edo popovic

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Hier gibt es eine kleine Leseprobe von Edo Popovics Roman "Mitternachtsboogie".

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Page 1: Edo Popovic

ISBN 978-3-939424-51-3EUR 19,86 (D)

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Manchmal wache ich auf, umgeben von Menschen, die mir einst nahe standen und die mit der zeit so klein wie Haselnüsse geworden sind, damit sie alle in mein Ge-dächtnis passen. Ich sehe sie, ich versuche zu lächeln. Und sie fallen – erschrocken von meinem starren Blick – in das Vergessen, sie verschwinden.

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Die Rampe oder jemand anderes

Ich muss sprechen! Ich fühle mich irgendwie betrogen, aber das be-deutet gar nichts. Freunde, die Stachel eures Schweigens sind merk-würdig. Merkwürdig sind auch eure Kiefer voller vergilbter Reißzäh-ne. Ihr nennt das ein freundschaftliches Lächeln, aber ich erkenne Wut, genauso wie am Anfang großer nächtlicher Partys, wenn wir uns prügelten und bei der Apotheke an der Ecke herumgrölten. Merkwürdig war auch mein abgetragener Anzug, der für Gehorsam angefertigt wurde, und das Bett, in das ich mich nachts legte, und was war es nur für ein wunderbares Gefühl, Freunde, das Adress-buch aufzuschlagen und nicht eine Telefonnummer zu finden, die mich erfreuen konnte. Auf der anderen Seite das Jahr – kann es sein, dass es wirklich nur ein Jahr war –, das Jahr des Schweigens.

*****

Ich bin also zurückgekommen. Alle waren mehr oder weniger peinlich berührt.

– Du?! – krächzten sie, sie rannten über die Zimmerdecke, fielen auf die Tische, zum Kaputtlachen.

In Ordnung. Ich habe gar nicht erwartet, dass aus ihren Mündern Magnolienblüten sprießen würden und Wiesen-blumensträuße. Ich habe auch nicht erwartet, dass sie mich entzückt abknutschen, an den Ohren ziehen und mit ihren Um-armungen ersticken würden. Das hat nichts mit Freundschaft

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zu tun, das ist reine Pornografie. Wenn ich überhaupt etwas er-wartet habe, wirklich erwartet, war das eigentlich ein hübscher Schlag in die Fresse – ein Schlag des Schweigens. Und ich habe ihn auch abbekommen. Es gibt Bisse und Schreie, die sich in den allerzahmsten und idyllischsten Landschaften verbergen. Das sind die schlimmsten.

– Was guckt ihr so blöd? – fragte ich. – Wo ist Marina?Sie heißt natürlich nicht Marina, sie heißt ganz anders, aber ich

will sie hier nicht kompromittieren.Sie konzentrierten sich volle fünf Minuten.– Lass sie in Frieden – zischte schließlich einer. – Du hast ihr

das Herz gebrochen.Jesus, Snježana, Korkenzieher, Glas, Aschenbecher, hört ihr

das? Ich habe ihr das Herz gebrochen! Jetzt war es an mir, mich zur Ordnung zu rufen.

– Und womit habe ich ihr Herz gebrochen, du Klugscheißer? – sagte ich nach einer langen Pause.

– Sie hat alles gehört!– Du Schwein!– Wie konntest du ihr das nur antun?– Sie will dich nicht mehr sehen!

*****

Die Dinge haben sich – so scheint es mir – schnell verändert. Sie verändern sich noch immer in diesen Tagen, in denen mein Wunsch nach Flucht von jener ursprünglichen Angst vor dem Un-gewissen überlagert wird, von der ich mich trotz meiner Bildung, den Märchen, dem Absinken der Temperatur und der Nächstenlie-be immer noch nicht befreit habe.

– Marina ist nicht zu Hause – sagt ihre Alte. – Sie hat jetzt einen Freund, einen richtigen.

Und was zum Teufel bin ich? Ein abgetriebener Fötus, den man in den Mülleimer geworfen und der sich irgendwie wieder auf-gerappelt hat und einfach groß geworden ist, ganz auf sich selbst gestellt? Nur dass ich bei der Rückkehr zum Ursprung meine kom-plette Haut aufgekratzt habe, die ganze Schale, die sich abgelagert hat, alle Gewohnheiten. Je harmloser und unschuldiger die Welt ist, desto grausamer sind meine Handlungsweisen, desto blutiger sind meine Hände.

Auf der Straße bedrohen mich Menschen, die ich nicht kenne und denen genau das reicht, um mich zu hassen. Sie schlagen mit ihren Ellenbogen auf mich ein, spucken mir ins Gesicht, verlangen meinen Kopf und winken dabei mit ihrer Reinheit. Die, für die zwei plus zwei vier ist, immer nur vier, verachten mich. Nur dann, wenn sie gut gelaunt sind, werden auch andere Lösungen zugelassen, aber das kommt selten vor. Ihre Vorgehensweise beinhaltet magische Quadrate, im Vergleich dazu sind Gefängniszellen das reinste Vo-gelgezwitscher. Ob man will oder nicht, man wird plattgedrückt, zu-sammengestaucht und dann in eins dieser Quadrate gepresst, man kann sich nur wundern. Fertig aus. Und wenn man protestiert, wenn man sich zu widersetzen versucht, grinsen sie nur und rollen dich zusammen wie einen Teppich. Hätte ich versucht, Marinas Alter irgendetwas zu erwidern, wäre meine Antwort ein Schrei gewesen, eine Bewegung, ein Schweigen, ein hämisches Lachen. Und sie hätte nichts verstanden. Die Menschen kapieren keine ehrlichen Aussa-gen. Sie sind getrimmt auf Parolen und große Worte, ordentlich zu-sammengefaltet, gestärkt, sauber.

*****

– Tja – meine Freunde zuckten bei zufälligen Begegnungen mit den Schultern.

– Was soll’s – sagte ich.

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zu tun, das ist reine Pornografie. Wenn ich überhaupt etwas er-wartet habe, wirklich erwartet, war das eigentlich ein hübscher Schlag in die Fresse – ein Schlag des Schweigens. Und ich habe ihn auch abbekommen. Es gibt Bisse und Schreie, die sich in den allerzahmsten und idyllischsten Landschaften verbergen. Das sind die schlimmsten.

– Was guckt ihr so blöd? – fragte ich. – Wo ist Marina?Sie heißt natürlich nicht Marina, sie heißt ganz anders, aber ich

will sie hier nicht kompromittieren.Sie konzentrierten sich volle fünf Minuten.– Lass sie in Frieden – zischte schließlich einer. – Du hast ihr

das Herz gebrochen.Jesus, Snježana, Korkenzieher, Glas, Aschenbecher, hört ihr

das? Ich habe ihr das Herz gebrochen! Jetzt war es an mir, mich zur Ordnung zu rufen.

– Und womit habe ich ihr Herz gebrochen, du Klugscheißer? – sagte ich nach einer langen Pause.

– Sie hat alles gehört!– Du Schwein!– Wie konntest du ihr das nur antun?– Sie will dich nicht mehr sehen!

*****

Die Dinge haben sich – so scheint es mir – schnell verändert. Sie verändern sich noch immer in diesen Tagen, in denen mein Wunsch nach Flucht von jener ursprünglichen Angst vor dem Un-gewissen überlagert wird, von der ich mich trotz meiner Bildung, den Märchen, dem Absinken der Temperatur und der Nächstenlie-be immer noch nicht befreit habe.

– Marina ist nicht zu Hause – sagt ihre Alte. – Sie hat jetzt einen Freund, einen richtigen.

Und was zum Teufel bin ich? Ein abgetriebener Fötus, den man in den Mülleimer geworfen und der sich irgendwie wieder auf-gerappelt hat und einfach groß geworden ist, ganz auf sich selbst gestellt? Nur dass ich bei der Rückkehr zum Ursprung meine kom-plette Haut aufgekratzt habe, die ganze Schale, die sich abgelagert hat, alle Gewohnheiten. Je harmloser und unschuldiger die Welt ist, desto grausamer sind meine Handlungsweisen, desto blutiger sind meine Hände.

Auf der Straße bedrohen mich Menschen, die ich nicht kenne und denen genau das reicht, um mich zu hassen. Sie schlagen mit ihren Ellenbogen auf mich ein, spucken mir ins Gesicht, verlangen meinen Kopf und winken dabei mit ihrer Reinheit. Die, für die zwei plus zwei vier ist, immer nur vier, verachten mich. Nur dann, wenn sie gut gelaunt sind, werden auch andere Lösungen zugelassen, aber das kommt selten vor. Ihre Vorgehensweise beinhaltet magische Quadrate, im Vergleich dazu sind Gefängniszellen das reinste Vo-gelgezwitscher. Ob man will oder nicht, man wird plattgedrückt, zu-sammengestaucht und dann in eins dieser Quadrate gepresst, man kann sich nur wundern. Fertig aus. Und wenn man protestiert, wenn man sich zu widersetzen versucht, grinsen sie nur und rollen dich zusammen wie einen Teppich. Hätte ich versucht, Marinas Alter irgendetwas zu erwidern, wäre meine Antwort ein Schrei gewesen, eine Bewegung, ein Schweigen, ein hämisches Lachen. Und sie hätte nichts verstanden. Die Menschen kapieren keine ehrlichen Aussa-gen. Sie sind getrimmt auf Parolen und große Worte, ordentlich zu-sammengefaltet, gestärkt, sauber.

*****

– Tja – meine Freunde zuckten bei zufälligen Begegnungen mit den Schultern.

– Was soll’s – sagte ich.

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Ich presse die Kippe zwischen die geschwollenen, schon vorher vergifteten Lippen. Ich sabbere sie voll, um sie leichter schlucken zu können. Die Kippe, den Aschen-becher.

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Marisky B. in memoriam

Polymena (oder wie hieß sie noch mal?) hockte auf der Wolke und schiss Literatur auf uns herab. Ich kenne einen Haufen Schwach-köpfe, die sich bemüht haben, möglichst große Stücke davon abzu-bekommen. Und später wussten sie nicht, wohin damit.

Sie schluckten kiloweise Scheiße und erstickten daran.Marisky B. gehörte nicht zu dieser Sorte. Er soff, vögelte, kotzte,

dröhnte sich mit Rock ’n’ Roll zu, schluckte Phosphalugel, dachte sich Titel für eine Zeitung aus, lernte Bukowski auswendig …

»Was wäre«, pflegte er zu sagen, »hätten Miller, Bukowski, Ginsberg und all die anderen nicht gesoffen, sich nicht mit Nut-ten, Zigaretten und Gras abgeschossen, wenn du verstehst, was ich meine, sie hätten bestimmt nicht das geschrieben, was sie geschrie-ben haben.«

Marisky verstand bestimmte Dinge ganz ausgezeichnet. Er verstand die Mehrzahl der Dinge ganz ausgezeichnet. Allerdings begriff er nie, dass diese Typen dazu noch wirklich geschrieben haben.

Aber wer kann ihm das schon verübeln.

*****

Marisky nahm Weinschorle und ich blieb dem Bier treu. Wir hatten der Meute den Rücken zugedreht und grinsten uns im Spiegel über der Theke an. Und wir soffen. Etwas später stellte

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sich heraus, dass ich an der Weinschorle herumnuckelte und Ma-risky am Bier.

– Ach du Scheiße – sagte er und schob mir das Bier zu.– Egal – ich trank die Weinschorle auf Ex.Und dann das Bier.– Jetzt hätte ich Lust, was zu vögeln – sagte er.– Wir können uns ja mal umschauen.Wir schauten uns um. Lauter Ausschussware. Das »Jabuka« ist

der totale Reinfall, was die Auslage angeht, und die Geschichten von Pero K. kommen mir wenig glaubwürdig vor.

– Weißt du was, wir sind noch nicht besoffen genug – Marisky B. hatte Schluckauf.

Und wir soffen.Dann kam Wanja. Eine echt heiße Nummer mit riesigen Titten

und langen Durchschnittsbeinen, aber wer achtete schon auf so was.

– Wir würden gerne vögeln – sagte Marisky.– Ich habe Probleme mit meiner Klitoris – sagte sie –, es juckt

zum Verrücktwerden.– Ist doch nicht wichtig, wir werden sie nicht mal berühren.– Nein, echt, Jungs, ich will euch wirklich nichts anhexen.– Sie hat recht – sagte ich –, ich bin nicht krankenversichert.– Scheiß auf die Krankenversicherung – sagte Marisky –, wir

sind noch nicht in Topform.Und wir soffen.Dann kam auch Lidija. Für sie ist Geschlechtsverkehr nur als

Vorspiel für intellektuellen Schnickschnack interessant. Was nicht einmal schlecht ist für die Typen, deren Geschlechtsorgane eigent-lich im Kleinhirn oder irgendwo in der Gegend untergebracht sind. Es läuft mir eiskalt über den Rücken, wenn ich sie nur sehe.

– Ich habe deine Geschichten gelesen – sagte sie.– Fuck off – sagte ich.

– Das, was du da schreibst, ist doch keine Literatur, dir fehlt einfach die gute Kinderstube. Schlimmster Sexismus.

Ich verpasste ihr einen Tritt zwischen die Beine, denn das ist eine der Arten, mit der man unter Beweis stellen kann, dass man kein Sexist ist.

– Du hast eine merkwürdige Technik entwickelt, jemanden heißzumachen – sagte Marisky. – Ich wette, dass sie gerade in der Toilette masturbiert.

Und The Doors suchten die klebrige Sommernacht heim.

*****

Für Marisky waren Mädchen Metaphern, er sah weder ihre Zäh-ne, noch hatte er Angst vor schlaffen Brüsten, behaarten Ärschen, Plattfüßen oder kurzen Beinen. Es reichte, dass er besoffen war und dass er ihnen den Blues ins Ohr säuseln konnte – und sie fielen auf ihn herein wie faulige Regentropfen.

Mich dagegen machte die Fotomodellästhetik verrückt, ein Wurm, der flüsterte: Die mit den langen Beinen vögelt wilder als die mit den kurzen Beinen, die mit dem normalen Blick wilder als die, die schielt, die mit dem glatten Arsch wilder als die mit dem behaarten Arsch.

– Lass mal den Wurm beiseite, Baby – sagte Marisky.– Das kann ich nicht!– Dann trink!Ich schüttete mir zehn Bier rein, und siehe da, tatsächlich: Ein

Regenbogen tauchte auf.Forget all your troubles and drink. (Nicht die Revolution, son-

dern die Prohibition würde alle Regierungen und Systeme kaputt machen.)

Vielleicht wurde Marisky aus diesem Grund so selten nüchtern.

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sich heraus, dass ich an der Weinschorle herumnuckelte und Ma-risky am Bier.

– Ach du Scheiße – sagte er und schob mir das Bier zu.– Egal – ich trank die Weinschorle auf Ex.Und dann das Bier.– Jetzt hätte ich Lust, was zu vögeln – sagte er.– Wir können uns ja mal umschauen.Wir schauten uns um. Lauter Ausschussware. Das »Jabuka« ist

der totale Reinfall, was die Auslage angeht, und die Geschichten von Pero K. kommen mir wenig glaubwürdig vor.

– Weißt du was, wir sind noch nicht besoffen genug – Marisky B. hatte Schluckauf.

Und wir soffen.Dann kam Wanja. Eine echt heiße Nummer mit riesigen Titten

und langen Durchschnittsbeinen, aber wer achtete schon auf so was.

– Wir würden gerne vögeln – sagte Marisky.– Ich habe Probleme mit meiner Klitoris – sagte sie –, es juckt

zum Verrücktwerden.– Ist doch nicht wichtig, wir werden sie nicht mal berühren.– Nein, echt, Jungs, ich will euch wirklich nichts anhexen.– Sie hat recht – sagte ich –, ich bin nicht krankenversichert.– Scheiß auf die Krankenversicherung – sagte Marisky –, wir

sind noch nicht in Topform.Und wir soffen.Dann kam auch Lidija. Für sie ist Geschlechtsverkehr nur als

Vorspiel für intellektuellen Schnickschnack interessant. Was nicht einmal schlecht ist für die Typen, deren Geschlechtsorgane eigent-lich im Kleinhirn oder irgendwo in der Gegend untergebracht sind. Es läuft mir eiskalt über den Rücken, wenn ich sie nur sehe.

– Ich habe deine Geschichten gelesen – sagte sie.– Fuck off – sagte ich.

– Das, was du da schreibst, ist doch keine Literatur, dir fehlt einfach die gute Kinderstube. Schlimmster Sexismus.

Ich verpasste ihr einen Tritt zwischen die Beine, denn das ist eine der Arten, mit der man unter Beweis stellen kann, dass man kein Sexist ist.

– Du hast eine merkwürdige Technik entwickelt, jemanden heißzumachen – sagte Marisky. – Ich wette, dass sie gerade in der Toilette masturbiert.

Und The Doors suchten die klebrige Sommernacht heim.

*****

Für Marisky waren Mädchen Metaphern, er sah weder ihre Zäh-ne, noch hatte er Angst vor schlaffen Brüsten, behaarten Ärschen, Plattfüßen oder kurzen Beinen. Es reichte, dass er besoffen war und dass er ihnen den Blues ins Ohr säuseln konnte – und sie fielen auf ihn herein wie faulige Regentropfen.

Mich dagegen machte die Fotomodellästhetik verrückt, ein Wurm, der flüsterte: Die mit den langen Beinen vögelt wilder als die mit den kurzen Beinen, die mit dem normalen Blick wilder als die, die schielt, die mit dem glatten Arsch wilder als die mit dem behaarten Arsch.

– Lass mal den Wurm beiseite, Baby – sagte Marisky.– Das kann ich nicht!– Dann trink!Ich schüttete mir zehn Bier rein, und siehe da, tatsächlich: Ein

Regenbogen tauchte auf.Forget all your troubles and drink. (Nicht die Revolution, son-

dern die Prohibition würde alle Regierungen und Systeme kaputt machen.)

Vielleicht wurde Marisky aus diesem Grund so selten nüchtern.

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Unter dem Regenbogen

Heute Nacht hab’ ich wieder von Kurg geträumt, sagt Elias.Ein Souterrain mit Fußboden aus festgetretener Erde, in dem

ständig Finsternis herrscht … in dem es nach Schweiß, Feuchtig-keit, Fäulnis und Angst riecht … in dem der Mensch nicht sicher sein kann, ob er je wieder aufwacht, wenn er einmal eingeschla-fen ist … in dem sich die flechtenbewachsenen Wände bei hefti-gen Angriffen ächzend bewegen … ein Ort zum Sterben. Doch Elias – er träumt.

Auch heute morgen. Über dem toten Dorf an der Grenze und über der Welt stieg die Sonne empor. Sie schien auf die Ameisen am silbernen Birkenstamm, die blauen Blüten der Wegwarte, die Distelköpfe, die aussehen wie altes Silber, die Wildrosenstöcke, die finsteren Blumen, die die Granaten in den Asphalt gemeißelt ha-ben, die smaragdgrünen Wälder, auf ferne Städte, Straßenbahnen, die quietschend ihre Remisen verlassen, auf schläfrige Taxifahrer, auf Hochhauswände voller prophetischer Graffiti … Gütige Son-ne! Ganz egal, ob du die Beute des nächtlichen Einbruchs durch-gehst, ob du wach im Bett liegst und auf das Klingeln des Weckers wartest, ob du hörst, wie in der Küche dein Teekessel pfeift, ob du dir gelassen den Pistolenlauf in den Mund steckst oder ob du durchgefroren und mit Augen voller Dornen auf den Wachwechsel wartest – die Sonne ist immer dieselbe. Die aufgequollene, gleißen-de Sonne beleuchtet mit derselben Gleichgültigkeit die Taxifahrer, die trompetenden Engel an der Domfassade, kleine Asphaltseen,

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milchige Nebel über dem Moor, die glänzenden Rohre der erigier-ten Kanonen, durchfrorene Soldaten auf Wache, die blauen Blüten der Wegwarte im Hof eines Hauses im toten Dorf an der Grenze, in dem Elias im Souterrain wankend aus dem Dunkel des Schlafrau-mes auftaucht, stehen bleibt, sich am Türrahmen festhält und sagt, dass er wieder von Kurg geträumt hat.

Man hat’s gehört, antwortet Zizi.Gehört?Ja. Du hast so gebrüllt, dass ich dich fast erschossen hätte.Wirklich?Ja, du hast nach einem Gewehr gesucht oder was.Elias surft fieberhaft durch seine Träume.Stimmt, sagt er strahlend, ich hatte ihn, er stand direkt vor mir,

ich hab abgedrückt … nichts. Kurg hat nicht mal mit der Wimper gezuckt. Ich schau mir das Gewehr an – ein Plastikspielzeug. Große Scheiße, ich bin mir noch nie so bescheuert vorgekommen.

Das nervt mich am meisten an dir, sagt Zizi, dass du auf einem Schlangennest einschlafen und dann noch träumen kannst.

Man muss doch träumen, rechtfertigt sich Elias. Die Träume wachen über uns, sie halten den Tod von uns fern. Und dass man sich den Ort, an dem man träumt, oft nicht aussuchen kann, was soll’s.

Elias ist auch sonst nicht wählerisch – er fängt und isst verrückt gewordene Schweine, die sich von menschlichen Leichen ernäh-ren. Am Anfang – solange man sie noch an den Fingern einer Hand abzählen konnte – begruben wir sie. Bald musste man die zweite Hand hinzunehmen, und Blasen platzen gerne und schmerzen, wenn man den Spaten zu häufig benutzt, sodass wir sie verbrann-ten. Aber in diesem Jahr trug der Tod reiche Früchte. Sie fielen wie wahnsinnig, in Straßen, in Gräben, Höfen und Gärten, sie blähten sich auf und verfaulten in der glühenden Sonne – ohne dass jemand sie gebraucht hätte. Wir überließen sie den Schweinen. Schließlich

sind wir nicht hierhergekommen, uns den Kopf über die Toten zu zerbrechen, sondern um ihn den Lebenden einzuschlagen. Alle Hände voll zu tun. Wir machen das ziemlich gut. Elias, Zizi, der Trompeter, der Doktor und ich, wir erledigen unsere Arbeit ziem-lich gewissenhaft, was in diesen traurigen Zeiten eine seltene Tu-gend ist.

Elias steht immer noch in der Tür des Schlafraums, jetzt hält er seine Stiefel in der einen Hand, und mit der anderen kratzt er sich die Brust, frp-frp, wundert sich, woher das Plastikgewehr in seinem Traum kommt, und dann beginnt er – wie jeden Morgen – zu überlegen, ob er die Stiefel sofort anziehen oder ob er mit ei-nem Sprung die Entfernung zwischen Türrahmen und Teppich überwinden, sich aufs Sofa setzen, eine Zigarette anzünden und erst dann die Aktion mit den Stiefeln in Angriff nehmen soll. Frp-frp-frp, Elias’ Fingernägel fahren immer schneller über Brust und Bauch, und da sitzt er auch schon auf dem Sofa mit einer Zigarette im Mund. Zizi stellt ihm eine Tasse Kaffee hin und sagt, es ist nicht in Ordnung, dass er sich so bedienen lässt, ein oder zweimal den Kaffee servieren, das ist noch okay, nicht der Rede wert, aber seit-dem wir hier sind, hat er noch nie Kaffee gekocht, er schläft nur und träumt lauter Scheiße, er wartet immer, bis alles fertig ist, und was zum Teufel will er eigentlich?

Elias schlürft seinen Kaffee, verzieht sein Gesicht und starrt auf die Tasse.

Ist was nicht in Ordnung?, fragt Zizi streitsüchtig.Bitte?Ist was nicht in Ordnung mit dem Kaffee?Mit dem Kaffee?Ja, dem Kaffee.Mein Gott, bist du heute schlecht drauf.Und was hättest du gerne? Schlagsahne, Schokostreusel, einen

geblasen kriegen?

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milchige Nebel über dem Moor, die glänzenden Rohre der erigier-ten Kanonen, durchfrorene Soldaten auf Wache, die blauen Blüten der Wegwarte im Hof eines Hauses im toten Dorf an der Grenze, in dem Elias im Souterrain wankend aus dem Dunkel des Schlafrau-mes auftaucht, stehen bleibt, sich am Türrahmen festhält und sagt, dass er wieder von Kurg geträumt hat.

Man hat’s gehört, antwortet Zizi.Gehört?Ja. Du hast so gebrüllt, dass ich dich fast erschossen hätte.Wirklich?Ja, du hast nach einem Gewehr gesucht oder was.Elias surft fieberhaft durch seine Träume.Stimmt, sagt er strahlend, ich hatte ihn, er stand direkt vor mir,

ich hab abgedrückt … nichts. Kurg hat nicht mal mit der Wimper gezuckt. Ich schau mir das Gewehr an – ein Plastikspielzeug. Große Scheiße, ich bin mir noch nie so bescheuert vorgekommen.

Das nervt mich am meisten an dir, sagt Zizi, dass du auf einem Schlangennest einschlafen und dann noch träumen kannst.

Man muss doch träumen, rechtfertigt sich Elias. Die Träume wachen über uns, sie halten den Tod von uns fern. Und dass man sich den Ort, an dem man träumt, oft nicht aussuchen kann, was soll’s.

Elias ist auch sonst nicht wählerisch – er fängt und isst verrückt gewordene Schweine, die sich von menschlichen Leichen ernäh-ren. Am Anfang – solange man sie noch an den Fingern einer Hand abzählen konnte – begruben wir sie. Bald musste man die zweite Hand hinzunehmen, und Blasen platzen gerne und schmerzen, wenn man den Spaten zu häufig benutzt, sodass wir sie verbrann-ten. Aber in diesem Jahr trug der Tod reiche Früchte. Sie fielen wie wahnsinnig, in Straßen, in Gräben, Höfen und Gärten, sie blähten sich auf und verfaulten in der glühenden Sonne – ohne dass jemand sie gebraucht hätte. Wir überließen sie den Schweinen. Schließlich

sind wir nicht hierhergekommen, uns den Kopf über die Toten zu zerbrechen, sondern um ihn den Lebenden einzuschlagen. Alle Hände voll zu tun. Wir machen das ziemlich gut. Elias, Zizi, der Trompeter, der Doktor und ich, wir erledigen unsere Arbeit ziem-lich gewissenhaft, was in diesen traurigen Zeiten eine seltene Tu-gend ist.

Elias steht immer noch in der Tür des Schlafraums, jetzt hält er seine Stiefel in der einen Hand, und mit der anderen kratzt er sich die Brust, frp-frp, wundert sich, woher das Plastikgewehr in seinem Traum kommt, und dann beginnt er – wie jeden Morgen – zu überlegen, ob er die Stiefel sofort anziehen oder ob er mit ei-nem Sprung die Entfernung zwischen Türrahmen und Teppich überwinden, sich aufs Sofa setzen, eine Zigarette anzünden und erst dann die Aktion mit den Stiefeln in Angriff nehmen soll. Frp-frp-frp, Elias’ Fingernägel fahren immer schneller über Brust und Bauch, und da sitzt er auch schon auf dem Sofa mit einer Zigarette im Mund. Zizi stellt ihm eine Tasse Kaffee hin und sagt, es ist nicht in Ordnung, dass er sich so bedienen lässt, ein oder zweimal den Kaffee servieren, das ist noch okay, nicht der Rede wert, aber seit-dem wir hier sind, hat er noch nie Kaffee gekocht, er schläft nur und träumt lauter Scheiße, er wartet immer, bis alles fertig ist, und was zum Teufel will er eigentlich?

Elias schlürft seinen Kaffee, verzieht sein Gesicht und starrt auf die Tasse.

Ist was nicht in Ordnung?, fragt Zizi streitsüchtig.Bitte?Ist was nicht in Ordnung mit dem Kaffee?Mit dem Kaffee?Ja, dem Kaffee.Mein Gott, bist du heute schlecht drauf.Und was hättest du gerne? Schlagsahne, Schokostreusel, einen

geblasen kriegen?

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Elias sagt nichts mehr, schlürft den Kaffee und betrachtet den glitzernden Tanz der Staubkörnchen in den Sonnenstrahlen, die sich wie Diebe durch die Ritzen zwischen den Eichenbohlen ins Zimmer geschlichen haben.

Gäbe es diese Bretter nicht, das Zimmer würde in vollem Glanz erstrahlen. Oh, was war das für ein Zimmer. Die Wände hatten wir mit Fotos von Fischreihern, Haubentauchern, Eisvögeln, Adlern, Rehen, Wildenten beklebt, alles aus dem Kalender eines Jagdver-eins, wir hatten Sessel, einen Tisch und eine Kommode hinein-geschleppt, in der wir unsere Konserven, abgewetzte Pornohefte, Munition und Handgranaten aufbewahrten. Von irgendwoher hat-te Elias ein Sofa organisiert, um das wir uns nach dem Mittagessen regelmäßig stritten. Jeder setzte seinen Arsch darauf, aber wenn es irgend jemand nach dem Mittagessen tat, drehte Elias durch. Ein dicker Teppich aus Gabeh-Wolle zierte die Mitte des Raums. Zizi hatte ihn aus der ersten Etage heruntergeschleppt, weil er ihn im Schlafraum ausbreiten wollte, einem Raum ohne Fenster im hin-teren Teil des Souterrains. Wir protestierten, weil wir es ungehörig fanden, einen so schönen Teppich in ein düsteres, flechtenbewach-senes Zimmer zu legen. Zizi gab nicht nach, stur wiederholte er, dass der Teppich ihm gehöre und er ihn deshalb ausbreiten kön-ne, wo immer er wolle – sogar im Hof, wenn ihm danach wäre. Er änderte seine Meinung erst, als Elias ihm eine Schachtel mit Schmerztabletten anbot; der Teppich wechselte den Besitzer und landete auf dem Boden jenes Raumes, den wir Wohnzimmer nen-nen. Schlammschichten bedecken seit Langem seine Muster, aber eine Ecke zeugt noch immer von seiner einstigen Schönheit. In den rostfarbenen Untergrund ist ein gelber, langhalsiger Vogel ein-gearbeitet. Zizi behauptet, es sei ein Paradiesvogel.

Nicht mehr lange, und die Sonnenstrahlen werden das Zim-mer verlassen, in den Hof zurückkehren und die dunkelblauen Blüten der Wegwarte beleuchten, die Grasbüschel, die Stöcke

wilder Rosen, deren betörender Duft in diesem Sommer wie ein Geist im Hof umherwanderte, sie werden den Garten mit Licht durchfluten, der von unbezähmbarem Unkraut überwuchert ist, die struppigen Distelköpfe, die die Farbe alten Silbers haben, den kaputten Holzzaun und den Stamm der silbernen Birke. Ein Windhauch wird durch die Birkenblätter ziehen, die Blätter werden sich lösen, herabfallen und dabei der Sonne ihre Bäuche zuwenden – sie werden glänzen wie Fischbäuche. Die Sonnen-strahlen werden auch den Trompeter beleuchten, der gerade aus dem ausgebrannten Transporter steigt, sich mit der Hand durch die Haare fährt und gähnt. Er schläft im Transporter, weil er den Gestank der Fäulnis nicht erträgt und weil er glaubt, dass es dort sicherer ist. Auch der verkohlte Körper des Fahrers sitzt da noch drin, aber das stört ihn nicht. Hauptsache, es ist nicht feucht.

Die Tür und die Fenster haben wir – wie ich schon sagte – mit daumendicken Eichenbohlen vernagelt, trotzdem sind die Wände und Decken übersät mit Schrapnellnarben. Kein Eckchen hier ist sicher. Die Wahrscheinlichkeit, ein Schrapnell abzubekommen, ist genauso hoch, wie im Lotto zu gewinnen, hatte der Kommandeur den Rekruten erzählt, die bei fernen Detonationen zusammen-zuckten. Das war im letzten Herbst in einer Erdhütte im Osten ge-wesen. Das Problem, hatte er hinzugefügt, besteht darin, dass hier jeden Tag eine Ziehung stattfindet, und man nie weiß, wann es los-geht. Kurz darauf hatte er einen Volltreffer abbekommen – er wur-de nach Hause zurückgebracht, nur der halbe Körper ohne Kopf.

Kurg, sagte Elias und stellte die Kaffeetasse verkehrt herum auf seinen Teller. Ich muss ihn umbringen.

Kurg ist der, der die ganze Scheiße losgetreten hat, der erste, der einen Kieselstein bearbeitet und einen Menschen umgebracht hat. Um an Beute zu kommen, glaubt Elias. Er klammert sich an Kurg, um nicht verrückt zu werden. Genauer gesagt, er ist überzeugt da-von, dass jeder feindliche Soldat, den er tötet, ihn um einige Jahre

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Elias sagt nichts mehr, schlürft den Kaffee und betrachtet den glitzernden Tanz der Staubkörnchen in den Sonnenstrahlen, die sich wie Diebe durch die Ritzen zwischen den Eichenbohlen ins Zimmer geschlichen haben.

Gäbe es diese Bretter nicht, das Zimmer würde in vollem Glanz erstrahlen. Oh, was war das für ein Zimmer. Die Wände hatten wir mit Fotos von Fischreihern, Haubentauchern, Eisvögeln, Adlern, Rehen, Wildenten beklebt, alles aus dem Kalender eines Jagdver-eins, wir hatten Sessel, einen Tisch und eine Kommode hinein-geschleppt, in der wir unsere Konserven, abgewetzte Pornohefte, Munition und Handgranaten aufbewahrten. Von irgendwoher hat-te Elias ein Sofa organisiert, um das wir uns nach dem Mittagessen regelmäßig stritten. Jeder setzte seinen Arsch darauf, aber wenn es irgend jemand nach dem Mittagessen tat, drehte Elias durch. Ein dicker Teppich aus Gabeh-Wolle zierte die Mitte des Raums. Zizi hatte ihn aus der ersten Etage heruntergeschleppt, weil er ihn im Schlafraum ausbreiten wollte, einem Raum ohne Fenster im hin-teren Teil des Souterrains. Wir protestierten, weil wir es ungehörig fanden, einen so schönen Teppich in ein düsteres, flechtenbewach-senes Zimmer zu legen. Zizi gab nicht nach, stur wiederholte er, dass der Teppich ihm gehöre und er ihn deshalb ausbreiten kön-ne, wo immer er wolle – sogar im Hof, wenn ihm danach wäre. Er änderte seine Meinung erst, als Elias ihm eine Schachtel mit Schmerztabletten anbot; der Teppich wechselte den Besitzer und landete auf dem Boden jenes Raumes, den wir Wohnzimmer nen-nen. Schlammschichten bedecken seit Langem seine Muster, aber eine Ecke zeugt noch immer von seiner einstigen Schönheit. In den rostfarbenen Untergrund ist ein gelber, langhalsiger Vogel ein-gearbeitet. Zizi behauptet, es sei ein Paradiesvogel.

Nicht mehr lange, und die Sonnenstrahlen werden das Zim-mer verlassen, in den Hof zurückkehren und die dunkelblauen Blüten der Wegwarte beleuchten, die Grasbüschel, die Stöcke

wilder Rosen, deren betörender Duft in diesem Sommer wie ein Geist im Hof umherwanderte, sie werden den Garten mit Licht durchfluten, der von unbezähmbarem Unkraut überwuchert ist, die struppigen Distelköpfe, die die Farbe alten Silbers haben, den kaputten Holzzaun und den Stamm der silbernen Birke. Ein Windhauch wird durch die Birkenblätter ziehen, die Blätter werden sich lösen, herabfallen und dabei der Sonne ihre Bäuche zuwenden – sie werden glänzen wie Fischbäuche. Die Sonnen-strahlen werden auch den Trompeter beleuchten, der gerade aus dem ausgebrannten Transporter steigt, sich mit der Hand durch die Haare fährt und gähnt. Er schläft im Transporter, weil er den Gestank der Fäulnis nicht erträgt und weil er glaubt, dass es dort sicherer ist. Auch der verkohlte Körper des Fahrers sitzt da noch drin, aber das stört ihn nicht. Hauptsache, es ist nicht feucht.

Die Tür und die Fenster haben wir – wie ich schon sagte – mit daumendicken Eichenbohlen vernagelt, trotzdem sind die Wände und Decken übersät mit Schrapnellnarben. Kein Eckchen hier ist sicher. Die Wahrscheinlichkeit, ein Schrapnell abzubekommen, ist genauso hoch, wie im Lotto zu gewinnen, hatte der Kommandeur den Rekruten erzählt, die bei fernen Detonationen zusammen-zuckten. Das war im letzten Herbst in einer Erdhütte im Osten ge-wesen. Das Problem, hatte er hinzugefügt, besteht darin, dass hier jeden Tag eine Ziehung stattfindet, und man nie weiß, wann es los-geht. Kurz darauf hatte er einen Volltreffer abbekommen – er wur-de nach Hause zurückgebracht, nur der halbe Körper ohne Kopf.

Kurg, sagte Elias und stellte die Kaffeetasse verkehrt herum auf seinen Teller. Ich muss ihn umbringen.

Kurg ist der, der die ganze Scheiße losgetreten hat, der erste, der einen Kieselstein bearbeitet und einen Menschen umgebracht hat. Um an Beute zu kommen, glaubt Elias. Er klammert sich an Kurg, um nicht verrückt zu werden. Genauer gesagt, er ist überzeugt da-von, dass jeder feindliche Soldat, den er tötet, ihn um einige Jahre

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zurückwerfen kann und dass er nur so, eben tötend, den Weg bis zur Quelle des Bösen, bis zu Kurg wird finden können.

Kurgs Bastarde kümmern sich überhaupt nicht um Elias’ Ab-sichten, sie pfeifen drauf. Sie hocken hinter schweren, geschnitzten Mahagonitischen, in feinen Zwirn gehüllt, auch Seidenkrawatten fehlen nicht, Rolexuhren, gepanzerte Autos … Und was tun sie? Sie raffen. Einer mehr als der andere. Sie sind nur darauf bedacht, die Leichen auszuplündern, dir ihre Hand in die Tasche zu schie-ben. Sie packen dich mit der einen Hand an den Eiern und mit der anderen wühlen sie – daher dieser Schrei, der durch das Univer-sum hallt.

Auch ihre eigene Scheiße verwandeln sie in Knete, behauptet Elias. Meister der Alchimie. Sie würden auch aus meinem Sack was Lukratives machen, vielleicht ein Diamantensäckchen.

So wie’s aussieht, werden in seinen Hoden also bald die Diaman-ten von irgendwem herumkullern. Seit gestern sind wir von der Trup-pe abgeschnitten, seit gestern sind wir die Herren des toten Dorfes an der Grenze. Das Dorf hatte einst mal einen Namen, aber an den erinnert sich keiner mehr. Wir sind die Herren von plattgemachten Häusern, angekohlten Dachbalken, von Gardinen, die aus Fenster-höhlen hängen und im Wind wehen, von höllischen Spinnweben, die aus den Raketenflugbahnen gewoben sind, von verkrüppelten Bäumen, Gärten und Obstplantagen, die von unbezähmbarem Un-kraut überwuchert sind, von Stöcken wilder Rosen, deren Duft uns nächtelang betört hat, von eingerissenen Holzzäunen, zertrampelten Blumenbeeten, von Blättern silberner Birken, die sich losreißen im Wind und im Fall der Sonne ihre Bäuche zudrehen, von einem zer-sprungenen Spiegel im ersten Stock … aus dem man wunderbar die Zukunft lesen kann.

Der Doktor machte sich um die Zukunft keine großen Sorgen, das heißt um die Tatsache, dass die von der anderen Seite uns je-den Moment erschießen konnten.

Genau genommen wär das gar nicht mal so schlimm, pflegte er zu sagen. Früher oder später passiert uns das sowieso, früher oder später wird jemand unser Schicksal sonstwie besiegeln, und des-halb sollte man das Ganze besser sofort zu Ende bringen, und zwar ein für alle mal.

Die anderen teilten sein Weltbild nicht. Und so kam es – am Mittag, als sich die Stille über das tote Dorf, die staubigen Höfe und die dunkelblauen Blüten der Wegwarte legte – zu dieser Art von Gespräch:

Die Welt, meinte Zizi, ist vielleicht nicht der beste Ort für das Leben, aber ich habe noch nichts gesehen, wofür es sich lohnen würde zu sterben. Eins ist sicher, wir werden tot sein, ehe wir einen Grund zum Sterben gefunden haben, denn so wie’s aussieht, haben die da drüben schon einen Grund gefunden, uns zu töten, sodass wir uns darüber nicht mehr den Kopf zerbrechen müssen.

Auch Elias sah die Sache philosophisch.Das Problem, behauptete er, sind nicht die da drüben und ihre

Gründe, sondern es ist die Zeit. Wir können ’ne Menge tun, wir können sogar Kurg töten, aber die Zeit können wir nicht besiegen. Unsere Garantie läuft ab, ich weiß zwar nicht, wie lange genau sie geht, aber es ist völlig klar, dass sie sich mit jedem Tag verkürzt. Am Ende brauchst du keinen Grund zum Sterben, wenn du ein Gewehr hast. Oder nicht?

Ich liebe das Leben so sehr, dass ich lieber sterben würde, als ihm abzuschwören, zitierte der Trompeter einen Schriftsteller, von dem keiner je gehört hatte. In jedem Fall, schloss er, hab’ ich Ster-bensangst vor einem Tod beim Scheißen.

Diese Angst hatten wir alle. Keiner wollte auf dem Klo krepieren. Welcher normale Mensch würde das schon wollen? Wir kannten ei-nige Pechvögel, die so draufgegangen waren. Sie hatten die Erdhütte verlassen, und hinter ihnen war ein nicht beendeter Satz zurückge-blieben, heißer Kaffee im olivgrünen Deckel des Henkelmanns oder

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ISBN 978-3-939424-51-3EUR 19,86 (D)