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  • Sven Jennessen, Reinhard Lelgemann,Barbara Ortland, Martina Schl�ter (Hrsg.)

    Leben mitKçrperbehinderung

    Perspektiven der Inklusion

    Verlag W. Kohlhammer

  • Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich gesch�tzt. Jede Verwendung außerhalbder engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlages unzul�ssig und strafbar. Dasgilt insbesondere f�r Vervielf�ltigungen, �bersetzungen, Mikroverfilmungen und f�r die Einspeiche-rung in elektronischen Systemen.

    Alle Rechte vorbehalten� 2010 W Kohlhammer GmbH StuttgartGesamtherstellung:W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, StuttgartPrinted in Germany

    ISBN 978-3-17-021140-7

  • Inhaltsverzeichnis

    Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

    Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

    Grundlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

    1 Kçrperbehinderung und Inklusion im Speziellen . . . . . . . . . . 15Martina Schl�ter

    2 Inklusion als sozialethisches Projekt – �berlegungen aus fachlicherund famili�rer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33Sabine Sch�per

    3 Inklusion und Kçrperbehinderung im internationalenVergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48Juliane Quandt

    Lebensphasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

    4 Fr�hfçrderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

    4.1 Erfahrungsbericht und Reflexionen �ber Fragen der Inklusionkçrperbehinderter Kinder in der Fr�hfçrderung . . . . . . . . . . . . 65Birgit Hennig

    4.2 Darf ich zu euch spielen kommen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71Karsten Johr

    4.3 Inklusion und fr�he Fçrderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75Gerd Hansen

    5 Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

    5.1 Kçrperbehinderung – alles inklusive? Erfahrungen aus dem Schulalltag 91Tobias Jarzombek & Reiner D�chting

    5.2 „Es gibt nicht die eine perfekte Integration.“ . . . . . . . . . . . . . 95Tobias, Jan Hertel & Barbara Ortland

    5

  • 5.3 „Mir geht es nicht um irgendwas: entweder ich kann mit allen Kindernmitmachen oder ich gehe da nicht mehr hin!“ . . . . . . . . . . . . 101Alexandra Engel

    5.4 Mit dem Rollstuhl durch die Baustelle „Schule f�r alle“ . . . . . . . 107Susanne Schriber

    5.5 Spezifik in einer P�dagogik der Vielfalt – Schulische Inklusionkçrperbehinderter Kinder und Jugendlicher . . . . . . . . . . . . . . 120Sven Jennessen

    6 Wohnen/Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

    6.1 Inklusion beim Wohnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135Karin Baumg�rtner

    6.2 Wohnen, Pflege und Arbeit – ein Erfahrungsbericht . . . . . . . . . 141Karl-Josef Faßbender

    6.3 In einer inklusiven Gesellschaft leben – Perspektivenund Anfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147Reinhard Lelgemann

    6.4 Erwerbsarbeit unter dem Vorzeichen von Inklusion undUN-Behindertenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158Sebastian Wolf

    Lebensthemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

    7 Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

    7.1 Ich spreche mit den Augen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169Kathrin Lemler

    7.2 Unterst�tzt kommunizierende Menschen inklusive? . . . . . . . . . . 175Andreas Seiler-Kesselheim

    8 Progredienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

    8.1 Ich bin gl�cklich – ’tschuldigung! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185Dorothee Kienle

    8.2 Progredient kranke Kinder und Jugendliche – Skizzen zu Bedingungengelingender schulischer und nachschulischer Fçrderung . . . . . . . 190Volker Daut

    Inhaltsverzeichnis

    6

  • 9 Komplexit�t . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

    9.1 Simon oder der Weg zur Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199Jacqueline Erk

    9.2 Einfach dazugehçren – Auf der Suche nach der Normalit�t . . . . . 202Beate Bettenhausen

    9.3 Inklusion von Menschen, die mit mehrfachen Behinderungen leben . 207Barbara Ortland

    Gesundheitsversorgung und Barrierefreiheit . . . . . . . . . . . 223

    10 Gesundheitsversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

    10.1 Welche Mçglichkeiten therapeutischer Versorgung birgt die Inklusion?Die Sicht einer Ergotherapeutin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225Gabriele Rudo

    10.2 Gegenwart und Perspektiven eines (derzeit nicht) inklusivenGesundheitswesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231Reinhard Lelgemann

    11 Barrierefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

    11.1 Die Bedeutung von Barrierefreiheit f�r die gesellschaftliche Teilhabe(kçrper)behinderter Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241Gisela Hermes

    11.2 Inklusion und Barrierefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247Volker Sieger

    Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

    Inhaltsverzeichnis

    7

  • Vorwort

    Liebe Leserinnen und Leser,

    die Inklusion von Menschen mit Kçrperbehinderung verstehe ich als ein selbst-verst�ndliches Einbeziehen behinderter Menschen in die Gesellschaft – und zwarvon Beginn an. Sp�testens mit Inkrafttreten des �bereinkommens der VereintenNationen �ber die Rechte von Menschen mit Behinderung ist klar: F�r alle Men-schen mit Behinderung, selbstverst�ndlich auch f�r kçrperbehinderte Menschen,muss die Mçglichkeit geschaffen werden, eine allgemeine Schule zu besuchen oderauf dem ersten Arbeitsmarkt besch�ftigt zu sein. Wir m�ssen eine inklusive Gesell-schaft f�r alle Menschen gestalten. Daf�r m�ssen die individuellen Voraus-setzungen – so wie sie der Einzelne bençtigt – in den einzelnen gesellschaftlichenBereichen, der Bildung und Ausbildung, dem Arbeitsmarkt, dem Wohn- undArbeitsumfeld und in der Freizeit, geschaffen werden. Denn Barrieren sind geradef�r Menschen mit Kçrperbehinderung ein wesentlicher Grund daf�r, dass sie sichausgeschlossen f�hlen und in ihrem t�glichen Leben beeintr�chtigt werden. DieseBarrieren reichen von nicht abgesenkten Bordsteinkanten und fehlenden Aufz�genan Bahnhçfen f�r gehbehinderte Menschen bis zu fehlenden Licht- beziehungs-weise Lautsignalen f�r Menschen mit Hçr- bzw. Sehbehinderung. Neben diesenbaulichen Barrieren beeintr�chtigen aber vor allem die Barrieren in den Kçpfenvieler Menschen. Der selbstverst�ndliche Kontakt zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen ist in Deutschland immer noch die Ausnahme. Dies f�ngtin der Schule an, wo nur etwa 15 % der Kinder mit einem sogenannten „sonder-p�dagogischen Fçrderbedarf“ allgemeine Schulen besuchen, und setzt sich fort invielen Sondereinrichtungen im Ausbildungs- und Berufsleben. Die Barrieren inden Kçpfen kçnnen nur beseitigt werden, wenn Menschen mit und ohne Behin-derung von Anfang an, das heißt schon im Kindergarten und in der Schule,zusammen aufwachsen. Erst dann wird der Umgang miteinander auch im Erwach-senenalter selbstverst�ndlicher und ist nicht von gegenseitigen Vorurteilen gepr�gt.Mein Anliegen ist es, die getrennten Welten von behinderten und nicht behinder-ten Menschen abzuschaffen und dem �bereinkommen der Vereinten Nationenentsprechend ein selbstverst�ndliches Miteinander zu erreichen. Wer Inklusionwill, sucht Wege, wer sie verhindern will, sucht Gr�nde.

    „Nichts �ber uns, ohne uns“ ist der Ansatz, der sowohl f�r die Politik f�rMenschen mit Behinderungen als auch f�r die Fachwissenschaft gelten sollte.Deshalb gef�llt mir das Konzept dieses Werkes, auch Menschen mit Kçrper- undMehrfachbehinderungen als Experten in eigener Sache zu Wort kommen zu lassen.

    IhrHubert H�ppeBeauftragter der Bundesregierung f�r die Belange behinderter Menschen

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  • Einleitung

    Die Idee f�r das vorliegende Buch entstand auf der j�hrlichen Tagung der Leh-renden der Kçrperbehindertenp�dagogik 2008 in W�rzburg. D. h. dort entstanddie Idee, die Diskussion innerhalb der Kçrperbehindertenp�dagogik vertiefen zuwollen: Ein Buch zu einer aktuellen Fragestellung oder sogar eine Buchreihe mitder Mçglichkeit, unterschiedliche Erfahrungen und wissenschaftliche Positionenzusammenzuf�hren und auf diese Weise notwendige Diskussionen çffentlich zuf�hren bzw. zu ermçglichen. Es war zun�chst nur eine Idee, von der keiner wirk-lich glaubte, dass wir sie realisieren w�rden. Wir hatten noch nicht so eng mit-einander gearbeitet, wohnen und arbeiten an unterschiedlichen Orten mit weitenEntfernungen – w�rde das klappen? Der Wunsch war jedoch st�rker als die Beden-ken. Also gab es ein erstes Treffen, an dem aber noch nicht das Thema Inklusionreifte. Beim zweiten Treffen war es dann mçglich, das Thema so weit zu konkre-tisieren.

    Eine Frage, die immer wieder diskutiert wurde und uns bis zum Schlussbesch�ftigte, lautete:

    „Ist es legitim, ein Buch zur Inklusion aus nur einer Diversit�tsperspektive zuschreiben?“

    „Wir kçnnen dieses Buch nicht schreiben!“„Klar, kçnnen wir das!“„Was legitimiert das denn? Der Gedanke der Inklusion will doch gerade diese

    Unterschiede und Stigmatisierungen nicht mehr in den Vordergrund stellen.Widersprechen wir da nicht dem Grundgedanken der Inklusion, wenn wir Unter-schiede machen?“

    „Genau! Es geht doch um Lebensbedingungen, die allen Menschen in ihrerEinmaligkeit gerecht werden. Die Fokussierung auf eine Menschengruppe stigma-tisiert!“

    „Nein! Sie w�rde dann stigmatisieren, wenn wir sie isoliert betrachten. Abernicht, wenn wir die besonderen Bed�rfnisse fokussieren und f�r die Inklusions-diskussion zug�ngig machen!“

    Diese Diskussion f�hrten wir im Entstehungsprozess des Buches in unterschied-lichen Facetten immer wieder und stellten fest, dass die zentrale Frage nichtendg�ltig beantwortbar ist. Wir haben uns entschlossen, dieses Buch zur Inklusionaus der Perspektive der Kçrperbehindertenp�dagogik zu schreiben: Mit einemgrundlegenden systemischen Ansatz und mit der Ber�cksichtigung der individu-ellen Bed�rfnisse von kçrper- und mehrfachgesch�digten Menschen in Theorieund Praxis leisten wir in dem vorgegebenen begrenzten Rahmen einen Beitrag zurInklusion, der Verschiedenheiten nicht bewerten und kategorisieren, sondern sieunter Beachtung ihrer Individualit�ten zusammenf�hren soll.

    So sind die Oberkapitel mit „Grundlegungen, Lebensphasen, Lebensthemen,Gesundheitsversorgung und Barrierefreiheit“ allgemein ausgerichtet, um in denUnterkapiteln die Vielfalt der mçglichen Bed�rfnisse von kçrper- und mehrfach-

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  • gesch�digten Menschen im Rahmen von Inklusion zu ber�cksichtigen und zudiskutieren. Jedes Unterkapitel besteht aus Theorie- und Praxisbeitr�gen. Inklusi-on ist nur in der Verzahnung von Theorie und Praxis zu denken.

    Wir merkten selber und hçrten es auch immer wieder von den Autorinnen undAutoren dieses Buches, wie schwer es teilweise fiel, Kçrperbehinderung inklusiv zudenken bzw. Inklusion im Rahmen von Kçrperbehinderung zu verorten. Dies warzum einen in obiger Fragestellung begr�ndet, zeigte sich zum anderen in demWunsch, die f�r die Inklusion hinderlichen, allerdings fest installierten, unter-schiedlichen Systeme aus dem Weg zu r�umen: Wie viel Inklusion ist gesellschaft-lich und politisch gewollt? Auch wenn die Ratifizierung der UN-Behinderten-rechtskonvention Anlass zur Hoffnung f�r die Akzeptanz von Verschiedenheitengibt, so wird der Weg der Ver�nderung lang und m�hsam sein.

    Dieses Buch wird mit seinen Beitr�gen aus Theorie und Praxis aktuelle Lebens-problematiken benennen und entsprechende Perspektiven der Inklusion aufzeigen:Menschen mit und ohne Kçrper- und Mehrfachbehinderungen in einem inklusi-ven, gesellschaftlichen System!

    Unser herzlicher Dank gilt Dorothee Kienle und Judith Amrath f�r ihre umfas-sende Hilfe bei der Korrektur des Buches.

    Sven Jennessen Landau, W�rzburg, M�nster, KçlnReinhard Lelgemann im Juli 2010Barbara OrtlandMartina Schl�ter

    Einleitung

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  • Grundlegungen

  • 1 Kçrperbehinderung und Inklusion imSpeziellen

    Martina Schl�ter

    1.1 Einf�hrung

    Alle Menschen sind verschieden. Begr�ndet ist dies in den unterschiedlichengenetischen Anlagen und den Sozialisationsbedingungen. Bezogen auf Deutsch-land leben wir alle in oder besser von einem gesellschafts-politischen System,dessen Grundbedingungen von einigen Menschen mit einem großen Regelwerkf�r alle Menschen gesetzt werden. Auch wenn alle Menschen verschieden sind, soist das Gradmaß der geduldeten Verschiedenheiten genormt. Die Menschen, dieaußerhalb dieser Norm liegen, werden, oftmals mit einer differenzierten Ursachebelegbar, als „gesch�digt“, gerne auch als „krank“, bezeichnet. Da sie in unter-schiedlichen Bereichen zu bestimmten Zeitpunkten nicht das kçnnen, was dieMehrheit aller in dem System lebenden Menschen, sprich die Norm, kann, werdensie „behindert“ genannt. Das gesellschafts-politische System r�umt diesen Men-schen in seinem Regelwerk spezielle Bedingungen ein, die sie vor Nachteilensch�tzen sollen. Die Abweichungen der Verschiedenheiten kçnnen z. B. nachdem System von „Motorik, Emotion, Sozialisation, Kommunikation, Kognition“kategorisiert werden. In diesem Buch wird der Schwerpunkt auf die Abweichungenim Bereich der Motorik und der Kçrperlichkeit gelegt, deshalb werden dieseMenschen auch als „kçrperbehindert“ bezeichnet.

    Das gemeinsame Leben in den unterschiedlichen Mikrosystemen gestaltet sichinsofern als schwierig, als die Unterschiede in der Bewegungsf�higkeit und den�ußeren kçrperlichen Merkmalen mit allen mçglichen Konsequenzen als zu großempfunden werden, um wiederum normierte Handlungsabl�ufe mit normiertenZielen durchzuf�hren bzw. zu erreichen. Deshalb leben diese Menschen in vielenBereichen getrennt, sie finden innerhalb der gesetzten Normen keinen gemein-samen Weg.

    In diesem grundlegenden Beitrag geht es um die Auswirkungen des Abstandesin der Lebenswirklichkeit von normierten und „kçrperbehinderten“ Menschen inBezug auf gegenseitige Einstellungen und Haltungen. Dabei gilt es Aspekte zuanalysieren, die zu einer Vergrçßerung bzw. zu einer Verkleinerung des Abstandesf�hren. Schwerpunktm�ßig werden diese Analysen aus der Perspektive der „kçr-perbehinderten“ Menschen gef�hrt. Es geht weniger um System- oder Normver-�nderungen bzw. -analysen, wenn sie auch immer mit bedacht werden, da ohne siekeine Inklusion mçglich ist.

    15

  • Sprache, Formulierungen, Ausdrucksweisen kçnnen eine bedeutsame Funktion inder Gestaltung der Interaktion von Menschen einnehmen. Es wird in diesemBeitrag versucht, den Begriff der Kçrpersch�digung anstelle dem der Kçrperbehin-derung aufgrund seiner Zutrefflichkeit zu verwenden. In der hermeneutischenAnalyse kann dies jedoch nicht konsequent beibehalten werden.

    1.2 Begrifflichkeiten

    Im Folgenden wird eine Ann�herung an die Begriffe „Kçrperbehinderung“ und„Inklusion“ vorgenommen. Im Zentrum steht dabei die Perspektive von Men-schen mit Kçrperbehinderungen in Auseinandersetzung mit nicht behindertenPersonen im gemeinsamen gesellschaftlichen System, die eine kritische Sichtweiseimpliziert. Es kann kein erkl�rtes Ziel sein, Definitionen zu formulieren, da sie insich zu statisch sind. Es geht um eine Analyse dieser beiden Begriffe, die auch dasSpektrum der unterschiedlichen Sichtweisen repr�sentiert.

    Kçrperbehinderung

    In der Vierteljahresschrift f�r Heilp�dagogik und ihre Nachbargebiete 2/2007 stehtBarbara Ortlands Artikel „Wie werden aus Menschen mit Behinderung Menschenohne Behinderung?“ – eine Frage der Verantwortung?! unter der Rubrik „Dasprovokative Essay“ (VHN 2007, 93 f). Die Provokation kann insofern bestehen,als die der Behinderung zugrunde liegende Sch�digung, quasi per definitionem, inder Regel �ber die gesamte zuk�nftige Lebensspanne hinweg besteht und medizi-nisch nicht heilbar ist. Somit kann es nur um die Beurteilung der Sch�digung inihren Auswirkungen auf die Lebensvollz�ge und die eigene Persçnlichkeit inner-halb des gesellschaftlichen Systems gehen. Nicht selten erz�hlen Menschen mit wieauch Menschen ohne Kçrpersch�digungen von Begegnungen, in denen gesagtwird, dass sie „die Behinderung vergessen“ und meinen damit, dass die Sch�di-gung unbedeutend f�r die Bewertung der jeweiligen Situation ist, da de factonichts behindernd ist.

    Ortland versteht diese hier im Fokus stehenden kçrperlichen Sch�digungen alsBedingungen, „die Menschen in Situationen einbringen und die von den anderenim Rahmen behindernder Prozesse als Stçrung oder Irritation bewertet werden“(Ortland 2007, 95). „Ob also ein Merkmal als Behinderung erfahren wird, bestim-men sowohl die Bewertungsprozesse als auch die Anpassungsleistungen aller Betei-ligten in den situativen Umgebungsfaktoren“ (ebd. 95).

    Wie kçnnen diese Merkmale bei einer Kçrpersch�digung konkret benannt wer-den? Schwerpunktm�ßig soll in diesem Beitrag der Fokus auf Kçrpersch�digungenmit �ußerlich sichtbaren Merkmalen gelegt werden, da diese Merkmale der Aus-

    Kçrperbehinderung und Inklusion im Speziellen

    16

  • lçser f�r Stçrungen und Irritationen sind. Menschen mit z. B. chronischen Erkran-kungen wie Diabetes Mellitus oder Asthma fallen in den weiteren Analysen nichtgrunds�tzlich heraus, haben aber andere Mçglichkeiten, inklusiv t�tig zu werden.Diese �ußerlich sichtbaren Merkmale bilden den schwerwiegenden Unterschied zuden Sinnessch�digungen, zu den Ver�nderungen im Verhalten und in vielen F�llenzu den kognitiven Beeintr�chtigungen. Cloerkes weist bereits 1979 darauf hin, dassdie Visibilit�t einer Behinderung und die mit einer Behinderung verbundenenFunktionsbeeintr�chtigungen die Komponenten sind, auf deren Grundlage sichdie Einstellungen von nicht behinderten Menschen entwickeln: Soziale Werte wieSchçnheit, physische Integrit�t, Leistungsf�higkeit und Gesundheit w�rden vondem behinderten Menschen verletzt (Cloerkes 1979, 180).

    �ußerlich sichtbare Merkmale in Verbindung mit einer Kçrpersch�digung kçn-nen sein:

    l Bewegungsver�nderungen, die ihre Ursachen u. a. im Muskeltonus, in der Mus-kulatur selber oder in der Knochenstruktur haben kçnnen. Hinzu kann eineeingeschr�nkte Kontrolle oder ein Kontrollverlust �ber die Bewegung vorhan-den sein.

    l Benutzung von Hilfsmitteln wie Rollstuhl oder Rollator.l Ver�nderungen der Gesichtsmuskulatur mit Auswirkungen auf die Mimik aus

    o. g. Ursachen. Hinzu kann ein nicht willk�rlich kontrollierbarer Speichelflusskommen.

    l Ver�nderungen der Artikulation und Phonation beim Sprechen mit evtl. Nut-zung von Hilfsmitteln zur Unterst�tzten Kommunikation.

    l Ver�nderungen der Kçrperteile und/oder der Kçrperproportionen.

    Mçgliche Konsequenzen aus den �ußerlichen Merkmalen:

    l Abh�ngigkeit von Hilfspersonen mit evtl. Pflegeabh�ngigkeit.l Bençtigung von mehr Zeit und Umdenkprozessen bei vielen allt�glichen Ver-

    richtungen.l Damit weniger Leistungsmçglichkeit im Sinne der physikalischen Formel von

    „Leistung = Arbeit pro Zeit“.l Einschr�nkungen in der Mobilit�t.

    Ortland folgert weiter: „Bewertungsprozesse kçnnen aus der Perspektive derSelbstbeobachtung und der Fremdbeobachtung vorgenommen werden“ (Ortland96).

    Aus autobiographischen Beispielen ist bekannt, dass es Menschen mit angebo-renen Kçrpersch�digungen gibt, die diese als zu ihrem Kçrperbild und -empfindenzugehçrig und nicht negativ bewerten. Auf die oft zitierten Autobiographien vonPeter Radtke (1994) und Fredi Saal (1992) sei verwiesen. Stellvertretend f�r vieleFormulierungen sei Alison Lapper (Phokomelie) genannt, die die Statue ihresnackten Kçrpers auf Trafalgar Square als Sinnbild deutet: „Ich halte sie in vielerleiHinsicht f�r das ultimative Statement zum Thema Behinderung: dass Behinderungeine ebenso schçne wie anerkennenswerte Form des Lebens sein kann wie jede

    Begrifflichkeiten

    17

  • andere auch“ (Lapper 2008, 255). Menschen mit sp�ter erworbenen Sch�digungenerleben grundlegend einen „Riss“ in ihrem Leben. Bewertungsprozesse sindabh�ngig vom weiteren Verlauf des Lebens und den Mçglichkeiten der eigenenEinflussnahme. So ist von vielen Menschen mit einer Querschnittsl�hmung, u. a.bedingt durch sportliche, erfolgreiche Aktivit�ten, bekannt, dass sie ihre Kçrper-identit�t nach Durchleben unterschiedlichster Phasen insgesamt erweitern konn-ten. Menschen mit Hirnsch�digungen z. B. nach einem Sch�del-Hirn-Traumahaben oftmals einen schwierigeren Weg und ziehen f�r sich indifferente Bewer-tungen. Menschen mit progredienten Erkrankungen zeigen insbesondere in denPhasen der akuten Progression oftmals regressive oder aggressive Verhaltenswei-sen. Dort werden die Bewertungsprozesse nochmals wieder anders ausfallen. Eswird deutlich, dass allein auf dem Hintergrund der Heterogenit�t der Kçrpersch�-digungen keine allgemeing�ltigen Aussagen �ber Bewertungsprozesse aus der Per-spektive der Selbstbeobachtung mçglich sind. Wie sp�ter noch aufgezeigt werdenwird, sind die Bewertungen der Sch�digung sowohl intra- wie auch interindivi-duell sehr unterschiedlich.

    Die Perspektive der Fremdbeobachtung wird auf der individuellen Begegnungs-ebene als auch auf der gesellschaftlichen Systemebene betrachtet, wobei beide inBeziehung zueinander stehen:

    Kinder stehen den Sch�digungen sehr neugierig, im Sinne einem „nach Neuemgieren“ gegen�ber: Sie stellen vorrangig ihre „Warum“ und „Wieso“-Fragen, hal-ten sich in der Bewertung aufgrund oftmals fehlender Erfahrungen eher neutral.Cloerkes (2007, 114) h�lt fest, dass Kinder bis zum dritten/vierten Lebensjahrunbefangen auf alles Fremdartige zugehen. Der erwachsene Mensch hingegenwird aufgrund der Sozialisationserfahrungen eine Sch�digung eher mit negativenKonsequenzen bewerten und vermutet eine Einflussnahme auf die Persçnlichkeitdes betroffenen Menschen. Auch er zeigt in der Regel eine Art von Neugierde, wiesp�ter noch an dem Beispiel des „Anschauens bzw. Anstarrens“ genauer entfaltetwerden wird (vgl. Exkurs: Das Anstarren). Seine Bewertungen sind im letztenabh�ngig von seinen Erfahrungen und eigenen Persçnlichkeitsvariabeln: Menschenohne Kontakte zu Menschen mit sichtbaren kçrperlichen Sch�digungen werdensich eher distanzieren als durch betroffene Verwandte oder Freunde Erfahrene.Jedoch sind auch hier nur tendenzielle Vermutungen zu formulieren.

    Antor & Bleidick (2000) halten eher f�r die Systemebene fest: „Behindertseinwird als eine menschliche Bedrohung empfunden“ (Antor & Bleidick 2000, 70).Sie haben in ihren Ausf�hrungen aufgezeigt, dass von der Antike bis zur Neuzeitmit besonderer Betrachtung der Zeit des Nationalsozialismus Menschen mitBehinderungen als bedrohliches Potenzial beseitigt wurden und es in abgewandel-ten Formen immer Vernichtungsformen von der Eugenik bis zur Euthanasie gab(ebd., 60 – 70). Sie weisen darauf hin, dass Einstellungen gegen�ber behindertemLeben von �bergreifenden Zusammenh�ngen bestimmt sind und f�hren f�nfBestimmungsfaktoren aus: „der Preis der Industrialisierung, die çkonomisch-uti-litaristischen Determinanten, der Fetischismus der Gesundheit, Minorit�ten-Vor-urteile und die postmoderne Selbstbestimmung“ (ebd. 72). Es stellt sich die Frage,

    Kçrperbehinderung und Inklusion im Speziellen

    18

  • inwiefern Menschen mit sichtbaren Sch�digungen eine Bedrohung darstellen kçn-nen. Eine Bedrohung ist immer etwas Angst auslçsendes: Zu dem grundlegendenAspekt der Fremdheit muss die (un)bewusste Angst hinzugef�gt werden, selberdiese Sch�digung zu erhalten, die einem in dem Gegen�ber konkret vor Augengef�hrt wird. Uhrlau nennt die „Angst vor Verlust der eigenen Unversehrtheit“ beiLehrern und Mitsch�lern von betroffenen Sch�lern als ein Merkmal einer patho-logischen Interaktion in ihrer Studie (Uhrlau 2006, 256 und 259).

    Damit kann der Kern der unterschiedlichen Bewertungsprozesse aus der Per-spektive der Selbst- und der Fremdbeobachtung abgeleitet werden: Der eine lebt es(und kommt gut klar) und der andere sieht es (und bekommt Angst)! In derPerspektive der Selbstbeobachtung wird es eher um die Bewertung der Sch�digungan sich gehen, in der Perspektive der Fremdbeobachtung kommen vermuteteEinflussfaktoren auf die Persçnlichkeit des betroffenen Menschen hinzu. Dennochsind keine generalisierenden Aussagen zu formulieren. Festzuhalten bleibt jedoch,dass sichtbare Kçrpersch�digungen nicht grunds�tzlich als negativ bewertet wer-den m�ssen und nicht als negativ bewertet werden d�rfen!

    Inklusion

    Nach der Analyse der Bewertungsprozesse bleibt die Analyse der Anpassungsleis-tungen. Die Trennung in zwei unterschiedliche Kapitel soll und darf ihren engenZusammenhang nicht aufheben, wird aber, wie folgt, verst�ndlich: Anpassungs-leistungen zur „�berwindung von Verschiedenheiten“ aller Beteiligten bilden denzentralen Kern von Behinderung und Inklusion: Das Verst�ndnis im Sinne einer„Definition“ von Behinderung stellt die Umkehrung des Verst�ndnisses von Inklu-sion dar: Ortland (2007, 95) schließt sich der Relationalit�t von Behinderung vonWalthes an: „Behinderung ist der nicht gelungene Umgang mit Verschiedenheit“(Walthes 2003, 49). Die UN-Behindertenrechtskonvention h�lt in der Pr�ambelunter (m) fest: „in Anerkennung des wertvollen Beitrags, den Menschen mit Behin-derungen zum allgemeinen Wohl und zur Vielfalt ihrer Gemeinschaften leisten undleisten kçnnen“ (Bundesgesetzblatt 2008, 1421). In Artikel 3 formuliert sie unter(d) folgenden allgemeinen Grundsatz: „die Achtung vor der Unterschiedlichkeitvon Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil dermenschlichen Vielfalt und der Menschheit“ (ebd, 1424). Dieses diversity-Verst�nd-nis von Behinderung bildet den Kern der Integrations- und Inklusionsp�dagogik:„Es ist normal, verschieden zu sein“ (Wocken 2001, 77) und die „Dialektik vonGleichheit und Verschiedenheit“ (ebd. 77) als „axiomatische Grundlage“ (ebd. 77)von Integrationsprozessen. Laubenstein (2008) reflektiert in ihrer Arbeit aus kon-struktivistischer Perspektive grundlegend �ber Haltungen im sonderp�dagogischenDiskurs, die unter den Aspekten des Anderen, der Fremdheit und der Macht Behin-derung entstehen lassen (vgl. Reich 2008, 45). Barbara Ortlands Frage „Wie werdenaus Menschen mit Behinderung Menschen ohne Behinderung?“ ist also eine Frageder Inklusion.

    Begrifflichkeiten

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  • Die oben angef�hrten �ußerlichen Merkmale sind zentral f�r die Verschiedenheitvon Menschen mit und ohne Kçrpersch�digungen. Der Aspekt der mçglichenMehrfachsch�digungen sei an dieser Stelle vernachl�ssigt. Die skizzierten Bewer-tungsmçglichkeiten und -tendenzen dieser Merkmale machen bereits deutlich,dass Inklusionsbestrebungen f�r die betroffenen Menschen einen lebenslangenProzess darstellen kçnnen, da jede Ver�nderung in der Lebenssituation wie auchdie Begegnung mit unbekannten Menschen immer wieder zum Pr�fstand voninklusiver Zustimmung werden kann. Im weiteren steckt, bedingt durch die Ver-schiedenheit aller Menschen und insbesondere bei der hier fokussierten Personen-gruppe, in jeder Inklusion ein St�ck Exklusion. Dies erinnert an Aaron Antonov-sky, der Gesundheit und Krankheit nicht mehr als einander ausschließende undgetrennt zu klassifizierende Zust�nde, sondern sie als „Extrempole eines multi-dimensionalen Kontinuums“ (Antonovsky 1997, 15) betrachtet, zwischen denensich das Befinden des Menschen bewegt. In- bzw. Exklusion vollzieht sich in einem„multidimensionalen Kontinuum“. Der Weg zur Inklusion kann f�r alle Beteilig-ten von vielen Stçrfaktoren begleitet werden, was wiederum Stressoren produziert.Die vollst�ndige Inklusion in ihrem Extrempol wird es im Lebensvollzug nichtgeben, was bzgl. der Exklusion, wie weiter unten noch nachgewiesen wird, nichtauszuschließen ist.

    In den weiteren Ausf�hrungen wird es um Anpassungsleistungen auf verschie-denen Ebenen bzgl. aller Beteiligten gehen. Auch wenn diese nur die „�ußereH�lle“ von Inklusion darstellen, so stellen sie den Gradmesser f�r Inklusion imSinne einer Operationalisierbarkeit dar. Es bleibt zu hoffen, dass die Anpassungs-leistungen auch die Bewertungsprozesse von Sch�digungen beeinflussen bzw. auseiner positiven Grundhaltung gegen�ber Menschen mit sichtbaren kçrperlichenSch�digungen vollzogen werden.

    1.3 Nicht gelungene Anpassungsleistungen

    In diesem Kapitel geht es eher darum, den Zwiespalt, die Herausforderungen unddie Tragweite von Anpassungsleistungen aufzuzeigen. Es werden dabei die Anpas-sungsleistungen ausgew�hlt, die als Grundlegungen verstanden werden.

    Beginn des Lebens

    Inklusion beginnt an der Stelle, wo die Mutter/die Eltern bei pr�natal diagnosti-zierten Kçrpersch�digungen „ja“ zu ihrem Kind sagen. Ein Schwangerschafts-abbruch bedeutet f�r das Kind die Exklusion vom Leben. Bewertungsprozessebzgl. der Lebensqualit�t des Kindes und der Familie, die Bereitschaft zu einschnei-denden Anpassungsleistungen beeinflussen die Entscheidungsfindung. Die Mutter

    Kçrperbehinderung und Inklusion im Speziellen

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  • wird die Entscheidung f�r einen Abbruch vermutlich aus Gr�nden ihrer gesell-schaftlichen Inklusion vollziehen.

    Die UN-Behindertenrechtskonvention h�lt im Artikel 10 „Recht auf Leben“ fest:„Die Vertragsstaaten bekr�ftigen, dass jeder Mensch ein angeborenes Recht aufLeben hat . . .“ (Bundesgesetzblatt 2008, 1429). Der pr�natale Zeitraum ist nachdieser Konvention bzgl. des Lebensrechts nicht mit eingeschlossen. Mit der Weiter-entwicklung der diagnostischen Methoden, dies betrifft die Pr�natal- und diePr�implantationsdiagnostik, kçnnen immer mehr Kçrpersch�digungen im vor-geburtlichen Zeitraum entdeckt werden, die wenigsten sind davon therapierbar.Bei der Pr�implantationsdiagnostik, die in Deutschland noch verboten ist, wirdder Embryo gezielt auf bestimmte Normabweichungen untersucht. Werden diesefestgestellt, so wird der Embryo nicht in den Uterus der Frau transferiert. Ins-besondere die invasiven Methoden der Pr�nataldiagnostik mit der Amniozenteseund der Chorionzottenbiopsie legen oftmals im Screening-Verfahren Kçrpersch�-digungen wie z. B. Chromosomenver�nderungen oder Spina bifida offen. Aller-dings kçnnen auch nicht invasive Methoden wie die Sonographie entweder aufSch�digungen hinweisen oder diese explizit erkennen lassen. Eine „Contergan-Af-faire“, wie es sie Anfang der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts gegeben hat,w�rde es heute aufgrund des Ultraschalls, der zur damaligen Zeit kaum in dergyn�kologischen Praxis vorhanden war, nicht mehr geben. Die Entscheidung vielerM�tter bzw. Eltern wird in den meisten F�llen gegen das Leben des Kindes getrof-fen, wie es am Beispiel des Down-Syndroms heute verdeutlicht wird. Die diag-nostizierte Sch�digung l�sst h�ufig Wunschkinder zu Kindern werden, derenLeben so nicht gewollt ist. Dieses ist gesetzlich mçglich durch die medizinischeIndikation im § 218 StGB, in der die seelische wie auch die kçrperliche Gesundheitder Mutter vorrangig geregelt ist (Schl�ter 2007 a, 22). Es gibt keine im § 218festgeschriebene Beratungspflicht und keine zeitliche Befristung. Allerdings istseit dem 1. 01. 2010 die �nderung des Schwangerschaftkonfliktgesetzes in Kraftgetreten, wonach zum einen die �rztin oder der Arzt der schwangeren Frau dasInformationsmaterial, das von der Bundeszentrale f�r gesundheitliche Aufkl�rungzum Leben mit Kindern mit geistigen oder kçrperlichen Sch�digungen erstelltwurde, aush�ndigen muss und zum anderen hat der Arzt oder die �rztin, diedie Diagnose der Sch�digung mitteilen, „�ber die medizinischen und psychosozia-len Aspekte, die sich aus dem Befund ergeben, unter Hinzuziehung von �rztinnenoder �rzten, die mit dieser Gesundheitssch�digung bei geborenen Kindern Erfah-rung haben, zu beraten“ (SchKG § 2 a (1)). Absatz 2 regelt die Einhaltung einerFrist von 3 Tagen zwischen der schriftlichen Feststellung der Indikation und derDiagnosemitteilung bzw. Beratung und hebt dieses auf, wenn „eine gegenw�rtigeGefahr f�r Leib oder das Leben der Schwangeren abzuwenden ist“ (SchKG § 2 a(2)). In der Beratung sind nach dieser Gesetzes�nderung prim�r �rztinnen und�rzte angesprochen, sekund�r werden Behindertenverb�nde oder Selbsthilfegrup-pen genannt (vgl. SchKG § 1 (1 a), § 2 a (1)). Sowohl von Eltern gesch�digterKinder wie auch von betroffenen Menschen selber wird vermehrt und bereits�ber einen langen Zeitraum von einer Abwertung behinderten Lebens gerade

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  • durch das medizinische System berichtet. �rztinnen und �rzte haben in der Regelwenige Informationen �ber Entwicklungsverl�ufe und Bew�ltigungsmechanismenim Alltagsleben, es gibt keine Fortbildungen zu diesem Themenkreis. Dies l�sstZweifel an einer fachlich kompetenten, ergebnisoffenen Beratung aufkommen.

    Bei einer Bewertung der Pr�natalen Diagnostik in ihrer Beziehung zur Inklusionkçrpergesch�digter Kinder bleibt Folgendes festzuhalten: Das Spannungsverh�ltnisvon Bef�rwortung und Duldung eines Schwangerschaftsabbruches bei kçrper-gesch�digten Kindern einerseits und Forderung von Inklusion f�r diese Personen-gruppe wird von vielen Menschen ausgehalten. Dies kann sowohl die interper-sonelle als auch die intrapersonelle Ebene betreffen: Diejenige, die einen Abbrucheines kçrpergesch�digten Kindes bei sich durchf�hren l�sst, kann sich dennoch f�rdie Inklusion dieser Kinder einsetzen. Antor & Bleidick (2001, 23) f�hren diesenWiderspruch mit Brumlik in ihren ethischen Analysen aus: „Kantianismus f�r diePrinzipien, Aristotelismus f�r den Alltag: Die vorgetragenen Argumente zeigen,daß auf der Ebene praktischer Diskurse all das erlaubt, zugelassen, ja sogar gefor-dert ist, was auf der Ebene der Begr�ndung verpçnt ist . . . die Trennung zwischenBegr�ndungs- und Anwendungsebene“ (Brumlik 1991 a, 378). Die Mçglichkeitender Vorbereitung auf das Leben mit diesem Kind und damit zur Inklusion, diePr�nataldiagnostik bietet, werden nur selten genutzt.

    Lebensalltag

    Inklusion muss sich u. a. an den gesellschaftlichen Reaktionen gegen�ber Menschenmit Kçrpersch�digungen messen lassen. Ihre mçglichen Belastungen f�r die betrof-fene Personengruppe stellen ein grundlegendes Hindernis gegl�ckter Inklusion dar.

    Fries (2005) hat in einer in der Form einzigartigen Studie bei 75 Menschen mitunterschiedlichen, in der Regel sichtbaren, Kçrpersch�digungen die Erfahrungenund Erlebnisse mit nicht behinderten Menschen und gesellschaftlichen Institutio-nen und deren Bewertungen, Belastungen und Verarbeitung untersucht. ZweiAspekte der Untersuchung seien im Folgenden n�her erçrtert: Zum einen dasDenken von nicht behinderten Menschen �ber behinderte Menschen aus derPerspektive von behinderten Menschen:

    Menschen mit Behinderungen denken, dass Menschen ohne Behinderungen�berwiegend negative Meinungen von behinderten Menschen haben: Mitleid,kein Zutrauen in F�higkeiten, Unterstellung einer geistigen Behinderung, l�stigeMenschen, mit denen kein Kontakt erw�nscht ist, bilden u. a. die h�ufigsten Nen-nungen. Als positive Gedanken und Meinungen werden Bewunderung, Lebens-freude, Freundlichkeit und Offenheit genannt (Fries 2005, 284 f).

    Zum anderen kçnnen folgende Ergebnisse bzgl. der als belastend erlebten Erfah-rungen herausgestellt werden:

    l Viele der berichteten positiven und negativen Erlebnisse finden im çffentlichenBereich statt. In der ersten von vier Belastungsstufen werden �berwiegend posi-

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  • tive Erfahrungen in Form von Hilfe im Alltag geschildert, die weiteren Belas-tungsstufen enthalten fast ausschließlich diskriminierende Erfahrungen (z. B.Gastronomie, Mitarbeiter p�dagogischer und medizinischer Einrichtungen,etc.). Konkrete Beispiele f�r diskriminierende Erfahrungen sind: „Anpçbelnim Bus; Konfrontation mit NS-Gedankengut; Unfreundliche Beratung durcheine �rztin; Aufforderung, das Lokal zu verlassen; Hilfsbed�rftige werden wieein kleines Kind behandelt“ (Fries 2005, 205 f).

    l Die Mehrzahl der die Diskriminierungen ausf�hrenden Personen sind unbe-kannte Personen.

    l Die Art der Diskriminierungen ist h�ufig durch „Isolation und Ausgrenzung“ zukennzeichnen.

    l Diese Diskriminierungen lçsen emotionale Betroffenheit und eine verst�rkteAuseinandersetzung aus. Die als „stark belastend“ eingestuften Erlebnisse ver-st�rken Gef�hle der Minderwertigkeit und Einsamkeit.

    l Gleich erscheinende Diskriminierungen werden unterschiedlichen Belastungs-stufen zugeordnet. Die subjektive Wahrnehmung unterliegt also einer starkenVariation (ebd. 221 f).

    Uhrlau (2006) hat in ihrer Studie 12 junge Erwachsene mit Kçrpersch�digungenretrospektiv �ber ihre Schulzeit an einer Allgemeinen Schule interviewt, wovon11 Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer eine sichtbare Kçrpersch�digung hat-ten. Sie h�lt fest, dass sowohl „die Art und Weise der Sichtbarkeit als auch dieIntensit�t des ungewohnten Anblicks“ (ebd., 256) bedeutsam zu sein scheinen f�rdas Maß der Ablehnung. Ab dem Lendenbereich querschnittsgel�hmte Personen,die einen Rollstuhl benutzen, sonst aber im vollen Umfang gesellschaftlich par-tizipieren, haben mit deutlich weniger diskriminierenden Verhaltensweisen zurechnen als z. B. Menschen mit einer Cerebralparese. Sie listet im weiteren Hand-lungsweisen mit negativer/positiver Wirkweise von Mitsch�lern bzw. Lehrern auf:„Fehlende Empathie, Neid auf Nachteilsausgleich, H�nseln“ (ebd., 256) seienexemplarisch f�r die Mitsch�ler und „das Kind mit seinen Problemen ablehnen,abschieben, abwehren, verspotten“ (ebd., 258) seien exemplarisch f�r die Lehrergenannt. Auf die Handlungsweisen mit positiver Wirkung wird weiter unten nocheingegangen. Im Fazit res�miert Uhrlau, dass unter quantitativem Aspekt dienegativen Kategorien des schulischen Lebens und Lernens �berwiegen. Dennochw�rden alle Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer den gleichen schulischenWeg wieder gehen wollen, haben sie ihn ja auch alle bzgl. des Schulabschlusseserfolgreich absolviert (ebd., 281)

    Exkurs: Das Anstarren

    Radtke (1994) differenziert in seiner Autobiographie die Menschen, die anstarren,in verschiedene Kategorien:

    Nicht gelungene Anpassungsleistungen

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  • l „An erster Stelle sind die �blen Personen zu nennen, die aus bloßer Sensations-lust gucken. Am passendsten umschreibe ich sie mit der Bezeichnung ‚Glotzer‘.

    l Die zweite Gruppe der Neugierigen sind die Naiven. [. . ..] Oft haben michsolche Leute angeschaut, und doch schien mir ihr Blick nie verletzend. [. . ..]Sie sahen mich einfach an, weil ihnen etwas mir �hnliches noch nie begegnetwar.

    l Schließlich d�rfen die mitleidig Mitleidigen nicht vergessen werden. [. . ..] DerUmgang mit ihnen ist jedoch wesentlich schwieriger. Ihr allzu weiches Butter-herz kann einem das Leben mitunter arg versauern“ (Radtke 1994, 31 f; Fries2005, 98 f).

    Fries muss in seiner Studie feststellen, dass das Anstarren in allen vier Belastungs-stufen genannt und somit wie von Radtke auch situativ unterschiedlich bewertetwird. So wird das Anstarren und Fragenstellen von Kindern meistens als positivherausgestellt (Fries 2005, 214). In Uhrlaus Studie steht das Anstarren an obersterStelle in der Tabellenspalte „Handlungsweisen der Mitsch�ler mit negativer Wir-kung“ (Uhrlau 2006, 256).

    Das Anstarren ist ein durchg�ngiges Thema innerhalb der Interaktion vonbehinderten und nicht behinderten Menschen: So f�hren Jansen, Kunert & Seve-nig bereits 1983 mit Langer et al. (1976) aus, dass das Anstarren zur Befriedigungeines Informationsbed�rfnisses notwendig sei, denn „die Interaktionsdistanz ver-ringert sich nach Langer, wenn der Behinderte vorher beobachtet werden konnte“(Jansen, Kunert & Sevenig 1983, 29). Dem nicht behinderten Menschen scheintdas Anstarren somit sehr hilfreich zu sein.

    Kçrpergesch�digte Menschen bilden im çffentlichen Leben im Gegensatz zuMenschen mit anderen Merkmalen wie z. B. andersfarbige Haut eher eine sehrkleine Minderheit, somit kann schon fast von einer Reaktion mit „Schockcharak-ter“ (ebd., 28) gesprochen werden. Cloerkes h�lt fest, dass mit dem Anstarren„eine Abwertung des Privaten verbunden“ (Cloerkes 1979, 442) sei. Es entbehrejedes sinnvollen Zusammenhangs und sei ein Verhalten, das eher Objekten wiez. B. Tieren im Zoo entgegengebracht werde (ebd., 442).

    F�r die Ausstellung „Der (im)perfekte Mensch“ des Deutschen Hygiene Muse-ums Dresden im Jahr 2001 wurde folgende Blicksystematik auf Menschen mitBehinderung entwickelt:

    l Der staunende und medizinische Blickl Der vernichtende Blickl Der mitleidige Blickl Der bewundernde Blickl Der instrumentalisierende Blickl Der ausschließende Blick

    (Schçnwiese 2006, 169).

    Wie ist dieser Umgang mit Verschiedenheit in Beziehung zu Inklusion zu setzenbzw. zu werten? Auch wenn das Anstarren dem nicht behinderten Menschen in der

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  • Interaktion helfen mag, so belastet es den gesch�digten Menschen. Die Formulie-rung „Anstarren“ als unbewegliches Hinschauen �ber einen mehr als �blich l�n-geren Zeitraum ohne weitere Handlungen, eine eher aus dem Tierreich bekannteReaktion bei drohender Gefahr, ist bewusst gew�hlt: Nicht gemeint ist das „Hin-schauen“ mit unterschiedlichen Folgereaktionen. Dass Menschen mit sichtbarenKçrperbehinderungen „auffallen“ und dementsprechend zur Kenntnis genommenwerden, kann noch keine Diskriminierung sein. Im Gegenteil bei evtl. bençtigtenHilfeleistungen kann es sogar n�tzlich sein. Das Anstarren selber birgt jedochkeine Interaktionshandlung in sich und signalisiert erst einmal Exklusion: DasGegen�ber gehçrt in der Form nicht in die Welt des anderen!

    Gerichtsurteile und çffentliche Diskriminierungen

    Antor & Bleidick (1995) sprechen in ihrem Buch bereits 1995 von dem „Schlag-wort der Neuen Behindertenfeindlichkeit“ (Antor & Bleidick 1995, 280), wobei f�rsie unklar bleibt, was das Neue ausmacht. In Abgrenzung zu den Verbrechen derNationalsozialisten f�hren sie u. a. die Pr�nataldiagnostik, die Diskussion umSterbehilfe und die Aussagen von Peter Singer an. Als konkretisierende Beispielef�r die negative Haltung gegen�ber Menschen mit Behinderungen haben sie ver-çffentlichte Gewalttaten und Gerichtsprozesse bis 1995 zusammengestellt, indenen Menschen mit Behinderungen involviert waren. Sie verweisen darauf,dass die Gerichtsurteile ebenso viel Aufsehen erregt haben wie die Gewalttaten.Gerichtsurteile seien ein „Symptom f�r verbreitete Einstellungen“. „Sicher sprichtein Flensburger Amtsrichter dann zum Entsetzen Weniger f�r die Vielen, die seineRechtsempfindung teilen kçnnen“ (ebd., 280). Auch nach 1995 sind gleichartigeF�lle bekannt geworden, auch wenn 1994 die Antidiskriminierungsvorschriftgegen Menschen mit Behinderungen im Grundgesetz in Art. 3 (3) GG aufgenom-men wurde. An dieser Stelle sollen exemplarisch je zwei Gerichtsurteile und çffent-liche Diskriminierungen angef�hrt werden, die die Erkenntnisse aus Abschnitt 2.2wiederum best�tigen:

    l Aus dem Jahr 1992: Das „Flensburger Urteil“ gesteht einem Ehepaar Preismin-derung in Hçhe von 350 DM zu, da sie bei einem T�rkei-Urlaub im Speisesaalmit Menschen zusammen saßen, denen das Essen angereicht wurde und denendieses aus „dem Mund in umgebundene L�tzchen“ (ebd., 281) lief.

    l Aus dem Jahr 2003, „Europ�isches Jahr der Menschen mit Behinderung“: „Fe-rieng�ste d�rfen ihren Urlaub kostenlos stornieren, wenn auch behinderteUrlauber G�ste im gebuchten Hotel sind.“ Das Amtsgericht Eutin (AZ: 4 c49/02) hat die Klage einer Betreiberin einer Wellness-Farm abgewiesen, dievon zwei Frauen 823 Euro Stornogeb�hr haben wollte (Internet 1).

    l Aus dem Jahr 2003, „Europ�isches Jahr der Menschen mit Behinderung“: Siebenkçrpergesch�digte Erwachsene wurden vom Chef einer griechischen Taverne inSchnelsen gebeten, nicht wieder zu kommen, da ihre Anwesenheit gesch�fts-

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