωxf(ω)dω =∶ F−1[f]. (1.42)
Die Abbildung F−1 heißt inverse Fouriertransformation.
Beweis. Es gilt die Abschatzung
∣eiωxe−ε2ω2/2f(ω)∣ ≤ ∣f(ω)∣.
Da f ∈ L1(R) ist, konnen wir nach dem Satz von Lebesgue den Limes unter das Integralziehen und erhalten
1
2π ∫∞
−∞eiωxf(ω)dω = 1
2[f(x + 0) + f(x − 0)].
Das linke Integral ist ein Vielfaches der Fourier-Transformierten von f an der Stelle −x.Da die Fourier-Transformierte einer absolut integrierbaren Funktion stetig ist, hangt dielinke Seite stetig von x ab. Damit ist auch die rechte Seite stetig in x, und deshalb kannf keine Unstetigkeitsstellen haben. Es folgt 1
2[f(x + 0) + f(x − 0)] = f(x) fur alle x ∈ Rund damit die Behauptung.
Als Folgerung erhalten wir:
Folgerung 1.2.10. Seien f, g stw. stetig und absolut integrierbar. Seien ferner f und gabsolut integrierbar. Dann folgt aus f = g auch f = g.
35
Beweis. Aus f = g folgt F[f − g] = 0 und mit (1.42) auch f = g.
Satz 1.2.11. Unter den Voraussetzungen von Satz 1.2.9 gilt
F[f](x) = 2πf(−x). (1.43)
Beweis. Es gilt
F[f](x) = ∫∞
−∞f(ω)e−iωx dω = ∫
∞
−∞f(ω)eiω(−x) dω = 2πf(−x).
Mit diesem Satz konnen wir weitere Fourier-Transformierte bestimmen.
Beispiel 9 Berechne
F [ 1
a2 + x2] .
Aus Beispiel 5 wissen wir, dass fur a > 0
F[e−a∣x∣] = 2a
a2 + ω2.
Weil 2aa2+ω2 absolut integrierbar ist, folgt mit Satz 1.2.11
F [ 1
a2 + ω2] (x) = 1
2aF [ 2a
a2 + ω2] (x) = 1
2a2πe−a∣−x∣ = π
ae−a∣x∣.
Beispiel 10 Seien 0 < a < b. Gibt es eine absolut integrierbare Funktion f , so dass
∫∞
−∞
f(t)(x − t)2 + a2
dt = 1
x2 + b2?
Bei dem Integral handelt es sich um ein Faltungsintegral. Die Gleichung ist aquivalent zu
( 1
x2 + a2∗ f) (x) = 1
x2 + b2.
Eine Anwendung des Faltungssatzes ergibt
π
ae−a∣ω∣f(ω) = π
be−b∣ω∣.
Daraus folgt
f(ω) = abe−(b−a)∣ω∣.
Nun wenden wir die Umkehrformel an. Wenn es ein solches f gabe, dann musste gelten
f(x) = ab
1
2π ∫∞
−∞e−(b−a)∣ω∣eixω dω = a
2πbF [e−(b−a)∣ω∣] (−x) = a
2πb⋅ 2(b − a)x2 + (b − a)2
.
Tatsachlich hat dieses f die gewunschten Eigenschaften.
Das folgende Beispiel zeigt, dass im Allgemeinen f /∈ L1(R) ist.
36
Beispiel 11 Die Funktion g(ω) ∶= 2 sin(ωT )/ω mit g(0) = 2T ist nicht absolut integrierbar.
Begrundung: Nach Beispiel 1 ist g(ω) die Fourier-Transformierte des Rechteckimpulses.Ware g(ω) absolut integrierbar, so ware gemaß Satz 1.2.8 der Rechteckimpuls stetig. Dasist aber nicht der Fall. Also kann g nicht absolut integrierbar sein.
Achtung: Die Umkehrformel (1.42) gilt nur, wenn f absolut integrierbar ist. Diese Be-dingung lasst sich oft leicht uberprufen. Es gilt namlich:
Satz 1.2.12. Sei f ∈ C2(R) und es seien f, f ′, f ′′ absolut integrierbar. Dann ist dieFourier-Transformierte von f absolut integrierbar.
Beweis. Gemaß Satz 1.2.3 gilt
F[f ′′](ω) = (iω)2 f(ω) = −ω2f(ω).
Gemaß Satz 1.2.1 sind f , F[f ′] und F[f ′′] beschrankt. Es gibt deshalb ein M > 0, so dass
∣f(ω)(1 + ω2)∣ ≤M ⇐⇒ ∣f(ω)∣ ≤ M
1 + ω2.
Also ist f absolut integrierbar.
Der folgende Satz ist nutzlich zur Berechnung der inversen Fourier-Transformierten furnicht stetige Funktionen.
Satz 1.2.13. Sei f ∈ L1(R) stuckweise stetig differenzierbar. In jedem Punkt x gilt dann
1
2[f(x + 0) + f(x − 0)] = lim
M→∞
1
2π ∫M
−Mf(ω)eiωx dω .
Beweis. Mit dem Satz von Fubini erhalten wir:
1
2π ∫M
−Mf(ω)eiωx dω = 1
2π ∫M
−M(∫
∞
−∞e−iωyf(y)dy) eiωx dω
= 1
2π ∫∞
−∞f(y) (∫
M
−Me−iωyeiωx dω)dy
= 1
2π ∫∞
−∞f(y) [ e
iω(x−y)
i(x − y)]M
−Mdy
= 1
2π ∫∞
−∞f(y)2 sin(M(x − y))
x − ydy
= 1
π ∫∞
x
f(y) sin(M(x − y))x − y
dy + 1
π ∫x
−∞
f(y) sin(M(x − y))x − y
dy
t=y−x= 1
π ∫∞
0
f(t + x) sin(Mt)t
dt + 1
π ∫0
−∞
f(x + t) sin(Mt)t
dt
Wir zeigen nun, dass
limM→∞
1
π ∫∞
0
f(t + x) sin(Mt)t
dt = f(x+)
2
37
und
limM→∞
1
π ∫0
−∞
f(t + x) sin(Mt)t
dt = f(x−)
2.
Wir beweisen nur die erste Behauptung. Zunachst zerlegen wir das Integral in zwei Teile
∫∞
0
f(t + x) sin(Mt)t
dt = ∫π
0
f(t + x) sin(Mt)t
dt + ∫∞
π
f(t + x) sin(Mt)t
dt .
Wir definieren nun
g(t) ∶=⎧⎪⎪⎨⎪⎪⎩
f(t+x)t , t > π
0, t ≤ π
Mit f ist auch g absolut integrierbar und stuckweise stetig, und mit dem Lemma vonRiemann-Lebesgue (1.2.1) folgt
limM→∞∫
∞
−∞g(t) sin(Mt)dt = 0,
also
limM→∞
1
π ∫∞
πf(t + x)sin(Mt)
tdt = 0 .
Wir untersuchen nun das Integral
limM→∞∫
π
0
f(t + x) sin(Mt)t
dt
Nach Voraussetzung ist die Funktion
h(t) = f(x + t) − f(x+)
t
in [0, π] stuckweise stetig. Durch nochmaliges Anwenden von Riemann-Lebesgue folgt
limM→∞
1
π ∫π
0
f(t + x) sin(Mt)t
dt
= limM→∞
( 1
π ∫π
0
f(x + t) − f(x+)t
sin(Mt)dt + 1
πf(x+)∫
π
0
sin(Mt)t
dt)
= 1
πf(x+) lim
M→∞∫π
0
sin(Mt)t
dt
u=Mt= 1
πf(x+)∫
∞
0
sinu
udu
= 1
πf(x+) π
2
= 1
2f(x+) .
Der Grenzwert
H.W.∫∞
−∞g(x)dx ∶= lim
M→∞∫M
−Mg(x)dx
38
heißt der Hauptwert des Integrals, sofern er existiert. Der Hauptwert lasst sich in vielenFallen mit dem Residuensatz berechnen (vgl. Kapitel 3 ).
Bisher haben wir vorausgesetzt, dass f absolut integrierbar ist. Weil die quadratisch inte-grierbaren Funktionen eine wichtige Rolle spielen, ist es wunschenswert, auch die Fourier-Transformierte einer Funktion f ∈ L2(R) zu definieren. Das Problem besteht darin, dassdas Integral ∫
∞−∞ f(x)e−iωx dx fur Funktionen f ∈ L2(R) nicht notwendigerweise konver-
giert. Um diese Schwierigkeit zu umgehen, wird f ∈ L2(R) durch eine Folge absolut in-tegrierbarer Funktionen approximiert, fn → f, fn ∈ L1(R) ∩ L2(R). Die Approximationerfolgt bezuglich der L2(R)-Norm, d.h. limε→0 ∫
∞−∞ ∣f(x) − fn(x)∣2 dx = 0. Dann definieren
wirf = lim
n→∞fn.
Man kann zeigen, dass f wohldefiniert, also unabhangig von der approximierenden Folge,ist. Witerhin lasst sich zeigen:
Satz 1.2.14. Sei f ∈ L2(R). Dann gilt fur die Fourier-Transformierte
F[f](ω) = limM→∞∫
M
−Mf(x)e−iωx dx =H.W.∫
∞
−∞f(x)e−iωx dx.
Die Gleichheit gilt fur fast alle ω ∈ R.
Fur Funktionen f ∈ L2(R) gilt ebenfalls die Umkehrformel (1.43):
F[f](x) = 2πf(−x). (1.44)
Eine zentrale Rolle bei dieser Konstruktion spielt die Parsevalsche Gleichung.
Fur Funktionen f, g ∈ L1(R) ∩L2(R), fur die auch f , g ∈ L1(R) ∩L2(R) sind, gilt:
2π∫∞
−∞f(x)g(x)dx = ∫
∞
−∞(∫
∞
−∞f(x)eiωxg(ω)dω)dx
= ∫∞
−∞g(ω) (∫
∞
−∞f(x)e−iωxdx)dω
= ∫∞
−∞f(ω)g(ω)dω
Diese Beziehung kann auch fur Funktionen, die nur in L2(R) liegen, bewiesen werden.
Satz 1.2.15 (Plancherel). Die Fourier-Transformation fur L1(R) ∩ L2(R)-Funktionenkann eindeutig zu einer Abbildung F ∶ L2(R)→ L2(R) fortgesetzt werden. Ferner gilt
2π∫∞
−∞f(x)g(x)dx = ∫
∞
−∞f(ω)g(ω)dω fur alle f, g ∈ L2(R).
Setzen wir speziell f = g, so erhalten wir:
Korollar 1.2.3 (Parseval-Identitat). Fur f ∈ L2(R) gilt
2π∫∞
−∞∣f(x)∣2 dx = ∫
∞
−∞∣f(ω)∣2 dω.
39
Interpretieren wir f als Amplitude eines Signals, so besagt dieser Satz, dass die Energieeines Signals im Zeitbereich und im Frequenzbereich gleich ist.
Beispiel 12 Berechne
∫∞
0
dx
(a2 + x2)(b2 + x2), a, b > 0.
Nach Beispiel 9 gilt
F [ 1
a2 + x2] = π
ae−a∣ω∣.
Anwendung von Satz 1.2.15 mit f(x) = 1a2+x2 und g(x) = 1
b2+x2 liefert
∫∞
0
dx
(a2 + x2)(b2 + x2)= 1
2 ∫∞
−∞
dx
(a2 + x2)(b2 + x2)
= 1
4π ∫∞
−∞
π
ae−a∣ω∣
π
be−b∣ω∣ dω
= π
4ab ∫∞
−∞e−(a+b)∣ω∣ dω
= π
4ab(∫
0
−∞e(a+b)ω + ∫
∞
0e−(a+b)ω dω)
= π
4ab( 1
a + b+ 1
a + b)
= π
2ab(a + b),
wobei wir in der ersten Gleichheit die Achsensymmetrie des Integranden ausgenutzt ha-ben.
Beispiel 13 Berechne die Fourier-Transformierte von sin(Tx)/x.
Die Funktion sin(Tx)/x ist nicht absolut integrierbar, aber quadratisch integrierbar. Des-halb existiert die Fourier-Transformierte. Nach Beispiel 1 gilt
F [χ[−T,T ]] (ω) =2 sin(ωT )
ω.
Mit (1.44) folgt dann
F [sin(xT )x
] (ω) = 1
22πχ[−T,T ](−ω) =
⎧⎪⎪⎨⎪⎪⎩
π fur ∣ω∣ < T,0 sonst.
1.2.4 Anwendungen
Gegeben sei ein lineares System, d.h. eine lineare Abbildung L, die jeder Eingangsfunktion(jedem Eingangssignal) f eine Ausgangsfunktion (ein Ausgangssignal) L[f] = g zuordnet.L sei ferner zeitinvariant, d.h. es gelte
L[f(t + s)] = g(t + s) ∀ s ∈ R.
40
Dann erhalten wir fur f(t) = eat mit a ∈ C
g(t + s) = L[ea(⋅+s)](t) = L[easea⋅](t) = easL[eat⋅](t) = easg(t).
Setzen wir nun t = 0 , so folgt mit c(a) ∶= g(0) = L[f](0)
g(s) = g(0)eas = c(a)f(s)
und damitL[f](t) = c(a)f(t).
Die Funktionen f(t) = eat sind daher Eigenfunktionen von L zu den Eigenwerten c(a).Sei nun das Eingangssignal f so, dass
f(t) = 1
2π ∫∞
−∞f(ω)eitωdω.
Nehmen wir weiter an, dass L stetig ist, so folgt mit h(ω) ∶= c(iω), dass
L[f](t) = 1
2π ∫∞
−∞f(ω)L[eiω⋅](t)dω
= 1
2π ∫∞
−∞f(ω)h(ω)eitωdω
= F−1[f ⋅ h](t),
wobei wir in der zweiten Zeile ausgenutzt haben, dass L[eiω⋅](t) = h(ω)eiωt. Im Frequenz-bereich gilt daher
F[L[f]](ω) = f(ω) ⋅ h(ω)
und mit dem Faltungssatz folgt dann fur H ∶= F−1[h], dass
L[f](t) = (H ∗ f)(t) = ∫∞
−∞f(s)H(t − s)ds.
h heißt die Systemfunktion und H die Impulsantwort. Das physikalisches System heißtkausal, wenn
f(t) = 0 fur t < t0 ⇒ L[f](t) = ∫∞
−∞f(s)H(t − s)ds = 0 fur t < t0 .
Diese Beziehung kann nur dann fur alle t0 und alle f richtig sein, wenn H(t − s) = 0 furt < t0 und s > t0 ⇔H(t) = 0 fur t < 0. Das ist eine große Einschrankung fur die moglichenSystemfunktionen h.
Beispiel 14 Der RC-Kreis. Die Gleichung des RC-Kreises ist
RC g′ + g = f
mit Konstanten R,C > 0. Die Losung g dieser Gleichung hangt linear von f ab. Nehmenwir an, dass g, g′, g′′ absolut integrierbar sind, so folgt aus
RCF[g′] +F[g] = F[f] ,
41
dassRCiωg(ω) + g(ω) = f(ω) .
Damit folgt
g(ω) = 1
1 + iRCω⋅ f(ω)
und mit dem Faltungssatz erhalten wir
g(t) =H(t) ∗ f(t) .
Hierbei ist h(ω) = 1/(1 + iRCω) die Systemfunktion und
H(t) = F−1 [ 1
1 + iRCω] (t)
die Impulsantwort. Gemaß Beispiel 3 mit a = 1RC gilt
F [ 1
RCe−
tRC u(t)] (ω) = 1
RC
1
1/RC + iω= 1
1 + iRCω.
und damit folgt
H(t) = 1
RCe−t/RCu(t) .
mit der Heavisidefunktion u. Wegen H(t) = 0 fur t < 0 ist das System kausal, d.h. reali-sierbar. Als Losung erhalten wir
g(t) = (H ∗ f)(t)
= ∫∞
−∞
1
RCe−(t−s)/(RC)u(t − s)f(s)ds
= ∫t
−∞
1
RCe−
t−sRC f(s)ds .
Beispiel 15 Der RLC-Kreis.
Die Gleichung des RLC-Kreises ist
LC u′′ +RCu′ + u = f
mit Konstanten L,C,R > 0. Nehmen wir an, dass u,u′, u′′ absolut integrierbar sind, sofolgt aus
LCF[u′′] +RCF[u′] +F[u] = F[f] ,
dassLC(iω)2 u(ω) +RC(iω) u(ω) + u(ω) = f(ω) .
Damit folgt
u(ω) = 1
LC(iω)2 +RC(iω) + 1⋅ f(ω) = f(ω)
Q(iω)mit
Q(x) = LC x2 +RC x + 1 .
42
Wir machen eine Partialbruchzerlegung. Die Nullstellen von Q(x) sind
x1,2 = −R
2L± 1
2L
√R2 − 4L
C.
Wir betrachten nur den Fall R2 − 4LC < 0. In diesem Fall gilt
x1,2 = −R
2L± i
2L
√4L
C−R2 = −α ± iβ ,
mit
α ∶= R
2L, β ∶= 1
2L
√4L
C−R2 .
Damit folgt1
Q(x)= 1
2iLCβ( 1
x − x1
− 1
x − x2
) ,
also1
Q(iω)= 1
2iLCβ( 1
iω + α − iβ− 1
iω + α + iβ) .
Mit Beispiel 3 folgt
F[e−(α±iβ)tu(t)](ω) = F[e−αtu(t)](ω ± β) = 1
α + i(ω ± β)
und daher ist
H(t) = F−1 [ 1
Q(iω)] (t)
= 1
2iLCβ(e−(α−iβ)t u(t) − e−(α+iβ)t u(t))
= 1
2iLCβe−αt (eiβt − e−iβt) ⋅ u(t)
= 1
LCβe−αt sin(βt) ⋅ u(t)
die Impulsantwort. Mit dem Faltungssatz folgt weiter, dass
u(t) = (H ∗ f)(t) = 1
LCβ ∫t
−∞e−α(t−s) sin(β(t − s)) f(s)ds .
Beispiel 16 Das Signal f(t) sei absolut integrierbar. Es soll ein Filter konstruiert werden,der nur niedrige Frequenzen ∣ω∣ ≤ B fur eine Bandbreite B > 0 durchlasst. Sei also
fB(ω) =⎧⎪⎪⎨⎪⎪⎩
f(ω), ∣ω∣ ≤ B0, ∣ω∣ > B.
Wir wollen nun eine Funktion fB bestimmen, so dass F[fB] = fΩ. Sei
rB =⎧⎪⎪⎨⎪⎪⎩
1, ∣ω∣ ≤ B0, sonst
43
eine Rechteckfunktion. Offenbar gilt
fB(ω) = f(ω)rB(ω).
Wir wissen schon aus Beispiel 13, dass
F [sin(xB)x
] (ω) = πrB(ω).
Damit und mit dem Faltungssatz folgt:
fB(x) = (f(x) ∗ 1
π
sin(xB)x
) (x) = 1
π ∫∞
−∞f(x − y)sin(yB)
ydy.
Der Filter genugt nicht dem Kausalitatsprinzip, d.h. dieser Filter ist nicht realisierbar.
Satz 1.2.16 (Abtasttheorem). Sei f ∈ L2(R) mit f(ω) = 0 fur ∣ω∣ ≥ B.Dann ist fvollstandig durch die Werte an den Stellen tn = (nπ/B), n ∈ Z, bestimmt. Genauer gilt
f(t) =∞∑n=−∞
f (nπB
) sin(Bt − nπ)Bt − nπ
Beweis. Wir entwickeln f auf [−B,B] in eine Fourierreihe:
f(ω) =∞∑n=−∞
c−ne−inπω/B,
wobei
c−n = 1
2B ∫B
−Bf(ω)einπω/Bdω
= 1
2B ∫∞
−∞f(ω)einπω/Bdω (nach Voraussetzung)
= π
Bf (nπ
B) (inverse Fourier-Transformation).
Damit und mit der Formel fur die inverse Fourier-Transformation erhalten wir
f(t) = 1
2π ∫B
−Bf(ω)eiωtdω
= 1
2π ∫B
−B
∞∑n=−∞
c−ne−inπω/Beiωtdω
= 1
2B ∫B
−B
∞∑n=−∞
f (nπB
) e−inπω/Beiωtdω
= 1
2B
∞∑n=−∞
f (nπB
)[ ei(Bt−nπ)ω/B
i(Bt − nπ)/B]B
−B
=∞∑n=−∞
f (nπB
) sin(Bt − nπ)Bt − nπ
.
44
1.3 Die Laplace-Transformation
1.3.1 Definition und Eigenschaften
Definition 1.3.1. Sei f ∶ [0,∞)→ C stw. stetig. Das Integral
Lf(t)(s) ∶=∞
∫0
e−stf(t)dt = limT→∞∫
T
0e−stf(t)dt, s ∈ C, (1.45)
heißt die Laplace-Transformierte von f , sofern es konvergiert.
Wenn nicht anders gesagt, wird die Laplace-Transformation einer Funktion mit dem ent-sprechenden Großbuchstaben gekennzeichnet, also F (s) ∶= Lf(t)(s), Y (s) ∶= Ly(t)(s)usw.
Fur s = x + iy ∈ C bezeichnen wir mit Rs = x den Realteil von s. Hierfur gilt ∣es∣ = eRs.Beispiel 1 Sei f(t) = 1, 0 ≤ t <∞ . Dann gilt fur Rs > 0 :
∞
∫0
e−stf(t)dt = limT→∞
T
∫0
e−st dt = limT→∞
[−1
se−st]
T
0
= limT→∞
[1
s− e
−sT
s] = 1
s.
Daher gilt L1(s) = 1s (sofern Rs > 0). Fur Rs ≤ 0 konvergiert das Laplaceintegral
(1.45) nicht .
Bemerkung 1.3.2. Die Laplace-Transformation ist eng verwandt mit der Fouriertrans-formation. Zunachst setzen wir f durch f(t) ∶= 0 fur t < 0 auf ganz R fort. Ferner seis = x + iy. Dann gilt
Lf(t)(s) = ∫∞
0e−stf(t)dt = ∫
∞
−∞e−(x+iy)tf(t)dt = F[e−xtf(t)](y) ,
und fur x = 0 folgt insbesondere (sofern F[f](y) existiert)
Lf(iy) = F[f](y) fur alle y ∈ R.
Beispiel 2 Sei f(t) = eαt, α ∈ C . Dann gilt
Leαt(s) =∞
∫0
e(α−s)tdt = 1
s − α(falls Rs >Rα ).
Fur Rs ≤Rα konvergiert das Laplaceintegral nicht.
Beispiel 3 Sei f(t) = tn, n ∈ N. Dann gilt fur s ∈ C mit Rs > 0
Ltn(s) = ∫∞
0tne−st dt = [ t
n
−se−st]
∞
0
+ ns ∫
∞
0tn−1e−st dt = n
sLtn−1(s).
Damit folgt mit n = 1 und n = 2
Lt(s) = 1
sL1(s) = 1
s2, Lt2(s) = 2
sLt(s) = 2
s3
45
und weiter induktiv
Ltn(s) = nsLtn−1(s) = n!
sn+1.
Wir untersuchen nun unter welchen Voraussetzungen das Laplaceintegral (1.45) existiert.
Definition 1.3.3. Ein f ∶ [0,∞) → C heißt von exponentieller Ordnung mit Parameterγ ∈ R, wenn eine Konstante M > 0 existiert, so dass
∣f(t)∣ ≤Meγt ∀ t ≥ 0 (1.46)
gilt. Mit E bezeichnen wir die Klasse der Funktionen von exponentieller Ordnung (mitbeliebigem Parameter γ ∈ R), die außerdem stw. stetig sind.
Satz 1.3.1. Sei f ∈ E gegeben mit der Eigenschaft (1.46) fur ein γ ∈ R. Dann konvergiertdas Integral ∫
∞0 e−stf(t)dt absolut fur alle komplexen Zahlen s ∈ C mit Rs > γ.
Beweis. Sei s = x + iy. Da f von exponentieller Ordnung ist, gilt
∣e−stf(t)∣ = e−xt ∣f(t)∣ ≤Me−(x−γ)t, t ≥ 0.
Also gilt fur x > γ
∣∫∞
0e−stf(t)dt∣ ≤ ∫
∞
0∣e−stf(t)∣dt ≤M ∫
∞
0e−(x−γ)tdt = M
x − γ<∞.
Beispiel 4 Die Funktionen 1, t, tn, cos(ωt), sin(ωt) sind von exponentieller Ordnungund stetig, also aus E . Die Funktion f(t) = et2 ist nicht von exponentieller Ordnung.
Die Laplace-Transformation ist linear, d.h. es gilt
Lα1f1(t) + α2f2(t) = α1Lf1(t) + α2Lf2(t), ∀α1, α2 ∈ C. (1.47)
Existieren Lf1(t)(s) fur Rs > γ1 und Lf2(t)(s) fur Rs > γ2, so existiert die rechteSeite von (1.47) fur Rs > max(γ1, γ2). Gleichung (1.47) gilt also auf der Halbebene R s >max(γ1, γ2).Beispiel 5 Sei f(t) = cos(ωt) . Dann gilt wegen der Linearitat von L und Beispiel 2 furRs > 0
Lcos(ωt)(s) = 1
2(Leiωt(s) +Le−iωt(s)) = 1
2( 1
s − iω+ 1
s + iω) = s
s2 + ω2
und
Lsin(ωt)(s) = 1
2i(Leiωt(s) −Le−iωt(s)) = 1
2i( 1
s − iω− 1
s + iω) = ω
s2 + ω2. (1.48)
Beispiel 6 Sei
p(t) =k
∑n=0
antn mit an ∈ C
46
ein Polynom. Dann gilt fur Rs > 0
Lp(t)(s) =k
∑n=0
anLtn(s) =k
∑n=0
ann!
sn+1.
Wir ersetzen nun das Polynom durch eine Potenzreihe
f(t) =∞∑n=0
antn, t ≥ 0.
Dann ist es naheliegend zu versuchen, die Laplace-Transformierte gliedweise zu berechnen,also ∞
∑n=0
anLtn(s) =∞∑n=0
ann!
sn+1.
zu bilden. Wegen des Faktors n! im Zahler wird diese Reihe i.A. nicht konvergieren. Esgilt jedoch der folgende Satz:
Satz 1.3.2. Sei f(t) = ∑∞n=0 ant
n fur alle t ≥ 0, konvergent. Falls die Reihe
∞∑n=0
∣an∣n!b−n (1.49)
fur ein b > 0 konvergiert, so gilt fur Rs > b
Lf(t)(s) = ∫∞
0f(t)e−st dt =
∞∑n=0
ann!
sn+1.
Insbesondere konvergieren die Reihe und das Integral, falls Rs > b.
Beweis. Fur Rs > b gilt∞∑n=0
∣an∣n!
∣s∣n+1≤
∞∑n=0
∣an∣n!
bn+1<∞.
Weil die Reihe (1.49) konvergiert, gilt
∣an∣n!b−n → 0 fur n→∞,
also insbesondere
∣an∣ ≤Mbn
n!
fur eine Konstante M > 0. Es folgt
∣f(t)∣ ≤∞∑n=0
∣an∣tn ≤M∞∑n=0
(bt)nn!
=Mebt.
Also ist f(t) von exponentieller Ordnung mit Parameter b und damit existiert die Laplace-Transformierte Lf(t)(s) fur R s > b. Ferner sei δ > 0 fest. Dann gilt fur alle s ∈ C mitR s ≥ b + δ und beliebige N die Abschatzung
∣N
∑n=0
antne−st∣ ≤
N
∑n=0
∣an∣tne−Rs t ≤ e−(b+δ)tN
∑n=0
∣an∣tn ≤Me−(b+δ)tebt = e−δt .
47
Weil e−δt integrierbar ist, folgt mit dem Satz von Lebesgue (siehe Anhang), dass
Lf(t)(s) = ∫∞
0limN→∞
N
∑n=0
antne−st dt
= limN→∞∫
∞
0(N
∑n=0
antne−st) dt
=∞∑n=0
anLtn(s) =∞∑n=0
ann!
sn+1.
Beispiel 7
f(t) = sin t
t=
∞∑n=0
(−1)nt2n(2n + 1)!
.
Wegen a2n−1 = 0 und
∣a2n∣ =1
(2n + 1)!< 1
(2n)!ist die Reihe (1.49) fur jedes b > 1 konvergent. Wir konnen deshalb den Satz anwendenund erhalten fur Rs > 1:
Lsin t
t(s) =
∞∑n=0
L(−1)nt2n(2n + 1)!
(s)
=∞∑n=0
(−1)n(2n)!(2n + 1)! s2n+1
=∞∑n=0
(−1)n(2n + 1)s2n+1
= arctan(1
s) .
Beispiel 8 Zu bestimmen ist die Laplace-Transformierte der Besselfunktion 0-ter Ord-nung
J0(t) =∞∑n=0
(−1)nt2n22n(n!)2
. (1.50)
Transformieren wir die Reihe formal gliedweise, so erhalten wir
LJ0(t)(s) =∞∑n=0
(−1)n(2n)!22n(n!)2s2n+1
. (1.51)
Mit dem Quotientenkriterium lasst sich zeigen, dass die Reihe fur ∣s∣ > 1 konvergiert.Gemaß Satz 1.3.2 ist dann Gleichung (1.51) fur Rs > 1 richtig. Die Reihe kann nochaufsummiert werden. Es gilt
(2n)!2nn!
= 1 ⋅ 2 ⋅ 3⋯(2n)2 ⋅ 4 ⋅ 6⋯(2n)
= 1 ⋅ 3 ⋅ 5⋯(2n − 1),
also(−1)n(2n)!
22n(n!)2= (−1) ⋅ (−3)⋯(−2n + 1)
2nn!= (−1)
2
(−3)2
⋯(−2n + 1)2
1
n!.
48
Setzen wir in der binomischen Reihe α = −12 , also
(1 + z)α =∞∑n=0
α(α − 1)⋯(α − n + 1)zn
n!, (∣z∣ < 1),
so folgt∞∑n=0
(−1)n(2n)!22n(n!)2s2n+1
= 1
s(1 + 1
s2)−1/2
= (s2 + 1)−1/2.
1.3.2 Rechenregeln
Im Folgenden sei
u(t) =⎧⎪⎪⎨⎪⎪⎩
0, t < 0,
1, t ≥ 0
die Heavisidefunktion. Wir geben nun zwei Rechenregeln fur die Laplace-Transformationan.
Satz 1.3.3. Sei f ∈ E von exponentieller Ordnung mit Parameter γ. Sei F (s) ∶= Lf(t)(s).
i) (Verschiebung) Fur reelles a > 0 betrachten wir die verschobene Funktion
u(t − a)f(t − a) =⎧⎪⎪⎨⎪⎪⎩
0, 0 ≤ t < a,f(t − a) a ≤ t.
Fur Rs > γ giltLu(t − a)f(t − a)(s) = e−asF (s). (1.52)
Außerdem gilt fur α ∈ C und s ∈ C mit Rs > γ +Rα
Leαtf(t)(s) = F (s − α) ; (1.53)
ii) (Skalierung) Fur a > 0 und s ∈ C mit Rs > aγ gilt
Lf(at)(s) = a−1F (a−1s). (1.54)
Beweis. i) Es gilt
Lu(t − a)f(t − a) = ∫∞
0e−stu(t − a)f(t − a)dt = ∫
∞
ae−stf(t − a)dt
y∶=t−a= ∫∞
0e−s(y+a)f(y)dy = e−asF (s) .
Sei α = a + ib. Wegen∣eαtf(t)∣ ≤ eatMeγt =Me(a+γ)t
ist eαtf(t) von exponentieller Ordnung mit Parameter a + γ, und fur Rs > a + γ gilt
Leαtf(t)(s) =∞
∫0
e−steαtf(t)dt =∞
∫0
e−(s−α)tf(t)dt = F (s − α) .
ii)
Lf(at)(s) = ∫∞
0f(at)e−st dt y∶=at= a−1∫
∞
0f(y)e− say dy = a−1F (a−1s).
49
Beispiel 9 Sei
g(t) =⎧⎪⎪⎨⎪⎪⎩
0, 0 ≤ t < 1
t − 1, 1 ≤ t.
Offenbar istg(t) = u(t − 1)(t − 1).
Gemaß (1.52) gilt dann
Lg(t)(s) = Lu(t − 1)(t − 1)(s) = e−sLt(s) = e−s
s2.
Beispiel 10 Mit (1.53) und Beispiel 5 folgt, dass
Leat cos(ωt)(s) = s − a(s − a)2 + ω2
.
Der folgende Satz macht deutlich, wie die Laplace-Transformation zur Losung gewohnli-cher Differentialgleichungen verwendet werden kann.
Satz 1.3.4. Sei f in (0,∞) stetig und in [0,∞) stetig differenzierbar. Ferner sei f vonexponentieller Ordnung mit Parameter γ und F (s) ∶= Lf(t)(s). Dann gilt
Lf ′(t)(s) = sF (s) − f(0+) fur Rs > γ .
Beweis. Nach Voraussetzung ist die Funktion e−stf ′(t) in jedem endlichen Intervall [0, T ]stw. stetig. Seien
0 < x1 < x2 < ⋯ < xn−1 < T
die Unstetigkeitsstellen in dem offenen Intervall (0, T ). Wir setzen x0 ∶= 0 und xn ∶= T .Dann gilt fur die stuckweise Ableitung f ′:
∫T
0e−stf ′(t)dt =
n
∑i=1∫
xi
xi−1e−stf ′(t)dt
=n
∑i=1
[e−stf(t)∣xixi−1 + s∫xi
xi−1e−stf(t)dt]
=n
∑i=1
[e−sxif(xi) − e−sxi−1f(xi−1)] + sn
∑i=1
[∫xi
xi−1e−stf(t)dt]
= e−sTf(T ) − f(0+) + s∫T
0e−stf(t)dt .
Weil die Laplace-Transformierte Lf(t) fur Rs > γ existiert, existiert der Grenzwert
Lf(t)(s) = limT→∞∫
T
0e−stf(t)dt (fur Rs > γ) .
Außerdem gilt
limT→∞
∣e−sTf(T )∣ ≤ limT→∞
e−RsTMeγT =M limT→∞
e−(Rs−γ)T = 0,
50
da Rs − γ > 0. Damit erhalten wir
Lf ′(t)(s) = s∫∞
0e−stf(t)dt − f(0+) = sF (s) − f(0+) .
Die Ableitung f ′ in diesem Satz muss nicht von exponentieller Ordnung sein. Dieser Satzlasst sich leicht verallgemeinern.
Satz 1.3.5. Seien f, f ′, . . . , f (k−1) in (0,∞) stetig und von exponentieller Ordnung mitParameter γ. Ferner sei f (k) in [0,∞) stw. stetig. Dann gilt
Lf (k)(t)(s) = skF (s) − sk−1f(0+) − sk−2f ′(0+) − . . . − f (k−1)(0+) fur alle Rs > γ .
Beweis. Induktiv folgt mit Satz 1.3.4
Lf (k)(t)(s) = sLf (k−1)(t)(s) − f (k−1)(0+)= s2Lf (k−2)(t)(s) − sf (k−2)(0+) − f (k−1)(0+)= . . .= skF (s) − sk−1f(0+) − sk−2f ′(0+) − . . . − f (k−1)(0+).
Beispiel 11 f(t) = cos(ωt) genugt der Differentialgleichung
f ′′(t) + ω2f(t) = 0, f(0) = 1, f ′(0) = 0.
Es folgts2F (s) − sf(0) − f ′(0) + ω2F (s) = 0
und weiters2F (s) − s + ω2F (s) = 0.
Also istF (s) = s
s2 + ω2.
Damit haben wir erneut die Laplacetransformierte von cos(ωt) hergeleitet.
Beispiel 12 Berechne Lsin2(ωt). Fur f(t) = sin2(ωt) gilt
f ′(t) = 2ω sin(ωt) cos(ωt) = ω sin(2ωt).
Gemaß Satz 1.3.4 gilt
Lω sin(2ωt)(s) = sLsin2(ωt)(s) − sin2(0) = sLsin2(ωt)(s).
Mit Satz 1.3.3 und Beispiel 5 folgt weiter
Lsin2(ωt)(s) = 1
sLω sin(2ωt)(s) = ω
2sLsin(ωt)(s
2) = 1
s
2ω2
s2 + 4ω2.
51
Beispiel 13 Zu bestimmen ist die Laplace-Transformierte der Laguerreschen Polynome
Ln(t) =et
n!
dn
dtn(tne−t), n = 0,1,2, . . .
Laut Satz 1.3.3 und Beispiel 3 gilt
Ltne−t = n!
(s + 1)n+1
und mit Satz 1.3.5 folgt fur f(t) ∶= tne−t
L dn
dtn(tne−t) (s) = snLf(t) (s)− sn−1f(0+)− sn−2f ′(0+)− . . .− f (n−1)(0+) = snn!
(s + 1)n+1.
Wieder mit Satz 1.3.3 folgt, dass
LLn(t)(s) = L et
n!
dn
dtn(tne−t) (s) = (s − 1)n
sn+1.
Beispiel 14 Lose das AWPy′ + ay = 0, y(0) = y0 . (1.55)
Wir setzen Y (s) ∶= Ly(t)(s) .
1. Schritt: Transformation der DGL.
Nach Satz 1.3.4 giltsY (s) − y(0) + aY (s) = 0 ,
alsosY (s) − y0 + aY (s) = 0 .
2. Schritt: Losung der transformierten Gleichung.
Es giltY (s)(s + a) = y0 ,
alsoY (s) = y0
s + a. (1.56)
3. Schritt: Rucktransformation.
Dieser Schritt ist der schwierigste, weil wir zunachst mehr oder weniger auf Raten ange-wiesen sind. Nach Beispiel 2 gilt fur Rs >Rα
Leαt(s) = 1
s − α.
Ein Vergleich mit (1.56) fuhrt auf die Wahl α = −a . Damit erhalten wir
Ly0e−at(s) = y0
s + a= Y (s),
alsoy(t) = y0e
−at . (1.57)
52
Satz 1.3.6. Sei f ∈ E von exponentieller Ordnung mit Parameter γ ∈ R. Dann gilt furs ∈ R und k ∈ N
F (k)(s) = (−1)kLtkf(t), (s > γ). (1.58)
Beweis. Die Funktion s↦ e−stf(t) ist k-mal stetig differenzierbar. Weil das Integral
∫∞
0
dk
dske−stf(t)dt
fur festes ε > 0 und alle s ∈ R mit s ≥ γ + ε gleichmaßig konvergiert, gilt
F (k)(s) = ∫∞
0
dk
dske−stf(t)dt = (−1)k ∫
∞
0tke−stf(t)dt . (1.59)
Da ε > 0 beliebig war, gilt Gleichheit (1.59) fur alle s > γ.
Beispiel 15 Sei f(t) = 1 . Dann gilt fur Rs > 0 und alle k ∈ N
Ltk(s) = (−1)k dk
dskL1(s) = (−1)k d
k
dsk(1
s) = k!
sk+1
Beispiel 16 Gegeben sei das (variable Koeffizienten) AWP
y′ + 2ty = sin t, y(0) = y0 . (1.60)
1. Schritt: Transformation
Wir erhalten mit Satz 1.3.4 und Satz 1.3.6
sY (s) − y(0) − 2Y ′(s) = 1
s2 + 1. (1.61)
Hier sehen wir, dass die Methode der Laplace-Transformation nur dann besonders gutfunktioniert, wenn es sich um eine DGL mit konstanten Koeffizienten handelt. Die trans-formierte Gleichung (1.61) ist hier wieder eine gewohnliche DGL. Gegenuber der ursprung-lichen DGL (1.60) haben wir also nichts gewonnen. Das Beispiel soll daher auch nichtweiter verfolgt werden.
Satz 1.3.7 (Laplace-Transformation der Stammfunktion). Sei f ∈ E von exponentiellerOrdnung mit Parameter γ > 0. Dann gilt fur Rs > maxγ,0
L [∫t
0f(u)du] (s) = F (s)
s.
Beweis. Sei g(t) ∶= ∫t
0 f(u)du. Dann ist g′(t) = f(t) mit Ausnahme hochstens endlichvieler Punkte und die Funktion g ist von exponentieller Ordnung mit jedem Parameter,der grosser als maxγ,0 ist. Gemaß Satz 1.3.4 gilt
F (s) = Lg′(t)(s) = sLg(t)(s) − g(0+) = sLg(t)(s),
also
Lg(t)(s) = F (s)s
.
53
Es gilt auch die Umkehrung des vorhergehenden Satzes:
Satz 1.3.8. Seien f ∈ E und t−1f(t) ∈ E von exponentieller Ordnung mit Parameter γ.Fur reelles s > γ gilt:
Lf(t)t
(s) = ∫∞
sF (u)du.
Beweis.
∫∞
sF (u)du = ∫
∞
s(∫
∞
0e−utf(t)dt) du
= ∫∞
0(∫
∞
se−utdu) f(t)dt
= ∫∞
0e−st
f(t)tdt
= Lf(t)t
(s).
Beispiel 17 Es gilt
Lsin t
t(s) = ∫
∞
sLsin t(u)du = ∫
∞
s
du
u2 + 1= π
2− arctan s = arctan
1
s.
Beispiel 18
L∫t
0
sinu
udu(s) = Lt−1 sin t (s)
s= 1
sarctan
1
s.
Haufig ist die Laplace-Transformierte einer periodischen Funktion zu bilden.
Satz 1.3.9. Sei f stw. stetig und periodisch mit Periode T > 0, d.h.
f(t + T ) = f(t), ∀t ∈ [0,∞].
Dann gilt fur Rs > 0
F (s) = ∫T
0 f(t)e−stdt1 − e−sT
.
Beweis. Es gilt
∫∞
0f(t)e−stdt = ∫
T
0f(t)e−stdt + ∫
∞
Tf(t)e−stdt
t=∶τ+T= ∫T
0f(t)e−stdt + ∫
∞
0f(τ + T )e−s(τ+T )dτ
= ∫T
0f(t)e−stdt + e−sT ∫
∞
0f(t)e−stdt.
Also ist
F (s) = ∫T
0 f(t)e−stdt1 − e−sT
.
54
Eine analoge Aussage gilt fur Funktionen mit f(t+T ) = −f(t). Dann ist F (s) = ∫T0 f(t)e−stdt
1+e−sT .
Beispiel 19 Seif(t) = cos t, 0 ≤ t < π,
auf [0,∞) π-periodisch fortgesetzt. Dann gilt fur Rs > 0
F (s) = ∫π
0 e−st cos t dt
1 − e−sπ
=[ e−sts2+1 (−s cos t + sin t)]
t=πt=0
1 − e−sπ
= s
s2 + 1
1 + e−sπ1 − e−sπ
.
Die Stammfunktion zu e−st cos t lasst sich hierbei durch zwei partielle Integrationen be-rechnen.
1.3.3 Bestimmung der inversen Laplace-Transformierten
Fur die Losung von Differentialgleichungen mittels Laplace-Transfomierter ist wesentlich,dass man die inverse Laplace-Transformierte einer Funktion bestimmen kann (vgl. Bei-spiel 16). Diesem Problem wenden wir uns jetzt zu.
Es sei eine Funktion F (s) gegeben. Wir nehmen an, dass F (s) Laplace-Transformierteeiner Funktion f(t) ist, und dass f(t) bestimmt werden soll.
Eine Funktion f(t) mit Lf(t)(s) = F (s) heißt inverse Laplace-Transformierte vonf ,
f(t) =∶ L−1F (s)(t).Man kann Folgendes beweisen:
Satz 1.3.10. Verschiedene stetige Funktionen besitzen verschiedene Laplace-Transformierte.
Nach diesem Satz ist die inverse Laplace-Transformierte f(t) = L−1F (s)(t) eindeutig,sofern wir uns auf stetige Funktionen f(t) beschranken. In diesem Fall konnen wir vonder inversen Laplace-Transformierten sprechen.
Es sollen nun zwei Verfahren zur Berechnung der inversen Laplace-Transformierten vor-gestellt werden.
1. Methode: Partialbruchzerlegung
Dieses Verfahren lasst sich immer dann anwenden, wenn F (s) eine gebrochene ratio-nale Funktion ist. In diesem Fall konnen wir eine Partialbruchzerlegung machen.
Beispiel 20 Sei
F (s) = 1
s2 − 1, Rs > 1.
F (s) hat die Partialbruchzerlegung
1
s2 − 1= 1
2( 1
s − 1− 1
s + 1) .
55
Es folgt mit Beispiel 2, dass
L−1 ( 1
s2 − 1) = 1
2(L−1 ( 1
s − 1) −L−1 ( 1
s + 1))
= 1
2(et − e−t).
Beispiel 21 Sei
F (s) = s + 1
s2(s + 2)2, Rs > 0.
Wir bilden zunachst die Partialbruchzerlegung
F (s) = 1
4
1
s2− 1
4
1
(s + 2)2.
Hieran lasst sich ablesen, dass
L−1( s + 1
s2(s + 2)2) = 1
4L−1( 1
s2) − 1
4L−1( 1
(s + 2)2) = 1
4t − 1
4te−2t .
2. Methode: Der Faltungssatz
Dieses Verfahren lasst sich anwenden, wenn F (s) ein Produkt aus Funktionen ist, de-ren inverse Laplace-Transformierte bekannt ist.
Definition 1.3.4. Seien f, g ∶ [0,∞)→ C von exponentieller Ordnung. Dann heißt
h(t) = (f ∗ g)(t) =t
∫0
f(t − y)g(y)dy, t > 0. (1.62)
das Faltungsprodukt von f und g im Sinne der Laplace-Transformation.
Diese Definition stimmt mit der fruheren Definition des Faltungsprodukts uberein, wennwir f und g durch 0 fur t < 0 auf ganz R fortsetzen. Tatsachlich gilt dann
(f ∗ g)(t) = ∫∞
−∞f(t − y)g(y)dy = ∫
t
0f(t − y)g(y)dy, t > 0.
Ahnlich wie bei dere Fouriertransformation gilt der folgende Faltungssatz:
Satz 1.3.11 (Faltungssatz). Seien f, g ∈ E von exponentieller Ordnung mit Parameter γ.Dann ist auch f ∗ g von exponentieller Ordnung mit Parameter γ, und es gilt
Lf ∗ g(s) = Lf(s)Lg(s) (Rs > σ).
56
Beweis. Seien F (s),G(s) die Laplace-Transformierten von f und g. Fur die Faltung giltdann
L(f ∗ g)(t)(s) =∞
∫0
e−st⎡⎢⎢⎢⎢⎣
t
∫0
g(y)f(t − y)dy⎤⎥⎥⎥⎥⎦dt =
∞
∫0
g(y)⎡⎢⎢⎢⎢⎣
∞
∫y
e−stf(t − y)dt⎤⎥⎥⎥⎥⎦dy
x∶=t−y=∞
∫0
g(y)⎡⎢⎢⎢⎢⎣
∞
∫0
e−s(x+y)f(x)dx⎤⎥⎥⎥⎥⎦dy =
∞
∫0
∞
∫0
e−s(x+y)f(x)g(y)dxdy
=⎛⎝
∞
∫0
e−sxf(x)dx⎞⎠⎛⎝
∞
∫0
e−syg(y)dy⎞⎠= F (s)G(s).
Da die Integrale F (s) und G(s) fur Rs > γ absolut konvergieren, konvergiert auch dasIntegral L(f ∗ g)(t)(s) fur Rs > γ.
Beispiel 22 Berechnung von L−1 1s2−1
mit dem Faltungssatz.
Es gilt1
s2 − 1= 1
s − 1
1
s + 1.
Mit
F (s) = 1
s − 1, G(s) = 1
s + 1
folgtf(t) = et, g(t) = e−t
und damit
L−1 1
s2 − 1(t) = (f ∗ g)(t) = (et ∗ e−t)(t) = ∫
t
0e(t−u)e−udu
= et∫t
0e−2udu = et[−1
2e−2u]t0
= 1
2(et − e−t) .
Beispiel 23 Sei
F (s) = 1
(s + 1)(s2 + 2), Rs > 0.
Dann gilt
f(t) = ( 1√2e−t ∗ sin(
√2t)) (t) = 1√
2∫
t
0e−(t−y) sin(
√2y)dy.
1.3.4 Asymptotische Werte
Abschließend stellt sich noch die Frage, ob jede Funktion F (s) als Laplace-Transformierteeiner Funktion f(t) auftreten kann. Der folgende Satz gibt eine notwendige Bedingunghierfur an.
57
Satz 1.3.12. Sei f ∈ E von exponentieller Ordnung mit Parameter γ. Dann gilt
limRs→∞
F (s) = 0 .
Beweis. Sei s = x + iy. Dann gilt fur x > γ
∣F (s)∣ =RRRRRRRRRRRR
∞
∫0
e−stf(t)dtRRRRRRRRRRRR
≤ M ∫∞
0∣e−st∣eγtdt
= M
∞
∫0
e−xteγtdt
= M
x − γ.
Damit folgt
limRs→∞
F (s) = limx→∞
M
x − γ= 0 .
Satz 1.3.13. Es gelte f, f ′ ∈ E . Dann folgt
f(0+) = limt→0,t>0
f(t) = limRs→∞
sF (s).
Beweis. Gemaß Satz 1.3.4 und Satz 1.3.12 gilt
0 = limRs→∞
Lf ′(t)(s) = limRs→∞
sF (s) − f(0+),
alsof(0+) = lim
Rs→∞sF (s).
Beispiel 24 Sei
F (s) = s + 1
(s − 1)(s + 2).
Dann gilt
f(+) = lims→∞
s(s + 1)(s − 1)(s + 2)
= 1.
58
2 Gewohnliche Differentialgleichungen
2.1 Gewohnliche Differentialgleichungen 1.Ordnung
Viele Prozesse in der Natur werden durch Differentialgleichungen oder Systeme von Dif-ferentialgleichungen beschrieben. Hierbei werden Beziehungen zwischen einer Funktiony ∶ (a, b) → R (z.B. eine zeitabhangige Große y(t) mit t ∈ (a, b)) und ihren Ableitungeny′, y′′, . . . dargestellt, die man nach der Funktion y auflosen muss
Sei D ⊆ R2 ein Gebiet und f ∶D → R eine gegebene Funktion. Die genauen Eigenschaftenvon f sollen erst spater angegeben werden.
Definition 2.1.1. Die Gleichungy′ = f(t, y) (2.1)
heißt gewohnliche Differentialgleichung 1. Ordnung. Eine Losung der Differentialgleichung(2.1) ist eine auf einem Intervall I = (a, b) definierte Funktion y ∶ I → R mit den folgendenEigenschaften:
1) Die Ableitung y′(t) existiert fur alle t ∈ I,
2) (t, y(t)) ∈D fur alle t ∈ I,
3) y′(t) = f(t, y(t)) fur alle t ∈ I.
Das Intervall I heißt Losungsintervall.
Beispiel 1 Die Differentialgleichung sei y′ = 2y. In diesem Fall ist f(t, y) = 2y und D = R2.y(t) = exp(2t) ist eine Losung mit dem Losungsintervall I = R. Diese Losung ist nichteindeutig, denn y(t) ∶= c exp(2t), c ∈ R, ist ebenfalls eine Losung.
Beispiel 2 Die Differentialgleichung sei y′ = −y2. In diesem Fall ist f(t, y) = −y2 undD = R2. Es ist leicht zu uberprufen, dass y(t) = 1/t eine Losung ist. Es gibt nun jedochzwei mogliche Losungsintervalle, namlich (−∞,0) und (0,∞).Diese beiden Beispiele zeigen, dass Losungen im Allgemeinen nicht eindeutig sind. Wirgeben uns deshalb noch einen Punkt (t0, y0) ∈D vor und fordern zusatzlich fur die Losung,dass y(t0) = y0 gilt.
Das Problemy′ = f(t, y), y(t0) = y0 (2.2)
wird als Anfangswertproblem (AWP) bezeichnet. Eine Losung y ∶ I → R heißt dannLosung des AWPs (2.2), falls zusatzlich t0 ∈ I und y(t0) = y0 gilt.
Im Allgemeinen lasst sich die Losung einer Differentialgleichung nicht explizit angeben,auch wenn bekannt ist, dass eine solche existiert. In einigen Fallen gibt es jedoch eineLosungstheorie. Einige dieser Falle sollen nun behandelt werden.
59
2.1.1 Lineare Differentialgleichungen 1. Ordnung
Die Differentialgleichungy′ + p(t)y = q(t), t ∈ I, (2.3)
mit Funktionen p, q ∶ I → R heißt lineare Differentialgleichung 1. Ordnung.
Es ist also f(t, y) = −p(t)y + q(t) und D ist der Streifen (t, y) ∣ t ∈ I,−∞ < y <∞.
Falls q(t) /≡ 0 ist, heißt die DGL (2.3) inhomogen, andernfalls homogen. Die Gleichungheißt linear, da fur zwei Losungen y1, y2 ∶ I → R der homogenen Differentialgleichung undZahlen c1, c2 die Linearkombination c1y1(t) + c2y2(t) wieder eine Losung der homogenenDGL ist.
Wir untersuchen zunachst homogene Differentialgleichungen.
Homogene Differentialgleichungen
Gegeben sei die homogene Differentialgleichung
y′(t) + p(t)y(t) = 0, t ∈ I. (2.4)
Nachrechnen ergibt, dassy(t) ∶= e− ∫ p(t)dt
eine Losung der homogenen Differentialgleichung (2.4) ist. Hierbei steht ∫ p(t)dt fur ir-gendeine Stammfunktion von p. Wegen der Linearitat der Differentialgleichung sind wei-tere Losungen gegeben durch cy(t) fur jedes c ∈ R. Wir zeigen nun, dass das schon alleLosungen sind.
Sei hierfur y(t) wie oben und y2(t) eine beliebige weitere Losung der homogenen DGL(2.4). Dann folgt aus
(y2
y)′(t) = y′2(t)y(t) − y′(t)y2(t)
y2(t)
= −p(t)y2(t)y(t) + p(t)y(t)y2(t)y2(t)
= 0,
dass y2(t)/y(t) konstant ist. Also ist y2(t) = cy(t) fur ein c ∈ R
Definition 2.1.2.y(t) = ce− ∫ p(t)dt mit c ∈ R. (2.5)
heißt allgemeine Losung der homogenen Differentialgleichung (2.4)
Beispiel 3 Gesucht ist die allgemeine Losung von
y′ + 2ty = 0, t ∈ R .
Losung Gemaß (2.5) ist
y(t) = c exp ( − ∫ 2sds) = c exp(−t2), c ∈ R,
60
die allgemeine Losung.
Die Konstante c in der allgemeinen Losung wird durch die Anfangsbedingung
y(t0) = y0
fstgelegt. Indem wir in (2.5) vom unbestimmten zum bestimmten Integral ubergehen,erhalten wir als eindeutige Losung des AWPs
y(t) = y0 exp ( − ∫t
t0p(s)ds). (2.6)
Tatsachlich ist ∫t
t0p(s)ds eine Stammfunktion von p und es gilt y(t0) = y0.
Damit erhalten wir den folgenden Satz:
Satz 2.1.1. Es sei p ∈ C(I), I = (a, b) und (t0, y0) ∈ I ×(−∞,∞). Dann gibt es genau einein ganz I definierte Funktion y(t) mit y(t0) = y0, die dort der Differentialgleichung
y′ + p(t)y = 0
genugt. Diese Losung lasst sich explizit angeben:
y(t) = y0 exp ( − ∫t
t0p(s)ds). (2.7)
Beispiel 4 Gesucht ist die Losung des Anfangswertproblems
y′ + (sin t) y = 0, y(0) = 3/2.
Losung: Nach Satz 2.1.1 gilt
y(t) = 32 exp ( − ∫
t
0sin sds)
= 32 exp(cos t − 1).
Inhomogene Differentialgleichungen
Wir untersuchen nun die inhomogene DGL
y′ + p(t)y = q(t). (2.8)
Mityh(t) = ce− ∫ p(t)dt, c ∈ R
bezeichnen wir die allgemeine Losung der homogenen DGL y′ + p(t)y = 0. Wir nehmennun an, dass wir schon eine spezielle (partikulare) Losung yp(t) der inhomogenen DGL(2.8) gefunden haben. Sei y(t) eine weitere beliebige Losung der inhomogenen DGL (2.8).Dann gilt:
y′(t) + p(t)y(t) = q(t) und y′p(t) + p(t)yp(t) = q(t).
61
Subtrahieren wir diese beiden Gleichungen voneinander, so erhalten wir:
(y(t) − yp(t))′ + p(t)(y(t) − yp(t)) = 0.
Also ist y(t) − yp(t) eine Losung der homogenen Differentialgleichung. Es folgt
y(t) − yp(t) = yh(t) ⇐⇒ y(t) = yp(t) + yh(t) .
Satz 2.1.2. Sei yp(t) eine partikulare Losung der inhomogenen DGL y′+p(t)y = q(t) undyh(t) die allgemeine Losung der homogenen DGL y′ + p(t)y = 0. Dann ist
y(t) = yp(t) + yh(t) = yp(t) + ce− ∫ p(t)dt, c ∈ R
die allgemeine Losung der inhomogenen DGL.
Es bleibt noch ubrig, eine partikulare Losung yp zu bestimmen. Dazu gibt es verschiedeneMethoden. Wir gehen hier nur auf das Verfahren der Variation der Konstanten ein.
Variation der Konstanten
1. Schritt Wir beginnen mit der allgemeinen Losung der zugehorigen homogenen Glei-chung y′ + p(t)y = 0, gegeben durch
yh(t) = c exp ( − ∫ p(s)ds), c ∈ R.
Hierbei ersetzen wir die Konstante c durch eine Funktion c(t). (Daher der Name”Variation
der Konstanten“.)
Wir machen also den Ansatz
yp(t) = c(t) exp ( − ∫ p(s)ds). (2.9)
2. Schritt Setze (2.9) in die inhomogene DGL ein.
yp(t) ist genau dann eine Losung der inhomogenen Differentialgleichung (2.8), wenn
q(t) = c′(t) exp ( − ∫ p(s)ds) − c(t)p(t) exp ( − ∫ p(s)ds) + p(t)c(t) exp ( − ∫ p(s)ds)
= c′(t) exp ( − ∫ p(s)ds),
also genau dann, wenn
c′(t) = q(t) exp (∫ p(s)ds). (2.10)
3. Schritt Lose die DGL (2.10) fur c(t) und setze die Losung in (2.9) ein.
Aus
c(t) = ∫ q(u) (exp∫ p(s)ds) (u)du + c
folgt, dass
yp(t) = (∫ q(u) (exp∫ p(s)ds) (u)du + c) exp ( − ∫ p(s)ds)
62
fur jedes c ∈ R eine partikulare Losung ist. Die allgemeine Losung der inhomogenen DGL(2.8) lautet also
y(t) = (∫ q(t) (exp∫ p(t)dt)dt + c) exp ( − ∫ p(t)dt), c ∈ R. (2.11)
Die Integrationskonstante c ergibt sich wieder durch Ubergang zum bestimmten Integralund Einsetzen der Anfangsbedingung y(t0) = y0.
Satz 2.1.3. Seien p, q ∶ I → R stetig, (t0, y0) ∈ I × (−∞,∞) gegeben. Dann hat die Diffe-rentialgleichung
y′ + p(t)y = q(t)
in I genau eine Losung y ∶ I → R mit y(t0) = y0. Diese Losung lautet explizit
y(t) = [y0 + ∫t
t0q(u) exp(P (u))du] exp(−P (t)). (2.12)
mit
P (t) ∶= ∫t
t0p(s)ds.
Beweis. Nachrechnen zeigt, dass y(t) tatsachlich eine Losung ist. Außerdem genugt y(t)der Anfangsbedingung y(t0) = y0. Es bleibt noch die Eindeutigkeit zu zeigen. Seien alsoy1(t), y2(t) zwei Losungen des AWPs. Dann gelten die Gleichungen
y′1(t) + p(t)y1(t) = q(t), y1(t0) = y0,
y′2(t) + p(t)y2(t) = q(t), y2(t0) = y0.
Die Differenz y3(t) ∶= y2(t) − y1(t) ist dann eine Losung des homogenen AWPs
y′3(t) + p(t)y3(t) = 0, y3(t0) = 0.
Aus Satz 2.1.1 folgt dann sofort y3(t) = 0 ∀ t ∈ I.
Beispiel 5 Gesucht ist die allgemeine Losung der Differentialgleichung
ty′ + 2y = 4t2, t > 0. (2.13)
Losung. Wir schreiben die DGL (2.13) um zu
y′ + 2
ty = 4t (2.14)
fur t > 0. Also ist p(t) = 2/t, q(t) = 4t, I = (0,∞).1.Schritt Lose die homogene DGL
y′ + 2
ty = 0 .
Die allgemeine Losung der homogenen DGL lautet
yh(t) = c exp ( − ∫2
tdt) = c exp(−2 ln t) = c (exp(ln t))−2 = c 1
t2, c ∈ R.
63
2.Schritt Bestimmung einer partikularen Losung.
Wir machen den Ansatz
y(t) = c(t) 1
t2.
Einsetzen in die inhomogene DGL (2.14) ergibt
c′1
t2− c 2
t3+ 2
tc
1
t2= 4t,
alsoc′ = 4t3. (2.15)
3.Schritt Lose die DGL (2.15) .
Aus c′ = 4t3 folgtc(t) = t4 + c, c ∈ R.
Daher ist insbesondere (mit c = 0)
yp(t) = t41
t2= t2
eine partikulare und
y(t) = yp(t) + yh(t) = t2 +c
t2, c ∈ R (2.16)
die allgemeine Losung der inhomogenen DGL.
Anfangswertproblem Wir geben zusatzlich einen Anfangswert vor und suchen nun dieLosung des AWPs
ty′ + 2y = 4t2 ∀t > 0, y(1) = 2.
Einsetzen der Anfangsbedingung y(1) = 2 in die allgemeine Losung (2.16) liefert
2 = y(1) = 1 + c1
⇐⇒ c = 1.
Die eindeutige Losung des AWPs ist daher
y(t) = t2 + 1
t2.
Das Losungsintervall ist das Intervall (0,∞).Beispiel 6 Gesucht ist die allgemeine Losung der linearen Differentialgleichung mit kon-stanten Koeffizienten
y′ + ay = q(t),also p(t) = a ∈ R konstant. Da P (t) = ∫
t
0 ads = at eine Stammfunktion von p(t) ist, ist dieallgemeine Losung gegeben durch
y(t) = [c + ∫t
0q(s)eas ds]e−at mit c ∈ R.
Insbesondere ist die allgemeine Losung der homogenen linearen Differentialgleichung mitkonstanten Koeffizienten, also der Gleichung
y′ + ay = 0
gegeben durch yh(t) = ce−at mit c ∈ R.
64
2.1.2 Differentialgleichungen mit getrennten Variablen
Seien I1, I2 Intervalle und g ∶ I1 → R und h ∶ I2 → R stetig. Die Differentialgleichung
y′ = g(t)h(y)
heißt Differentialgleichung mit getrennten Variablen.
Achtung: Differentialgleichungen mit getrennten Variablen sind im Allgemeinen nichtlinear!
Wir geben einen Anfangswert y(t0) = y0 vor. Zwei Falle sind zu unterscheiden:
1.Fall: h(y0) = 0. Dann ist y(t) = y0, ∀t ∈ I1 ∩ I2 eine Losung.
2.Fall: h(y0) ≠ 0. Dann ist h(y) ≠ 0 fur alle y in einer genugend kleinen Umgebung I2 vony0, also in (y0 − ε, y0 + ε) fur ein genugend kleines ε > 0. Die Losung kann dann durch diefolgende formale Rechnung ermittelt werden.
1.) dy
dt= g(t)h(y);
2.) dy
h(y)= g(t)dt (hier braucht man h(y) ≠ 0);
3.) ∫dy
h(y)= ∫ g(t)dt + c;
4.) Auflosen nach y.
Die Integrationskonstante c ergibt sich wieder durch Einsetzen der Anfangsbedingungy(t0) = y0. Es ist dann die Gleichung
∫y
y0
ds
h(s)= ∫
t
t0g(s)ds
nach y aufzulosen. Das explizite Auflosen der Gleichung nach y kann schwierig oder so-gar unmoglich sein. Im Allgemeinen erhalten wir nur die Losung in impliziter Form.Das Losungsintervall I ist ein Teilintervall des Intervalls I1. Uber die genaue Große desLosungsintervalls lassen sich a priori keine Aussagen machen.
Satz 2.1.4. Sei g ∈ C(I1), h ∈ C(I2) mit h(y) ≠ 0 ∀y ∈ I2. Dann gibt es zu jedem Punkt(t0, y0) ∈ I1 × I2 genau eine Losung der Differentialgleichung
y′ = g(t)h(y)
mit y(t0) = y0. Diese Losung existiert in einem Intervall I0 ⊂ I1 und ergibt sich dort durchAuflosen der Gleichung
∫y
y0
ds
h(s)= ∫
t
t0g(s)ds (2.17)
nach y. Mit anderen Worten: die Losung erhalt man als
y(t) =H−1y0 (∫
t
t0g(s)ds)
65
fur die Funktion
Hy0(w) ∶= ∫w
y0
ds
h(s).
Beweis. Beweis der Eindeutigkeit: Sei zunachst y(t) mit ϕ(t0) = y0 eine Losung auf I0.Dann gilt fur t ∈ I0
y′(t) = g(t)h(y(t)),
alsoy′(t)h(y(t))
= g(t)
und damit
∫t
t0g(s)ds = ∫
t
t0
y′(s)h(y(s))
ds
r=y(s)= ∫y(t)
y0
1
h(r)dr.
Wir mussen noch zeigen, dass diese Gleichung nach y(t) aufgelost werden kann. Dazubetrachten wir die Funktion
Hy0(w) ∶= ∫w
y0
1
h(s)ds.
Wegen h(y) ≠ 0 fur y ∈ I2 ist Hy0(w) streng monoton in w und besitzt daher eine Um-kehrfunktion H−1
y0 auf ihrer Wertemenge I(y0) ∶= Hy0(w) ∣ w ∈ I2. Damit ergibt sich
y(t) =H−1y0 (∫
t
t0g(s)ds) .
Die Losung des AWPs ist daher eindeutig.
Beweis der Existenz: Wir mussen zeigen, dass durch
y(t) =H−1y0 (∫
t
t0g(s)ds)
tatsachlich eine Losung gegeben ist. Zunachst gibt es wegen ∫t0t0g(s)ds = 0 = Hy0(y0) ein
Intervall I(t0), so dass
∫t
t0g(s)ds ∈ Hy0(w) ∶ w ∈ I2 ∀t ∈ I(t0).
Sei I0 das großte Intervall dieser Art. Aus
y(t) =H−1y0 (∫
t
t0g(s)ds), t ∈ I0
folgt
Hy0(y(t)) = ∫t
t0g(s)ds
66
und damit durch Differenzieren nach t
dHy0
dw(y(t))y′(t) = g(t)
und weitery′(t)h(y(t))
= g(t).
Damit ist y eine Losung zu y′ = g(t)h(y) auf dem Intervall I0 ⊂ I1.
Beispiel 7 Zu losen ist das AWP
y′ = y2, y(t0) = y0 > 0.
Losung: Es ist g(t) = 1 fur t ∈ I1 = R und h(y) = y2 fur y ∈ R. In I2 = (0,∞) gilt zudemh(y) ≠ 0. Aus
∫y
y0
ds
s2= ∫
t
t01ds
folgt
−1
y+ 1
y0
= t − t0 .
Auflosen nach y ergibt die eindeutige Losung
y(t) = y0
1 − y0(t − t0).
Die Losung existiert fur 1 − y0(t − t0) ≠ 0. Das maximale Losungsintervall ist daher dasIntervall I0 = (−∞, t0 + 1/y0) ⊂ I1 = R.
Beispiel 8 Gegeben ist das AWP
y′ = et−y
1 + et, y(0) = 1.
Losung: Auset−y
1 + et= et
1 + ete−y
folgt fur die Losung
∫y
1es ds = ∫
t
0
es
1 + esds,
also
ey − e = ln(1 + et) − ln 2.
Die explizite Losung lautet dann
y(t) = ln ( ln(1 + et) − ln 2 + e).
Diese Losung existiert fur alle t, fur die ln(1 + et) − ln 2 + e > 0 gilt. Wegen ln(1 + et) > 0und e − ln 2 > 0 sind dies alle t ∈ R.
67
Beispiel 9 Die homogene lineare Differentialgleichung 1. Ordnung
y′ + p(t)y = 0, y(t0) = y0,
ist auch ein Beispiel fur eine Differentialgleichung mit getrennten Variablen (mit g(t) =−p(t) und h(y) = y). Mit
Hy0(w) = ∫w
y0
1
ydy = lnw − ln y0 = ln ( w
y0),
also H−1y0 (t) = y0 et, liefert Satz 2.1.4 die Losung
y(t) =H−1y0 (∫
t
t0g(s)ds) g(t)=−p(t)= y0 exp ( − ∫
t
t0p(s)ds).
Damit haben wir erneut die Losungsformel (2.6) hergeleitet.
In Satz 2.1.4 wird vorausgesetzt, dass h(y) ≠ 0 ∀y ∈ I2. Ein solches Intervall kann im-mer dann gefunden werden, wenn nur h(y0) ≠ 0 ist. Es stellt sich nun die Frage, ob dieVoraussetzung h(y0) ≠ 0 notwendig ist. Dazu betrachten wir das folgende Beispiel.
Beispiel 10 Gegeben sei das AWP
y′ = 3y2/3, y(t0) = y0. (2.18)
Nach Satz 2.1.4 erhalt man die Losung durch Auflosen der Gleichung
13 ∫
y
y0
1
s2/3 ds = ∫t
t01ds,
bzw. aquivalenty(t)1/3 − y1/3
0 = t − t0nach y(t). Laut Satz 2.1.4 ist die Losung
y(t) = (t − t0 + y1/30 )3
, −∞ < t <∞
fur y0 ≠ 0 eindeutig.
Wir untersuchen nun den Fall y0 = 0. Nachrechnen zeigt, dass
y1(t) = (t − t0)3, −∞ < t <∞
eine Losung des AWPs ist. Es gibt jedoch noch mindestens eine weitere Losung, namlich
y2(t) = 0, −∞ < t <∞.
Durch Kombination von y1(t) mit y2(t) lassen sich sogar unendlich viele weitere Losungenkonstruieren, und zwar ist
y(t) ∶=
⎧⎪⎪⎪⎪⎨⎪⎪⎪⎪⎩
(t − t1)3 fur −∞ < t ≤ t1,0 fur t1 < t ≤ t2,(t − t2)3 fur t2 < t <∞,
fur alle t1 ≤ t0 ≤ t2 eine Losung des AWPs (2.18) mit y0 = 0.
68
2.2 Lineare Differentialgleichungen 2. Ordnung
In diesem Abschnitt untersuchen wir lineare Differentialgleichungen 2. Ordnung der Form
a0(t)y′′ + a1(t)y′ + a2(t)y = f(t) . (2.19)
Wir nehmen an, dass a0(t) ≠ 0 in einem geeigneten Intervall I ist. Dividieren wir danndurch a0(t), so erhalten wir die Gleichung
y′′ + p(t)y′ + q(t)y = g(t). (2.20)
mit p(t) = a1(t)a0(t) , q(t) =
a2(t)a0(t) und g(t) = f(t)
a0(t) . Wir konnen also ohne Einschrankung Glei-
chungen der Form (2.20) untersuchen. Die Gleichung
y′′ + p(t)y′ + q(t)y = 0 (2.21)
heißt homogene Gleichung, die Gleichung
y′′ + p(t)y′ + q(t)y = g(t), g(t) /≡ 0, (2.22)
inhomogene Gleichung. Damit die Losung eindeutig ist, geben wir uns Anfangsbedin-gungen y(t0) = y0 und y′(t0) = z0 mit y0, z0 ∈ R vor. Das Anfangswertproblem bestehtdann darin, eine Funktion y(t) zu finden, die der DGL (2.20) genugt und außerdem beideAnfangsbedingungen erfullt. Man kann das folgende Resultat zeigen.
Satz 2.2.1. Es seien p, q, g stetige Funktionen auf einem offenen Intervall I = (a, b). Dannexistiert zu t0 ∈ I genau eine Funktion y(t), welche auf dem Intervall I die Gleichung(2.20) lost sowie die vorgegebenen Anfangsbedingungen y(t0) = y0, y′(t0) = z0 erfullt.
2.2.1 Der Losungsraum einer linearen Differentialgleichung
Zur Abkurzung fuhren wir den Operator L ein, der durch
L(y)(t) ∶= y′′(t) + p(t)y′(t) + q(t)y(t)
definiert ist. Die DGL (2.20) kann dann einfach in der Form
L(y) = g
geschrieben werden.
Bemerkung 2.2.1. L ist ein linearer Operator, denn fur zwei Funktionen y1(t), y2(t)und Konstanten c1, c2 ∈ R gilt
L(c1y1(t) + c2y2(t)) = (c1y′′1 (t) + c2y
′′2 (t)) + p(t)(c1y
′1(t) + c2y
′2(t)) + q(t)(c1y1(t) + c2y2(t))
= c1L(y1(t)) + c2L(y2(t)).
Aus dieser einfachen Tatsache ergeben sich unmittelbar zwei wichtige Folgerungen.
69
Folgerung 2.2.2. Sind y1(t), y2(t) Losungen der homogenen DGL, also L(y1) = L(y2) =0, so ist c1y1(t)+c2y2(t), t ∈ I mit c1, c2 ∈ R beliebig, ebenfalls eine Losung der homogenenDGL, also L(c1y1 + c2y2) = 0.
Folgerung 2.2.3. Sind y1(t), y2(t) Losungen der inhomogenen DGL L(y) = g, so isty1(t) − y2(t), t ∈ I, eine Losung der homogenen DGL, also L(y1 − y2) = 0.
Die Losungen der homogenen Differentialgleichung bilden also einen Untervektorraum desVektorraums der zweimal differenzierbaren Funktionen. Es stellt sich die Frage nach derDimension dieses Untervektorraums, also der Frage, wieviele linear unabhangige Losungenman berechnen muss, um alle Losungen zu erhalten.
Bemerkung 2.2.2. Wir erinnern daran, dass im Fall linearer DGL 1. Ordnung dieallgemeine Losung der homogenen DGL durch Vielfache einer Funktion gegeben ist. DerLosungsraum ist also eindimensional.
Beispiel 1 Gegeben sei die DGLy′′ + y = 0.
Es ist leicht zu uberprufen, dass y1(t) = cos t und y2(t) = sin t fur −∞ < t <∞, Losungensind. Also ist nach Folgerung 2.2.2 auch jede Linearkombination
y(t) = c1y1(t) + c2y2(t)= c1 cos t + c2 sin t
eine Losung. Wir konnen sogar zeigen, dass sich jede beliebige Losung y(t) als eine solcheLinearkombination darstellen lasst.
Sei namlich y(t) eine beliebige Losung mit y(0) = y0, y′(0) = z0. Setzen wir
y1(t) ∶= y0 cos t + z0 sin t,
so genugen y1(t) und y(t) denselben Anfangsbedingungen. Nach Satz 2.2.1 gilt danny1(t) = y(t) fur alle t ∈ I.
Wir werden spater zeigen, dass sich jede Losung einer homogenen linearen DGL 2. Ord-nung L(y) = 0 in der Form
c1y1(t) + c2y2(t)mit geeigneten Funktionen y1(t), y2((t) darstellen lasst. Wenn y1, y2 außerdem linear un-abhangig sind gemaß der folgenden Definition, bedeutet das gerade, dass der Losungsraumzweidimensional ist.
Definition 2.2.3. Die Funktionen g1, g2, . . . , gm heißen linear unabhangig im Intervall I,wenn aus
α1g1(t) + α2g2(t) +⋯ + αmgm(t) = 0 fur alle t ∈ Imit αi ∈ R folgt, dass αi = 0 ist fur 1 ≤ i ≤m.
Die Funktionen g1, g2, . . . , gm heißen linear abhangig, wenn sie nicht linear unabhangigsind, d.h. wenn es α1, . . . , αm ∈ R gibt, von denen mindestens ein αi ≠ 0 ist, fur die gilt
α1g1(t) + α2g2(t) +⋯ + αmgm(t) = 0 fur alle t ∈ I.
70
Beispiel 2 Seien g1(t) = cos2(t), g2(t) = sin2(t), g3(t) = 1. Wegen cos2(t) + sin2(t) − 1 = 0fur alle t ∈ R sind die Funktionen in jedem Intervall linear abhangig.
Beispiel 3 Seien g1(t) = exp(r1t), g2(t) = exp(r2t) mit r1, r2 ∈ R, wobei r1 ≠ r2. Aus
α1 exp(r1t) + α2 exp(r2t) = 0
folgtα1 exp ((r1 − r2)t) + α2 = 0
fur alle t ∈ I. Differenzieren ergibt
α1(r1 − r2) exp((r1 − r2)t) = 0
und damit α1 = 0. Aus der ersten Gleichung folgt dann auch α2 = 0. Die Funktionen g1, g2
sind daher in jedem Intervall I linear unabhangig.
Satz 2.2.4. Es seien p, q ∈ C(I). Dann hat die Differentialgleichung
L(y) = y′′ + p(t)y′ + q(t)y = 0
zwei linear unabhangige Losungen y1(t) und y2(t) auf dem Intervall I. Ferner lasst sichjede Losung der Differentialgleichung L(y) = 0 eindeutig als Linearkombination
y(t) = c1y1(t) + c2y2(t), (2.23)
mit Konstanten c1, c2 ∈ R darstellen. Die Dimension des Losungsraumes ist also 2.
Beweis. Sei t0 ∈ I und y1(t) Losung des AWPs L(y1) = 0, y1(t0) = 1, y′1(t0) = 0, und y2(t)Losung des AWPs L(y2) = 0, y2(t0) = 0, y′2(t0) = 1. Nach Satz 2.2.1 existieren die Losungeny1(t), y2(t) und sind eindeutig. Zunachst wird gezeigt, dass diese beiden Losungen linearunabhangig sind. Seien also α1, α2 ∈ R so, dass
α1y1(t) + α2y2(t) = 0 ∀t ∈ I.
Dann ist auchα1y
′1(t) + α2y
′2(t) = 0 ∀t ∈ I.
Insbesondere gilt fur t = t0
α1y1(t0) + α2y2(t0) = 0,
α1y′1(t0) + α2y
′2(t0) = 0,
alsoα1 ⋅ 1 + α2 ⋅ 0 = 0 ,α1 ⋅ 0 + α2 ⋅ 1 = 0 .
Daraus folgt, dass α1 = α2 = 0. Die Losungen y1(t) und y2(t) sind deshalb linear un-abhangig, d.h. die Dimension des Losungsvektorraums ist mindestens 2.
Um nachzuweisen, dass die Dimension gleich 2 ist, mussen wir zeigen, dass sich jedeLosung y(t) als Linearkombination der Funktionen y1, y2 darstellen lasst. Sei nun y(t)eine beliebige Losung mit y(t0) = α, y′(t0) = β. Die Funktion
ψ(t) ∶= αy1(t) + βy2(t)
71
ist eine Losung und genugt den Anfangsbedingungen
ψ(t0) = α,ψ′(t0) = β.
Nach Satz 2.2.1 stimmen dann y(t) und ψ(t) fur alle t ∈ I uberein. Das beweist (2.23)mit den Konstanten c1 = α und c2 = β.
Aufgrund dieses Satzes genugt es, zwei linear unabhangige Losungen zu finden; jede andereLosung lasst sich dann als Linearkombination darstellen. Es soll zunachst ein Kriteriumangegeben werden, mit dessen Hilfe sich leicht uberprufen lasst, ob zwei Losungen linearunabhangig sind.
Definition 2.2.4. Es seien f1(t), f2(t) mit t ∈ I zwei differenzierbare Funktionen. Dannheißt
W (f1, f2)(t) ∶= det( f1 f2
f ′1 f ′2)(t) = (f1f
′2 − f2f
′1)(t)
die Wronski-Determinante von f1 und f2.
Mit Hilfe der Wronski-Determinante konnen wir leicht testen, ob zwei Losungen der DGLlinear unabhangig sind.
Satz 2.2.5. Zwei Losungen y1(t), y2(t) der Differentialgleichung
L(y) = y′′ + p(t)y′ + q(t)y = 0
sind genau dann linear unabhangig, wenn W (y1, y2)(t) ≠ 0 fur alle t ∈ I.
Beweis. 1) Sei W (y1, y2)(t) ≠ 0 ∀t ∈ I. Aus
α1y1(t) + α2y2(t) = 0, t ∈ I
folgtα1y
′1(t) + α2y
′2(t) = 0, t ∈ I
und weiter
(y1(t) y2(t)y′1(t) y′2(t)
)(α1
α2) = (0
0) .
Fur jedes feste t ∈ I ist das ein homogenes lineares Gleichungssystem. Wegen
det(y1(t) y2(t)y′1(t) y′2(t)
) =W (y1, y2)(t) ≠ 0
hat dieses System nur die triviale Losung α1 = α2 = 0. Die beiden Losungen y1(t) undy2(t) sind daher linear unabhangig.
2) Seien nun y1, y2 linear unabhangig. Widerspruchsannahme: Wir nehmen an, dass es eint ∈ I gibt mit W (y1, y2)(t) = 0. Dann hat das Gleichungssystem
(y1(t) y2(t)y′1(t) y′2(t)
)(α1
α2) = (0
0) . (2.24)
72
eine von Null verschiedene Losung (α1, α2)T . Setzen wir
ψ(t) ∶= α1y1(t) + α2y2(t),
so ist ψ(t) eine Losung der DGL, also L(ψ) = 0 und wegen (2.24) gilt ψ(t) = 0, ψ′(t) = 0.Da nach Satz 2.2.1 die Losung des AWPs eindeutig ist, folgt ψ(t) = 0 fur alle t ∈ I. Alsosind y1 und y2 nicht linear unabhangig, wir haben also einen Widerspruch.
Beispiel 4 Gegeben sei die DGL
y′′ + y = 0.
y1(t) = cos t, y2(t) = sin t fur −∞ < t <∞, sind Losungen, und es gilt
W (cos t, sin t) = det( cos t sin t− sin t cos t
)
= cos2 t + sin2 t
= 1.
Also sind die beiden Losungen im Intervall (−∞,∞) linear unabhangig.
Nach dem vorigen Satz sind zwei Losungen genau dann in einem Intervall linear un-abhangig, wenn ihre Wronski-Determinante fur jedes t ∈ I von Null verschieden ist. Derfolgende Satz zeigt, dass es genugt, die Wronski-Determinante an einer einzigen Stellet0 ∈ I zu untersuchen.
Satz 2.2.6. Es seien y1(t), y2(t) Losungen von
L(y) = y′′ + p(t)y′ + q(t)y = 0.
Dann gilt fur beliebiges t0 ∈ I
W (y1, y2)(t) =W (y1, y2)(t0) exp ( − ∫t
t0p(s)ds) fur alle t ∈ I,
also insbesondere
W (y1, y2)(t) ≠ 0 fur alle t ∈ I ⇐⇒ W (y1, y2)(t0) ≠ 0 fur ein t0 ∈ I.
Beweis. Die Behauptung folgt unmittelbar aus dem folgenden Feststellung: Die Wronski-Determinante genugt der Differentialgleichung erster Ordnung
W ′ + p(t)W = 0.
Tatsachlich gilt
W ′(y1, y2)(t) = d
dt(y1(t)y′2(t) − y2(t)y′1(t))
= y′1(t)y′2(t) + y1(t)y′′2 (t) − y′2(t)y′1(t) − y2(t)y′′1 (t)= y1(t)y′′2 (t) − y2(t)y′′1 (t). (2.25)
73
Da y1, y2 Losungen der DGL sind, gilt:
y′′1 (t) = −p(t)y′1(t) − q(t)y1(t),y′′2 (t) = −p(t)y′2(t) − q(t)y2(t).
Einsetzen in (2.25) ergibt
W ′(y1, y2)(t) = y1(t)(−p(t)y′2(t) − q(t)y2(t)) − y2(t)(−p(t)y′1(t) − q(t)y1(t))= −p(t)(y1(t)y′2(t) − y2(t)y′1(t))= −p(t)W (y1, y2)(t).
Aus Kapitel 2.1.1 folgt dann die Formel fur W (y1, y2)(t).
Definition 2.2.5. Zwei Losungen y1, y2 der homogenen DGL L(y) = 0 bilden ein Fun-damentalsystem, wenn sie den Losungsraum aufspannen, d.h. wenn jede Losung y(t) vonL(y) = 0 sich schreiben lasst als
y(t) = c1y1(t) + c2y2(t) mit c1, c2 ∈ R.
Der folgende Satz enthalt Kriterien, mit denen man die obige Eigenschaft uberprufenkann.
Satz 2.2.7. Fur zwei Losungen y1, y2 der DGL L(y) = 0 sind aquivalent:
(i) y1, y2 bilden ein Fundamentalsystem;
(ii) y1, y2 sind linear unabhangig;
(iii) W (y1, y2)(t) ≠ 0 fur alle t ∈ I;
(iv) W (y1, y2)(t0) ≠ 0 fur ein t0 ∈ I.
2.2.2 Lineare Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten
Es soll nun ein Fundamentalsystem fur die DGL
y′′ + ay′ + by = 0, −∞ < t <∞ (2.26)
mit a, b ∈ R konstruiert werden. Motiviert durch den Fall einer homogenen Differential-gleichung 1. Ordnung (siehe Beispiel 6) machen wir den Losungsansatz
y(t) ∶= exp(rt), r ∈ C.
Die Funktion y(t) = exp(rt) ist genau dann Losung, wenn
r2 exp(rt) + ar exp(rt) + b exp(rt) = 0,
also genau dann,wennr2 + ar + b = 0.
Definition 2.2.6. Die Gleichung
r2 + ar + b = 0 (2.27)
heißt charakteristische Gleichung der DGL y′′ + ay′ + b = 0.
74
Die charakteristische Gleichung hat die Losungen
r1,2 = −a
2± 1
2
√a2 − 4b,
wobei wir im Fall a2−4b < 0 die Wurzel wie folgt definieren:√a2 − 4b ∶= i
√4b − a2. Offenbar
konnen nun die folgenden Falle auftreten:
a2 − 4b > 0 ⇐⇒ r1, r2 ∈ R, r1 ≠ r2;
a2 − 4b = 0 ⇐⇒ r1 = r2 ∈ R ;
a2 − 4b < 0 ⇐⇒ r1 = r2, r1, r2 ∈ C ∖R.
Diese drei Falle sollen nun getrennt untersucht werden.
Der Fall a2 − 4b > 0
Setzen wir
y1(t) ∶= exp(r1t), y2(t) ∶= exp(r2t), −∞ < t <∞,
so sind y1(t) und y2(t) offenbar Losungen von (2.26). Ferner gilt
W (y1, y2)(t) = y1(t)y′2(t) − y2(t)y′1(t)= (r2 − r1) exp ((r1 + r2)t)≠ 0
fur alle t ∈ (−∞,∞), da r1 ≠ r2. Damit bilden y1(t) und y2(t) ein Fundamentalsystem. Dieallgemeine Losung erhalt man also als
y(t) = c1 exp(r1t) + c2 exp(r2t), c1, c2 ∈ R.
Beispiel 5 Gegeben sei die DGL
y′′ + 5y′ + 4y = 0.
Losung. Die Losungen der charakteristischen Gleichung
r2 + 5r + 4 = 0
sind
r1,2 = −52 ±
32 ,
also r1 = −1, r2 = −4. Damit erhalten wir die beiden linear unabhangigen Losungen y1(t) =exp(−t) und y2(t) = exp(−4t). Die allgemeine Losung ist dann gegeben durch
y(t) = c1 exp(−t) + c2 exp(−4t)
mit Konstanten c1, c2 ∈ R. Sind Anfangsbedingungen gegeben, so werden die Konstantenmit deren Hilfe bestimmt.
75
Der Fall a2 − 4b < 0
In diesem Fall gilt
r1,2 = −a2± 1
2
√a2 − 4b
= −a2± i1
2
√4b − a2
= α ± iβ
mit α = −a2 und β = 12
√4b − a2. Die Funktionen exp(r1t) und exp(r2t) sind dann zwei
komplexwertige Losungen. Dabei ist die komplexwertige Funktion exp(rt), r = α + iβfolgendermaßen definiert:
exp(rt) = exp ((α + iβ)t)= exp(αt) exp(iβt)= exp(αt)(cosβt + i sinβt).
Durch Bilden des Real- und des Imaginarteils hiervon erhalt man die beiden reellwertigenLosungen
y1(t) = exp(αt) cos(βt) und y2(t) = exp(αt) sin(βt),
die ein Fundamentalsystem bilden.
Bemerkung 2.2.7. Allgemein lassen sich aus einer komplexwertigen Losung stets zweireellwertige Losungen gewinnen: Sei y(t) eine komplexwertige Losung der Differentialglei-chung
y′′ + p(t)y′ + q(t)y = 0.
Dann sind u(t) = Re y(t) und v(t) = Im y(t) zwei reellwertige Losungen, wobei Re denRealteil und Im den Imaginarteil bezeichnet.
Beweis. Da y(t) eine Losung ist, gilt:
0 = y′′(t) + p(t)y′(t) + q(t)y(t)= (u′′(t) + iv′′(t)) + p(t)(u′(t) + iv′(t)) + q(t)(u(t) + iv(t))= u′′(t) + p(t)u′(t) + q(t)u(t) + i(v′′(t) + p(t)v′(t) + q(t)v(t)).
Es folgt
u′′(t) + p(t)u′(t) + q(t)u(t) = 0
und
v′′(t) + p(t)v′(t) + q(t)v(t) = 0.
76
Der Fall a2 − 4b = 0
In diesem Fall ist r1 = r2 = −a/2 und wir erhalten nur die einzige Losung
y1(t) = exp ( − a2t).
Da wir zwei linear unabhangige Losungen benotigen, mussen wir uns irgendwie eine zweiteLosung beschaffen. Hierfur gibt es ein Verfahren, namlich das D’Alembertsche Redukti-onsverfahren. Damit werden wir im nachsten Kapitel die folgende zweite Losung erhalten:
y2(t) = t exp ( − a2t).
2.2.3 Reduktion der Ordnung nach d’Alembert
Wir beginnen mit der homogenen Gleichung
L(y) = y′′ + p(t)y′ + q(t)y = 0 (2.28)
und nehmen an, dass wir schon eine Losung y1(t) gefunden haben. Wir machen nun denAnsatz
y2(t) ∶= v(t)y1(t) (2.29)
mit einer zunachst unbekannten Funktion v(t). Die Funktion y2(t) ist genau dann Losungder homogenen DGL (2.28), wenn
0 = y′′2 (t) + p(t)y′2(t) + q(t)y2(t)= v′′(t)y1(t) + 2v′(t)y′1(t) + v(t)y′′1 (t) + p(t)[v′(t)y1(t) + v(t)y′1(t)] + q(t)v(t)y1(t)= v(t)[y′′1 (t) + p(t)y′1(t) + q(t)y1(t)] + v′′(t)y1(t) + [2y′1(t) + p(t)y1(t)]v′(t)= 0 + v′′(t)y1(t) + [2y′1(t) + p(t)y1(t)]v′(t).
Das ist eine lineare homogene DGL 1. Ordnung fur v′ mit der speziellen Losung
v′(t) = exp(−∫ (2y′1(t)y1(t)
+ p(t))dt)
= exp(−2∫y′1(t)y1(t)
dt) exp(−∫ p(t)dt) .
Wegen ∫y′1(t)y1(t) dt = ln y1 liefert das
v′(t) =exp(− ∫ p(t)dt)
y21(t)
.
Es folgt
v(t) = ∫ u(t)dt, mit u(t) =exp(− ∫ p(t)dt)
y21(t)
. (2.30)
77
Wegen
W (y1, y2)(t) = y1(t)y′2(t) − y2(t)y′1(t)= y1(v′y1 + vy′1) − vy1y
′1
= y21v
′
= exp ( − ∫ p(t)dt) ≠ 0
sind die beiden Losungen y1, y2 sogar linear unabhangig. Damit haben wir den folgendenSatz bewiesen.
Satz 2.2.8. Es sei y1 ≠ 0 eine Losung der homogenen DGL
y′′ + p(t)y′ + q(t)y = 0, t ∈ I
Dann ist die durch (2.29) und (2.30) definierte Funktion y2(t) eine zweite linear un-abhangige Losung.
Beispiel 6 Der Fall a2 − 4b = 0. Ausgehend von der schon gefundenen Losung
y1(t) = exp(−a2 t)
konstruieren wir mit dem Verfahren der Reduktion der Ordnung eine zweite Losung.Nach (2.30) gilt
v′(t) =exp(− ∫ p(t)dt)
y21(t)
= exp(−at)exp(−at)
= 1.
v(t) = t als spezielle Losung liefert mit y2(t) = v(t)y1(t) = t exp(−a2 t) eine zweite linearunabhangige Losung.
Beispiel 7 Gegeben sei das AWP
y′′ + 4y′ + 4y = 0, y(0) = 1, y′(0) = 3.
Die charakteristische Gleichung
r2 + 4r + 4 = 0
hat die Losung r1,2 = −2. Die allgemeine Losung hat dann die Form
y(t) = c1 exp(−2t) + c2t exp(−2t).
Einsetzen der Anfangsbedingungen ergibt c1 = 1, c2 = 5.
Damit haben wir den Fall einer homogenen linearen Differentialgleichung 2. Ordnungvollstandig verstanden. Wir fassen das Ergebnis noch einmal zusammen:
78
Gegeben sei die Differentialgleichung
y′′ + ay′ + by = 0, a, b ∈ R.
Die Losungen der charakteristischen Gleichung r2+ar+b = 0 seien gegeben durch r1, r2 ∈C. Dann bilden die folgenden Funktionen jeweils ein Fundamentalsystem:
Falls r1, r2 ∈ R mit r1 ≠ r2:
y1(t) = exp(r1t) und y2(t) = exp(r2t);
falls r1 = r2 ∈ R:
y1(t) = exp(r1t) und y2(t) = t exp(r1t);
falls r1,2 = α ± iβ ∈ C ∖R:
y1(t) = exp(αt) cos(βt) und y2(t) = exp(αt) sin(βt).
2.2.4 Die inhomogene Gleichung
Wir wenden uns nun der inhomogenen Gleichung
L(y) = y′′ + p(t)y′ + q(t)y = g(t) (2.31)
mit p, q ∈ C(I) zu. Zunachst ergibt sich aus der Folgerung 2.2.2 der folgende Satz.
Satz 2.2.9. Seien y1(t) und y2(t) zwei linear unabhangige Losungen der homogenen Glei-chung
y′′ + p(t)y′ + q(t)y = 0
und yp(t) eine partikulare Losung der inhomogenen Gleichung, d.h. L(yp) = g(t). Dannhat jede Losung der inhomogenen Gleichung die Gestalt
y(t) = c1y1(t) + c2y2(t) + yp(t) mit c1, c2 ∈ R .
Beweis. Sei y(t) eine beliebige Losung der inhomogenen Gleichung L(y) = g. Dann genugty(t) − yp(t) der homogenen Gleichung. Also lasst sich y − yp schreiben als
y(t) − yp(t) = c1y1(t) + c2y2(t) mit c1, c2 ∈ R .
Nach diesem Satz genugt es, eine einzige spezielle Losung yp(t) zu finden. Wie bei denDifferentialgleichungen erster Ordnung wird eine spezielle Losung mit dem Verfahren derVariation der Konstanten konstruiert.
79
Das Verfahren der Variation der Konstanten
Es seien y1(t), y2(t) zwei beliebige linear unabhangige Losungen der homogenen DGLL(y) = 0. Mit dem Ansatz
yp(t) = u1(t)y1(t) + u2(t)y2(t)
folgty′p = u′1y1 + u1y
′1 + u′2y2 + u2y
′2.
Wahlen wir die Funktionen u1(t), u2(t) so, dass
u′1y1 + u′2y2 = 0 (2.32)
gilt, so folgty′p = u1y
′1 + u2y
′2.
Einsetzen in die inhomogene Gleichung L(yp) = g ergibt dann
g(t) = y′′p (t) + p(t)y′p(t) + q(t)yp(t)= u′1(t)y′1(t) + u1(t)y′′1 (t) + u′2(t)y′2(t) + u2(t)y′′2 (t)+ p(t)(u1(t)y′1(t) + u2(t)y′2(t)) + q(t)(u1(t)y1(t) + u2(t)y2(t))= u1(t)(y′′1 (t) + p(t)y′1(t) + q(t)y1(t)) + u2(t)(y′′2 (t) + p(t)y′2(t) + q(t)y2(t))+ u′1(t)y′1(t) + u′2(t)y′2(t)= u′1(t)y′1(t) + u′2(t)y′2(t). (2.33)
yp(t) ist daher dann Losung, wenn die Gleichungen (2.32) und (2.33) erfullt sind, d.hdann,wenn
u′1y1 + u′2y2 = 0,
u′1y′1 + u′2y′2 = g.
Losen wir diese Gleichungen nach u′1 und u′2 auf, so erhalten wir
u′1(y1y′2 − y′1y2) = −gy2
u′2(y1y′2 − y′1y2) = gy1
und damit
u′1(t) = −g(t)y2(t)W (y1, y2)(t)
, (2.34)
u′2(t) = g(t)y1(t)W (y1, y2)(t)
. (2.35)
Bilden der Stammfunktionen in (2.34) und (2.35) liefert u1 und u2. Beispiel 8 Es soll dieallgemeine Losung von
y′′ + y = tan t, −π/2 < t < π/2
bestimmt werden.
80
1. Schritt: Losung der homogenen DGL.
Die charakteristische Gleichung r2 + 1 = 0 hat die Losungen ±i, also lautet die allgemeineLosung der homogenen DGL
y(t) = c1 cos t + c2 sin t, c1, c2 ∈ R.
Fur die Wronski-Determinante gilt W (cos t, sin t) = 1. Wegen W (cos t, sin t) ≠ 0 sind diebeiden Losungen y1(t) = cos t und y2(t) = sin t insbesondere linear unabhangig.
2. Schritt: Variation der Konstanten.
Nach (2.34) und (2.35) muss man u1 und u2 so wahlen, dass
u′1 = − tan t sin t = −1 − cos2 t
cos t= cos t − 1
cos t
undu′2 = tan t cos t = sin t.
Die Funktionen u1 und u2 erhalt man nun jeweils durch Berechnung einer beliebigenStammfunktion, z.B.
u1(t) = ∫t
0( cos s − 1
cos s)ds
= sin t − log ∣ 1cos t + tan t∣
und
u2(t) = ∫t
π/2sin sds
= − cos t.
Damit erhalten wir die spezielle Losung
yp(t) = (sin t − log ∣ 1cos t + tan t∣) cos t − cos t sin t
= −(cos t) log ∣ 1cos t + tan t∣
und die allgemeine Losung
y(t) = c1 cos t + c2 sin t − (cos t) log ∣ 1cos t + tan t∣ mit c1, c2 ∈ R.
2.2.5 Spezielle Ansatze
Haufig fuhren die folgenden Ansatze zur Bestimmung einer speziellen Losung zum Ziel.Man kann sich dann das Verfahren der Variation der Konstanten ersparen.
g(t) Ansatz fur yp(t)a Aatn a0 + a1t + . . . antnaeλt Aeλt (oder Atneλt, falls tjeλt fur j = 0, . . . , n − 1
die homogene Gleichung lost)aeλttn eλt(a0 + a1t + . . . antn)a cos(mt) + b sin(mt) A cos(mt) +B sin(mt)eλt(a cos(mt) + b sin(mt)) eλt(A cos(mt) +B sin(mt))
81
Beispiel 9 Gesucht ist eine spezielle Losung von
y′′ − 4y = e2t. (2.36)
Die Funktion y(t) = e2t lost die homogene Gleichung y′′ − 4y = 0, daher machen wir denspeziellen Ansatz
yp(t) ∶= Ate2t
mit einer zu bestimmenden Konstanten A ∈ R. Einsetzen in die Differentialgleichung gibt
y′′p − 4yp = e2t ⇐⇒ e2t4A(1 + t) − 4Ate2t = e2t ⇐⇒ A = 14 .
Damit haben wir die spezielle Losung
yp(t) = 14te
2t
bestimmt. Die allgemeine Losung der Differentialgleichung (2.36) lautet
y(t) = c1e2t + c2e
−2t + 14te
2t, c1, c2 ∈ R.
2.3 Reihenlosungen
Zunachst soll an die wichtigsten Eigenschaften von Potenzreihen erinnert werden.
1. y(t) = ∑∞n=0 an(t − t0)n heißt Potenzreihe um den Entwicklungspunkt t0.
2. Es existiert ein ρ ≥ 0 (ρ = ∞ ist auch moglich) so, dass die Reihe fur ∣t − t0∣ < ρkonvergiert und fur ∣t− t0∣ > ρ divergiert. Die Zahl ρ heißt der Konvergenzradius derReihe.
3. Jede Potenzreihe kann fur t mit ∣t − t0∣ < ρ gliedweise differenziert und integriertwerden, wobei die neuen Reihen denselben Konvergenzradius haben.
4. Der Konvergenzradius kann mit einer der Formeln
ρ = limn→∞
∣ anan+1
∣ oder ρ = 1
lim supn→∞n√
∣an∣
berechnet werden, wobei sich die erste nur dann anwenden lasst, falls der Limesexistiert.
5. Das Produkt zweier Potenzreihen ∑∞n=0 an(t − t0)n und ∑∞
n=0 bn(t − t0)n ist durch dieReihe ∑∞
n=0 cn(t − t0)n gegeben, wobei
cn =n
∑m=0
ambn−m =n
∑m=0
an−mbm
6. Der Quotient zweier Potenzreihen ∑∞n=0 an(t − t0)n und ∑∞
n=0 bn(t − t0)n kann wiederin einer Potenzreihe entwickelt werden, sofern b0 ≠ 0 ist.
82
Funktionen y(t), die sich um t0 in eine Potenzreihe mit positivem Konvergenzradius ent-wickeln lassen, heißen (reell) analytisch in t0. Fur die Koeffizienten der Potenzreihen giltdann die Formel von Taylor:
an =1
n!y(n)(t0).
Beispiele von reell analytischen Funktionen sind
ex =∞∑n=0
1
n!xn (Konvergenzradius ρ =∞);
cosx =∞∑n=0
(−1)n(2n)!
x2n (Konvergenzradius ρ =∞);
sinx =∞∑n=0
(−1)n(2n + 1)!
x2n+1 (Konvergenzradius ρ =∞);
1
1 − x=
∞∑n=0
xn (Konvergenzradius ρ = 1).
Wir nehmen nun an, dass sich die Losung einer Differentialgleichung in eine Potenzreiheentwickeln lasst. Bevor wir einen allgemeinen Satz angeben, soll das Verfahren an einemBeispiel erlautert werden.
Beispiel 1 Gegeben sei das AWP
y′′ − 2ty′ − 2y = 0, y(0) = a, y′(0) = b. (2.37)
Wir machen den Ansatz
y(t) =∞∑n=0
antn mit an ∈ R.
Dann gilt
y′(t) =∞∑n=0
nantn−1 =
∞∑n=1
nantn−1
und
y′′(t) =∞∑n=0
n(n − 1)antn−2 =∞∑n=2
n(n − 1)antn−2.
Einsetzen in die DGL (2.37) ergibt
0 = y′′ − 2ty′ − 2y
=∞∑n=2
n(n − 1)antn−2 −∞∑n=0
2nantn −
∞∑n=0
2antn
=∞∑n=0
(n + 2)(n + 1)an+2tn −
∞∑n=0
2nantn −
∞∑n=0
2antn
=∞∑n=0
(n + 2)(n + 1)an+2 − 2nan − 2antn.
Also ist y(t) genau dann eine Losung, wenn fur alle n ∈ N0 gilt
(n + 2)(n + 1)an+2 − 2nan − 2an = 0⇐⇒ (n + 2)(n + 1)an+2 = 2an(n + 1)⇐⇒ an+2 = 2
n+2 an.
83
Zu vorgegebenen a0 und a1 lassen sich daher alle weiteren Koeffizienten rekursiv berech-nen. Ferner folgt aus der Darstellung
y(t) = a0 + a1t +∞∑n=2
antn
sofort, dass a0 = y(0) = a und a1 = y′(0) = b.Zur Bestimmung zweier linear unabhangiger Losungen wahlen wir die Anfangskoeffizien-ten a0 und a1 moglichst einfach.
Sei zunachst a0 ∶= 1 und a1 ∶= 0.
Aus der Rekursionsformel
an+2 =2
n + 2an
folgt dann
a2n+1 = 0, a2n =2
2n⋅ 2
2(n − 1)⋅ . . . ⋅ 2
2= 1
n!
und damit
y1(t) =∞∑n=0
antn =
∞∑n=0
1
n!t2n = exp(t2).
Sei nun a0 ∶= 0 und a1 ∶= 1. Dann folgt aus der Rekursionsformel
a2n = 0, a2n+1 =2n
3 ⋅ 5⋯(2n + 1)und damit
y2(t) =∞∑n=0
antn =
∞∑n=0
2n
3 ⋅ 5⋯(2n + 1)t2n+1.
Beide Losungen sind linear unabhangig, weil fur die Wronski-Determinante gilt:
W (y1, y2)(0) = det(1 00 1
) = 1 ≠ 0.
Wir erwarten, dass die in dem Beispiel verwendete Methode auch fur allgemeine Differen-tialgleichungen der Form
y′′ + p(t)y′ + q(t)y = g(t)benutzt werden kann, sofern sich die Funktionen p, q, g um t0 in Potenzreihen entwickelnlassen.
Satz 2.3.1. Die Funktionen p, q, g seien fur ∣t−t0∣ < ρ in Potenzreihen um t0 entwickelbar.Dann ist jede Losung y(t) der Differentialgleichung
y′′ + p(t)y′ + q(t)y = g(t) (2.38)
in t0 analytisch, wobei der Konvergenzradius der Potenzreihenentwicklung ≥ ρ ist. DieKoeffizienten an der Entwicklung
y(t) =∞∑n=0
an(t − t0)n (2.39)
erhalt man durch Einsetzen von (2.39) in (2.38) und anschließenden Koeffizientenver-gleich.
84
Beispiel 2 Die DGL
(1 − t2)y′′ − 2ty′ + α(α + 1)y = 0, α ∈ R (2.40)
heißt Legendre-Gleichung. Der Entwicklungspunkt sei t0 = 0. Division durch (1− t2) ergibtdie Differentialgleichung
y′′ − 2t
1 − t2y′ + α(α + 1)
1 − t2y = 0. (2.41)
Die Funktionen
p(t) = − 2t
1 − t2, q(t) = α(α + 1)
1 − t2haben die fur ∣t∣ < 1 konvergenten Potenzreihenentwicklungen
p(t) = − 2t
1 − t2= −2t
∞∑n=0
t2n (2.42)
und
q(t) = α(α + 1)1 − t2
= α(α + 1)∞∑n=0
t2n. (2.43)
Nach Satz (2.3.1) ist dann auch die Losung y(t) in t0 = 0 analytisch. Ihre Reihenentwick-lung konvergiert fur ∣t∣ < 1. Zur Bestimmung der Koeffizienten machen wir den Ansatz
y(t) =∞∑n=0
antn.
Zum Losen der Differentialgleichung benutzen wir wieder die ursprungliche Form (2.40).Einsetzen des obigen Potenzreihenansatzes liefert
0 = y′′ − t2y′′ − 2ty′ + α(α + 1)y
=∞∑n=2
n(n − 1)antn−2 −∞∑n=0
n(n − 1)antn −∞∑n=0
2nantn +
∞∑n=0
α(α + 1)antn
=∞∑n=0
(n + 2)(n + 1)an+2 − n(n − 1)an − 2nan + α(α + 1)antn.
Nullsetzen der Koeffizienten ergibt dann fur alle n ∈ N0
(n + 2)(n + 1)an+2 − n(n − 1)an − 2nan + α(α + 1)an = 0.
Damit erhalten wir die Rekursionsformel
an+2 = n(n − 1) + 2n − α(α + 1)(n + 2)(n + 1)
an
= n(n + 1) − α(α + 1)(n + 2)(n + 1)
an. (2.44)
Fur a0 ∶= 1, a1 ∶= 0 erhalten wir somit
a2 = −α(α + 1)
2, a4 =
α(α + 1)[α(α + 1) − 6]4 ⋅ 3 ⋅ 2
= α(α + 1)(α − 2)(α + 3)4!
, . . .
85
und damit die Losung
y1(t) = 1 − α(α + 1)2!
t2 + α(α − 2)(α + 1)(α + 3)4!
t4 ∓⋯
und fur a0 ∶= 0, a1 ∶= 1 ergibt sich analog
y2(t) = t −(α − 1)(α + 2)
3!t3 + (α − 1)(α − 3)(α + 2)(α + 4)
5!t5 ∓⋯
Fur α ∈ N0 ist eine der beiden Losungen ein Polynom. Die jeweils andere Losung istdann kein Polynom. Die durch die Forderung Pn(1) = 1 normierten Polynome heißenLegendre-Polynome. Diese spielen in der Potentialtheorie eine wichtige Rolle.
Beispiel 3 Es sollen die ersten drei Legendre-Polynome berechnet werden.
Fall α = 0: In diesem Fall ist die Losung y1 ein Polynom, wir wahlen also a1 ∶= 0, der Wertfur a0 ist gemaß der Forderung P0(1) = 1 zu bestimmen. Die Rekursionsformel (2.44)lautet fur α = 0
an+2 =n
n + 2an.
Es folgt a2 = 0 und damit an = 0 fur n ≥ 2 gerade. Wegen a1 = 0 gilt außerdem an = 0 furn ≥ 1 ungerade. Es folgt
P0(t) = a0
und mit der Normierungsbedingung P0(1) = 1 somit
P0(t) = 1.
Fall α = 1: Dann ist y2 ein Polynom, also wahlen wir a0 ∶= 0. Die Rekursionsformel (2.44)lautet nun
an+2 =n(n + 1) − 2
(n + 2)(n + 1)an.
Es folgt a3 = 0 und damit an = 0 fur n ≥ 3 ungerade. Wegen a0 = 0 gilt außerdem an = 0fur n ≥ 2 gerade und damit
P1(t) = a1t.
Aus der Normierungsbedingung P1(1) = 1 folgt weiter a1 = 1, also
P1(t) = t.
Fall α = 2: Dann lautet die Rekursionsformel (2.44)
an+2 =n(n + 1) − 2 ⋅ 3(n + 2)(n + 1)
an (2.45)
und es folgt a4 = 0 und damit an = 0 fur n ≥ 4 gerade. Wahlen wir a1 = 0, so gilt außerdeman = 0 fur n ≥ 1 ungerade. Aus (2.45) folgt außerdem
a2 = −6
2a0 = −3a0.
Daher giltP2(t) = a0 − 3a0t
2.
Aus der Normierungsbedingung P2(1) = 1 folgt dann a0 = −1/2, also
P2(t) =1
2(3t2 − 1).
86
2.4 Lineare Systeme 1. Ordnung
Ein System von gewohnlichen Differentalgleichungen 1. Ordnung besteht aus n simultanenDifferentialgleichungen 1. Ordnung fur Funktionen x1(t), . . . xn(t) und hat die Form
x1 = f1(t, x1, . . . xn) ,⋮
xn = fn(t, x1, . . . xn) .
Eine vektorwertige Funktion x(t) = (x1(t), . . . , xn(t)) heißt eine Losung, wenn
xj(t) = fj(t, x1(t), . . . xn(t)) , (2.46)
fur alle 1 ≤ j ≤ n und t ∈ I, wobei I ein Intervall ist.
Beispiel 1 Gegeben sei das System
x1 = 1
x2 = 2x1 .
Es folgt sofort x1(t) = t + c1 und weiter aus x2 = 2t + 2c1, dass x2(t) = t2 + 2tc1 + c2 mitc1, c2 ∈ R. Die allgemeine Losung ist deshalb fur t ∈ R gegeben durch
x(t) = (x1(t)x2(t)
) = ( t + c1
t2 + 2tc1 + c2) , c1, c2 ∈ R.
Im Allgemeinen ist die Losung eines Systems allerdings nicht so einfach wie im obigenBeispiel, weil die Differentialgleichungen gekoppelt sein konnen. Beispielsweise kann dieGleichung fur x1 von x2 abhangen, wodurch man nicht einfach nacheinander eine Glei-chung nach der anderen auflosen kann.
Wir geben uns nun Anfangsbedingungen
x1(t0) = x01, . . . , xn(t0) = x0
n (2.47)
mit x01, . . . , x
0n ∈ R vor. Das System (2.46) zusammen mit den Anfangsbedingungen (2.47)
heißt ein Anfangswertproblem.
Bemerkung 2.4.1. Eine Differentialgleichung n-ter Ordnung lasst sich zu einem System1. Ordnung umschreiben. Gegeben sei die Differentialgleichung
an(t)y(n)(t) + . . . + a0(t)y(t) = g(t) (2.48)
mit an(t) /= 0. Setzen wir
x1(t) ∶= y(t), x2(t) ∶= y′(t), . . . , xn(t) ∶= y(n−1)(t) ,
87
so erhalten wir das aquivalente System
x1 = x2
x2 = x3
⋮xn−1 = xn
xn = 1
an(t)(g(t) − an−1(t)xn − . . . − a0(t)x1) .
Beispiel 2 Gegeben sei das Anfangswertproblem
y′′′ + (y′)2 + 3y = et, y(0) = 1, y′(0) = 0, y′′(0) = 0 .
Wir setzen x1 ∶= y, x2 ∶= y′, x3 ∶= y′′ und erhalten damit das aquivalente System
x1 = x2
x2 = x3
x3 = et − x22 − 3x1
mit den Anfangsbedingungen x1(0) = 1, x2(0) = 0, x3(0) = 0 .
Wir beschaftigen uns hier nur mit linearen Systemen. Das System (2.46) heißt linear,wenn die Funktionen f1, . . . , fn in den Variablen x1, . . . , xn affin linear sind; ein linearesSystem hat also die folgende Form:
x1 = a11(t)x1 + . . . + a1n(t)xn + g1(t)⋮ (2.49)
xn = an1(t)x1 + . . . + ann(t)xn + gn(t) .
Sind alle Funktionen g1(t), . . . , gn(t) identisch Null, dann heißt das System homogen,andernfalls inhomogen.Setzen wir g(t) ∶= (g1(t), . . . , gn(t))T , x ∶= (x1, . . . , xn)T und
A(t) ∶=⎛⎜⎝
a11(t) . . . a1n(t)⋮ ⋱ ⋮
an1(t) . . . ann(t)
⎞⎟⎠,
dann konnen wir anstatt (2.49) auch schreiben:
˙x = A(t)x + g(t) . (2.50)
Die Anfangsbedingung (2.47) ist dann einfach die Bedingung
x(t0) = x0 = (x01, x
02, . . . , x
0n) ∈ Rn , (2.51)
und eine Losung des AWPs (2.50), (2.51) ist dann eine Funktion x ∶ (α,β) → Rn mitt0 ∈ (α,β), so dass
˙x(t) = A(t)x(t) + g(t) ∀t ∈ (α,β) und x(t0) = x0 . (2.52)
88
Beispiel 3 Gegeben sei das AWP
x1 = −x2,
x2 = x1,
x(0) = (1,0)T . Dann ist x1(t) = cos t, x2(t) = sin t die Losung des AWPs.
Es gilt der grundlegende Existenz- und Eindeutigkeitssatz:
Satz 2.4.1. Es seien A ∶ I → Rn×n und g ∶ I → Rn stetige matrix- bzw. vektorwertigeFunktionen auf einem offenen Intervall I ⊂ R. Dann hat das AWP
˙x(t) = A(t)x(t) + g(t) ∀t ∈ I, x(t0) = x0 ∈ Rn
fur jedes t0 ∈ I und jeden Vektor x0 ∈ Rn genau eine Losung; diese existiert fur alle t ∈ I.
2.4.1 Lineare homogene Systeme
Wie bei gewohnlichen DGLn 2. Ordnung untersuchen wir zunachst homogene Systemeder Form
˙x = A(t)x, t ∈ I . (2.53)
Zunachst ist leicht einzusehen, dass die Losungen des homogenen Systems (2.53) einenreellen Vektorraum bilden. Der folgende Satz gibt Auskunft uber die Dimension diesesVektorraums der Losungen.
Satz 2.4.2. Der Vektorraum aller Losungen des homogenen Systems (2.53) hat die Di-mension n.
Beweis. Sei ej ∶= (0 . . .1 . . .0)T der j-te Einheitsvektor. Nach Satz 2.4.1 hat das AWP
˙x = A(t)x, x(t0) = ej
genau eine Losung xj(t) fur t ∈ I. Wegen
n
∑j=1
αjxj(t) = 0 Ô⇒t=t0
n
∑j=1
αj ej = 0 Ô⇒ αj = 0, 1 ≤ j ≤ n,
sind die Losungen xj(t), 1 ≤ j ≤ n, linear unabhangig. Es sei nun x(t) eine beliebigeLosung und α ∶= x(t0). Dann gilt
x(t0) =n
∑j=1
αj ej =n
∑j=1
αjxj(t0) .
Daher folgt
x(t) =n
∑j=1
αjxj(t) ∀ t ∈ I,
weil beide Seiten das AWP ˙x = A(t)x, x(t0) = α losen und diese Losung nach Satz 2.4.1eindeutig ist. Die Losungen xj(t), 1 ≤ j ≤ n, bilden daher eine Basis des Losungsraumes.Dessen Dimension ist also gleich n.
89
Wir fassen nun n Losungen xj(t) fur 1 ≤ j ≤ n , des Systems (2.53) zu einer Matrix zu-sammen.
Definition 2.4.2. Die matrixwertige Funktion
X(t) ∶= (x1(t) . . . xn(t)) (2.54)
heißt Fundamentalmatrix, wenn die Spaltenvektoren x1(t), . . . , xn(t) linear unabhangigeLosungen sind, d.h. wenn die Spalten ein Fundamentalsystem bilden.
Da der Losungsvektorraum n-dimensional ist, lasst sich jede Losung x(t) mit Hilfe derFundamentalmatrix in der Form
x(t) = c1x1(t) + . . . + cnxn(t)= X(t)c
darstellen, wobei c ∶= (c1, . . . , cn)T . Zur Losung eines linearen homogenen Systems genugtes also, n unabhangige Losungen bzw. eine Fundamentalmatrix zu finden.
X(t) ist sicherlich dann eine Fundamentalmatrix, wenn detX(t) /= 0 ∀ t ∈ I ist. Derfolgende Satz zeigt, dass es genugt, die Fundamentalmatrix an einer einzigen Stelle zuuntersuchen.
Satz 2.4.3. X(t) = (x1(t) . . . xn(t)) ist genau dann eine Fundamentalmatrix, wenn detX(t0) /=0 fur ein t0 ∈ I gilt.
Beispiel 4 Gegeben sei die DGL 2. Ordnung
y′′ + p(t)y′ + q(t)y = 0
mit stetigen Funktionen p und q. Mit x1 ∶= y, x2 ∶= y′ erhalten wir das zugehorige System
x1 = x2
x2 = −p(t)x2 − q(t)x1 ,
also
(x1
x2
) = ( 0 1−q(t) −p(t) )(x1
x2
) . (2.55)
Es seien y1(t) = (y1(t), y′1(t))T , y2(t) = (y2(t), y′2(t))T Losungen des Systems (2.55). Diesebeiden Losungen bilden genau dann eine Fundamentalmatrix, wenn
det(y1(t) y2(t)) = det( y1(t) y2(t)y′1(t) y′2(t)
)
= y1(t)y′2(t) − y2(t)y′1(t)= W (y1, y2)(t) /= 0
90
fur alle t ∈ I.
Die Determinante detX(t) ist daher nichts anderes als die Verallgemeinerung der schonbekannten Wronskideterminante.
Beispiel 5 Gegeben sei die DGL n-ter Ordnung
y(n) + p1(t)y(n−1) + . . . + pn(t)y = 0 . (2.56)
Sei yj(t) = (yj(t), y′j(t), . . . y(n−1)j (t)), 1 ≤ j ≤ n, eine Losung des zugehorigen Systems.
Dann gilt
detX(t) = det(y1(t) . . . yn(t))
= det⎛⎜⎝
y1(t) . . . yn(t)⋮ ⋮
y(n−1)1 (t) . . . y
(n−1)n (t)
⎞⎟⎠
=∶ W (t) .
W (t) heißt ebenfalls Wronskideterminante. Es gilt dann: Die Losungen y1(t), . . . , yn(t)der DGL (2.56) bilden genau dann ein Fundamentalsystem, wenn W (t) = detX(t) /= 0.Das ist die Verallgemeinerung der Wronskideterminante auf Gleichungen beliebiger Ord-nung n ≥ 2.
2.4.2 Lineare inhomogene Systeme
Gegeben sei das inhomogene System
˙x = A(t)x + g(t), t ∈ I = (α,β), (2.57)
mit stetigen Funktionen A ∶ I → Rn×n und g ∶ I → Rn. Wir nehmen an, dass das zugehorigehomogene System schon gelost ist. Seien also x1(t), . . . , xn(t) n linear unabhangige Losun-gen des homogenen Systems und X(t) = (x1(t) . . . xn(t)), t ∈ I , die Fundamentalmatrix.
Sind ψ1(t), ψ2(t) zwei Losungen des inhomogenen Systems (2.57), so ist ψ1(t)− ψ2(t) eineLosung des homogenen Systems. Daher gilt
ψ1(t) − ψ2(t) = c1x1(t) + . . . + cnxn(t) .
Es genugt deshalb, eine spezielle bzw. partikulare Losung xp von (2.57) zu finden. DieseLosung wird mit der Methode der Variation der Konstanten bestimmt.
Variation der Konstanten
91
Wir machen den Ansatz
xp(t) = u1(t)x1(t) + . . . + un(t)xn(t)
= (x1(t) . . . xn(t))⎛⎜⎝
u1(t)⋮
un(t)
⎞⎟⎠
= X(t)u(t) ,
wobei u(t) ∶= (u1(t), . . . , un(t))T . Nach Produktregel und wegen X(t) = AX(t) folgt
˙xp(t) = X(t)u(t) +X(t) ˙u(t) = AX(t)u(t) +X(t) ˙u(t) = Axp(t) +X(t) ˙u(t).
Also lost xp genau dann die inhomogene Differentialgleichung ˙xp = Axp + g, wenn
X(t) ˙u(t) = g(t).
Wegen Invertierbarkeit von X(t) (die Determinante ist ≠ 0) ist dies aquivalent zu
˙u(t) =X−1(t)g(t). (2.58)
Wenn wir Anfangswerte u(t0) = 0 vorgeben, muss also gelten
u(t) =t
∫t0
X−1(s)g(s)ds, t0, t ∈ I ,
und damit ergibt sich die partikulare Losung
xp(t) =X(t)t
∫t0
X−1(s)g(s)ds .
Damit haben wir eine spezielle Losung des inhomogenen Systems gefunden. Wir fassendas Ergebnis in einem Satz zusammen.
Satz 2.4.4. Es sei X(t) Fundamentalmatrix von ˙x = A(t)x, t ∈ I. Dann ist
xp(t) =X(t)t
∫t0
X−1(s)g(s)ds (2.59)
die eindeutige Losung des AWPs ˙x = A(t)x + g(t), x(t0) = 0.
Jede Losung ϕ(t) des inhomogenen Systems lasst sich somit darstellen in der Form
x(t) = xh(t) + xp(t)
= X(t)c +X(t)∫t
t0X−1(s)g(s)ds mit c ∈ Rn,
wobei xp(t) eine spezielle Losung und xh(t) die allgemeine Losung des homogenen Systemsist. Die Losung des AWPs mit Anfangswerten x(t0) = x0 lautet damit explizit
92
x(t) =X(t)[X−1(t0)x0 + ∫t
t0X−1(s)g(s)ds], (2.60)
da x(t0) = x0 genau dann, wenn X(t0)c = x0, also c =X−1(t0)x0.
Beispiel 6 Gegeben sei die DGL
y′′ + p(t)y′ + q(t)y = g(t) .
Setzen wir x1 = y, x2 = y′ , dann erhalten wir das aquivalente System
(x1
x2
) = ( 0 1−q −p )(x1
x2
) + ( 0
g(t)) .
Sei y1(t), y2(t) ein Fundamentalsystem der homogenen DGL 2. Ordnung. Dann ist
X(t) = ( y1 y2
y′1 y′2)
eine Fundamentalmatrix des Systems und damit
X−1(t) = 1
W (t)( y′2 −y2
−y′1 y1) .
Aus (2.58) folgt dann
(u1(t)u2(t)
) = 1
W (t)( y′2 −y2
−y′1 y1)(0
g)
= 1
W (t)(−y2g
y1g) .
Das ist aber die schon bekannte Formel, die in den Verfahren der Variation der Konstantenfur gewohnliche DGLn 2. Ordnung auftritt (vgl. (2.34) und (2.35)).
Bisher wurde noch nicht gezeigt, wie n linear unabhangige Losungen konstruiert werdenkonnen. Das soll jetzt in einem Spezialfall geschehen.
2.4.3 Systeme mit konstanten Koeffizienten
Gegeben sei das System˙x = Ax , (2.61)
wobei A eine konstante n × n Matrix ist.
Wir machen nun den Losungsansatz
x(t) = eλtv (2.62)
93
mit noch zu bestimmenden λ ∈ C und v ∈ Cn. Die Funktion x ist genau dann Losung von(2.61), wenn
λeλtv = eλtAv ,
also genau dann, wennAv = λv . (2.63)
Gleichung (2.63) ist die definierende Gleichung fur Eigenwerte λ und Eigenvektoren v vonA. Wir haben damit das Bestimmen von Losungen auf die Berechnung von Eigenwertenund Eigenvektoren zuruckgefuhrt.
Die Eigenwerte eine Matrix sind bekanntlich die Nullstellen des charakteristischen Polynoms
p(λ) = det(A − λE) .
Beispiel 7 Gegeben sei die DGL 2. Ordnung mit konstanten Koeffizienten
y′′ + ay′ + by = 0 .
Das aquivalente System ist dann das System x1 = y, x2 = y′ und
(x1
x2
) = ( 0 1−b −a )(x1
x2
) .
Es folgt
p(λ) = det( −λ 1−b −a − λ )
= λ2 + aλ + b .
Die Eigenwerte sind daher die Losungen der charakteristischen Gleichung λ2 + aλ + b = 0.
Satz 2.4.5 (Eigenwert-Eigenvektor-Ansatz). Die Matrix A habe n linear unabhangigeEigenvektoren v1, . . . , vn ∈ Cn zu Eigenwerten λ1, . . . , λn ∈ C (die nicht notwendigerweiseverschieden sein mussen). Dann sind die Funktionen
xk(t) ∶= eλktvk, 1 ≤ k ≤ n,
n linear unabhangige Losungen des Systems.
Beweis. Die obige Rechnung zeigt, dass xk(t),1 ≤ k ≤ n, Losungen sind. Außerdem gilt
detX(0) = det(x1(0), . . . , xn(0)) = det(v1, . . . , vn) /= 0 .
Die Losungen sind deshalb linear unabhangig.
Es stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen dieser gute Fall eintritt. Aus derlinearen Algebra ist das folgende Resultat bekannt:
Satz 2.4.6. Die Eigenwerte λ1, . . . , λn seien paarweise verschieden. Dann sind die zu-gehorigen Eigenvektoren linear unabhangig.
94
Beispiel 8 Gegeben sei das AWP
(xy) = ( 1 12
3 1)(xy), x(0) = 0, y(0) = 1 .
1. Schritt: Berechnung der Eigenwerte. Aus
p(λ) = det( 1 − λ 123 1 − λ )
= (1 − λ)2 − 36
folgt p(λ) = 0 genau dann wenn 1 − λ = ±6, also sind die Eigenwerte λ1 = −5 und λ2 = 7.
2. Schritt: Berechnung der Eigenvektoren.
λ1 = −5 Ô⇒ v1 = (−21) ,
λ2 = 7 Ô⇒ v2 = (21) .
3. Schritt: Allgemeine Losung. Nach Satz 2.4.6 ist die allgemeine Losung
(x(t)y(t)
) = c1e−5t(−2
1) + c2e
7t(2
1), c1, c2 ∈ R.
4. Schritt: Anfangsbedingungen einsetzen. Aus
0 = x(0) = 2c2 − 2c1
1 = y(0) = c1 + c2
folgt c1 = c2 = 1/2 . Damit ist die gesuchte Losung
(x(t)y(t)
) = 12e
−5t(−2
1) + 1
2e7t(2
1).
Der Fall komplexer Eigenwerte
Sei nun λ = α+ iβ mit β /= 0 ein komplexer Eigenwert von A, v = v1+ iv2 der zugehorige Ei-genvektor. Dann ist x(t) = eλtv eine komplexwertige Losung. Wie schon bei gewohnlichenDGLn 2. Ordnung gilt der Satz
Satz 2.4.7. Sei x(t) = y(t)+ iz(t) eine komplexwertige Losung. Dann sind y(t) und z(t)zwei reelle Losungen.
Beweis.˙x(t) = Ax(t)⇒ ˙y(t) + i ˙z(t) = Ay(t) + iAz(t),
also˙y(t) = Ay(t) und ˙z(t) = Az(t) .
95
Nach diesem Satz genugt es, die komplexe Losung x(t) = eλtv in Real- und Imaginarteilzu zerlegen. Es gilt:
eλtv = e(α+iβ)t(v1 + iv2)= eαt(cos(βt) + i sin(βt))(v1 + iv2)= eαt(cos(βt)v1 − sin(βt)v2) + i eαt(sin(βt)v1 + cos(βt)v2) .
y(t) ∶= eαt(cosβt v1 − sinβt v2) und z(t) ∶= eαt(sinβt v1 + cosβt v2) sind somit reelle Losun-gen. y(t) und z(t) sind sogar linear unabhangig. Das lasst sich folgendermaßen einsehen:Es ist y(0) = v1, z(0) = v2. Waren y(t), z(t) nicht linear unabhangig, so wurde gelten,dass v2 = cv1 fur ein c ∈ R. Wir folgern
v = v1 + iv2 = (1 + ci)v1
und aus Av = λv weiter
(1 + ci)Av1 = λ(1 + ci)v1 ,
also Av1 = λv1. Das ist ein Widerspruch, weil λ nicht reell ist, aber A und v1 nur reelleEintrage haben.
Beispiel 9 Gegeben sei das AWP
˙x =⎛⎜⎝
1 0 00 1 −10 1 1
⎞⎟⎠x, x(0) =
⎛⎜⎝
111
⎞⎟⎠.
1. Schritt: Berechnung der Eigenwerte.
p(λ) = det⎛⎜⎝
1 − λ 0 00 1 − λ −10 1 1 − λ
⎞⎟⎠
= (1 − λ)[(1 − λ)2 + 1] .
Die Eigenwerte sind also λ1 = 1 und λ2,3 = 1 ± i.
2. Schritt: Berechnung der Eigenvektoren.Ein Eigenvektor zum Eigenwert λ1 = 1 ist v1 = (1,0,0)T . Das fuhrt auf die Losung
x1(t) = et⎛⎜⎝
100
⎞⎟⎠.
Ein Eigenvektor zum komplexen Eigenwert λ2 = 1 + i ist der Vektor v2 = (0, i,1)T . Damit
96
erhalten wir die komplexe Losung
eλtv = e(1+i)t⎛⎜⎝
0i1
⎞⎟⎠
= et(cos t + i sin t)⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎣
⎛⎜⎝
001
⎞⎟⎠+ i
⎛⎜⎝
010
⎞⎟⎠
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎦
= et⎛⎜⎝
0− sin t + i cos t
cos t + i sin t
⎞⎟⎠.
Also sind
x2(t) = et⎛⎜⎝
0− sin tcos t
⎞⎟⎠
und x3(t) = et⎛⎜⎝
0cos tsin t
⎞⎟⎠
zwei reelle Losungen.
3. Schritt Allgemeine Losung
x(t) = c1et⎛⎜⎝
100
⎞⎟⎠+ c2e
t⎛⎜⎝
0− sin tcos t
⎞⎟⎠+ c3e
t⎛⎜⎝
0cos tsin t
⎞⎟⎠, c1, c2, c3 ∈ R.
4. Schritt Anfangsbedingung einsetzen.
Aus x(0) = (1,1,1)T folgt c1 = c2 = c3 = 1. Also ist
x(t) = et⎛⎜⎝
1cos t − sin tcos t + sin t
⎞⎟⎠
die gesuchte Losung des Anfangswertproblems.
Mehrfache Eigenwerte
Die Matrix A kann mehrfache Eigenwerte besitzen. Dieser Fall soll jetzt behandelt werden.Dazu modifizieren wir den Ansatz (2.62).
Definition 2.4.3. Wir definieren fur eine Matrix A ∈ Rn×n
eA ∶= E +A + A2
2!+ A
3
3!. . . =
∞∑k=0
1
k!Ak. (2.64)
Die Abbildung A↦ eA heißt Matrixexponentialfunktion.
97
Wir machen den Losungsansatz x(t) = eAtv. Differenzieren ergibt
˙x(t) = d
dt(
∞∑k=0
1
k!Aktk)v =
∞∑k=1
1
k!Akktk−1v
= A∞∑k=1
1
(k − 1)!(At)k−1v = AeAtv = Ax(t), (2.65)
also ist diese Funktion fur jeden Vektor v ∈ Rn eine Losung. Wenn wir fur v die n Ein-heitsvektoren wahlen, so erhalten wir auf diese Weise n linear unabhangige Losungen. DasProblem besteht nun in der Berechnung von eAt.
Beispiel 10 Sei A = (0 10 0
). Dann gilt
A2 = (0 10 0
)(0 10 0
) = (0 00 0
)
und damit Ak = 0 fur k ≥ 2 . Es folgt
eA = E +A
= (1 00 1
) + (0 10 0
)
= (1 10 1
) .
Die Matrix A aus diesem Beispiel ist ein Beispiel fur eine nilpotente Matrix.
Beispiel 11 Allgemein heißt eine Matrix A nilpotent, wenn es ein ` ∈ N gibt, so dassA` = 0, also die Nullmatrix gibt. In diesem Fall kann man die Exponentialabbildung derMatrix durch eine endliche Summe berechnen,
eA =`−1
∑k=0
1
k!Ak .
Ein weiterer einfacher Fall sind Diagonalmatrizen.
Beispiel 12 Sei
A =⎛⎜⎝
λ1
⋱λn
⎞⎟⎠.
Dann gilt
eA =∞∑k=0
1
k!
⎛⎜⎝
λk1⋱
λkn
⎞⎟⎠=
⎛⎜⎜⎜⎜⎝
∞∑k=0
λk1k!
⋱∞∑k=0
λknk!
⎞⎟⎟⎟⎟⎠
=⎛⎜⎝
eλ1
⋱eλn
⎞⎟⎠.
Rechenregeln:
98
a) Aus AB = BA folgt eA+B = eAeB. Fur AB /= BA gilt im Allgemeinen aber eA+B ≠eAeB. Das ist ein wichtiger Unterschied zur reellen Exponentialfunktion ex.
b) Setzen wir B = −A, so folgt mit a)
e−AeA = eAe−A = eA−A = e0 = E .
Daher ist e−A = (eA)−1.
c) Ist T regular, so gilt:
(T −1AT )k = (T −1AT ) ⋅ (T −1AT ) . . . (T −1AT ) = T −1AkT
und deshalbeT
−1AT = T −1eAT .
d) Mit der gleichen Rechnung wie in (2.65) folgt
d
dteAt = AeAt.
Eigenschaft c) ist besonders nutzlich. Da jede symmetrische Matrix A diagonalisierbarist, d.h. es existiert eine regulare Matrix S, so dass S−1AS eine Diagonalmatrix ist, kannin diesem Fall eA leicht bestimmt werden.
Satz 2.4.8. Die MatrixX(t) ∶= eAt, −∞ < t <∞
ist eine Fundamentalmatrix des Systems ˙x = Ax. Es gilt X(0) = E und die Losung desAWPs ˙x = Ax, x(0) = x0 ist gegeben durch x(t) ∶= eAtx0.
Beweis. Da X(t) = AeAt = AX(t) gilt, sind die Spaltenvektoren von X(t) Losungen desSystems. Wegen e0 = E gilt detX(0) = detE = 1, somit sind diese auch linear unabhangig.Ferner gilt X(0)x0 = Ex0 = x0.
Mit (2.60) folgt dann weiter, dass die Losung des inhomogenen AWPs
˙x = Ax + g(t), x(0) = x0
durch
x(t) = eAtx0 + ∫t
0eA(t−s)g(s)ds
gegeben ist.
Zur Losung eines linearen Systems mit konstanten Koeffizienten brauchen wir daher nureAt auszurechnen. Das kann jedoch fur beliebige Matrizen A eine aufwendige Angelegen-heit sein. Wir gehen daher etwas anders vor. Wir suchen n linear unabhangige Vektorenv1, . . . , vn , so dass eAtvj, j = 1, . . . n, leicht berechnet werden kann. Ein einfacher Fallhiervon ist ein Eigenvektor v ∈ Rn zum Eigenwert λ, da aus Av = λv folgt
eAtv =∞∑k=0
1
k!tkAkv =
∞∑k=0
1
k!tkλkv = eλtv.
99
Damit erhalten wir die Losungen aus Satz 2.4.5 als Spezialfall des Ansatzes eAtv. DasProblem ist allerdings, dass es im Allgemeinen keine n linear unabhangigen Eigenvektorengibt.
Der folgende Satz aus der linearen Algebra garantiert aber die Existenz von n linear un-abhangigen allgemeineren Vektoren, fur die sich eAtv relativ leicht berechnen lasst.
Satz 2.4.9. Es sei A eine komplexe n × n-Matrix und λ1, . . . λk die Eigenwerte mit denVielfachheiten n1, . . . , nk, n1 + . . . + nk = n , d.h. das charakteristische Polynom hat dieForm p(λ) = ±(λ − λ1)n1 . . . (λ − λk)nk . Dann hat das Gleichungssystem
(A − λjE)nj v = 0 (2.66)
nj linear unabhangige Losungen.
Die Losungen des Gleichungssystems (2.66) heißen verallgemeinerte Eigenvektoren oderHauptvektoren. Im Fall nj = 1 ergeben sich gerade die Eigenvektoren zum Eigenwert λj. Eskann sein, dass das System (A − λjE)mv = 0 fur ein m < nj schon nj linear unabhangigeLosungen hat.
Die nj linear unabhangigen Losungen berechnen wir folgendermaßen.
1. Schritt: Bestimme mj ≤ nj linear unabhangige Losungen der Gleichung (A−λjE)v = 0,also die Eigenvektoren zum Eigenwert λj. Falls mj = nj, sind wir fertig.
2. Schritt: Bestimme alle linear unabhangigen Losungen der Gleichung (A − λjE)2v = 0,die nicht gleichzeitig Losungen aus Schritt 1. sind. Das sind die Hauptvektoren 2. Stufe.Falls wir damit insgesamt nj linear unabhangige Losungen gefunden haben, sind wir fertig.
3. Schritt: Bestimme alle Losungen der Gleichung (A − λjE)3v = 0, die nicht Losungenaus Schritt 1. oder Schritt 2. sind. Das sind die Hauptvektoren 3. Stufe. Falls wir damitinsgesamt nj linear unabhangige Losungen gefunden haben, sind wir fertig.
⋮
Das Verfahren fuhrt man so lange fort, bis man nj linear unabhangige Losungen gefundenhat. Das Verfahren hat hochstens nj Schritte.
Bemerkung 2.4.4. Ist v ein Hauptvektor k-ter Stufe, so sind die Losungen des Glei-chungssystems
(A − λjE)w = v
Hauptvektoren der Stufe k + 1.
Der Vorteil der Hauptvektoren vj ist nun, dass man eAtvj durch eine endliche Summeberechnen kann:
100
Satz 2.4.10. Ist vj ein Hauptvektor zum Eigenwert λj, also (A − λjE)nj vj = 0, so gilt
eAtvj = eλjtnj−1
∑`=0
t`
`!(A − λjE)`vj
= eλjt (vj + t(A − λjE)vj +t2
2(A − λjE)2vj + ⋅ ⋅ ⋅ +
tnj−1
(nj − 1)!(A − λjE)nj−1vj) .
Beweis.
eAtvj = e(A−λjE+λjE)tvj = eλjte(A−λjE)tvj
= eλjt∞∑`=0
t`
`!(A − λjE)`vj
= eλjtnj−1
∑`=0
t`
`!(A − λjE)`vj.
Damit konnen wir nun das AWP ˙x = Ax, x(0) = x0 fur beliebige Matrizen A ∈ Rn×n losen.Wir wissen bereits, dass x(t) = eAtx0 die gesuchte Losung ist. Nach Satz 2.4.9 bilden dieHauptvektoren eine Basis des Rn.Genauer seien λ1, . . . λk die Eigenwerte der Matrix A mit Vielfachheiten n1, . . . , nk. Fernerseien v11, . . . , v1n1 die Hautvektoren zu λ1, v21, . . . , v2n2 die Hautvektoren zu λ2, usw.
Dann hat x0 eine Darstellung der Form
x0 = (c11v11 + ⋅ ⋅ ⋅ + c1n1 v1n1) + ⋅ ⋅ ⋅ + (ck1vk1 + ⋅ ⋅ ⋅ + cknk vknk)
mit cij ∈ R. Damit gilt
x(t) = eAtx0
= eAt [(c11v11 + ⋅ ⋅ ⋅ + c1n1 v1n1) + ⋅ ⋅ ⋅ + (ck1vk1 + ⋅ ⋅ ⋅ + cknk vknk)] =k
∑j=1
nj
∑m=1
cjmeAtvjm
=k
∑j=1
eλjtnj
∑m=1
cjm
nj−1
∑l=0
t`
`!(A − λjE)`vjm , (2.67)
wobei der letzte Schritt aus Satz 2.4.10 folgt.
Aus (2.67) erhalten wir die folgenden Spezialfalle.
a) Seien alle Eigenwerte paarweise verschieden.
Dann ist nj = 1 fur alle j und k = n. Die Gleichung (2.67) reduziert sich dann aufdie bekannte Formel
x(t) =n
∑j=1
cj1eλjtvj1 .
b) λ1 sei ein n-facher Eigenwert, d.h. k = 1 und n1 = n. Dann gilt
x(t) = eλ1tn
∑m=1
c1m
n−1
∑l=0
t`
`!(A − λ1E)`v1m .
101
Beispiel 13 Gegeben sei das System
˙x =⎛⎜⎝
1 1 00 1 00 0 2
⎞⎟⎠x .
1. Schritt: Berechnung der Eigenwerte
p(λ) = det⎛⎜⎝
1 − λ 1 00 1 − λ 00 0 2 − λ
⎞⎟⎠= (1 − λ)2(2 − λ).
λ1 = 1 ist also ein Eigenwert der Vielfachheit 2 , d.h. n1 = 2, und λ2 = 2 ist ein Eigenwertder Vielfachheit 1 , d.h. n2 = 1.
2. Schritt: Berechnung der Eigenvektoren und Hauptvektorenλ1 = 1: Aus
(A −E)v =⎛⎜⎝
0 1 00 0 00 0 1
⎞⎟⎠
⎛⎜⎝
v1
v2
v3
⎞⎟⎠=⎛⎜⎝
000
⎞⎟⎠
folgt sofort v2 = v3 = 0, und v1 kann beliebig gewahlt werden. Bis auf Vielfache ist v1 =(1,0,0)T demnach der einzige Eigenvektor. Da n1 = 2 ist, muss es daher verallgemeinerteEigenvektoren geben.
Berechnung der Hauptvektoren 2. Stufe zu λ1 = 1:
Hierfur losen wir die Gleichung (A −E)2v = 0. Es gilt
(A −E)2 =⎛⎜⎝
0 1 00 0 00 0 1
⎞⎟⎠
⎛⎜⎝
0 1 00 0 00 0 1
⎞⎟⎠=⎛⎜⎝
0 0 00 0 00 0 1
⎞⎟⎠.
Aus (A −E)2v = 0 folgt sofort v3 = 0, v1, v2 beliebig. Da die Losung linear unabhangig zuv1 = (1,0,0)T sein muss, wahlen wir v1 = 0, v2 = 1, also v2 = (0,1,0)T .
Mit v1 und v2 haben wir also n1 = 2 Hauptvektoren gefunden.
λ2 = 2 ∶ Losung der Gleichung (A − 2E)v = 0.Aus
⎛⎜⎝
−1 1 00 −1 00 0 0
⎞⎟⎠
⎛⎜⎝
v1
v2
v3
⎞⎟⎠=⎛⎜⎝
000
⎞⎟⎠
folgt v1 = v2 = 0, v3 beliebig. v3 = (0,0,1)T ist daher bis auf Vielfache der einzige Eigen-vektor.
3. Schritt: Allgemeine Losung.
102
Wir haben die Losungen
x1(t) = eAtv1 = eλ1tv1 = et⎛⎜⎝
100
⎞⎟⎠,
x2(t) = eAtv2
= et(E + t(A −E))v2
= et⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎣
⎛⎜⎝
1 0 00 1 00 0 1
⎞⎟⎠+⎛⎜⎝
0 t 00 0 00 0 t
⎞⎟⎠
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎦
⎛⎜⎝
010
⎞⎟⎠
= et⎛⎜⎝
1 t 00 1 00 0 1 + t
⎞⎟⎠
⎛⎜⎝
010
⎞⎟⎠
= et⎛⎜⎝
t10
⎞⎟⎠,
x3(t) = eAtv3 = eλ2tv3 = e2t⎛⎜⎝
001
⎞⎟⎠.
Damit ist die allgemeine Losung durch
x(t) = c1x1(t) + c2x2(t) + c3x3(t)
= c1et⎛⎜⎝
100
⎞⎟⎠+ c2e
t⎛⎜⎝
t10
⎞⎟⎠+ c3e
2t⎛⎜⎝
001
⎞⎟⎠
gegeben, wobei c1, c2, c3 ∈ R beliebig sind.
Zum Abschluss wollen wir noch den Spezialfall lindearer DGLn n-ter Ordnung mit kon-stanten Koeffizienten behandeln. Laut Bemerkung 2.4.1 lassen sich diese in ein Systemumschreiben. Es gilt der folgende Satz.
Satz 2.4.5. Zur homogenen linearen DGL n-ter Ordnung
y(n)(t) + bn−1y(n−1)(t) + ⋅ ⋅ ⋅ + b1y
′(t) + b0y(t) = 0
mit konstanten Koeffizienten b0, . . . , bn−1 ∈ R definieren wir das charakteristische Plynom
p(λ) = λn + bn−1λn−1 + ⋅ ⋅ ⋅ + b1λ + b0.
Die reellen und komplexen Nullstellen von p liefern dann das folgende Fundamentalsystemvon Losungen der DGL:
1) Ist λ0 eine einfache reelle Nullstelle von p, so ist Φ(t) = eλ0t eine Losung der DGL.
2) Ist λ0 eine k-fache reelle Nullstelle von p, so sind
Φ1(t) = eλ0t, Φ2(t) = teλ0t, . . . ,Φk(t) = tk−1eλ0t
linear unanhangige Losungen der DGL.
103
3) Sind λ = α+iβ (mit β ≠ 0) und die komplex konjugierte Zahl λ = α−iβ einfache komplexeNullstellen von p, so sind
Φ1(t) = eαt cos(βt) und Φ2(t) = eαt sin(βt)
linear unabhangige Losungen der DGL.
4) Sind λ = α+iβ (mit β ≠ 0) und die komplex konjugierte Zahl λ = α−iβ jeweils k-fache komplexeNullstellen von p, so sind
Φ2l+1(t) = tleαt cos(βt), Φ2l+2(t) = tleαt sin(βt)
mit 0 ≤ l ≤ k − 1 linear unabhangige Losungen der DGL.
2.4.4 Losung von Systemen mit der Laplacetransformation
Mit der Laplacetransformation lassen sich auch Systeme mit konstanten Koeffizientenlosen. Gegeben sei das Anfangswertproblem
˙x = Ax + g(t) , x(0) = x0
Wir wenden die Laplacetransformation komponentenweise an,
X(s) ∶= Lx(t)(s) ∶=⎛⎜⎝
Lx1(t)(s)⋮
Lxn(t)(s)
⎞⎟⎠
und analog G(s) ∶= Lg(t)(s).1. Schritt TransformationWir erhalten mit Satz 1.3.4
sX(s) − x0 = AX(s) + G(s) ⇔ (sE −A)X(s) = x0 + G)(s).
Es folgtX(s) = (sE −A)−1(x0 + G(s)).
2. Schritt Rucktransformation
Die Losung erhalten wir durch inverse Laplace-Transformation in der Form
x(t) = L−1(sE −A)−1(x0 + G(s)).
104
3 Funktionentheorie
3.1 Grundlagen
Mit C ∶= x + iy ∣ x, y ∈ R wird der Korper der komplexen Zahlen bezeichnet. x = Rezheißt der Realteil , y = Imz der Imaginarteil von z = x + iy ∈ C. Mit z ∶= x − iy wird diekonjugiert komplexe Zahl bezeichnet. ∣z∣ ∶=
√zz =
√x2 + y2 ist der euklidische Abstand
der komplexen Zahl z von 0 ∈ C.
Polardarstellung
Fuhren wir Polarkoordinaten x = r cos θ, y = r sin θ ein, so konnen wir ein z ∈ C schreibenals
z = ∣z∣(cos θ + i sin θ) = ∣z∣eiθ = ∣z∣eiArg(z) .
Dabei ist das Argument Arg z ∈ (−π,π] definiert als der Winkel zwischen dem positivenTeil der x-Achse und dem Strahl von 0 nach z. Dieser Winkel ist zunachst nur bis aufVielfache von 2π bestimmt, daher verlangen wir zusatzlich noch −π < Arg z ≤ π, um dasArgument eindeutig festzulegen. Sind nun
z1 = r1eiθ1 und z2 = r2e
iθ2
zwei komplexe Zahlen, so gilt fur das Produkt
z1z2 = r1eiθ1r2e
iθ2 = r1r2ei(θ1+θ2).
Es folgt:
∣z1z2∣ = r1r2 = ∣z1∣∣z2∣ ,Arg(z1z2) = θ1 + θ2 = Arg z1 +Arg z2 + 2πk, fur ein k ∈ Z. (3.1)
Die Dreiecksungleichung
Sind z1, z2 komplexe Zahlen, so gilt die Dreiecksungleichung
∣z1 + z2∣ ≤ ∣z1∣ + ∣z2∣ .
Potenzen und Wurzeln komplexer Zahlen
Ist z = r(cos θ + i sin θ), so gilt
zn = (reiθ)n = rneinθ = rn(cos(nθ) + i sin(nθ)) .
105
Wir wollen nun umgekehrt die n-ten Wurzeln von z bestimmen, d.h. alle komplexen Zahlenw finden, so dass
wn = z .
Schreiben wir w in Polarkoordinaten, also w = ρ(cosϕ + i sinϕ), so muss gelten
ρn(cos(nϕ) + i sin(nϕ)) = r(cos θ + i sin θ)
und damit
ρn = r, cos(nϕ) = cos θ und sin(nϕ) = sin θ .
Dies ist aquivalent zu ρ = r1/n und nϕ = θ + 2πk, k ∈ Z . Die n-ten Wurzeln von z = reiθsind somit gegeben durch
w = r 1n (cos
θ + 2πk
n+ i sin θ + 2πk
n) = r 1
n eiθ+2πkn , k = 0,1,2, . . . n − 1 .
Wegen der 2π-Periodizitat von sin und cos werden mit k = 0, . . . n− 1 bereits alle komple-xen Wurzeln erfasst. Jede komplexe Zahl z ≠ 0 hat somit n verschiedene Wurzeln.
Beispiel 1 Losung der Gleichung w3 = 1 .
Losung. Es ist r = ∣1∣ = 1, θ = Arg(1) = 0, also
w = (cos2πk
3+ i sin 2πk
3) , k = 0,1,2 .
Damit sind die dritten Einheitswurzeln gegeben durch
w1 = 1, w2 = −1
2+ i
2
√3 und w3 = −
1
2− i
2
√3 .
3.2 Holomorphe Funktionen
Eine komplexe Zahlenfolge znn∈N konvergiert genau dann gegen z, in Formeln
limn→∞
zn = z ,
wenn
limn→∞
∣z − zn∣ = 0 .
Die komplexe Folge zn = xn + iyn konvergiert daher genau dann gegen z = x+ iy, wenn gilt
limn→∞
xn = x und limn→∞
yn = y .
Wir wollen uns nun mit komplexer Differenzierbarkeit beschaftigen.
106
Definition 3.2.1. Es sei U ⊂ C offen. Eine Funktion f ∶ U → C heißt (komplex) differen-zierbar in z0 ∈ U , falls
f ′(z0) ∶= limz→z0
f(z) − f(z0)z − z0
∈ C
existiert. Ist f in jedem z ∈ U differenzierbar, so heißt f holomorph in U. f ′(z) heißtkomplexe Ableitung von f an der Stelle z.
Wie fur reelle Funktionen gilt:
Satz 3.2.1. Ist f ∶ U → C differenzierbar in z0, so ist f stetig in z0.
Beweis. Es gilt
limz→z0
∣f(z) − f(z0)∣ = limz→z0
∣f(z) − f(z0)∣∣z − z0∣
limz→z0
∣z − z0∣
= ∣f ′(z0)∣ limz→z0
∣z − z0∣
= 0 .
Fur das Differenzieren komplexer Funktionen gelten die aus dem Reellen bekannten Re-geln.
Differenziationsregeln
Sind f, g in z0 differenzierbar, so sind f ± g, f ⋅ g und fg (falls g(z0) /= 0) differenzier-
bar in z0, und es gilt:
a) Summenregel: (f ± g)′(z0) = f ′(z0) ± g′(z0)b) Produktregel: (fg)′(z0) = f ′(z0)g(z0) + f(z0)g′(z0)
c) Quotientenregel: (fg )′(z0) = f ′(z0)g(z0)−f(z0)g′(z0)
g2(z0) .
Ferner gilt die Kettenregel
(g f)′(z0) = g′(f(z0))f ′(z0) ,
sofern g f existiert und g in f(z0) differenzierbar ist.
Die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen
Komplexe Differenzierbarkeit einer Funktion f ∶ U → C in z0 bedeutet, dass der Grenzwert
limz→z0
f(z) − f(z0)z − z0
= f ′(z0)
existiert, egal wie z gegen z0 geht. Wir lassen nun z auf zwei verschiedene Arten gegen z0
konvergieren. Zunachst werden f und z in Real- und Imaginarteil zerlegt:
f(z) = u(x, y) + iv(x, y) mit z = x + iy.
107
Fur z0 = x0+ iy0 betrachten wir zuerst komplexe Zahlen z der Form z = x+ iy0 mit x→ x0.Dann gilt
limz→z0
f(z) − f(z0)z − z0
= limx→x0
u(x, y0) + iv(x, y0) − u(x0, y0) − iv(x0, y0)x − x0
= limx→x0
u(x, y0) − u(x0, y0)x − x0
+ i limx→x0
v(x, y0) − v(x0, y0)x − x0
= ux(x0, y0) + ivx(x0, y0) .
Es folgt
f ′(z0) = ux(x0, y0) + ivx(x0, y0) , (3.2)
wobei wir hier und im Folgenden die Notation ux ∶= ∂u∂x , vy ∶= ∂v
∂y etc. verwenden.
Wir betrachten nun komplexe Zahlen z der Form z = x0 + iy mit y → y0. Dann gilt
limz→z0
f(z) − f(z0)z − z0
= limy→y0
u(x0, y) + iv(x0, y) − u(x0, y0) − iv(x0, y0)i(y − y0)
= −i limy→y0
u(x0, y) − u(x0, y0)y − y0
+ limy→y0
v(x0, y) − v(x0, y0)y − y0
= −i uy(x0, y0) + vy(x0, y0) ,
wobei wir 1/i = −i benutzt haben. Es folgt
f ′(z0) = vy(x0, y0) − i uy(x0, y0) . (3.3)
Vergleichen wir (3.2) mit (3.3), so sehen wir, dass f in z0 hochstens dann komplex diffe-renzierbar sein kann, wenn die Gleichungen
ux(x0, y0) = vy(x0, y0)vx(x0, y0) = −uy(x0, y0)
erfullt sind. Allgemeiner gilt, dass f in einem Gebiet U ⊂ C nur dann holomorph sein kann,wenn in allen Punkten z = x + iy ∈ U die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen(CR-DGLn)
ux(x, y) = vy(x, y) (3.4)
uy(x, y) = −vx(x, y) (3.5)
erfullt sind. Die Cauchy-Riemannschen-DGLn sind nicht hinreichend fur die komplexeDifferenzierbarkeit, wie das folgende Beispiel zeigt.
Beispiel 1 Sei
f(z) ∶= x3−y3x2+y2 + i
x3+y3x2+y2 fur (x, y) /= (0,0),
0 fur (x, y) = (0,0) .
108
Dann gilt
ux(0,0) = limx→0
u(x,0) − u(0,0)x
= limx→0
x3 − 0
(x2 + 0)x= 1 ,
uy(0,0) = limy→0
−y3 − 0
y(0 + y2)= −1 .
Analog lasst sich zeigen: vx(0,0) = 1, vy(0,0) = 1. Die Cauchy-Riemannschen DGLn (3.4)und (3.5) sind daher erfullt. Wahlen wir aber die Folge z = x + ix mit x→ 0 , so folgt
limz→0
f(z) − f(z0)z − z0
= limx→0
1
x + ix(x
3 − x3
x2 + x2+ ix
3 + x3
x2 + x2)
= limx→0
ix
x + ix= i
1 + i≠ 1 + i = ux(0,0) + ivx(0,0) .
Also ist f nicht holomorph.
Es gilt jedoch der folgende Satz:
Satz 3.2.2. Die Funktionen ux, uy, vx, vy seien in einem Gebiet U ⊂ C stetig. Ferner seienin U die Cauchy-Riemannschen-Differentialgleichungen
ux = vy, uy = −vx (3.6)
erfullt. Dann ist f(z) = u(x, y) + iv(x, y) in U holomorph.
Beispiel 2 Sei f(z) = z = x + iy. Es folgt ux = vy = 1, uy = −vx = 0. Also sind die CR-DGLn in U = C erfullt. Außerdem sind die Ableitungen ux, vy, uy,−vx stetig. Damit istf(z) holomorph in C und es gilt:
f ′(z) = ux + ivx = 1.
Beispiel 3 Sei f(z) = z = x− iy. Dann gilt ux = 1, uy = 0, vx = 0, vy = −1 . Also ist ux /= vy.f(z) = z ist daher nirgendwo komplex differenzierbar.
Der Zusammenhang mit der Laplace-Gleichung
Es wird spater bewiesen, dass eine holomorphe Funktion automatisch beliebig oft dif-ferenzierbar ist. Nehmen wir das zunachst als gegeben an, so folgt aus den CR-DGLn(3.6) durch Differenzieren:
uxx = vyx = vxy = −uyy ⇒ uxx + uyy = ∆u = 0
vxx = −uyx = −uxy = −vyy ⇒ vxx + vyy = ∆v = 0 .
109
Real- und Imaginarteil einer holomorphen Funktion sind daher harmonische Funktionen.
Die geometrische Bedeutung der Cauchy-Riemannschen DGLn
Abbildung 3.1: u(x, y) = Rez2, v(x, y) = Imz2
Sei f(z) = u(x, y) + iv(x, y) holomorph in U ⊂ C. Wir betrachten die Niveaumengen vonReal- und Imaginarteil von f , also die Kurvenscharen
z = x + iy ∈ U ∣u(x, y) = c1 und z = x + iy ∈ U ∣ v(x, y) = c2
mit c1, c2 ∈ R. Diese Kurvenscharen sind in Abbildung 3.1 fur den Fall f(z) = z2 skiz-ziert. Angenommen, zwei solche Kurven schneiden sich in einem Punkt z0 = x0 + i y0 mitf ′(z0) /= 0. Dann gilt auch ∇u(x0, y0) = (ux(x0, y0), uy(x0, y0)) /= (0,0) und ∇v(x0, y0) =(vx(x0, y0), vy(x0, y0)) /= (0,0). Außerdem ist ∇u senkrecht zu der Kurve u(x, y) = c1, ∇vsenkrecht zu der Kurve v(x, y) = c2. Ferner folgt aus den Cauchy-Riemannschen Differen-tialgleichungen
< ∇u(x0, y0), ∇v(x0, y0) > = < (ux, uy), (vx, vy) >= uxvx + uyvy= uxvx − vxux= 0 .
Damit schneiden sich die Niveaukurven u(x, y) = c1 und v(x, y) = c2 in Punkten z0 = x0+iy0
mit f ′(z0) ≠ 0 in rechtem Winkel.
110
3.3 Analytische Funktionen
Definition 3.3.1. Die Reihe f(z) = ∑∞k=0 ak(z − z0)k ∶= limN→∞
N
∑k=0
ak(z − z0)k heißt (kom-
plexe) Potenzreihe mit Entwicklungspunkt z0 ∈ C und komplexen Koeffizienten ak ∈ C.
Beispiel 1 Geometrische Reihe. Hierbei handelt es sich um die Reihe
∞∑k=0
zk .
Die Partialsummen haben die Form
N
∑k=0
zk = 1 − zN+1
1 − z.
Fur ∣z∣ < 1 konvergiert zN → 0 fur N →∞, daher konvergiert die geometrische Reihe gegen1/(1 − z) fur ∣z∣ < 1. Die Reihe divergiert fur ∣z∣ ≥ 1.
Das Konvergenzverhalten der geometrischen Reihe ist typisch. Genau wie bei reellen Po-tenzreihen konvergiert auch jede komplexe Potenzreihe innerhalb eines Kreises um denEntwicklungspunkt und divergiert ausserhalb.
Satz 3.3.1. Ist die Reihe ∑∞k=0 ak(z − z0)k fur z1 /= z0 absolut konvergent, so ist sie auch
fur alle z mit ∣z − z0∣ < ∣z1 − z0∣ konvergent.
Beweis. Wegen der Konvergenz der Reihe fur z = z1 gibt es ein M mit ∣ak(z1 − z0)k∣ <Mfur alle k ∈ N. Nach Voraussetzung ist R ∶= ∣z1 − z0∣ > 0. Fur alle z ∈ C mit r ∶= ∣z − z0∣ < Rgilt nun die Abschatzung
∣∞∑k=0
ak(z − z0)k ∣ ≤∞∑k=0
∣ak∣ ∣z − z0∣k =∞∑k=0
∣ak∣ rk
≤∞∑k=0
( rR
)k
∣ak∣ ∣z1 − z0∣k
≤M∞∑k=0
( rR
)k
= M
1 − rR
<∞.
Aus diesem Satz ergibt sich unmittelbar:
Satz 3.3.2. Zu jeder Potenzreihe ∑∞k=0 ak(z − z0)k gibt es eine Zahl R (wobei auch ∞ als
Zahl zugelassen wird), genannt Konvergenzradius, mit der folgenden Eigenschaft:
Fur alle z mit ∣z − z0∣ < R ist die Reihe absolut konvergent.
Fur alle z mit ∣z − z0∣ ≤ cR, c < 1 , ist die Reihe gleichmaßig konvergent.
Fur alle z mit ∣z − z0∣ > R ist die Reihe divergent.
Bemerkung 3.3.2. Das Konvergenzverhalten in den Punkten z mit ∣z − z0∣ = R mussgesondert untersucht werden, in diesen Punkten kann die Reihe sowohl konvergieren alsauch divergieren.
111
Der Konvergenzradius lasst sich wie im Reellen mit Hilfe des folgenden Kriteriums be-stimmen.
Satz 3.3.3. Gegeben sei die Potenzreihe ∑∞k=0 ak(z − z0)k. Dann gilt fur den Konvergenz-
radius
R = 1
lim supk→∞k√
∣ak∣,
wobei die rechte Seite als 0 zu interpretieren ist, falls der Nenner =∞ ist und als ∞, fallsder Nenner gleich 0 ist.
Beweis. Wir betrachten zunachst den Fall R > 0. Sei ∣z−z0∣ < R. Dann gibt es ein ρ = ρ(z),so dass ∣z − z0∣ < ρ < R. Es folgt
lim supk→∞
k√
∣ak∣ =1
R< 1
ρ.
Nach Definition des Limes superior existiert ein k0, so dass fur alle k ≥ k0 gilt
k√
∣ak∣ <1
ρ, also ∣ak∣ < (1
ρ)k
.
Es folgt, dass
∣ak(z − z0)k∣ < (∣z − z0∣ρ
)k
∀ k ≥ k0.
Also besitzt die Potenzreihe die geometrische Reihe als Majorante. Um die gleichmaßigeKonvergenz fur ∣z − z0∣ ≤ ρ < R zu beweisen, wahlen wir ein ρ′ mit ρ < ρ′ < R und stellenfest, dass
∣ak(z − z0)k∣ < (∣z − z0∣ρ′
)k
< ( ρρ′
)k
∀ k ≥ k0.
Wegen ρ/ρ′ < 1 haben wir eine (summierbare) Majorante gefunden. Die Behauptung folgtdann mit dem Weierstraß’schen Majorantenkriterium.
Falls ∣z − z0∣ > R (hier ist auch R = 0 erlaubt), wahlen wir ein ρ, so dass R < ρ < ∣z − z0∣.Dann ist
1
ρ< 1
R= lim sup
k→∞
k√
∣ak∣
und gemaß der Definition des Limes superior gibt es beliebig große k mit k√
∣ak∣ > 1/ρ ⇐⇒∣ak∣ > (1/ρ)k. Deshalb gilt
∣ak(z − z0)k∣ > (∣z − z0∣ρ
)k
fur unendlich viele k, wobei die rechte Seite fur k →∞ gegen ∞ konvergiert. Daher kanndie Reihe ∑∞
k=0 ak(z − z0)k in diesem Fall nicht konvergieren (dafur musste die Folge derSummanden namlich gegen 0 konvergieren).
Definition 3.3.3. Eine komplexe Funktion f ∶ U → C heißt (komplex) analytisch in z0 ∈ U, wenn f sich in einer Umgebung von z0 in eine (komplexe) Potenzreihe um z0 entwickelnlasst. f heißt analytisch in U , wenn f in allen Punkten z ∈ U analytisch ist.
112
Die Nullstellen einer analytischen Funktion sind isolierte Punkte der komplexen Zahlene-bene, wie der folgende Satz zeigt.
Satz 3.3.4 (Satz uber die Isoliertheit der Nullstellen). Sei f ∶ U → C in z0 ∈ U analytischmit f(z0) = 0, aber f nicht konstant 0 in einer Umgebung von z0. Dann gibt es ein ε > 0mit f(z) /= 0 fur 0 < ∣z − z0∣ < ε.
Beweis. Weil f in z0 analytisch ist, gibt es ein ε1 > 0, so dass f sich fur ∣z − z0∣ < ε1 alsPotenzreihe schreiben lasst, also
f(z) =∞∑k=0
ak(z − z0)k.
Wegen f(z0) = 0 ist a0 = 0 und weil f nahe z0 nicht konstant 0 ist, gibt es ein m ∈ N mitam ≠ 0 und a0 = a1 = . . . = am−1 = 0. Damit ist
f(z) = (z − z0)m∞∑k=m
ak(z − z0)k−m =∶ (z − z0)mg(z) ,
wobei g(z0) = am /= 0 gilt. Wegen der Stetigkeit von g(z) in z0 gibt es ein ε < ε1, so dass
∣g(z)∣ ≥ ∣am∣2
> 0 fur ∣z − z0∣ < ε .
Also ist f(z) /= 0 fur 0 < ∣z − z0∣ < ε .
Als Folgerung erhalten wir den wichtigen Identitatssatz fur analytische Funktionen.
Satz 3.3.5 (Identitatssatz). Es seien f, g ∶ U → C in U analytisch und U ein Gebiet (alsoinsbesondere zusammenhangend). Gibt es dann eine Folge znn∈N ⊂ U mit zn /= zm furn /=m, lim
n→∞zn = z0 ∈ U und f(zn) = g(zn) fur alle n ∈ N, so ist bereits f(z) = g(z) fur alle
z ∈ U .
Beweis. Da f − g analytisch und z0 keine isolierte Nullstelle von (f − g)(z) ist, gibt esnach Satz 3.3.4 ein ε > 0 so dass
f(z) − g(z) = 0
fur alle z mit ∣z − z0∣ < ε. Dann folgt aber auch f(z) = g(z) fur alle z ∈ U , weil Uzusammenhangend ist.
Satz 3.3.6. Jede Potenzreihe f(z) = ∑∞k=0 ak(z−z0)k ist im Innern ihres Konvergenzkreises
analytisch.
Beweis. Sei R der Konvergenzradius, ∣z1∣ < R. Wir mussen zeigen, dass f(z) sich um z1
in eine Potenzreihe entwickeln lasst. Dafur benutzen wir die binomische Formel:
f(z) =∞∑n=0
an(z − z0)n =∞∑n=0
an(z − z1 + z1 − z0)n
=∞∑n=0
n
∑k=0
an(n
k)(z − z1)k(z1 − z0)n−k .
113
Die Reihe∞∑n=0
n
∑k=0
∣an∣(n
k)∣z − z1∣k∣z1 − z0∣n−k =
∞∑n=0
∣an∣(∣z − z1∣ + ∣z1 − z0∣)n
ist konvergent, falls ∣z − z1∣ < R − ∣z1 − z0∣. Sei nun z so gewahlt. Nach dem CauchyschenDoppelreihensatz gilt dann
∞∑n=0
n
∑k=0
an(n
k)(z − z1)k(z1 − z0)n−k =
∞∑k=0
(∞∑n=k
an(n
k)(z1 − z0)n−k
´¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¸¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¶=∶bk
)(z − z1)k
=∞∑k=0
bk(z − z1)k
Bemerkung 3.3.4.
1. Nach dem Identitatssatz stimmen beide Potenzreihen in dem gemeinsamen Konver-genzbereich uberein.
2. Es kann sein, dass die Potenzreihe mit dem Entwicklungspunkt z1 auch fur z mit∣z − z0∣ > R konvergiert. Wir haben dann die analytische Funktion f(z) fortgesetzt.
Es soll nun ein Zusammenhang zwischen den analytischen Funktionen und den holomor-phen Funktionen hergestellt werden.
Satz 3.3.7. Ist f ∶ U → C analytisch, so ist f in U holomorph und f ′ (und damit f (n), n ∈N) ebenfalls analytisch. Die Potenzreihenentwicklung
f(z) =∞∑n=0
an(z − z0)n
darf gliedweise differenziert werden, und es gilt:
f ′(z) =∞∑n=1
nan(z − z0)n−1 .
Beweis. O.B.d.A. sei z0 = 0. Wegen
lim supn→∞
n√n∣an∣ = lim sup
n→∞n√
∣an∣
besitzt die Reihe
g(z) ∶=∞∑n=1
nanzn−1
denselben Konvergenzradius R wie die Reihe
f(z) =∞∑n=0
anzn.
114
Es sei nun ∣w∣ < ρ < R . Dann gilt fur z /= w:
f(z) − f(w)z −w
− g(w) =∞∑n=1
an [zn −wnz −w
− nwn−1]´¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¸¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¹¶
∶=An
,
und wir erhalten
A1 = 0
An =n
∑k=1
zn−kwk−1 − nwn−1
=n−1
∑k=1
(k − (k − 1))zn−kwk−1 − (n − 1)wn−1
=n−1
∑k=1
kzn−kwk−1 −n
∑k=2
(k − 1)zn−kwk−1
=n−1
∑k=1
k zn−kwk−1 −n−1
∑k=1
k zn−k−1wk
= (z −w)n−1
∑k=1
k zn−k−1wk−1 .
Also ist fur ∣w∣, ∣z∣ < ρ
∣An∣ ≤ ∣z −w∣ρn−2n−1
∑k=1
k = ∣z −w∣n(n − 1)2
ρn−2
und somit
∣f(z) − f(w)z −w
− g(w) ∣ ≤ ∣z −w∣∞∑n=2
∣an∣n(n − 1)
2ρn−2 .
Wegen lim supn
√n(n−1)
2 ∣an∣ = lim sup n√
∣an∣ = 1R und ρ < R ist die letzte Reihe konvergent,
und mit z → w folgt
g(w) = limz→w
f(z) − f(w)z −w
= f ′(w).
Durch wiederholte Anwendung von Satz 3.3.7 gelangen wir zu der Formel
f (k)(z) =∞∑n=k
n(n − 1) . . . (n − k + 1)an(z − z0)n−k .
Durch Einsetzen von z = z0 folgt daraus fur die Entwicklungskoeffizienten an die Formel
an =1
n!f (n)(z0) . (3.7)
Wir werden spater sehen, dass auch die Umkehrung des Satzes 3.3.7 richtig ist. Jede ineinem Gebiet U holomorphe Funktion ist dort auch analytisch. Das ist ein wichtiger Un-terschied zu den reellen Funktionen.
115
Wir gehen nun auf die wichtigsten Beispiele analytischer Funktionen ein.
Die Exponentialfunktion
Die komplexe Exponentialfunktion ist die Funktion
ez =∞∑k=0
1
k!zk . (3.8)
Ausk√k!→∞ folgt, dass der Konvergenzradius R =∞ ist. Die Reihe konvergiert deshalb
in der gesamten komplexen Ebene. Gemaß Satz 3.3.7 ist die Ableitung gegeben durch
d
dzez =
∞∑k=1
1
(k − 1)!zk−1 = ez.
Die komplexe Exponentialfunktionez genugt dem Additionstheorem
ez+w = ez ew . (3.9)
Insbesondere gilt eze−z = 1. Das beweist, dass ez niemals Null ist.
Die trigonometrischen Funktionen
Die trigonometrischen Funktionen sind fur z ∈ C definiert durch
cos z = eiz + e−iz
2, sin z = e
iz − e−iz2i
. (3.10)
Substituieren wir diese Definition in (3.8), so erhalten wir die Reihenentwicklungen
cos z =∞∑k=0
(−1)k(2k)!
z2k, sin z =∞∑k=0
(−1)k(2k + 1)!
z2k+1 .
Die Ableitungen sind gegeben durch
d
dzcos z =
∞∑k=1
(−1)k(2k − 1)!
z2k−1 = − sin z,d
dzsin z =
∞∑k=0
(−1)k(2k)!
z2k = cos z .
Aus (3.10) folgt weitereiz = cos z + i sin z (3.11)
und die Identitatcos2 z + sin2 z = 1 (3.12)
fur alle z ∈ C. Aus dem Additionstheorem (3.9) fur die Exponentialfunktion folgt
cos(z +w) + i sin(z +w) = ei(z+w) = eizeiw
= (cos z + i sin z)(cosw + i sinw)= cos z cosw − sin z sinw + i(cos z sinw + sin z cosw),
116
woraus durch Vergleich der Real- und Imaginarteile beider Seiten die Additionstheoremefur die trigonometrischen Funktionen folgen:
cos(z +w) = cos z cosw − sin z sinw (3.13)
sin(z +w) = cos z sinw + sin z cosw (3.14)
fur alle z,w ∈ C.
Aus der Definition (3.10) ergibt sich außerdem ein Zusammenhang mit den hyperbolischenFunktionen:
cos(iz) = e−z + ez
2= cosh z und sin(iz) = e
−z − ez2i
= i sinh z . (3.15)
Aus (3.9) folgt mit der Formel (3.11) dass
ez = ex+iy = exeiy = ex(cos y + i sin y) .
Daraus erhalten wir die Formeln
∣ez ∣ = ex = eRez (3.16)
und
Arg (ez) = y + 2πk = Imz + 2πk (3.17)
fur ein k ∈ Z.
Eine Funktion f(z) heißt periodisch mit der Periode c ∈ C, wenn f(z + c) = f(z) fur allez gilt. Aus (3.16) und (3.17) folgt, dass ez = ew genau dann gilt, wenn
eRez = eRew und Arg (ez) = Arg (ew)
d.h. genau dann wenn
Rez = Rew und Imz = Imw + 2πk, k ∈ Z.
Damit haben wir gezeigt, dass die Exponentialfunktion periodisch mit der Periode 2πiist. Der Streifen −π < y ≤ π heißt Fundamentalgebiet von ez.
Beispiel 2 Gesucht sind alle Losungen der Gleichung sin z = 2.
Losung. Gemaß dem Additionstheorem (3.14) und den Identitaten (3.15) gilt
sin(x + iy) = sinx cos(iy) + cosx sin(iy) = sinx cosh y + i cosx sinh y.
Die Gleichung sin z = 2 ist deshalb aquivalent zu
sinx cosh y = 2 und cosx sinh y = 0. (3.18)
Falls y = 0, so muss sinx = 2 gelten. Diese Gleichung hat keine Losung, weil x reellist. Sei nun y /= 0. Dann folgt aus der zweiten Gleichung aus (3.18), dass cosx = 0,also x = π/2 + kπ, k ∈ Z. Substituieren wir das in die erste Gleichung von (3.18), sofolgt (−1)k cosh y = 2. Wegen cosh y > 0 bedeutet das, dass k = 2` gerade sein muss und
117
cosh y = 2. Fur y0 = Arcosh 2 sind ±y0 die Losungen der Gleichung cosh y = 2, und damithaben wir alle Losungen der Gleichung sin z = 2 bestimmt als
π
2+ 2`π ± iy0, ` ∈ Z.
Vorsicht: Im Komplexen sind die trigonometrischen Funktionen cos z, sin z nicht durch 1beschrankt. Tatsachlich nehmen sie beliebig große Werte an, z.B. folgt aus (3.15), dasscos(iy) = cosh(y)→∞ fur y →∞.
Der Logarithmus
Wir mochten den komplexen Logarithmus als die inverse Funktion der Exponentialfunk-tion definieren. Der Logarithmus z = lnw soll also die Losung der Gleichung ez = w sein.Weil ez /= 0 fur alle z ist, besitzt die Zahl w = 0 keinen Logarithmus. Fur w /= 0 gilt:
ez = w ⇐⇒ exeiy = w⇐⇒ ex = ∣w∣, y = Argw + 2πk
⇐⇒ x = ln ∣w∣, y = Argw + 2πk (k ∈ Z).
Jede komplexe Zahl w /= 0 besitzt demnach unendlich viele Logarithmen
lnw = ln ∣w∣ + i(Argw + 2kπ), k ∈ Z.
Den Hauptwert von lnw erhalten wir, indem wir k = 0 setzen, d.h.
Lnw = ln ∣w∣ + iArgw, −π < Argw ≤ π. (3.19)
Fur eine positive reelle Zahl x > 0 ist Argx = 0, daher ist der Hauptwert des komplexenLogarithmus in diesem Fall Lnx = lnx, d.h. der (ubliche) reelle Logarithmus.
Das Logarithmusgesetz gilt fur den komplexen Logarithmus nur bis auf Vielfache von 2πi,d.h. in der Form
Ln(z1z2) = Ln z1 + Ln z2 + 2πik, fur ein k ∈ Z.
Diese Identitat folgt aus der Definition (3.19) und der Identitat (3.1):
Ln(z1z2) = ln ∣z1z2∣ + iArg(z1z2)= ln ∣z1∣ + ln ∣z2∣ + i(Arg(z1) +Arg(z2) + 2πk)= Ln(z1) + Ln(z2) + 2πik
fur ein geeignetes k ∈ Z.
Zum Schluss untersuchen wir das Verhalten Ln z in der Nahe des Punktes z0 = −r0 mitr0 > 0 auf der negativen reellen Achse. Falls wir uns dem Punkt −r0 von oben nahern, sogilt
limr→r0,θ↑π
Ln(reiθ) = limr→r0
ln r + i limθ↑π
θ = ln r0 + iπ.
118
Kommen wir von unten, so gilt
limr→r0,θ↓−π
Ln(reiθ) = limr→r0
ln r + i limθ↓−π
θ = ln r0 − iπ.
Ln z besitzt also in jedem Punkt der negativen reellen Achse einen Sprung der Große 2πi.
Beispiel 3 Der Hauptwert des komplexen Logarithmus von −1 ist gegeben durch
Ln(−1) = ln ∣ − 1∣ + iArg(−1) = ln 1 + iπ = iπ.
Potenzen
Wir definieren zw ∶= ewLn z fur alle w ∈ C und z ∈ C≠0.
Beispiel 4ii = eiLn i = ei(ln 1+iπ/2) = e−π/2 .
Beispiel 5 Berechnet werden soll zi fur z = 3(1 + i)/√
2.
Losung. Aus
Ln z = ln ∣z∣ + iArg z = ln 3 + iπ4
folgtzi = eiLn z = ei(ln 3+iπ/4) = e−π/4ei ln 3 = e−π/4(cos(ln 3) + i sin(ln 3)).
Das Rechnen mit Potenzreihen
Der Vollstandigkeit halber werden hier noch einmal die wichtigsten Regeln fur das Rech-nen mit Potenzreihen vorgestellt. Es seien
f(z) =∞∑k=0
ak(z − z0)k und g(z) =∞∑k=0
bk(z − z0)k
konvergent fur ∣z − z0∣ < R.
Dann gilt
a) (f + g)(z) = ∑∞k=0(ak + bk)(z − z0)k .
b) Sei h(z) = f(z)g(z). Dann ist h(z) = ∑∞k=0 ck(z − z0)k ebenfalls eine Potenzreihe und
es gilt:
cn = 1
n!h(n)(z0) =
1
n!
n
∑k=0
(nk)f (k)(z0)g(n−k)(z0)
= 1
n!
n
∑k=0
n!
(n − k)!k!f (k)(z0)g(n−k)(z0)
=n
∑k=0
akbn−k .
119
cn hangt somit nur von ak, bk mit k ≤ n ab. Zur Berechnung der n-ten Partialsummen
∑k=0
ck(z−z0)k genugt es deshalb, die beiden Polynomen
∑k=0ak(z−z0)k und
n
∑k=0
bk(z−z0)k
miteinander zu multiplizieren.
c) Der Quotient h(z) = f(z)g(z) =
∞∑k=0ck(z − z0)k lasst sich in eine Potenzreihe entwickeln,
wenn b0 ≠ 0 ist. Aus h(z)g(z) = f(z) folgt
n
∑k=0
ckbn−k = an ,
wobei die ck unbekannt sind. Die ck konnen nun sukzessiv aus den folgenden Glei-chungen berechnet werden:
c0b0 = a0
c1b0 + c0b1 = a1
⋮usw.
Zur Berechnung von cn genugt es wieder, bk, ak, k ≤ n , zu kennen.
Beispiel 6 Potenzreihenentwicklung von tan z ∶= sin zcos z bis zum dritten Glied.
sin z = z − z3
3!+ . . .
cos z = 1 − z2
2!+ z
4
4!+ . . .
z − z3
3!
1 − z2
2!
= (z − z3
3!)(1 + z
2
2+ (z
2
2)
2
+ . . . ) = z + z3
3+ z
5
6+ . . .
⇒ tan z = z + z3
3+ . . .
d) Verkettung von Potenzreihen: Sei f analytisch in z0 ∈ C und g analytisch in f(z0), also
f(z) =∞∑k=0
ak(z − z0)k, g(z) =∞∑k=0
bk(z − f(z0))k.
Die Funktion h definieren wir als Verkettung von g und f , d.h. h(z) = g(f(z)). Dann isth wieder analytisch, h(z) = ∑∞
k=0 ck(z − z0)k, mit zu bestimmenden Koeffizienten ck. Mitder Kettenregel folgt hierfur
c0 = h(z0) = g(f(z0)) = b0
c1 = h′(z0) = g′(f(z0))f ′(z0) = b1a1
c2 = 12h
′′(z0) = 12[g′′(f(z0))f ′(z0)2 + g′(f(z0))f ′′(z0)]
= b2 a21 + b1a2
⋮u.s.w.
120
Wieder hangt an nur von ak, bk mit k ≤ n ab.
Beispiel 7 Die Potenzreihenentwicklung von ecos z um z = 0 bis zum dritten Glied.
f(z) = cos z = 1 − z2
2+ . . .
g(z) = ez = ez−1+1 = e(1 + z − 1
1!+ (z − 1)2
2!+ (z − 1)3
3!+ . . . )
Wegen cos 0 = 1 mussen wir hier g um den Punkt 1 entwickeln. Es folgt
ecos z = e − ez2
2+ . . .
3.4 Die Cauchy’sche Integralformel
3.4.1 Komplexe Kurvenintegrale und Stammfunktionen
Es sei f ∶ [a, b]→ C stetig, f(t) = u(t) + iv(t). Dann definieren wir
∫b
af(t)dt ∶= ∫
b
au(t)dt + i ∫
b
av(t)dt .
Fur a ≤ b gilt die folgende fundamentale Ungleichung.
Lemma 3.4.1. Sei h ∶ [a, b]→ C stetig. Dann gilt
∣∫b
ah(t)dt∣ ≤ ∫
b
a∣h(t)∣dt .
Beweis. Sei α = ∫b
a h(t)dt /= 0 und sei ϕ ∶= Argα ,−π < ϕ ≤ π. Dann ist α = ∣α∣eiϕ, also∣α∣ = e−iϕα und damit
∣∫b
ah(t)dt∣ = e−iϕ∫
b
ah(t)dt = Re( e−iϕ∫
b
ah(t)dt)
= ∫b
aRe(e−iϕh(t))dt
≤ ∫b
a∣e−iϕh(t)∣dt = ∫
b
a∣h(t)∣dt .
Definition 3.4.2. Eine Kurve in der komplexen Ebene ist eine stetige Abbildung
c ∶ [a, b]→ C .
Bemerkung 3.4.3.
1) Im Folgenden werden wir nur stuckweise stetig differenzierbare Kurven betrachten.
121
2) Wir unterscheiden zwischen einer Kurve c ∶ [a, b]→ C und ihrem Bild c([a, b]) ⊂ C,auch die Spur der Kurve genannt. Die Spur ist eine Teilmenge der komplexen Ebene,wahrend die Kurve außerdem die Information enthalt, auf welche Weise diese Mengedurchlaufen wird. Zum Beispiel sind
c1(t) = eit, 0 ≤ t ≤ 2π und c2(t) = e−2it, 0 ≤ t ≤ π
zwei verschiedene Parametrisierungen der Einheitskreislinie. Im Fall von c1 wirddiese aber linksherum durchlaufen und im Fall von c2 rechtsherum und mit doppelterGeschwindigkeit.
Definition 3.4.4. Es sei c ∶ [a, b] → C mit a < b stw. stetig differenzierbar. Ferner seiU ⊂ C und f ∶ U → C eine stetige Funktion. Dann heißt
∫cf(z)dz ∶= ∫
b
af(c(t))c′(t)dt (3.20)
das (orientierte) Kurvenintegral von f uber c = u + iv. Dabei ist c′(t) = u′(t) + iv′(t).
Die wichtigste Eigenschaft des Integrals ist sein Verhalten bei Parametertransformationen,also bijektiven, stetigen Abbildungen t ∶ [α,β]→ [a, b], deren Umkehrabbildung ebenfallsstetig ist.
Lemma 3.4.5. Es sei c ∶ [a, b] → Ω ⊂ C eine Kurve und f ∶ Ω → C eine stetige Funktion.Fur eine stw. stetig differenzierbare Parametertransformation t ∶ [α,β]→ [a, b] (also t undt−1 stw. stetig diffbar) definieren wir die umparametrisierte Kurve durch γ ∶ [α,β] → C,γ(s) = c(t(s)).
(i) (Orientierungserhaltende Parametertransformationen): Falls t streng monoton wach-send ist, so gilt
∫γf(z)dz = ∫
cf(z)dz.
(ii) (Orientierungsumkehrende Parametertransformationen): Ist dagegen t streng mono-ton fallend, so gilt
∫γf(z)dz = −∫
cf(z)dz.
Beweis. Mit der Kettenregel und der Substitutionsregel folgt
∫γf(z)dz = ∫
β
αf(γ(s))γ′(s)ds = ∫
β
αf(c(t(s)))c′(t(s))t′(s)ds = ∫
t(β)
t(α)f(c(t))c′(t)dt .
Im Fall von (i), also wenn t ∶ [α,β] → [a, b] streng monoton wachsend ist, gilt t(α) = aund t(β) = b, daher ist die rechte Seite gleich ∫c f dz. Im anderen Fall ist t(α) = b undt(β) = a, also folgt
∫γf(z)dz = ∫
a
bf(c(t))c′(t)dt = −∫
b
af(c(t))c′(t)dt = −∫
cf(z)dz .
Direkt aus der Definition ergeben sich außerdem noch die folgenden Eigenschaften.
122
a) Ist c = c1 + c2 + . . . + cn eine stw. stetig differenzierbare Kurve, die durch Aneinan-derhangen der Kurven c1 bis cn entsteht, so gilt
∫cf(z)dz =
n
∑k=1∫ckf(z)dz .
b) Fur Funktionen f1, f2 ∶ Ω→ C und Konstanten α1, α2 ∈ C gilt
∫c[α1f1(z) + α2f2(z)]dz = α1∫
cf1(z)dz + α2 ∫
cf2(z)dz .
Ferner gilt die nutzliche Abschatzung:
Satz 3.4.1. Sei c ∶ [a, b]→ U ⊂ C stw. stetig diffbar und sei f ∶ U → C stetig. Dann gilt:
∣∫cf(z)dz∣ ≤ L(c) max
z∈c([a,b])∣f(z)∣ ,
wobei L(c) ∶= ∫b
a ∣c′(t)∣dt die Lange der Kurve bezeichnet.
Beweis. Nach Lemma 3.4.1 gilt
∣∫cf(z)dz∣ = ∣∫
b
af(c(t))c′(t)dt∣
≤ ∫b
a∣f(c(t))∣ ∣c′(t)∣dt
≤ maxt∈[a,b]
∣f(c(t))∣ ∫b
a∣c′(t)∣dt .
Beispiel 1 Berechnet werden soll das Kurvenintegral
∫cz3 dz,
wobei c die Strecke von 0 nach 1 + i parametrisiert.
Losung. Die Kurve c ist gegeben durch die Vorschrift
c(t) = t(1 + i), 0 ≤ t ≤ 1 ,
also c′(t) = 1 + i. Nach Definition des Kurvenintegrals ist damit
∫cz3 dz = ∫
1
0[t(1 + i)]3(1 + i)dt = (1 + i)4∫
1
0t3 dt = −4 ⋅ 1
4 = −1 .
Hierbei haben wir benutzt, dass (1 + i)2 = 2i, also (1 + i)4 = −4 ist.
123
Beispiel 2 Sei c(t) = reit = r(cos t + i sin t), 0 ≤ t ≤ 2π, also c′(t) = ireit. Dann gilt furn ∈ Z:
∫czndz = ∫
2π
0cn(t)c′(t)dt = ∫
2π
0rneint ireitdt
= irn+1∫2π
0ei(n+1)tdt
=⎧⎪⎪⎨⎪⎪⎩
irn+1[ − 1n+1i e
(n+1)it]2π
0= 0 fur n /= −1,
2πi fur n = −1.
Wie im Reellen gibt es einen engen Zusammenhang zwischen Integralen und Stammfunk-tionen. Hierfur definieren wir:
Definition 3.4.6. Sei U ⊂ C ein Gebiet. Eine holomorphe Funktion F ∶ U → C heißtStammfunktion von f ∶ U → C, wenn F ′(z) = f(z) fur alle z ∈ U gilt.
Es gilt dann wie im Reellen:
Satz 3.4.2 (Hauptsatz fur komplexe Kurvenintegrale). Besitzt f ∶ U → C auf einem Ge-biet U ⊂ C eine Stammfunktion F ∶ U → C, so gilt fur jede stuckweise stetig differenzierbareKurve c ∶ [a, b]→ U
∫cf(z)dz = F (c(b)) − F (c(a)) .
Beweis. Nach dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung gilt wegen f = F ′
∫cf(z)dz = ∫
b
aF ′(c(t))c′(t)dt = ∫
b
a
d
dtF (c(t))dt = F (c(b)) − F (c(a)) .
Beispiel 3 f(z) = z3 besitzt die Stammfunktion F (z) = 14z
4. Daher gilt fur einen beliebi-gen stw. stetig diffbaren Weg c, der die Punkte 0 und 4i verbindet
∫cf(z)dz = F (4i) − F (0) = 64.
Beispiel 4 Besitzt f eine Stammfunktion, so gilt nach dem Hauptsatz fur Kurvenintegraleinsbesondere
∫cf(z)dz = 0
fur alle geschlossenen Kurven, d.h. fur alle Kurven mit c(a) = c(b).Beispiel 5 Die Funktion f(z) = 1
z , z ∈ C∖ 0, besitzt keine Stammfunktion auf C∖ 0,denn fur die Kreislinie c(t) = reit, 0 ≤ t ≤ 2π, gilt
∫c
1
zdz = ∫
2π
0
1
reitireit dt = 2πi /= 0 .
Nach dem vorigen Beispiel kann das nicht gelten, falls es eine Stammfunktion zu f aufC ∖ 0 gabe, weil c eine geschlossene Kurve ist.
Nach dem Hauptsatz fur komplexe Kurvenintregale impliziert die Existenz einer Stamm-funktion zu f insbesondere, dass die komplexen Kurvenintegrale ∫c f dz nur von Anfangs-und Endpunkt der Kurve c abhangen und nicht von deren genauem Verlauf. Es gilt sogardie Umkehrung:
124
Satz 3.4.3. Fur eine holomorphe Funktion f ∶ U → C auf einem Gebiet U ⊂ C sindaquivalent:
a) f besitzt eine Stammfunktion auf U ;
b) Die Kurvenintegrale ∫c f dz sind wegunabhangig, d.h. sie hangen nur von Anfangs-und Endpunkt der Kurve c ∶ [a, b]→ U ab;
c) fur jede geschlossene Kurve c ∶ [a, b]→ U (d.h. c(a) = c(b)) gilt
∫cf(z)dz = 0 .
Beweis. a)Ô⇒ b): Folgt aus dem Hauptsatz fur Kurvenintegrale 3.4.2.
b)Ô⇒ c): Sei c ∶ [a, b] → U eine geschlossene Kurve und −c die in umgekehrter Richtungdurchlaufene Kurve (also −c(t) ∶= c(−t), −b ≤ t ≤ −a). Dann haben c und −c dieselbenAnfangs- und Endpunkte c(a) = c(b) = −c(−a) = −c(−b). Unter der Annahme von b) giltdaher
∫cf(z)dz = ∫
−cf(z)dz = −∫
cf(z)dz .
Daraus folgt
∫cf(z)dz = 0 .
c)Ô⇒ b): Falls c1 und c2 dieselben Endpunkte besitzen, so ist c1+(−c2) eine geschlosseneKurve und es folgt
0 = ∫c1+(−c2)
f(z)dz = ∫c1f(z)dz − ∫
c2f(z)dz ,
also
∫c1f(z)dz = ∫
c2f(z)dz .
bÔ⇒ a): Wir fixieren ein z0 ∈ U und definieren F ∶ U → C durch
F (z) ∶= ∫czf(w)dw,
wobei cz eine beliebige Kurve von z0 nach z ist. Wegen Annahme b) hangt diese Definitionnicht von der Wahl der Kurve ab. Fur ein beliebiges v ∈ C (genugend nah an z) ist daher
F (z + v) = ∫czf(w)dw + ∫
γf(w)dw ,
wobei γ(s) ∶= z + sv, 0 ≤ s ≤ 1, die Strecke von z nach z + v parametrisiert. Es folgt
F (z + v) − F (z) = ∫γf(w)dw = ∫
1
0f(z + sv) v ds.
Mit der Wahl von v = h ∈ R≠0 folgt fur f = f1 + if2
Fx ∶= limh→0
F (z + h) − F (z)h
= limh→0∫
1
0f(z + sh)ds = f(z) = f1(z) + if2(z)
125
und analog mit v = ih, h ∈ R≠0:
Fy ∶= limh→0
F (z + ih) − F (z)h
= limh→0∫
1
0f(z + sih)i ds = if(z) = −f2(z) + if1(z) .
Insbesondere folgt mit F = F1 + iF2
(F1)x = f1 = (F2)y und (F1)y = −f2 = −(F2)x ,
d.h. F erfullt die Cauchy-Riemann-Differentialgleichungen. Weil Fx und Fy außerdem ste-tig sind, ist demnach F holomorph, und es gilt F ′ = Fx = f , also ist F eine Stammfunktionvon f .
3.4.2 Der Satz von Cauchy
Gebiete ohne Locher heißen einfach zusammenhangend. Dabei kann man ein”Loch“ for-
mal definieren als eine beschrankte zusammenhangende Komponente des KomplementsC ∖Ω. Die formale Definition von einfach zusammenhangenden Gebieten lautet also:
Definition 3.4.7. Ein Gebiet Ω heißt einfach zusammenhangend, wenn das KomplementC ∖Ω keine beschrankten Zusammenhangskomponenten hat.
Wir kommen nun zu dem zentralen Satz der Funktionentheorie, auf dem alle weiterenErgebnisse aufbauen werden.
Satz 3.4.4 (Cauchy’scher Integralsatz). Es sei Ω ⊂ C einfach zusammenhangend undc ∶ [a, b] → Ω eine geschlossene Kurve, die stuckweise stetig differenzierbar ist. Dann giltfur jede in Ω holomorphe Funktion f ∶ Ω→ C
∫cf(z)dz = 0 .
Bemerkung 3.4.8. Die Voraussetzung, dass Ω einfach zusammenhangend ist, ist dabeiwesentlich. Zum Beispiel ist f(z) = 1
z holomorph auf dem Gebiet Ω = C ∖ 0, das nichteinfach zusammenhangend ist, weil es das
”Loch“ C ∖ Ω = 0 hat. Und tatsachlich gilt
auf diesem Gebiet der Cauchy’sche Integralsatz nicht, weil nach Beispiel 5
∫c
1
zdz = 2πi ≠ 0
gilt fur die Kreislinie c ∶ [0,2π]→ C ∖ 0, c(t) = eit.
Wir fuhren den Cauchy’schen Integralsatz hier auf den Satz von Green zuruck:
Satz 3.4.5 (Satz von Green). Angenommen, das Gebiet Ω ⊂ R2 werde von der Kurvec ∶ [a, b] → ∂Ω umrandet (und zwar so, dass c das Gebiet Ω linksherum umlauft). Weiterseien P,Q ∶ U → R stetig differenzierbare Funktionen auf einer Umgebung U ⊃ Ω von Ω.Dann gilt
∫cPdx +Qdy = ∫
Ωrot(P,Q)dxdy,
wobei rot(P,Q) ∶= Qx − Py ist und die linke Seite definiert ist als
∫cPdx +Qdy = ∫
b
a[P (c(t))c′1(t) +Q(c(t))c′2(t)]dt.
126
Beweis des Cauchy’schen Integralsatzes. Wir fuhren den Beweis hier nur fur den Fall, dassf stetig differenzierbar ist, der Satz kann aber auch ohne diese Voraussetzung bewiesenwerden (der Beweis wird dann aber komplizierter). Wir werden auch spater sehen, dassjede holomorphe Funktion automatisch stetig differenzierbar ist (das allerdings wiederumals eine Konsequenz aus dem Cauchy’schen Integralsatz).
Sei nun f = u + iv ∶ Ω → C holomorph (und stetig differenzierbar) und Ω ⊂ C das von cumrandete Gebiet. Es gilt
∫cf(z)dz = ∫
c(u + iv)(dx + idy)
= ∫cudx − v dy + i∫
cv dx + udy. (3.21)
Auf beide Integrale in der letzten Zeile lasst sich nun der Satz von Green anwenden,beim ersten Integral mit (P,Q) = (u,−v), beim zweiten mit (P,Q) = (v, u). Die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen bedeuten hierfur gerade
rot(u,−v) = −vx − uy = 0 und rot(v, u) = ux − vy = 0 .
Damit erhalten wir aus (3.21) und dem Satz von Green
∫cf(z)dz = ∫
cudx − v dy + i∫
cv dx + udy
= ±∫Ω
rot(u,−v)dxdy ± i∫Ω
rot(v, u)dxdy = 0 .
Das Vorzeichen in der letzten Zeile hangt hierbei davon ab, ob c das Gebiet Ω linksherumoder rechtsherum umlauft.
Wir geben zunachst noch einige unmittelbare Folgerungen aus dem Cauchy’schen Inte-gralsatz an.
Zusammen mit Satz 3.4.3 liefert der Cauchy’sche Integralsatz zunachst die Existenz vonStammfunktionen:
Satz 3.4.6. Sei Ω ⊂ C einfach zusammenhangend und f ∶ Ω→ C holomorph. Dann besitztf auf Ω eine Stammfunktion.
Im Fall eines Gebietes mit Lochern gilt die folgende Version des Cauchy’schen Integral-satzes:
Satz 3.4.7. Es sei Ω ⊂ C ein Gebiet, das von endlich vielen paarweise disjunkten, ein-fach geschlossenen Kurven ci berandet wird, die alle stuckweise stetig differenzierbar sind.Diese Kurven seien so orientiert, dass Ω beim Durchlaufen immer zur Linken liegt. Ist fholomorph in Ω und stetig in Ω, so gilt:
n
∑i=1∫cif(z)dz = 0 .
127
c 2
c 1
c 3
Abbildung 3.2: Zerschneiden eines Gebiets
Beweis. Wir zerschneiden das Gebiet n-mal, um es einfach zusammenhangend zu machen.Die Integrale uber die zwei Rander eines Schnitts heben sich gegenseitig auf und dieBehauptung folgt dann mit dem Satz von Cauchy.
Der Nutzen dieses Satzes liegt vor allem darin, dass sich Integrale uber allgemeine Kurvenauf Integrale uber einfache Kurven, insbesondere uber Kreise, zuruckfuhren lassen.
Beispiel 6 Berechnet werden soll das Integral
∫2π
0
dθ
a2 cos2 θ + b2 sin2 θ, a, b ∈ R .
Losung. Sei c ∶ [0,2π] → C, c(θ) = a cos θ + ib sin θ, die Ellipse mit den Halbachsen a undb. Dann gilt
∫c
1
zdz = ∫
2π
0
−a sin θ + ib cos θ
a cos θ + ib sin θdθ
= ∫2π
0
(−a sin θ + ib cos θ)(a cos θ − ib sin θ)a2 cos2 θ + b2 sin2 θ
dθ
= ∫2π
0
(b2 − a2) sin θ cos θ + iaba2 cos2 θ + b2 sin2 θ
dθ
und damit ist
∫2π
0
dθ
a2 cos2 θ + b2 sin2 θ= 1
abIm∫
c
1
zdz .
Statt nun das Integral uber die Ellipse c auszurechnen, konnen wir alternativ auch ubereine Kreislinie κr(t) = reit mit Radius r < min(a, b) integrieren. Da die Funktion 1
z in demvon den Kurven c und κr berandeten Gebiet holomorph ist, gilt namlich:
∫c
1
zdz = ∫
κr
1
zdz = 2πi ,
vergleiche Beispiel 5. Damit folgt
∫2π
0
dθ
a2 cos2 θ + b2 sin2 θdθ = 1
abIm∫
c
1
zdz = 2π
ab.
128
3.4.3 Der komplexe Logarithmus als Stammfunktion von 1z
Laut Beispiel 5 hat f(z) = 1z keine Stammfunktion auf ihrem Definitionsbereich C ∖ 0.
Da f aber auf C∖ 0 holomorph ist, besitzt es nach Satz 3.4.6 aber eine Stammfunktionauf jeder einfach zusammenhangenden Teilmenge von C ∖ 0. Wir betrachten
Ω ∶= C ∖ x ∈ R, x ≤ 0 ,
also die langs der negativen reellen Achse aufgeschlitzte Ebene. Da Ω einfach zusam-menhangend ist, besitzt f also hierauf eine Stammfunktion F . Wie im Beweis von Satz 3.4.3ergibt sich diese als
F (z) = ∫cz
1
ζdζ ,
wobei cz irgendeine Kurve ist, die 1 (wir konnten hier auch einen anderen Punkt inΩ nehmen) mit z verbindet. Um diese Stammfunktion zu berechnen, wahlen wir denIntegrationsweg cz, der sich aus den Kurven c1(t) = 1+t(∣z∣−1), 0 ≤ t ≤ 1 (der Strecke von 1nach ∣z∣) und c2(t) = ∣z∣eitArg(z), 0 ≤ t ≤ 1 (dem Kreisbogen von ∣z∣ nach z) zusammensetzt.Fur Punkte z mit ∣z∣ = 1 entfallt das Integral uber c1. Damit ist
F (z) = ∫c1
1
ζdζ + ∫
c2
1
ζdζ
= ln ∣z∣ + iArg z
= Ln(z).
Also ist der Hauptzweig Ln des komplexen Logarithmus die Stammfunktion von 1z auf
der geschlitzten Ebene Ω. Diese Stammfunktion lasst sich aber nicht auf ganz C ∖ 0fortsetzen, weil sie langs der negativen reellen Achse unstetig ist: fur einen Punkt −r ∈ R<0
gilt namlichlimz→−rImz>0
Ln z = ln r + iπ und limz→−rImz<0
Ln z = ln r − iπ ,
d.h. der Grenzwert hangt davon ab, ob man sich der negativen reellen Achse von deroberen oder der unteren Halbebene nahert.
3.4.4 Die Integralformel von Cauchy
Satz 3.4.8 (Integralformel von Cauchy). Es sei Ω ⊂ C ein einfach zusammenhangendesGebiet und f ∶ Ω→ C holomorph in Ω. Die geschlossene Kurve c ∶ [a, b]→ Ω umlaufe denPunkt z ∈ Ω genau einmal linksherum. Dann gilt
f(z) = 1
2πi ∫cf(ζ)ζ − z
dζ .
Bemerkung 3.4.9. Insbesondere impliziert diese Formel, dass die Werte von f(z) furz ∈ Ω vollstandig durch die Werte von f(z) auf der Kurve c bestimmt sind.
Beweis. Sei cε der Kreis mit dem Mittelpunkt z und dem Radius ε, cε(t) = z+εeit, 0 ≤ t ≤2π . Der Integrand ζ ↦ f(ζ)
ζ−z ist in dem von c und cε berandeten Gebiet holomorph (dieses
129
enthalt namlich insbesondere nicht den Punkt ζ = z). Daher gilt
∫c
f(ζ)ζ − z
dζ = ∫cε
f(ζ)ζ − z
dζ = ∫cε
f(ζ) − f(z)ζ − z
dζ + ∫cε
f(z)ζ − z
dζ (3.22)
fur alle ε > 0. Da f(z) holomorph ist, ist der Integrand f(ζ)−f(z)ζ−z beschrankt und deshalb
limε→0∫cε
f(ζ) − f(z)ζ − z
dζ = 0 .
Außerdem ist
∫cε
1
ζ − zdζ = 2πi
fur alle ε > 0. Daher folgt aus (3.22) mit ε→ 0
∫c
f(ζ)ζ − z
dζ = limε→0
f(z)∫cε
1
ζ − zdζ = 2πi f(z) .
Beispiel 7 Zu berechnen ist das Integral
∫c
ze−z
z − iπ2
dz,
wobei die Kurve c das Dreieck mit Ecken in −1 − i,1 − i und 2i linksherum umlauft.
Losung. Wir konnen Satz 3.4.8 anwenden, weil z0 = iπ/2 im Innern des Dreiecks liegt undf(z) = ze−z holomorph ist. Es folgt
∫c
ze−z
z − iπ2
dz = 2πi f(z0) = 2πiiπ
2e−iπ/2 = iπ2.
Als einfache Folgerung der Integralformel erhalten wir die Mittelwertformel.
Satz 3.4.9 (Mittelwertsatz). Ist f holomorph in K = z ∈ C ∶ ∣z − z0∣ < r und stetig aufK , so gilt:
f(z0) =1
2π ∫2π
0f(z0 + reit)dt .
Beweis. Da c(t) = z0 + reit, 0 ≤ t ≤ 2π, den Punkt z0 genau einmal linksherum umlauft,folgt mit der Integralformel von Cauchy:
f(z0) =1
2πi ∫cf(ζ)ζ − z0
dζ
= 1
2πi ∫2π
0
f(z0 + reit)ireitreit
dt
= 1
2π ∫2π
0f(z0 + reit)dt .
130
Der nachste Satz ist eine weitere Folgerung aus der Integralformel von Cauchy. Er zeigt,dass jede holomorphe Funktion in eine Potenzreihe entwickelt werden kann. Das ist einwichtiger und wesentlicher Unterschied zur Theorie der reellen Funktionen.
Satz 3.4.10 (Potenzreihenentwicklungssatz). Die komplexe Funktion f(z) sei in Ω holo-morph. Dann kann f(z) um z0 ∈ Ω in eine Potenzreihe der Form
f(z) =∞∑k=0
ak(z − z0)k
entwickelt werden. Diese Reihe konvergiert in der großten in Ω gelegenen offenen Kreis-scheibe KR(z0) mit dem Mittelpunkt z0. Dabei sind die Koeffizienten gegeben durch
ak =1
2πi ∫∣ζ−z0∣=ρ
f(ζ)(ζ − z0)k+1
dζ , ρ < R.
Bemerkung 3.4.10. Weil Potenzreihen in ihrem Konvergenzbereich beliebig oft diffe-renzierbar sind, folgt hieraus insbesondere, dass jede holomorphe Funktion automatischbeliebig oft differenzierbar ist.
Beweis. Sei z ∈ Ω gegeben mit ∣z−z0∣ < R, wobei R der Radius des großtmoglichen KreisesKR(z0) ⊂ Ω ist. Fur ein ρ > 0 mit ∣z − z0∣ < ρ < R gilt dann nach der Integralformel vonCauchy
f(z) = 1
2πi ∫∣ζ−z0∣=ρ
f(ζ)ζ − z
dζ .
Wir zeigen nun, dass sich der Integrand in eine komplexe Potenzreihe in z entwickelnlasst. Dafur benutzen wir die geometrische Summenformel
∞∑k=0
qk = 1
1 − qfur ∣q∣ < 1,
mit q = z−z0ζ−z0 . Dies ist erlaubt, da ∣q∣ = ∣z−z0∣
ρ < 1 ist nach Wahl von ρ. Also gilt
1
ζ − z= 1
(ζ − z0) − (z − z0)= 1
ζ − z0
1
1 − z−z0ζ−z0
= 1
ζ − z0
∞∑k=0
(z − z0
ζ − z0
)k
.
Damit hat der Integrand aus der Cauchy’schen Integralformel die Potenzreihenentwick-lung
f(ζ)ζ − z
=∞∑k=0
f(ζ)(ζ − z0)k+1
(z − z0)k .
Da die Reihe gleichmaßig konvergiert, konnen wir gliedweise integrieren und erhalten so
f(z) = 1
2πi ∫∣ξ−z0∣=ρ
f(ζ)ζ − z
dζ
=∞∑k=0
1
2πi ∫∣ζ−z0∣=ρ
f(ζ)(ζ − z0)k+1
dζ(z − z0)k
=∞∑k=0
ak(z − z0)k
131
mit
ak ∶=1
2πi ∫∣ζ−z0∣=ρ
f(ζ)(ζ − z0)k+1
dζ .
Fassen wir die Satze 3.3.7 und 3.4.10 zusammen, so erhalten wir
Satz 3.4.11. f ist in Ω genau dann analytisch, wenn f in Ω holomorph ist.
Als Folgerung erhalten wir die Integralformel von Cauchy fur die Ableitungen einer holo-morphen Funktion.
Satz 3.4.12 (Allgemeine Integralformel von Cauchy). Unter den Voraussetzungen vonSatz 3.4.8 gilt
f (k)(z) = k!
2πi ∫cf(ζ)
(ζ − z)k+1dζ .
Beweis. Es seien ak ∈ C die Koeffizienten der Potenzreihenentwicklung von f um denEntwicklungspunkt z. Nach (3.7) und Satz 3.4.10 gilt hiermit:
f (k)(z) = k!ak =k!
2πi ∫∣ζ−z∣=ρ1
f(ζ)(ζ − z)k+1
dζ
= k!
2πi ∫cf(ζ)
(ζ − z)k+1dζ .
Hieraus ergibt sich insbesondere
Satz 3.4.13 (Cauchy’sche Abschatzungsformel). Sei f(z) holomorph in Ω und Kρ ∶= z ∈C ∶ ∣z − z0∣ ≤ ρ ⊂ Ω. Dann gilt
∣ 1
n!f (n)(z0)∣ ≤
1
ρnmax
∣z−z0∣=ρ∣f(z)∣
Beweis. Nach Satz 3.4.12 gilt
∣ 1
n!f (n)(z0)∣ = ∣ 1
2πi ∫∂Kρf(ζ)
(ζ − z)n+1dζ∣
≤ 1
2π2πρ max
ζ∈∂Kρ
∣f(ζ)∣ρn+1
= 1
ρnmaxζ∈∂Kρ
∣f(ζ)∣ .
Satz 3.4.14 (Liouville). f ∶ C→ C sei beschrankt und auf ganz C holomorph. Dann ist fkonstant.
Beweis. Nach Voraussetzung gilt ∣f(z)∣ ≤ M fur alle z ∈ C und ein M > 0. Weil f aufganz C holomorph ist, konnen wir die Cauchy’sche Abschatzungsformel aus Satz 3.4.13auf jeder Kreislinie Kρ um z mit beliebig großem Radius ρ > 0 anwenden. Hieraus folgt
∣f ′(z)∣ ≤ 1
ρmaxζ∈∂Kρ
∣f(ζ)∣ ≤ Mρ
und damit f ′(z) = 0, da ρ beliebig groß gewahlt werden kann. Also ist f konstant.
132
Als Folgerung hieraus ergibt sich
Satz 3.4.15 (Fundamentalsatz der Algebra). Jedes Polynom vom Grade n ≥ 1 hat min-destens eine Nullstelle in C.
Beweis. Sei p(z) = anzn + an−1zn−1 + . . . + a0, an /= 0, ein solches Polynom. Hierfur gilt
lim∣z∣→∞
∣p(z)∣ = ∣anzn∣ ∣ 1 + an−1
an
1
z+ . . . + a0
an
1
zn∣ =∞ . (3.23)
Wir nehmen nun an, die Aussage des Satzes sei falsch, d.h. es gebe ein Polynom p wieoben, das keine Nullstelle besitzt. Wegen (3.23) nimmt ∣p∣ sein Minimum M in C an, undda p keine Nullstelle hat, gilt
m ∶= minz∈C
∣p(z)∣ > 0 .
Damit ware dann 1p(z) eine beschrankte ganze Funktion, nach dem Satz von Liouville also
konstant. Dies ist aber nicht moglich, da p ein Polynom vom Grad n ≥ 1 ist. Widerspruch.
Bemerkung 3.4.11. Mit vollstandiger Induktion folgt, dass jedes Polynom n-ten Gradesgenau n Nullstellen besitzt.
3.5 Laurent-Reihen und Residuenkalkul
3.5.1 Isolierte Singularitaten
Definition 3.5.1. Ist U offen, z0 ∈ U und f ∶ U ∖ z0 → C holomorph, so heißt z0 eineisolierte Singularitat von f .
Bemerkung 3.5.2. Es gibt auch Singularitaten, die nicht isoliert sind. So ist z.B. z0 = 0nicht-isolierte Singularitat von Ln z.
Beispiel 1 Der Punkt z0 = 0 ist eine isolierte Singularitat von f(z) = 1z .
Wir unterscheiden drei Typen von isolierten Singularitaten.
Definition 3.5.3. Der Punkt z0 ∈ C sei eine isolierte Singularitat von f ∶ U ∖ z0→ C.
(a) z0 heißt hebbare Singularitat, wenn sich f durch geeignete Festsetzung von f(z0) zueiner holomorphen Funktion auf ganz U fortsetzen lasst.
(b) z0 heißt Polstelle von f , wenn z0 nicht hebbar ist, aber ein m ∈ N existiert, so dass
(z − z0)mf(z)
eine hebbare Singularitat bei z0 hat. Das kleinste derartige m ∈ N heißt Ordnung desPols.
(c) Ist die isolierte Singularitat z0 von f weder hebbar noch eine Polstelle, so heißt siewesentliche Singularitat von f .
133
Beispiel 2 Die Funktion f(z) = sin(1/z) hat bei z = 0 eine wesentliche Singularitat.
Beweis. Da sin(1/z) fur z ≠ 0 holomorph ist, liegt bei z = 0 eine isolierte Singularitat vor.Außerdem haben die Nullstellen zk = 1/kπ den Haufungspunkt 0.Annahme: z = 0 ist keine wesentliche Singularitat. Dann gibt es ein n ∈ N, so dasszn sin(1/z) eine hebbare Singularitat hat. Die Funktion g(z) ∶= zn+1 sin(1/z) ist dannholomorph und hat bei z = 0 eine Nullstelle. Also haufen sich die Nullstellen von g(z) beiz = 0. Das ist ein Widerspruch zu dem Satz 3.3.4 uber die Isoliertheit der Nullstellen.
Definition 3.5.4. Ist die Funktion f bis auf Pole holomorph in Ω, so heißt sie meromorphin Ω.
Ein einfaches Kriterium fur hebbare Singularitaten ist der
Satz 3.5.1 (Riemannscher Hebbarkeitssatz). Es gebe eine Umgebung U von z0, so dassf ∶ U ∖ z0 → C holomorph und beschrankt sei, d.h. supz∈U∖z0 ∣f(z)∣ < ∞. Dann ist z0
eine hebbare Singularitat, d.h. f ist in z0 holomorph erganzbar.
Der Beweis wird im folgenden Abschnitt 3.5.2 gefuhrt.
Polstellen werden durch den folgenden Satz charakterisiert:
Satz 3.5.2. Es gebe eine Umgebung U von z0 und ein k ∈ N, so dass f(z)(z − z0)kbeschrankt bleibt, also
∣f(z)∣ ≤ M
∣z − z0∣kfur alle z ∈ U ∖ z0
fur eine geeignete Konstante M > 0. Dann ist z0 eine Polstelle der Ordnung ≤ k oder einehebbare Singularitat.
Beweis. Der Satz folgt aus dem Riemannschen Hebbarkeitssatz und der Definition einerPolstelle.
Nach Definition einer Polstelle hat f genau dann einen Pol m-ter Ordnung bei z0, wennes eine holomorphe Funktion g(z) gibt, so dass fur alle z ≠ z0
f(z) = g(z)(z − z0)m
.
Wesentliche Singularitaten werden durch den Satz von Casorati-Weierstraß charakteri-siert.
Satz 3.5.3 (Casorati-Weierstraß). Die holomorphe Funktion f ∶ U ∖ z0 → C habe in z0
eine wesentliche Singularitat. Dann kommt die Funktion f(z) in jeder Umgebung von z0
jedem Wert a ∈ C beliebig nahe.
Beweis. Wir nehmen an, dass die Behauptung nicht gilt, also dass es eine UmgebungV ⊂ U von z0 und ein a ∈ C gibt, so dass ∣f(z) − a∣ ≥ δ > 0 fur alle z ∈ V gilt. Dann ist
g(z) ∶= 1
f(z) − a
134
in V beschrankt, also nach dem Riemannschen Hebbarkeitssatz holomorph erganzbarin z0. Daher lasst sich g um den Punkt z0 in eine Potenzreihe entwickeln. Weil außerdemg von Null verschieden ist, gibt es ein m ∈ N0 mit
g(z) =∞∑k=m
am(z − z0)m, am ≠ 0 .
Dann hatte aber die Funktion
f(z) = a + 1
g(z)
entweder eine hebbare Singularitat in z0 (im Fall m = 0) oder einen Pol m-ter Ordnung.Dies steht im Widerspruch zu der Voraussetzung, dass z0 eine wesentliche Singularitatist.
Dieser Satz lasst sich betrachtlich verscharfen.
Satz 3.5.4 (Großer Satz von Picard). f habe in z0 eine wesentliche Singularitat. Dannnimmt f jeden Wert a ∈ C mit hochstens einer Ausnahme in 0 < ∣z − z0∣ < ε unendlich oftan.
Bemerkung 3.5.5. Der einzige Ausnahmewert kann tatsachlich vorkommen, z.B. hatf(z) = e1/z in z0 = 0 eine wesentliche Singularitat, aber der Wert a = 0 wird nirgendwoangenommen.
3.5.2 Laurent-Reihen
Ein wichtiges Hilfsmittel zur Untersuchung isolierter Singularitaten ist die Laurentreihen-entwicklung um die Singularitat z0.
Definition 3.5.6. Eine Reihe der Form
∞∑n=−∞
an(z − z0)n
heißt Laurent-Reihe zum Entwicklungspunkt z0 ∈ C. Dabei heißt die Teilreihe
−1
∑n=−∞
an(z − z0)n
der Hauptteil der Laurent-Reihe, und die Teilreihe
∞∑n=0
an(z − z0)n
heißt der Nebenteil der Laurent-Reihe. Wir sagen, dass die Laurent-Reihe konvergiert,wenn sowohl der Hauptteil als auch der Nebenteil gegen einen endlichen Wert konvergie-ren.
135
Beispiel 3 Sei f(z) = z2e1/z. Aus
e1/z =∞∑k=0
1
k!(1
z)k
=∞∑k=0
1
k!z−k
folgt
f(z) =∞∑k=0
1
k!z2−k = z2 + z + 1
2+
∞∑`=1
1
(` + 2)!z−` .
Der Nebenteil der Laurentreihe von f um z0 = 0 ist also z2 + z + 12 , der Hauptteil ist
∞∑`=1
1
(` + 2)!z−` =
−1
∑n=−∞
1
(2 − n)!zn .
Beispiel 4 Sei f(z) = 1z(z−1) . Die Punkte z0 = 0 und z1 = 1 sind isolierte Singularitaten.
Wir bestimmen die Laurent-Reihe um z0 = 0. Fur 0 < ∣z∣ < 1 gilt nach der geometrischenSummenformel:
f(z) = 1
z(z − 1)= −1
z⋅ 1
1 − z= −1
z(
∞∑k=0
zk) = −1
z−
∞∑n=0
zn .
Der Konvergenzbereich einer Laurent-Reihe
Der Nebenteil der Laurent-Reihe ist eine Potenzreihe. Daher gibt es einen Konvergenz-radius r1 ≥ 0, so dass der Nebenteil konvergiert, falls ∣z − z0∣ < r1 und divergiert, falls∣z − z0∣ > r1.
Der Hauptteil der Laurentreihe
−1
∑n=−∞
an(z − z0)n =∞∑n=1
a−n(1
z − z0
)n
entsteht aus einer Potenzreihe durch Einsetzen von 1z−z0 . Falls also die Potenzreihe∑∞
n=1 a−nwn
den Konvergenzradius r2 ≥ 0 hat, konvergiert der Hauptteil, falls ∣ 1z−z0 ∣ < r2, also falls
∣z − z0∣ > 1r2
und er divergiert, falls ∣z − z0∣ < 1r2
ist. Der Konvergenzbereich einer Laurent-Reihe ist also ein Kreisring wie im folgenden Satz.
Satz 3.5.5. Zu jeder Laurentreihe gibt es zwei Radien 0 ≤ r1, r2 ≤∞, so dass die Lauren-treihe konvergiert, falls
1
r2
< ∣z − z0∣ < r1
und sie divergiert, falls
∣z − z0∣ <1
r2
oder ∣z − z0∣ > r1.
Bemerkung 3.5.7.
(1) Falls 1r2> r1 konvergiert die Laurent-Reihe nirgendwo.
136
(2) Ist a−1 = 0, so hat die Laurent-Reihe die Stammfunktion
F (z) =∞∑
i=−∞, i≠−1
aii + 1
(z − z0)i+1.
(3) Ist a−1 ≠ 0, so hat die Laurent-Reihe keine Stammfunktion (weil 1z−z0 keine Stamm-
funktion hat).
(4) Die Koeffizienten der Laurent-Reihe einer holomorphen Funktion f sind eindeutigbestimmt. Der folgende Satz gibt eine Integralformel hierfur an.
Der Entwicklungssatz
Wir haben schon gesehen, dass sich jede holomorphe Funktion in eine Potenzreihe ent-wickeln lasst. Funktionen, die in einem Kreisring holomorph sind, konnen dort in eineLaurent-Reihe entwickelt werden, wie der folgende Satz zeigt.
Satz 3.5.6. f(z) sei im Inneren des Ringes r0 < ∣z − z0∣ < r1 holomorph. Dann kann f(z)um z0 in eine Laurent-Reihe ∑∞
n=−∞ an(z − z0)n entwickelt werden, die in dem Kreisringr0 < ∣z − z0∣ < r1 konvergiert. Die Koeffizienten sind dabei eindeutig bestimmt durch
an =1
2πi ∫∣z−z0∣=ρ
f(z)(z − z0)n+1
dz fur r0 < ρ < r1 beliebig. (3.24)
Beweis. Wir fixieren z ∈ C mit r0 < ∣z − z0∣ < r1 und setzen ρ ∶= ∣z − z0∣. Dann wahlen wirρ1, ρ2 so, dass r0 < ρ1 < ρ < ρ2 < r1. Aus der Cauchy’schen Integralformel folgt:
f(z) = 1
2πi ∫∣ζ−z0∣=ρ2
f(ζ)ζ − z
dζ − 1
2πi ∫∣ζ−z0∣=ρ1
f(ζ)ζ − z
dζ
Der erste Summand kann wie in Satz 3.4.10 in eine Potenzreihe entwickelt werden, weil∣z−z0∣ = ρ < ρ2 = ∣ζ −z0∣. Die Koeffizienten dieser Potenzreihe ergeben sich aus der gleichenIntegralformel wie in Satz 3.4.10. Den zweiten Summanden entwickeln wir folgenderma-ßen:
1
ζ − z= 1
(ζ − z0) − (z − z0)= − 1
z − z0
1
1 − ζ−z0z−z0
= −∞∑k=1
(ζ − z0)k−1
(z − z0)k
und diese Reihe konvergiert, weil
∣z − z0∣ = ρ > ρ1 = ∣ζ − z0∣ Ô⇒ ∣ζ − z0
z − z0
∣ < 1 .
Damit ergibt sich:
1
2πi ∫∣ζ−z0∣=ρ1
f(ζ)ζ − z
dζ = − 1
2πi ∫∣ζ−z0∣=ρ1(f(ζ)
∞∑k=1
(ζ − z0)k−1
(z − z0)k)dζ
= −∞∑k=1
( 1
2πi ∫∣ζ−z0∣=ρ1
f(ζ)(ζ − z0)−k+1
dζ)(z − z0)−k
=(n=−k)
−−1
∑n=−∞
( 1
2πi ∫∣ζ−z0∣=ρ1
f(ζ)(ζ − z0)n+1
dζ)(z − z0)n
= −−1
∑n=−∞
an(z − z0)n
137
mit den Koeffizienten
an =1
2πi ∫∣ζ−z0∣=ρ1
f(ζ)(ζ − z0)n+1
dζ .
Laurent-Reihen und isolierte Singularitaten
Der Hauptteil einer Laurent-Reihe charakterisiert das Verhalten der Funktion in der Um-gebung einer isolierten Singularitat. Offenbar gibt es fur den Hauptteil drei Moglichkeiten.
(1) an = 0 fur alle n ≤ −1. Dann gilt
f(z) =∞∑n=0
an(z − z0)n
und f(z) ist holomorph erganzbar, also ist z0 eine hebbare Singularitat von f .
(2) an = 0 fur alle n < −k und a−k ≠ 0. Dann gilt
f(z) = a−k(z − z0)k
+ . . . + a−1
z − z0
+∞∑n=0
an(z − z0)n
und z0 ist ein Pol k-ter Ordnung.
(3) an ≠ 0 fur unendlich viele n ≤ −1. In diesem Fall liegt bei z0 eine wesentliche Singu-laritat vor. Aus der Koeffizientenformel (3.24) folgt namlich dann fur beliebig großen ∈ N
0 < ∣a−n∣ ≤1
2π ∫∣z−z0∣=ρ
∣f(z)∣∣z − z0∣−n+1
dz ≤ ρn max∣z−z0∣=ρ
∣f(z)∣.
Deshalb konvergiert ρk max∣z−z0∣=ρ ∣f(z)∣ → ∞ bei ρ → 0 fur alle k < n. Weil n ∈ Naber beliebig groß gewahlt werden kann, kann deshalb bei z0 keine Polstelle und erstrecht keine hebbare Singularitat vorliegen.
Mit der Laurent-Reihenentwicklung folgt insbesondere sehr einfach der noch ausstehende
Beweis des Riemannschen Hebbarkeitssatzes. Jede holomorphe Funktion f ∶ U ∖z0→ Classt sich auf einer geeigneten punktierten Umgebung V ∖ z0 in eine Laurent-Reiheentwickeln. Falls f auf V ∖ z0 beschrankt ist, scheiden die beiden Falle (2) und (3) vonoben aus, weil in beiden Fallen die Funktion unbeschrankt ist. Also muss die Alternative(1) gelten, d.h. z0 ist eine hebbare Singularitat.
Beispiel 5 f(z) = z2 exp(1/z) hat bei z0 = 0 eine wesentliche Singularitat, weil der Haupt-teil der Laurent-Reihe unendlich viele von Null verschiedene Terme hat (vgl. Beispiel 3).
Beispiel 6 f(z) = 1z(z−1) hat in dem Punkt z0 = 0 einen Pol erster Ordnung, weil der
Hauptteil der Laurent-Reihe um z0 = 0 nur aus dem Term −1z besteht (vgl. Beispiel 4).
3.5.3 Der Residuensatz
Sei nun f ∶ U ∖ z0 → C holomorph und c ∶ [a, b] → U ∖ z0 eine einfach geschlosseneKurve, die z0 genau einmal linksherum umlauft. Der Wert des Kurvenintegrals
1
2πi ∫cf(z)dz
138
hangt nach Satz 3.4.7 dann nicht von der Wahl der Kurve c ab. Die folgende Definitionist daher sinnvoll:
Definition 3.5.8. Fur eine Kurve c wie oben heißt der Wert des Integrals
1
2πi ∫cf(z)dz =∶ resz0 f(z)
das Residuum der Funktion f(z) an der Stelle z0.
Damit konnen wir Satz 3.4.7 folgendermaßen umformulieren:
Satz 3.5.7 (Residuensatz). Es sei f ∶ Ω ∖ z1, . . . , zn → C eine holomorphe Funktionauf Ω ∖ z1, . . . , zn, Ω ⊂ C einfach zusammenhangend und c ∶ [a, b] → Ω eine stuckweiseC1-Kurve, die die Singularitaten z1, . . . , zn genau einmal linksherum umlauft. Dann gilt
∫cf(z)dz =
n
∑k=1∫ckf(z)dz = 2πi
n
∑k=1
reszk f(z) .
Falls die Kurve c die Singularitaten mehrmals oder rechtsherum umlauft, gilt die allge-meinere Formel
∫cf(z)dz =
n
∑k=1
n(zk)∫ckf(z)dz = 2πi
n
∑k=1
n(zk) reszk f(z) ,
wobei n(zk) ∈ Z die Anzahl der Umlaufe von c um die Singularitat zk zahlt. NegativeWerte von n(zk) entsprechen dabei Umlaufen rechtsherum. ◻
Der Residuensatz ist deshalb besonders nutzlich fur die Berechnung komplexer Kurven-integrale, weil das Residuum haufig einfach berechnet werden kann. Dazu geben wir nuneinige Regeln an.
Regel 1 Entwickeln wir f(z) in eine Laurent-Reihe f(z) = ∑∞n=−∞ an(z − z0)n um z0,
so gilt
resz0 f(z) = a−1 .
Beweis: Das folgt aus
∫c(z − z0)ndz =
⎧⎪⎪⎨⎪⎪⎩
0 fur n /= −1,
2πi fur n = −1.
In einer wesentlichen Singularitat ist diese Regel meist die einzige Moglichkeit, das Resi-duum zu bestimmen.
Beispiel 7 Laut den Beispielen 3 und 4 gilt damit
res0(z2e1/z) = 1
6, res0
1
z(z − 1)= −1 .
139
Regel 2 Ist z0 ein Pol erster Ordnung, so besitzt die Funktion g(z) ∶= (z − z0)f(z) beiz0 eine hebbare Singularitat. Es folgt mit der Integralformel von Cauchy
limz→z0
(z − z0)f(z) = g(z0)
= 1
2πi ∫cg(z)z − z0
dz
= 1
2πi ∫cf(z)dz
= resz0 f(z) .
Beispiel 8
res01
sin z= limz→0
z
sin z= 1 .
Regel 3 Ist z0 ein Pol k-ter Ordnung von f und ist g(z) ∶= (z − z0)kf(z) so gilt:
resz0 f(z) = limz→z0
g(k−1)(z)(k − 1)!
.
Beweis. g(z) hat bei z0 eine hebbare Singularitat und ist daher holomorph erganzbar.Mit der allgemeinen Cauchy’schen Integralformel aus Satz 3.4.12 folgt dann
g(k−1)(z0)(k − 1)!
= 1
2πi ∫cg(ζ)
(ζ − z0)kdζ
= 1
2πi ∫cf(ζ)dζ
= resz0 f(z) .
Beispiel 9 Sei f(z) = ez/(z − a)2. Diese Funktion hat einen Pol 2. Ordnung in z = a.Daher gilt mit g(z) ∶= (z − a)2f(z) = ez
resa f(z) = g′(a) = ea .
Regel 4 Es sei f(z) = g(z)/h(z) mit holomorphen Funktionen g(z) und h(z), und h(z)besitze in z0 eine Nullstelle erster Ordnung (d.h. h(z0) = 0 ≠ h′(z0)). Dann gilt:
resz0 f(z) =g(z0)h′(z0)
.
Beweis. z0 ist ein Pol erster Ordnung von f . Mit Regel 2 und l’Hospital folgt dann:
resz0 f(z) = limz→z0
(z − z0)g(z)h(z)
= g(z0)h′(z0)
.
140
3.5.4 Anwendungen
Mit Hilfe des Residuensatzes konnen nicht nur komplexe Kurvenintegrale, sondern aucheinige Typen reeller Integrale ausgerechnet werden.
Integrale der Form ∫2π
0 R(cos θ, sin θ)dθ
Gegeben sei das Integral
I = ∫2π
0R(cos θ, sin θ)dθ .
Dabei sei R rational und fur 0 ≤ θ ≤ 2π eine stetige Funktion von cos θ und sin θ. Wegen
cos θ = 1
2(eiθ + e−iθ), sin θ = 1
2i(eiθ − e−iθ)
gilt:
−i∫∣z∣=1
R (12(z +
1z),
12i(z −
1z))
1zdz = −i∫
2π
0R(cos θ, sin θ) 1
eiθieiθdθ
= ∫2π
0R(cos θ, sin θ)dθ . (3.25)
Das linke Integral kann man nun mit dem Residuensatz berechnen.
Beispiel 10 Berechnet werden soll das Integral
∫2π
0
dθ
1 + sin2 θ
Nach (3.25) gilt
∫2π
0
dθ
1 + sin2 θ= −i∫
∣z∣=1
1
1 + ( 12i(z −
1z))2
1
zdz
= −i∫∣z∣=1
1
z − 14z(z2 − 2 + 1
z2 )dz
= −4i∫∣z∣=1
1
6z − z3 − 1z
dz
= −4i∫∣z∣=1
z
6z2 − z4 − 1dz
= 4i∫∣z∣=1
z
z4 − 6z2 + 1dz .
Nun hat das Polynom z4 − 6z2 + 1 bei
z1,2 = ±√
(3 −√
8) und z3,4 = ±√
(3 +√
8)
einfache Nullstellen. Die beiden Nullstellen z1,2 liegen innerhalb des Kreises ∣z∣ = 1, die
141
beiden anderen außerhalb. Mit Regel 4 oben erhalten wir
resz1,2 (z
z4 − 6z2 + 1) = z
4z3 − 12z
RRRRRRRz=±√
3−√
8
= 1
4z2 − 12
RRRRRRRz=±√
3−√
8
= 1
4(3 −√
8) − 12
= − 1
4√
8.
Mit dem Residuensatz folgt dann:
∫∣z∣=1
z
z4 − 6z2 + 1dz = 2πi(resz1
z
z4 − 6z2 + 1+ resz2
z
z4 − 6z2 + 1) = − πi√
8,
also
∫2π
0
dθ
1 + sin2 θ= −4i
πi√8= 4π√
8= π
√2 .
Integrale der Form ∫∞−∞ f(x)dx
Berechnet werden soll das Integral
∫∞
−∞f(x)dx .
f(z) habe nur endlich viele Singularitaten z1, . . . zn in der oberen Halbebene von denenkeine reell sein soll, und ansonsten sei f holomorph. Wir wahlen zunachst einen geschlos-senen Integrationsweg in der komplexen Ebene.
x
y
-R R
Abbildung 3.3: Der Integrationsweg fur das Integral ∫∞−∞ f(x)dx
Dabei sei R so groß gewahlt, dass ∣zk∣ < R ,1 ≤ k ≤ n gilt. Mit dem Residuensatz folgtdann
∫R
−Rf(x)dx = 2πi
n
∑k=1
reszk f(z) − ∫cRf(z)dz ,
142
wobei cR(t) = Reit, 0 ≤ t ≤ π den oberen Halbkreis mit Radius R parametrisiert. Hierfurgilt
∣∫cRf(z)dz∣ ≤ πRmax
cR∣f(z)∣ . (3.26)
Hat nun f die Eigenschaft
limR→∞
R max∣z∣=RImz>0
∣f(z)∣ = 0 ,
so folgt
H.W.∫∞
−∞f(x)dx ∶= lim
R→∞∫R
−Rf(x)dx = 2πi
n
∑k=1
reszk f(z) .
Wir fassen dies in einem Satz zusammen.
Satz 3.5.8. Sei H ∶= z ∈ C ∣ Imz ≥ 0 die obere Halbebene. Ist f holomorph in H ∖z1, . . . , zn und gilt
limR→∞
R max∣z∣=RImz>0
∣f(z)∣ = 0, (3.27)
so folgt
H.W.∫∞
−∞f(x)dx ∶= lim
R→∞∫R
−Rf(x)dx = 2πi
n
∑k=1
reszk f(z) .
Die Voraussetzung (3.27) des Satzes ist einfach zu verifizieren, wenn es sich bei f um einegebrochen rationale Funktion f(z) = p(z)/q(z) handelt, mit Polynomen p(z) und q(z).Die Voraussetzungen von Satz 3.5.8 sind dann erfullt, wenn
1.) q(z) keine reellen Nullstellen hat, und
2.) Grad q(z) ≥ Gradp(z) + 2 .
Beispiel 11 Berechnung von
∫∞
−∞
dx
1 + x2.
Die Voraussetzungen des Satzes 3.5.8 sind erfullt, weil Gradp(z) = 0 und Grad(1+z2) = 2.Die Nullstellen von q(z) = 1 + z2 sind z1,2 = ±i. Nun gilt nach Regel 4
resi1
1 + z2= 1
2z∣z=i
= 1
2i
und damit folgt
∫∞
−∞
1
1 + x2= 2πi
1
2i= π .
Integrale der Form ∫∞−∞ f(x)eixdx
Von großer Bedeutung sind die Fourier-Integrale, die uns schon einmal begegnet sind:
∫∞
−∞f(x)eixdx .
143
Der Einfachheit halber setzen wir voraus, dass f(z) = p(z)/q(z) rational ist und Grad q(z) ≥Gradp(z)+2 gilt. Ferner habe q keine reellen Nullstellen. Wegen ∣eiz ∣ = e−Imz ≤ 1 fur Imz > 0erfullt dann auch f(z)eiz die Bedingungen von Satz 3.5.8. Dieser liefert
∫∞
−∞f(x)eixdx = 2πi
n
∑k=1
reszk f(z)eiz.
Beispiel 12 Berechnet werden soll das Integral
∫∞
−∞
cosx
x2 + 2x + 2dx .
Wegen cosx = Reeix gilt
∫∞
−∞
cosx
x2 + 2x + 2dx = Re∫
∞
−∞
eix
x2 + 2x + 2dx .
Die Nullstellen von z2+2z+2 sind z1,2 = −1±i. Nur z2 = −1+i liegt in der oberen Halbebene.Ferner gilt nach Regel 4
res1+ieiz
z2 + 2z + 2= eiz
2z + 2∣z=−1+i
= ei(−1+i)
2i
= 1
2ie(cos 1 − i sin 1) .
Es folgt
∫∞
−∞
cosx
x2 + 2x + 2dx = Re(2πi
1
2ie(cos 1 − i sin 1))
= π
ecos 1 .
Bisher haben wir immer vorausgesetzt, dassf keine reellen Singularitaten hat. Manchmalkann man diese Voraussetzung fallenlassen.
Satz 3.5.9. Es sei f(z) = p(z)/q(z), Grad q ≥ Gradp+2, und q habe außer einer einfachenNullstelle bei z = a keine weiteren reellen Nullstellen. Dann gilt
H.W.∫∞
−∞f(x)eixdx = 2πi
n
∑k=1
reszk (f(z)eiz) + πi resa (f(z)eiz).
Beweis. Wir wahlen den folgenden Integrationsweg:
Mit einer Abschatzung wie in (3.26) sieht man
limR→∞∫cR
f(z)eizdz = 0 .
Wir berechnen nunlimε→0∫cεf(z)eizdz .
144
x
y
-R Ra
cε
Abbildung 3.4: Der Fall einer Polstelle in a ∈ R
Wir entwickeln den Integranden in eine Laurent-Reihe um z = a:
f(z)eiz = a−1
z − a+
∞∑n=0
an(z − a)n .
Wegen
∣∫cεan(z − a)n dz∣ ≤ πε ∣an∣ εn Ð→
ε→00 fur n ∈ N0
folgt
limε→0∫cεf(z)eizdz = lim
ε→0∫cε
a−1
z − adz
= −iπa−1
= −iπ resa (f(z)eiz).
Damit folgt
H.W.∫∞
−∞f(x)eixdx = lim
R→∞,ε→0(∫
a−ε
−Rf(x)eixdx + ∫
R
a+εf(x)eixdx)
= 2πin
∑k=1
reszk (f(z)eiz) − limR→∞∫cR
f(z)eizdz − limε→0∫cεf(z)eizdz
= 2πin
∑k=1
reszk (f(z)eiz) + πi resa (f(z)eiz).
Die obige Anwendung lasst sich leicht auf den Fall endlich vieler reeller einfacher Polstellenausdehnen:
q(z) habe einfache reelle Nullstellen bei a1 < a2⋯ < am. Dann gilt
H.W.∫∞
−∞f(x)eixdx = 2πi
n
∑k=1
reszk f(z)eiz + πim
∑k=1
resak(f(z)eiz) .
145
Integrale der Form ∫∞
0 xαf(x)dx,0 < α < 1
Sei f(z) = p(z)/q(z), Grad q(z) ≥ Gradp(z) + 2. f(z) habe bei 0 hochstens einen Pol 1.Ordnung und keine weiteren positiven reellen Nullstellen. Sei 0 < α < 1. Dann gilt
∫∞
0xαf(x)dx = 2πi
1 − e2πiα ∑zn/∈R+
reszn zαf(z), (3.28)
falls man zα so definiert, dass es in der positiven reellen Achse seine Singularitaten hat,also
zα ∶=⎧⎪⎪⎨⎪⎪⎩
eαLn(z), 0 < Arg(z) ≤ π,eα(Ln(z)+2πi), −π < Arg(z) < 0.
Zur Herleitung dieser Formel wahlen wir den folgenden Integrationsweg:
x
y
Abbildung 3.5: Der Integrationsweg fur das Integral ∫∞
0 xαf(x)dx
Wir integrieren zαf(z) uber die obige Kurve. Man kann wieder zeigen, dass die Beitrageuber die große und die kleine Kreislinie gegen Null streben, wenn ε → 0 und R →∞. DieIntegrale uber die beiden Strecken langs der reellen Achse werden bei ε → 0 und R →∞zu
∫∞
0eα lnxf(x)dx − ∫
∞
0eα(lnx+2πi)f(x)dx = (1 − e2πiα)∫
∞
0xαf(x)dx.
Damit folgt die behauptete Formel (3.28) aus dem Residuensatz.
146
Beispiel 13 Sei 0 < p < 1. Dann gilt
∫∞
0
xp−1
1 + xdx = ∫
∞
0
xp
x(1 + x)dx
= 2πi
1 − e2πipresz=−1
zp
z(z + 1)
= 2πi
1 − e2πip
zp
2z + 1∣z=−1
= 2πi
1 − e2πip
(−1)p−1
= 2πi
1 − e2πip(−e−ipπ)
= π2i
eipπ − e−ipπ
= π
sinpπ.
Die inverse Laplacetransformation
Sei F (z) die Laplace-Transformierte einer Funktion f(t). Unter geeigneten Voraussetzun-gen lasst sich f(t) aus F (z) mit Hilfe der Umkehrformel
f(t) = 1
2πi ∫a+i∞
a−i∞etzF (z)dz
zuruckgewinnen. Das Integral kann wieder mit dem Residuensatz berechnet werden.
Satz 3.5.10. Sei F (z) eine meromorphe Funktion, die fur b, c,M > 0 folgender Abschatzunggenugt:
∣F (z)∣ ≤ M
∣z∣cfur ∣z∣ > b.
Mit a > 0 gelte fur die Pole z1, . . . , zn von F : Rezi < a. Dann ist fur beliebiges t > 0
1
2πi ∫a+i∞
a−i∞etzF (z)dz =
n
∑j=1
reszjetzF (z).
Beweis. Wir wahlen den folgenden Integrationsweg aus Abbildung 3.6. Dabei sei R sogroß, dass alle Polstellen in dem von c1 + c2 + c3 + c4 + c5 berandeten Gebiet liegen. Dannfolgt mit dem Residuensatz
1
2πi ∫c1+c2+c3+c4+c5etzF (z)dz =
n
∑j=1
reszj (etzF (z)) (3.29)
Wir schatzen nun die einzelnen Kurvenintegrale ab. Dazu wahlen wir R so groß, dassR > b. Dann gilt fur ∣z∣ > R > b
∣F (z)∣ ≤ M
∣z∣c≤ MRc.
147
x
y
c1
c2
c3
c4
c5
θ0
R
Abbildung 3.6: Inverse Laplacetransformation
und damit
∣ 1
2πi ∫c2etzF (z)dz∣ ≤ 1
2π
M
Rc ∫π/2
θ0etR cos θRdθ
= 1
2π
M
Rc−1 ∫π/2
θ0etR cos θdθ
≤ 1
2π
M
Rc−1 ∫π/2
θ0etadθ (cos θ ≤ cos θ0 =
a
R)
= 1
2π
M
Rc−1eta (π
2− θ0)
= 1
2π
M
Rc−1eta arcsin( a
R)
= 1
2π
Meta
Rc
arcsin ( aR)
1R
.
Wegen
limR→∞
arcsin ( aR)
1R
= limR→∞
1√1−(a2/R2)
−aR2
− 1R2
= a
gilt
1
2π
Meta
Rc
arcsin ( aR)
1R
→ 0 fur R →∞.
Analog kann gezeigt werden,dass
∫c5etzF (z)dz → 0
fur R →∞.
148
Wir schatzen nun das Kurvenintegral langs der Kurve c3 ab. Es gilt:
∣ 1
2πi ∫c3etzF (z)dz∣ ≤ 1
2π
M
Rc−1 ∫π
π/2etR cos θdθ
≤ 1
2π
M
Rc−1 ∫π/2
0e−tR sin τdτ (τ ∶= θ − π
2)
≤ 1
2π
M
Rc−1 ∫π/2
0e−tR
2τπ dτ (2τ
π ≤ sin τ fur 0 ≤ τ ≤ π2 )
= 1
2π
M
Rc−1[ 1
−2tRπ
e−tR2τπ ]
τ=π2
τ=0
= 1
2π
M
Rc( 1
−2tπ
e−tR + 12tπ
)
→ 0 fur R →∞.
Analog folgt1
2πi ∫c4etzF (z)dz Ð→ 0
bei R →∞. Damit folgt aus (3.29)
1
2πi ∫a+i∞
a−i∞etzF (z)dz = lim
R→∞
1
2πi ∫c1etzF (z)dz =
n
∑j=1
reszj (etzF (z)) ,
und das war die Behauptung.
Bemerkung 3.5.9. Sei F (z) = P (z)Q(z) eine rationale Funktion. Dann sind die Vorausset-
zungen des Satzes erfullt, wenn GradQ ≥ GradP + 1 ist.
Beispiel 14 Bestimme die inverse Laplace-Transformierte von
F (z) = z
z2 + ω2.
Es gilt:
f(t) = resiω ( z
z2 + ω2etz) + res−iω ( z
z2 + ω2etz)
= iω
2iωetiω + −iω
−2iωe−tiω
= cos(ωt).
149