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WBGDeutsch-Polnische

Geschichte

Herausgegeben im Auftrag des Deutschen Polen-Instituts

vonDieter Bingen

Hans-Jürgen BömelburgPeter Oliver Loew

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Jörg Hackmann, Marta Kopij-Weiß

Nationen in Kontakt und Konflikt

Deutsch-polnische Beziehungen und Verflechtungen

1806–1918

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Wissenschaftliche BuchgesellschaftGefördert aus Mitteln der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2014 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtCovergestaltung: Peter Lohse, BüttelbornLektorat: Lothar Quinkenstein, Berlin; Dirk Michel, MannheimSatz: Wydawnictwo JAK Andrzej Choczewski, Krakau

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem PapierPrinted in Germany

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.deISBN 978-3-534-24764-6

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-534-72543-4eBook (epub): 978-3-534-72544-1

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Inhalt

Einführung 7

1. Der Preußische Osten als geteilter Raum 72. Räume, Grenzen, Menschen 10

I. Überblick

1. Polen und Preußen zwischen Tilsit und Wien 192. Deutsche und polnische Nation nach dem Wiener Kongress 263. Restauration und Reformen 324. Von der Völkerfreundschaft zum nationalen Antagonismus 375. Zwischen staatlicher Integration und nationaler Autonomie 596. Moderner Staat – moderne Nationen 707. Der Erste Weltkrieg als Epochenwende 82

II. Fragen und Perspektiven

1. Deutsche und polnische Gesellschaft: Verflechtungen und Divergenzen 103

2. Nationale Identitäten und kulturelle Verflechtungen 1293. Nation, Staat und Öffentlichkeit 1544. Grenzregionen und transkulturelle Räume 1845. Perspektiven der Forschung und Ausblick 202

Literaturverzeichnis 209Register 215

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Zur Deutsch-Polnischen Geschichte

Die deutsch-polnische Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte reicht mehr als 1000 Jahre zurück und spielt sich in einem eineinhalb Millionen Quadrat-kilometer um fassenden Raum zwischen Rhein und Dnjepr ab. Dabei bean-spruchten „deut sche“ und „polnische“ Titularverbände und Natio nen teils identische Räume und Zentren. Gnesen und Posen waren die Geburts-stät ten des polnischen Staates, aber auch preußisch-deutsche Städte des 19.  Jahr hunderts, Breslau war ein piastischer Herrschaftssitz, aber im frü-hen 20. Jahrhundert auch die viertgrößte Stadt Deutschlands. Danzig, im 16. und  17. Jahr hundert die größ te deutschsprachige Stadt, gehörte zur Krone Polen. In Lemberg wurden im 16. Jahrhundert die polnischsprachigen Stadt-eliten Deutsche genannt. Juden waren oft Teile einer deutsch wie polnisch geprägten Kultur. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart wanderten Millionen Menschen von West nach Ost und von Ost nach West, wobei sie sich oft an ihre neuen Nachbarn assimi lierten. Dies zeigt, wie eng deutsche und polni-sche Geschichte miteinander verbunden sind.

Zugleich ist die deutsch-polnische Geschichte auch von Konflikten über-lagert: Preußen und Österreich, zwei deutsche Staatsverbände, teilten Polen im späten 18. Jahrhundert auf – zusammen mit Russland. Die Fremdherrschaft durch Deutsche und wechselseitige territoriale Ansprüche vergifteten das Klima. Deutsche eroberten Polen im Zweiten Weltkrieg, entrechteten und ermordeten Millionen Menschen. Nach 1945 erhielt Polen die deutschen Ostgebiete und vertrieb einen Großteil der deutschen Bevölkerung. Trotzdem kam es einige Jahrzehnte später zu einer beispiellosen Annäherung zwischen beiden Nationen.

Die Reihe „WBG-Deutsch-Polnische Geschichte“ geht davon aus, dass diese Verflechtungen ein zentraler Bestandteil der europäischen Geschichte sind. Sie beschreibt sowohl politische Geschichte als auch kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen und legt besonderen Wert auf Kontakt- und Austauschprozesse.

Die Herausgeber

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Einführung 1. Der Preußische Osten als geteilter Raum

1904 wurde dem Bauern Michał Drzymała aus Kaisertreu / Podgradowice im Kreis Wollstein in der preußischen Provinz Posen die Genehmigung für die Errichtung eines Hauses auf seiner zuvor erworbenen Parzelle verweigert. Die rechtliche Grundlage dafür war das preußische „Feuerstättengesetz“ von 1904, dessen Ziel es war, als Bestandteil der Ostmarkenpolitik zur Stärkung des Deutschtums die Neuansiedlung polnischer Bauern zu verhin dern. Drzymała kaufte daraufhin einen „Zigeunerwagen“ und stellte ihn auf sei-ner Parzelle auf. Indem er ihn ständig versetzte, umging er das Verbot, ei-nen dauerhaften Wohnsitz zu errichten. Durch diesen Trick wurde er in der polnischen Öffentlichkeit zum Symbol des Widerstands gegen die Germani-sierungs politik. Der Verein Straż (Wacht) organisierte Geldsam mlungen, ein Unterstützungskomitee wurde gegründet und so konnte Drzy mała dann 1908 einen neuen, größeren Wagen erwerben. Nachdem ihm die preußischen Behörden unter Verweis auf das Baurecht den ständigen Aufent halt in dem Wagen und den Betrieb einer Feuerstelle untersagten, prozessierte Drzymała, erneut mit Unterstützung der Straż, verlor aber 1909 in letzter Instanz vor dem Oberverwaltungsgericht in Berlin. Drzymała musste mit seiner Familie in eine Lehmhütte ziehen, bevor er 1910 seine Parzelle gegen ein bebautes Grundstück in einem Nachbarort tauschen konnte. Der Wagen wurde 1909 in Posen ausgestellt und dann anlässlich der 500-Jahr-Feier des polnisch-li-tauischen Siegs bei Tannenberg / Grunwald gegen den Deut schen Orden vom polnischen Nationalmuseum in Krakau erworben und während der Feier in der Barbakane gleichsam als nationale Reliquie gezeigt. Der Fall Drzymała wurde auch im Deutschen Reichstag als Beleg für Repres sionen gegen polni-sche Staatsbürger vorgebracht.1 „Drzymałas Wagen“, eine Symbolgeschichte des polnischen Widerstands gegen die preußische Germanisierungspolitik vor

1 Drzymałas Wagen ist ein polnischer Erinnerungsort, die Geschichte wurde mehrfach be schrieben, als wissenschaftliche Darstellung s. Wajda, Kazimierz: Woz Drzymały, Poz nan 1962, weitere Details bei Grabowski, Sabine: Deutscher und polnischer Natio-nalismus: der Deutsche Ostmarken-Verein und die polnische Straż 1894–1914, Marburg 1998, S. 292 f.

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8 Einführung

dem Ersten Weltkrieg, erzählt zugleich von der Austragung eines Konflikts mit bürokratisch-rechtsstaatlichen Mitteln, die von der Mobilisierung einer enga-gierten Öffentlichkeit begleitet war. Der Wagen begann bald ein Eigenleben zu führen, das sich vom Leben seines Besitzers löste. Drzymała selbst geriet in Vergessenheit und wurde erst in den 1920er Jahren wiederentdeckt. Er erhielt eine Ehrenrente und einen neuen Hof. Vor Beginn des Zweiten Weltkriegs wur-de das 1918 polnisch gewordene Podgradowice in Drzymałowo umbenannt.

Abb. 1. Mit diesem Zirkuswagen hielt der Bauer Michał Drzymała die preußischen Behör-den zum Narren: Indem er ihn auf seinem Grundstück verschob, umging er die gegen die Polen gerichteten Bauvorschriften und wurde zum Helden der polnischen Öffentlichkeit. Sie sammelte Geld für einen neuen Wagen, mit dem Drzymała hier durch das großpolni-sche Städtchen Grätz (Grodzisk) fährt.

Die Region, in der sich die Vorgänge abspielten, ist nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass hier eine polnische Bevölkerung unter deutscher Herrschaft lebte und von dieser unterdrückt wurde. Vielmehr prägten die Interaktionen alle Beteiligten: Sie trugen ihre Konflikte mit den Mitteln und in den Spielräumen aus, die ihnen die Rechtsordnung zur Verfügung stellte, sie organisierten ihre gemeinsamen Interessen in der Öffentlichkeit durch Assoziationen und Medien und sie bildeten eine Konfliktgemeinschaft aus, die von zwei miteinander im Clinch verkeilten Nationalismen geprägt wurde.

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91. Der Preußische Osten als geteilter Raum

Beide Seiten hatten in ihren Aktionen und Argumenten jeweils den anderen genau im Blick. Dieser Raum deutsch-polnischer Verflechtungen lässt sich folglich als „geteilter“ Raum im doppelten Wortsinn beschreiben.

Auf der einen Seite standen sich – so die allgemeine Wahrnehmung – fremder Staat und nationale Gesellschaft gegenüber. Dieses Bild bedarf zwar einer genaueren Betrachtung, aber unzweifelhaft erhöhten sich die nationa-len Spannungen, als der Nationalismus zu einem dominanten Element in der Politik der Teilungsmächte Preußen und Russland wurde, die zwischen 1772 und 1795 zusammen mit Österreich Polen unter sich aufgeteilt hatten. Dadurch standen sich zunehmend national verfestigte Gesellschaften gegen-über. Auf der anderen Seite prägten sich in den drei Teilungsgebieten auch „geteilte“ Räume in dem Sinn aus, dass sich innerhalb der jeweiligen politi-schen Systeme zahlreiche Formen von politischer Adaption, von alltäglichem Arrangieren und von Akkulturation entwickelten.

Dabei unterschieden sich die preußischen Regionen Polens im 19. Jahr-hundert vom habsburgischen Galizien, wo sich in der zweiten Jahrhundert-hälfte ein deutlich größerer Spielraum für eine polnische Selbstver waltung und eine polnisch dominierte Gesellschaft entwickelte. Ebenso unterschied sich das preußische Teilungsgebiet Polens von den vom Zarenreich eingenom menen Gebieten, in denen sich die Konfrontationen zwischen Staatsmacht und polni-scher Gesellschaft zweimal in großflächigen militärischen Auseinandersetzun-gen – im Novemberaufstand 1830/31 und im Januaraufstand 1863/64 – und dann auch in der Revolution von 1905 entluden.

Der „preußische Osten“ steht so für eine spezifische Phase deutsch-pol-nischer Beziehungen. Preußen war, wie es Rudolf von Thadden formuliert hat, mit der Einverleibung umfangreicher polnischer Gebiete in den Teilungen Polens in den „Sog der polnischen Geschichte“2 geraten. Seit der gescheiterten Revolution von 1848 überwogen in Preußen Versuche, sich diesem Sog und einer Lösung der polnischen Frage entgegenzustemmen. Schien diese antipol-nische Politik zeitweilig erfolgreich zu sein, erfasste die polnische Sogwirkung seit Ende des 19. Jahrhunderts dann jedoch zunehmend auch die polnisch-sprachige Bevölkerung in Teilen Ostpreußens und Schlesiens. Das Bild lässt sich allerdings auch umgedreht betrachten, denn die polnische Bevölkerung in den preußischen Ostprovinzen kam ihrerseits in den Sog des preußisch-deutschen Staates und der deutschen Gesellschaft, dessen Wirkung auch über das Ende preußisch-deutscher Herrschaft auf diesen Gebieten nach dem Ersten Weltkrieg anhielt.

2 Thadden, Rudolf von: Fragen an Preußen. Zur Geschichte eines aufgehobenen Staates, München 1981, S. 26.

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2. Räume, Grenzen, Menschen

Wen und welche Gebiete umfasst also die deutsch-polnische Verflechtungs-geschichte im langen 19. Jahrhundert? Diese Frage ist schon deshalb nicht einfach zu beantworten, da die politischen Grenzen keine oder nur unge-naue Anhaltspunkte geben. Die polnische Schriftstellerin Maria Dąbrowska schrieb, die Grenzen Polens seien „auf dem Gebiet der drei Teilungsgebiete versickert, sie wurden von ihnen aufgesogen und gefressen“.3 Damit ver-wob sich die Geschichte Polens mit jener der drei Teilungsmächte Russland, Habsburg und Preußen. Nach der vollständigen Aufteilung Polen-Litauens gab es von 1795 bis 1918 keinen polnischen Staat, abgesehen von dem kurzlebi-gen und kaum als selbstständiges Staatsgebilde zu bezeichnenden Herzogtum Warschau (1807–1814). Folglich kann der hier zu betrachtende Raum mit po-litischen Grenzen nicht angemessen beschrieben werden. Hinzu kommt, dass sich auch Deutschland als staatliches Gebilde im 19. Jahrhundert deut-lich veränderte: von dem 1806 aufgelösten Alten Reich über den Deutschen Bund bis zum preußisch-kleindeutschen Kaiserreich von 1871.

Der Wandel der politischen Grenzen betrifft auch die an Preußen an-gegliederten polnischen Gebiete, die namentlich bis 1815 ihre territoriale Ausdehnung mehrfach änderten: War 1772 zunächst das spätere Westpreußen und mit dem Ermland eine dann zur Provinz Ostpreußen geschlagene Region unter die Herrschaft der Hohenzollern gekommen, so expandierte der preußi-sche Staat 1793 nach „Südpreußen“ – das Gebiet umfasste Großpolen und er-streckte sich bis nach Tschenstochau. 1795 entstand dann das bis nach Warschau und Białystok reichende „Neuostpreußen“. Nach der Niederlage Preußens gegen Napoleon wurden Großpolen (Wielkopolska) und Masowien (Mazowsze) mit Warschau Ende 1806 von den unter Napoleon kämpfenden polnischen Legionen eingenommen. Das anschließend gegründete Herzogtum Warschau wurde nach der Niederlage Napoleons gegen Russland Anfang 1813 von zari-schen Truppen besetzt. Mit dem Wiener Kongress kamen dann Danzig, das 1807 eine Freie Stadt geworden war, Westpreußen (Pomorze Gdanskie) und Großpolen mit Posen erneut unter preußische Herrschaft.

3 Dąbrowska, Maria: O zjednoczonej Polsce, jej mieszkancach i gospodarstwie, Warszawa 1921, S. 10.

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112. Räume, Grenzen, Menschen

Auch wenn sich der Verlauf der Grenze zwischen Preußen, dem Zarenreich und der Habsburgermonarchie von 1815 bis 1914 nicht veränderte, so wandelte sich doch ihr Charakter: In der Wiener Schlussakte war der Erhalt nationaler polnischer Institutionen in allen drei Teilungsgebieten zugesichert worden. In Preußen hatte das Großherzogtum Posen mit der Position eines polnischen Statthalters einen – wenn auch nur schwach ausgeprägten – Sonderstatus er-halten, der jedoch bereits nach 1831 durch eine gegen den polnischen Adel und Klerus gerichtete Politik faktisch aufgehoben wurde. Die östlichen Territorien Preußens wurden 1848 zunächst zeitweilig in den Deutschen Bund einge-gliedert, bevor sie dann ab der Begründung des Norddeutschen Bundes 1866 dauerhaft und ohne Einschränkungen in den kleindeutschen Staat integriert wurden.

Diese politischen Grenzen hatten, trotz der mit ihnen verbundenen Macht-verhältnisse, nur bedingt Bedeutung für die deutsch-polnische Verflech tungs-geschichte, denn die polnischen Konspirationen und Aufstände, aber auch die antipolnische Politik, namentlich in Kongresspolen und Preußen, wirkten über ihre unmittelbaren Schauplätze hinaus auf alle Teilungsgebiete, und zwar allein schon aus dem Grund, dass alle drei Teilungsmächte eine Wiederherstellung des polnischen Staates über die Grenzen und Bestimmungen von 1815 hinaus zu verhindern suchten.

Mit der Verfestigung der Teilung, die nach der Niederschlagung des Aufstands in Kongresspolen von 1863 zumindest außenpolitisch für ein hal-bes Jahrhundert nicht erschüttert wurde, kommen Gesellschaft und Kultur als Determinanten der Verflechtung stärker in den Blick. Damit wäre es nahe-liegend, nationale Räume der Verflechtungsgeschichte zugrunde zu legen, zu-mal im 19. Jahrhundert Nationen zu eigenständigen historischen Faktoren ne-ben den Staaten wurden und die „nationalen Fragen“ der Deutschen, Italiener und Polen, ebenso wie die Bestrebungen der „kleinen Nationen“, auf von den staatlichen Grenzen abweichende Räume zielten. Dabei muss zugleich beach-tet werden, dass sich auch die Konzepte der Nation und vor allem deren sozi-ale Reichweite in dem hier betrachteten Zeitraum wandelten. Zunächst wurde die Nation in Polen vom Adel getragen, der als gesellschaftliche Schicht un-gleich umfangreicher war als in Deutschland. In Deutschland dagegen war das liberale Bürgertum bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts der wichtigste Träger der Nation.

Während die deutschen und polnischen nationalen Eliten im Vormärz noch den gemeinsamen Kampf für die Freiheit in den Vordergrund stellten und der Weg der polnischen Aufständischen von 1830/31 in die Große Emigration nach Frankreich von Wellen der Polenbegeisterung in Deutschland geprägt war, kam es in den deutsch-polnischen Grenzräumen ab 1848 zu zunehmenden nationalen Gegensätzen, die sich mit der Nationalisierung der breiten Massen

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12 Einführung

in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch verschärften. Nationalistische Egoismen und die Exklusion der jeweiligen nationalen „Anderen“ gewannen nun an Bedeutung. Die Hintergründe, vor denen sich diese Entwicklung ab den 1860er Jahren vollzog, unterschieden sich freilich erheblich voneinan-der: In Deutschland waren es die Kriegserfolge Preußens, die die nationale Begeisterung unterfütterten, während in der polnischen Gesellschaft die kri-tische Reflexion der Niederlage im Aufstand von 1863 zum Ausgangspunkt einer nationalen Neuorientierung wurde, in deren Zuge nun die polnische Nation nicht nur politisch-kulturell, sondern auch ethnisch definiert wurde.

Wenn man aus dieser Entwicklung eine nationale Entflechtung deutscher und polnischer Gesellschaft schlussfolgert, die sich in dem Schlagwort swój do swego (jeder zu den Seinen) spiegelt, dann ist das jedoch nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen ist zu erkennen, dass es im Bekenntnis der breiten Massen zu einer der beiden Nationen – im Sinn von Ernest Renans berühm-tem „täglichen Plebiszit“ – bis weit über den hier betrachteten Zeitraum hi-naus große Unschärfen gab: So existierten an den Rändern der Nationen, in der Kontaktzone zwischen deutschem und polnischem Sprachraum, bei den Schlesiern, Masuren, Kaschuben, mehrfache Loyalitäten und Identitäten, da diese Gruppen sowohl von den sprachlichen Bindungen an die polnische Nation als auch von der schon vor 1795 bestehenden Zugehörigkeit zum preußi-schen Staat geprägt wurden. Sie ließen sich daher nicht eindeutig national klas-sifizieren, was in der jüngeren Diskussion als „nationale Indifferenz“ beschrie-ben wird. Eine primär regionale und anationale Identifizierung wurde jedoch zunehmend anachronistisch und ab dem Ende des Ersten Weltkriegs von dem zum Teil gewalttätigen Konflikt um die deutsch-polnischen Grenzregionen überlagert. Zwischen den Nationen stand schließlich der große Teil der jüdi-schen Bevölkerung. Bei vielen Juden war die deutsch-polnische Verflechtung durch eine Migration aus den polnischen Gebieten nach Westen Teil der ei-genen Biografie, wie etwa in Alfred Döblins Familie, die aus Großpolen über Stettin nach Berlin zog. Diejenigen, die nicht migrierten, gerieten zwischen die Konfliktlinien der widerstreitenden Nationen, was sich bereits während der Revolution 1848 in Posen zeigte, als die jüdische Bevölkerung sowohl von deutschen als auch von polnischen Nationalisten der Gegenseite zugerech-net wurde.

Diese nationalen Dynamiken müssen jedoch vor dem Hintergrund des ge-sellschaftlichen Wandels gesehen werden, der zuvor unbekannte Dimensionen annahm: In den preußischen Ostprovinzen stieg die Bevölkerung im Zeitraum von 1816 bis 1910 von ca. 5,3 Millionen auf knapp 14 Millionen, von denen ca. 3,7 Millionen polnischsprachig waren. In derselben Zeit vervierfachte sich die Bevölkerung in Preußen insgesamt auf mehr als 40 Millionen. In dieser Diskrepanz spiegeln sich die Folgen der Industrialisierung, die nicht

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132. Räume, Grenzen, Menschen

nur zur Landflucht, sondern auch zum Phänomen der „Ostflucht“ führte. Der Abwanderung von ca. 3,5 Millionen Menschen aus den preußischen Ostprovinzen zwischen 1840 und 1910 stand eine Zuwanderung allein in Berlin und Hamburg von ca. 1,5 Millionen gegenüber. In das Ruhrgebiet wan-derten ca. 500.000 Menschen aus den Ostprovinzen ein, die meisten von ih-nen waren polnischsprachig.4

Polen und Deutsche begegneten sich jedoch nicht nur entlang der po-litisch nicht mehr sichtbaren und sprachlich wie kulturell nur unscharfen Grenze zwischen deutscher und polnischer Nation. Vielmehr gab es Polnisch bzw. Deutsch sprechende Gruppen jeweils auch jenseits der nationalen Kernräume: So entstanden durch Migration im Zuge der Industrialisierung und der Verdichtung von Verkehr und Kommunikation durch die Eisenbahn temporäre und dauerhafte neue polnische Milieus im Westen Deutschlands: Zum einen durch die Binnenmigration aus den preußischen Ostgebieten in das Ruhrgebiet, nach Berlin und in andere Zentren der Industrialisierung und zum anderen durch saisonale Arbeitsmigration aus den übrigen Teilen Polens in die ostelbischen Gutswirtschaften zur Erntezeit. Diese polnischen „Sachsengänger“ wurden nach der Reichsgründung allerdings zum Gegenstand heftiger politischer Kontroversen – aus Furcht vor einer vermeintlich drohen-den Unterminierung der deutschen Staatlichkeit im Osten. Damit verband sich nicht nur die antipolnische Politik nach 1871. Es lag auch im Interesse Preußens, neben der militärischen Präsenz die Migration von Deutschen in der Rolle staatlicher Funktionsträger zu fördern, etwa bei Bahn und Post. Sowohl quantitativ als auch hinsichtlich ihrer Sozialstruktur unterschied sich die deutsche Binnenmigration freilich von der polnischen. Daneben gab es aber auch zahlreiche – traditionelle und neu entstehende – deutschsprachige Milieus jenseits der Ostgrenze Preußens bzw. des Deutschen Reichs. Neben bäuerlichen Siedlungen und kleineren städtischen Milieus ist insbesondere die ab den 1820er Jahren rasch zum „Manchester des Ostens“ aufsteigende Textil- und Industriestadt Lodz zu nennen, die ihren Aufschwung der Lage an der Westgrenze des Zarenreichs verdankte.

Der Blick auf die vielfältigen Migrationen zeigt, dass es innerhalb des preußisch-deutschen Staates zahlreiche Orte freiwilliger wie unfreiwilli-ger Begegnungen von Deutschen und Polen gab. An erster Stelle stand ge-wiss der Kontakt von Polen zu deutschen Institutionen: So studierten Polen an Hochschulen in den deutschen Staaten und dienten (und kämpften

4 Zahlen nach Murzynowska, Krystyna: Die polnischen Erwerbsauswanderer im Ruhr-gebiet während der Jahre 1880–1914, Dortmund 1979, S. 25; vgl. auch die Zahlen bei: Rogmann, Heinz: Die Bevölkerungsentwicklung im preußischen Osten in den letzten hundert Jahren, Berlin 1937, S. 13, S. 196.

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zwangsläufig) in deutschen Heeren. Während in der Habsburgermonarchie die polnischen Eliten nach 1867 durch die Autonomie in Galizien an der Staatsverwaltung teilhatten und auch nationale Institutionen wie die Akademie der Wissenschaften (Akademia Umiejętności) in Krakau bildeten, blieben Karrieren von Polen in preußischen Institutionen oder solchen des Deutschen Reichs eher Einzelfälle und waren in der zweiten Jahrhunderthälfte ohne eine nationale Konversion kaum möglich. Ausnahmen gab es im Bereich des Hochadels und auf besonderen Positionen, wie der des Slawisten Aleksander Brückner, der von 1881 bis 1924 an der Berliner Universität lehrte.

In Preußen-Deutschland gerieten Polen nicht nur national, sondern auch durch den Kulturkampf gegen die katholische Kirche unter Druck, fanden aber in dieser doppelten Minderheitensituation auch Möglichkeiten zur poli-tischen Artikulation ihrer Interessen. Zu nennen ist hier neben der politischen Repräsentation im preußischen Abgeordnetenhaus und im Deutschen Reichs-tag insbesondere die Gründung von Vereinen und Genossenschaften. Solche gesamtgesellschaftlichen Gemeinsamkeiten in der Nutzung rechtsstaatlicher Spielräume führten jedoch nicht nur zu einer Verbreitung von Vereinskultur, sondern auch zu ihrer Differenzierung und damit auch zur Ent flechtung durch die Bildung paralleler nationaler Organisationen. Dazu trug nicht zuletzt auch die Akkumulation von Machtressourcen in der deutschen Staatsverwaltung bei, gegen die aufseiten der polnischen Bevölkerung in erster Linie zivilgesellschaft-liche Organisationsformen zur Verfügung standen. Dass solche Assoziierungen ab den 1840er Jahren die Konspiration in den Hintergrund treten ließen, kenn-zeichnet die Entwicklung im preußischen Polen. Die Intensität und der ge-sellschaftliche Erfolg dieser in der polnischen Öffentlichkeit als „organische Arbeit“ bezeichneten Aktivitäten spiegelt sich auch im deutschen Vereinsrecht: Das deutsche Vereinsgesetz von 1908 stellte aus der Perspektive der deut-schen Mehrheit einen rechtlichen Meilenstein auf dem Weg zur Vereinsfreiheit dar, enthielt aber auch dezidiert gegen die nationalen Minderheiten gerichte-te Bestimmungen, etwa die Auflage, sich in öffentlichen Versammlungen der deutschen Sprache zu bedienen, um die polizeiliche Überwachung zu ermög-lichen. Insofern war es Teil der Ausnahmegesetze, mit denen die Rechte der Staatsangehörigen polnischer Nationalität beschränkt werden sollten. Dagegen richtete sich dann ein vehementer Protest polnischer Vereine.

Die bislang genannten Felder deutsch-polnischer Begegnungen bilden je-doch nur einen kleinen Ausschnitt der wechselseitigen Verflechtungen, die weit in den Alltag hineinreichten, sei es durch die Übernahme von Fremdwörtern aus der jeweils anderen Sprache oder durch die Lektüre von Belletristik in Übersetzungen.

Im Ersten Weltkrieg kulminierten einerseits die hier skizzierten deutsch-polnischen Verflechtungen, denn der Krieg gegen das Zarenreich polarisierte

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152. Räume, Grenzen, Menschen

die staatlichen Loyalitäten der Polen. Sowohl die Führung des Zarenreichs als auch die Mittelmächte versuchten nun, die Idee eines selbstständigen polni-schen Staates für eigene politische Ziele zu vereinnahmen. Da jedoch anderer-seits keine der Teilungsmächte eine befriedigende Antwort auf das Interesse der polnischen politischen Eliten an einer Wiederherstellung Polens geben konn-te, wuchs die politische Bedeutung der Schützenverbände von Jozef Piłsudski, dessen Ziel der Kampf für nationale Unabhängigkeit war. Hinzu kam, dass in den Überlegungen der westlichen Alliierten Probleme nationaler und religiöser Minderheiten zunächst keine Rolle spielten. Die Vorstellung von Nationalstaaten als Garanten einer neuen Ordnung in Europa nach dem Krieg verband sich so mit den Vorstellungen der polnischen Nationaldemokratie von einem ethnisch pol-nisch dominierten neuen Staat, und die Bestimmungen des Versailler Vertrags führten dazu, dass nun nationale Entflechtung und der deutsch-polnische Konflikt um die gemeinsame Grenze die wechselseitigen Beziehungen prägten.

Wenn die deutsch-polnischen Verflechtungen im hier betrachteten Zeit raum von der napoleonischen Epoche bis zum Ersten Weltkrieg so allgegen wärtig wa-ren – warum sind sie dann nicht längst ausführlich betrachtet worden? Gewiss wurde vieles schon in lokalen und regionalen Studien thematisiert, doch ist auch in Rechnung zu stellen, dass der Fokus nationaler Geschichts schreibung – der deutschen wie der polnischen – lange Zeit gerade auf die politischen und sozialen Konflikte zwischen den Nationen aus gerichtet war. Insofern wurde, namentlich in den Grenzregionen, die Beschäfti gung mit wechselseitigen Beeinflussungen in der jeweiligen nationalisti schen Perspektive als kontraproduktiv angesehen, ließen sich dadurch doch Ansprüche der Gegenseite untermauern. So ging es vor allem darum, zu beweisen, dass die jeweilige Grenzregion deutsch oder polnisch sei. Hinzu kam, dass aus polnischer Sicht die materiellen Folgen der Teilungszeit – denken wir etwa an das polnische Eisenbahnnetz, das bis heute die inneren Grenzen vor 1918 abbildet – als Hemmnis nationaler Integration galten und folglich negativ beurteilt wurden. In der alten Bundesrepublik wie-derum gab es noch lange Stimmen, die die Ungerechtigkeit der Grenzziehungen von 1918 bis 1921 und nach 1945 betonten und so primär bestrebt waren nach-zuweisen, dass es sich bei den verlorenen Regionen um deutsche und nicht um polnische Gebiete handelte. Ein nuancierter Blick wird viele Detailstudien zu-tage fördern, von denen manche bereits im vorletzten Jahrhundert entstanden. Auf solche Arbeiten stützt sich maßgeblich das vorliegende Buch. Aber auch jenseits der nationalgeschichtlichen Konfliktlage, die sich ab den 1960er Jahren allmählich aufzulösen begann, blieben mit dem Blick auf soziale Konflikte, der in beiden Geschichtswissenschaften eine lange Konjunktur hatte, kulturelle oder alltagsgeschichtliche Kontakte zwischen Deutschen und Polen doch eher am Rand des Wahrnehmungshorizontes.


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