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Zum Aufkommen des Demokratie-Begriffs Eine Nachlese Von Christian Meier Wann kam der Begriff Demokratie auf? Seit wann ist es unter den Grie- chen überhaupt möglich, politische Ordnungen nach dem Kriterium der Herrschaft zu unterscheiden, genau gesagt: unter der Frage, ob dort einer, wenige oder viele respektive alle herrschen? Von diesen Problemen bin ich in meinen begriffsgeschichtlichen Studien Mitte der 1960er Jahre ausgegangen. 1 Sie führten mich rasch dazu, nach den vorangegangenen Weisen des Bezeichnens und Begreifens politischer Ordnungen zu fragen. Daß die herkömmliche, schon bei Aristoteles an- zutreffende 2 Weise, eine Abfolge von der Monarchie über die Oligarchie zur Demokratie (eventuell mit den Zwischenstufen Aristokratie und Ty- rannie) zu konstruieren, ein späteres Merkmal - nämlich die Bestimmung der Verfassung von der Zahl der Herrschaftsinhaber her - falschlich auf die frühere Zeit übertrug, daß damals also Herrschaft nur ein Faktor unter anderen und nicht unbedingt der wichtigste fur die Verfassung sein konn- te, schien sich mir rasch zu erweisen. Eben damit war klar, wie wenig 1 Christian Meier, Drei Bemerkungen zur Vor- und Frühgeschichte des Begriffs Demo- kratie, in: Marc Sieber (Hg.), Discordia Concors. Festschrift für Edgar Bonjour zu sei- nem siebzigsten Geburtstag am 21. August 1968, Bd. 1 : Allgemeine Geschichte, Basel u. a. 1968, 3-29 (wieder abgedruckt in: Konrad H. Kinzl [Hg.], Demokratia. Der Weg zur De- mokratie bei den Griechen, Darmstadt 1995, 125-159); Christian Meier, Die Entstehung des Begriffs Demokratie, in: ders., Entstehung des Begriffs Demokratie. Vier Prolegomena zu einer historischen Theorie, Frankfurt a. M. 1970, 7-69 (= ders., Die Entstehung des Be- griffs „Demokratie", Politische Vierteljahrsschrift 10, 1969, 535-575); ders., Demokratie I. Einleitung. Antike Grundlagen, Geschichtliche Grundbegriffe 1, 1972, 821-835. Dazu: ders., Der Wandel der politisch-sozialen Begriffswelt im fünften Jahrhundert v.Chr., in: ders., Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt a.M. 1980, 275-326 (auch in: ABG 21, 1977, 7-41; auch in: Reinhart Koselleck (Hg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart 1978,193-227). 2 Aristot. pol. 1286 b 8 ff.; 1297 b 16 ff. Dazu: Victor Ehrenberg, Der Staat der Griechen, Zürich u.a. 2 1965, 58; Peter Spahn, Mittelschicht und Polisbildung, Frankfurt a.M. u.a. 1977, 15 ff. Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/7/14 9:22 AM

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Zum Aufkommen des Demokratie-Begriffs

Eine Nachlese

Von

Christian Meier

Wann kam der Begriff Demokratie auf? Seit wann ist es unter den Grie-chen überhaupt möglich, politische Ordnungen nach dem Kriterium der Herrschaft zu unterscheiden, genau gesagt: unter der Frage, ob dort einer, wenige oder viele respektive alle herrschen?

Von diesen Problemen bin ich in meinen begriffsgeschichtlichen Studien Mitte der 1960er Jahre ausgegangen.1 Sie führten mich rasch dazu, nach den vorangegangenen Weisen des Bezeichnens und Begreifens politischer Ordnungen zu fragen. Daß die herkömmliche, schon bei Aristoteles an-zutreffende2 Weise, eine Abfolge von der Monarchie über die Oligarchie zur Demokratie (eventuell mit den Zwischenstufen Aristokratie und Ty-rannie) zu konstruieren, ein späteres Merkmal - nämlich die Bestimmung der Verfassung von der Zahl der Herrschaftsinhaber her - falschlich auf die frühere Zeit übertrug, daß damals also Herrschaft nur ein Faktor unter anderen und nicht unbedingt der wichtigste fur die Verfassung sein konn-te, schien sich mir rasch zu erweisen. Eben damit war klar, wie wenig

1 Christian Meier, Drei Bemerkungen zur Vor- und Frühgeschichte des Begriffs Demo-kratie, in: Marc Sieber (Hg.), Discordia Concors. Festschrift für Edgar Bonjour zu sei-nem siebzigsten Geburtstag am 21. August 1968, Bd. 1 : Allgemeine Geschichte, Basel u. a. 1968, 3-29 (wieder abgedruckt in: Konrad H. Kinzl [Hg.], Demokratia. Der Weg zur De-mokratie bei den Griechen, Darmstadt 1995, 125-159); Christian Meier, Die Entstehung des Begriffs Demokratie, in: ders., Entstehung des Begriffs Demokratie. Vier Prolegomena zu einer historischen Theorie, Frankfurt a. M. 1970, 7-69 (= ders., Die Entstehung des Be-griffs „Demokratie", Politische Vierteljahrsschrift 10, 1969, 535-575); ders., Demokratie I. Einleitung. Antike Grundlagen, Geschichtliche Grundbegriffe 1, 1972, 821-835. Dazu: ders., Der Wandel der politisch-sozialen Begriffswelt im fünften Jahrhundert v.Chr., in: ders., Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt a.M. 1980, 275-326 (auch in: ABG 21, 1977, 7-41; auch in: Reinhart Koselleck (Hg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart 1978,193-227). 2 Aristot. pol. 1286 b 8 ff.; 1297 b 16 ff. Dazu: Victor Ehrenberg, Der Staat der Griechen, Zürich u.a. 21965, 58; Peter Spahn, Mittelschicht und Polisbildung, Frankfurt a.M. u.a. 1977, 15 ff.

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selbstverständlich die Prägung etwa des Oligarchie- und des Demokratie-Begriffs war. Doch schienen sie mir, als sie einmal da waren, das Feld zu beherrschen (auch wenn nachträglich andere Begreifensweisen zumal in der Theorie hinzukamen, etwa Basileia-Dynasteia-Politeia). Vermutlich ist damit die Schwierigkeit (und Allmählichkeit) speziell des Begreifens von Demokratie und die Problematik des Begriffs zu gering veranschlagt. Was zugleich einige weitere Konsequenzen hat. Im folgenden möchte ich, eingebettet in einen kurzen, stellenweise frühere Annahmen korrigieren-den, begriffsgeschichtlichen Überblick eine Nachlese unternehmen, um weitere Beobachtungen und Fragen zur Sache vorzubringen.

I.

Der Begriff Demokratie ist in unseren Quellen nicht vor dem letzten Drit-tel des fünften Jahrhunderts (genauer: vor etwa 430/425) bezeugt.3 Doch spricht einige Wahrscheinlichkeit dafür, daß er schon in den 60er Jahren des fünften Jahrhunderts geprägt wurde.

Um 470, spätestens jedenfalls in der ersten Hälfte der 60er Jahre hat Pindar seine zweite Pythie gedichtet, in der drei Nomoi nebeneinander erscheinen: έν πάντα δε νόμον ... παρά τυραννίδι, χώπόταν ό λάβρος στρατός, χώταν πάλιν οί σοφοί τηρέωντι (86 ff.) Jochen Bleicken mein-te, hier handele es sich nur um die „verschiedenen traditionellen (gege-benen) Möglichkeiten (νόμος) des machtpolitischen Übergewichts dieser oder jener Gruppe innerhalb ein und derselben Stadt" (wenn diese Worte nicht überhaupt nur „die rivalisierenden Kräfte der Stadt registrieren" sollten).4 Daran ist gewiß richtig, daß hier nicht von verschiedenen Städ-ten (also etwa, wo das ungestüme Heer oder wo die Weisen herrschen), sondern von potentiellen Wandlungen innerhalb ein und derselben Stadt die Rede ist. Im Falle der „Volks5-Herrschaft" müßten also gewisse Krei-se, gestützt auf die Volksversammlung, die Politik bestimmt (und sich Vorteile verschafft) haben, ganz ähnlich wie etwa Theognis das einige

3 Hdt. 6,43,3; 6,131,1; vgl. 4,137,2. Xen. Ath. pol. 1,4f.; 1,8; 2,20; 3,1; 3,8 f.; 3,12. Ari-stoph. Ach. 618; vgl. 642. Dazu das zwar später niedergeschriebene, aber doch wohl schon für 429 gültige Zeugnis des Thuk. 2,37,1. Zum Kolophon-Dekret (IG I3 37) Meier, Drei Bemerkungen (wie Anm. 1) 127, Anm. 3. 4 Jochen Bleicken, Zur Entstehung der Verfassungstypologie im 5. Jahrhundert v.Chr. (Monarchie, Aristokratie, Demokratie), Historia 28,1979, 148-172, 150. 5 Griechisch στρατός. Dazu Detlef Lotze, Zum Begriff der Demokratie in Aischylos' ,Hi-ketiden', in: ders., Bürger und Unfreie im vorhellenistischen Griechenland. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. v. Walter Ameling u. Klaus Zimmermann, Stuttgart 2000, 207-218, 210.

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Jahrzehnte zuvor schildert (Thgn. 45 f.; 53 ff.; 675 ff.)6· An eine, und sei es kurzfristige, Verstetigung solcher Herrschaft durch Institutionalisierung wäre dann kaum zu denken.

Auffallig bliebe jedoch Pindars Gebrauch von νόμος in diesem Zu-sammenhang. Das Wort bezeichnet bei ihm zwar in aller Regel „Brauch, Sitte", und die sind als herkömmlich (oder göttlich) gegeben gedacht. Wenn hier aber nun, wie die Formulierung έν πάντα δέ νόμον zeigt, drei Nomoi unterschieden werden, so ist es in einer weiteren Bedeutung zu verstehen, nämlich im Sinne von „Ordnung". Daher ist anzunehmen, daß Pindar mit mehr als verschiedenen Möglichkeiten machtpolitischen Über-gewichts rechnet, also drei verschiedene Formen von Herrschaft (πόλιν τη ρέω, „der Stadt walten") voneinander abhebt. Folglich begegnet uns hier erstmals die Beobachtung, daß nicht nur Tyrann oder Adel, sondern auch „das Volk" herrschen, ja seine Herrschaft in einer entsprechenden Ordnung begründen kann.

Ein „spezifisches Verfassungsdenken" (Bleicken) muß man bei Pindar deswegen nicht voraussetzen. Es ist die Frage, wie (und wie weit) damals die Polisordnungen überhaupt schon verstanden oder gar „begriffen" und nach Typen unterschieden worden sind; wie weit die Herrschaftsverhält-nisse schon als zentrales Merkmal der „Verfassung" der Stadt angese-hen werden konnten. Unterschiede in der Ordnung wird es zwischen den verschiedenen Städten genug gegeben haben; vermutlich einen ganzen Fächer von Möglichkeiten. Speziell bei der Macht des Volkes lag der Fall schwierig. Denn Volksversammlungen muß es auch in vielen Adelsherr-schaften gegeben haben, und nirgends konnten sie allein „herrschen". Was alles hing da davon ab, wie man die Akzente zwischen dem einen und dem andern verteilte; wie viel Raum blieb da fiir höchst subjektive, auch situationsbedingte Einschätzungen!

Zwischen 465 und 460 (zumeist vermutet man das Datum 463)7 sodann findet sich die Herrschaft des Volkes in zwei Sätzen in Aischylos' Hike-tiden bezeugt. Dieses Stück bietet in unserm Zusammenhang eine ganze Reihe von Problemen. Darauf wird gleich zurückzukommen sein. Doch eines ist jedenfalls unverkennbar: Es war Aischylos in auffalliger Weise

6 Dort auch schon das Problem des Sich-Verhaltens in einer politischen Ordnung, etwa Thgn. 53 ff. 7 Richard Kannicht, Bruno Snell (Hg.), Tragicorum Graecorum Fragmenta, Bd. 1 : Didas-caliae tragicae. Catalogi tragicorum et tragoediarum. Testimonia et fragmenta tragicorum minorum, Göttingen 1986, 44. Das Jahr 459 scheidet jedoch mit ziemlicher Sicherheit aus, da Aischylos da mit den Vorbereitungen der Orestie beschäftigt war. Zum vermuteten Datum von 463: Albin Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen, Göttingen31972, 79 f.

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wichtig, für das frühe Argos, wo die Handlung spielt, vornehmlich aber für das gegenwärtige Athen, wo sie aufgeführt wurde, herauszustreichen, daß das Volk herrscht. Wenn der Chor fragen will, wie eine Abstimmung der Volksversammlung ausgefallen ist, verbindet er das - an sich unnöti-gerweise - mit der Feststellung, daß diese Versammlung „herrscht"; man könnte freilich auch8 übersetzen „den Ausschlag gibt": δήμου κρατούσα χειρ οπτ| πληθύνεται (604). Vor allem spricht er im folgenden vom „Da-mion", das die Stadt beherrsche: το δάμιον, το πτόλιν κρατύνει, προμαθίς εύκοινόμητις άρχά (699 f.). Man kann sich fragen, was mit το δάμιον und mit άρχά gemeint ist und wie sich das eine auf das andere bezieht, um von allem weiteren abzusehen. Aber daß hier (wie sonst im Stück) dem κρατείν respektive dem κράτος viel Aufmerksamkeit gewidmet ist und daß das κρατείν stolz, also mit durchaus positivem Akzent, dem Volk zugesprochen wird, ist deutlich.

Wenn aber Pindar und Aischylos nur bezeugen, daß man sich um diese Zeit der „Volks-Herrschaft" als solcher bewußt geworden war, so gibt es ein weiteres Argument dafür, daß auch der Begriff Demokratie schon aufgekommen war. Damals nämlich sind, wie wir wissen, zwei Männer geboren worden, die den Namen Demokrates erhielten.9 Anders als etwa „Aristokrates" (das schon für den Anfang des Jahrhunderts, lange vor Aufkommen des Begriffs Aristokratie belegt ist) kann der Eigenname De-mokrates kaum direkt aus seinen beiden Bestandteilen gebildet worden sein; oder hätten die Kinder „volksbeherrschend" sein sollen? Der Name scheint also den Begriff Demokratie vorauszusetzen, womit freilich we-der über dessen Bedeutung noch gar darüber etwas ausgesagt wäre, daß dieser Begriff damals schon ein Monopol beim Begreifen einer neuen respektive neuverstandenen politischen Ordnung gehabt hätte.

II.

Die Erkenntnis, daß auch das Volk „herrschen" kann, war zugleich die Voraussetzung dafür, daß man die Adelsherrschaft als „Oligarchie" be-greifen konnte. Denn erst, wenn viele oder alle herrschen können, kann

8 In dieser Bedeutung ist das Wort κράτος in der spartanischen Rhetra bezeugt (δήμου ôè πλήθει νίκην και κάρτος επεσθαι, Tyrtaios 3a 9 D.). ' Mogens Herman Hansen, The Origin of the Term „democratia", LCM 2, 1986, 35 f.; zusätzlich Kurt A. Raaflaub, Einleitung und Bilanz. Kleisthenes, Ephialtes und die Begrün-dung der Demokratie, in: Kinzl, Demokratia (wie Anm. 1) 1-54, 46ff.; vgl. Meier, Drei Bemerkungen (wie Anm. 1) 159.

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auffallen, daß es in andern Ordnungen nur wenige sind. Homer be-zeichnet die Herrschaft etwa gleich großer Kreise - von der Monarchie aus - noch als πολυκοιρανία, was ganz buchstäblich als die Vielheit von Herren (κοίρανοι) zu verstehen ist.10 So ist zwar, wie Albert Debrunner" bemerkt, die Oligarchie älter als die Demokratie, doch müssen die Begrif-fe nicht in gleicher Reihenfolge aufgekommen sein. 'Ολιγαρχία ist nicht vor etwa 430 bezeugt.

Auffallig ist allerdings, daß das Wort Oligarchie an das voraufgehende ,Monarchie" anschließt, nicht an Demokratie, welches Ausgangspunkt ist für eine lange Reihe weiterer Verfassungsbegriffe wie etwa Aristo-kratie, Timokratie, Theatrokratie, Ochlokratie. Aber mit Oligarchie wird nicht nur eine politische Ordnung, sondern zugleich die herrschende Gruppe bezeichnet, wie etwa in der Aufzählung bei Herodot 3,82,1: δήμος, ολιγαρχία, μόναρχος. Dies letztere könnte im Anschluß an älte-re Bezeichnungen für Herrschaftsverteilungen innerhalb des Adels12 die ursprüngliche Bedeutung gewesen sein. Zudem ist die Art der Herrschaft unterschiedlich: Während die ολίγοι sowohl die Stadt beherrschen wie die führenden Positionen besetzen (αρχειν), kann der Demos zunächst nur jenes, nicht dieses. Und es gibt, wie Debrunner gezeigt hat, andere Gründe, aus denen sich ein Wort wie *Demarchia ausschloß.13 Umgekehrt mag aus den dargelegten Gründen das gleiche von *01igokratia gelten.

III.

Alle Termini, mit denen in früherer Zeit, also vor 500, die Herrschafts-verteilung in einer Stadt bezeichnet wurde (polykoiranie, tyrannis, mon-archia), beziehen sich ausschließlich auf die Herrschaftsverteilung selbst. Nichts spricht dafür, daß man gemeint hätte, von dort her sei auch die „Verfassung", also ganz allgemein gesagt: der Zustand der Polis, be-stimmt gewesen. Interessant ist ja auch, daß für die Herrschaft des Adels aus der damaligen Zeit kein eigener Begriff bezeugt ist; vermutlich ist das kein Zufall der Überlieferung.

10 Horn. II. 2,204. DazuAristot. pol. 1292a 13. " Albert Debrunner, Δημοκρατία, in: Festschrift fur Edouard Tièche zum 70. Geburts-tag am 21. März 1947, Bern 1947, 11-24 (wieder abgedruckt in: Kinzl, Demokratia (wie Anm. 1) 55-69, 62 ff.) Falsch: Meier, Drei Bemerkungen (wie Anm. 1) 24 (151). Das Feh-len von „Demokratie" im Verfassungsdialog besagt in diesem Zusammenhang nichts, da der Begriff seit den 460er Jahren da ist. 12 Meier, Drei Bemerkungen (wie Anm. 1 ) 9 ( 132 f.). 13 Debrunner, Δημοκρατία (wie Anm. 11) 65.

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Als Begriff für die „Verfassung" einer Stadt begegnet im sechsten Jahr-hundert vielmehr nur Eunomie (sowie deren Gegenteil Dysnomie), woran später der jüngere Begriff Isonomie anschloß (bevor es zu den Unter-scheidungen nach dem Kriterium der Herrschaft kam, die es schließlich ermöglichten, in einem genaueren Sinne Verfassungen zu begreifen, zu unterscheiden und zu typologisieren).

Angesichts dieses Tatbestands schien es mir gut, eine „nomistische" von einer „kratistischen" Phase des Verfassungsbegreifens zu unterschei-den.14 Die nomistische wäre dadurch ausgezeichnet, daß man damals vor allem nach der Weise fragte, in der in einer Stadt der eine vorgegebene Nomos verwirklicht war, sei es gut, sei es schlecht, so daß man es mit Eunomie oder Dysnomie zu tun hatte. Beide Begriffe mußten den gesam-ten Zustand der Stadt im Auge haben, wie man es bei Solon auch greifen kann. Dazu gehörte die Organisation der Herrschaft (oder Führung) eben-so wie die Art, in der sie - mehr oder weniger willkürlich, eigensüchtig oder auch rechtschaffen etc. - ausgeübt wurde, ferner die wirtschaftliche Lage, Eigentums- und Vermögensverhältnisse, Ausbeutung und Verschul-dung der Bauern sowie Moral, Rechtsprechung und der Respekt vor den Göttern. Die Unterscheidung zwischen Tyrannis und Adelsoligarchie da-gegen war zwar für die Konkurrenten um die Herrschaft von Bedeutung, fur weitere Kreise aber zählte zunächst viel weniger die Verteilung der Herrschaftsfunktionen als die Art der Herrschaftsausübung, welche näm-lich in beiden Fällen sowohl gut wie recht schlecht sein konnte. Freilich wissen wir, daß die Tyrannis seit Solon aus grundsätzlichen Erwägungen fur illegitim gehalten werden konnte. Und vermutlich hat der Adel seine Herrschaft als Teil der Eunomie angesehen, so daß es dafür keinen beson-deren Begriff brauchte.

Erst später, als sich die wirtschaftlichen Verhältnisse konsolidiert hatten und als breitere Schichten in verschiedenen Städten große Möglichkeiten der Mitwirkung und der Kontrolle erhielten (und institutionell sicherten), konnte man beim Verständnis von Ordnungen von der wirtschaftlichen Lage absehen, und die Art der Herrschaftsausübung wurde relativ un-wichtig angesichts neuer Möglichkeiten politischer Organisation. Etwa in der Isonomie, die auf der Gleichheit der politischen Rechte aller oder doch wenigstens der meisten Bürger basierte. Seitdem kam es wesentlich darauf an, inwieweit die Bürgerschaft an der Politik teilhatte. Schließlich

14 Meier, Drei Bemerkungen (wie Anm. 1) 14 f. (140 f.); ders., Entstehung des Begriffs (wieAnm. 1) 15 ff.

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entstand die Möglichkeit der Unterscheidung von (drei) Verfassungen nach dem Kriterium der Herrschaftsverteilung.

Insofern ergaben sich mit dem politischen Aufstieg breiterer Schichten ganz neue Möglichkeiten von Verfassung, Möglichkeiten aber auch des Begreifens politischer Ordnung. Es kann, wie ich weiterhin annehmen möchte, sehr sinnvoll sein, eine nomistische von einer kratistischen Wei-se des Verfassungsverständnisses wie vor allem des Ausmaßes zu unter-scheiden, in dem Verfassungen geprägt und verändert werden konnten.

Gewiß, die enge Orientierung an einem Nomos, etwa im sechsten Jahr-hundert, Schloß nicht aus, daß gewisse Spielräume entdeckt und genutzt wurden (etwa von den καταρτιστήρες, den Wieder-ins-Lot-Bringern), um durch Veränderung im einzelnen den rechten Zustand wiederherzu-stellen.15 Und man konnte andererseits auch die Demokratie, wie Herodot es tat, als Wahrerin gerade der νόμαια πάτρια verstehen (3,80,5). Und doch eröffnete sich ein grundlegend neuer Horizont, als man über die politische Ordnung im ganzen nach Gutdünken und Interesse verfugen konnte, frei vom vorgegebenen Nomos.

Eben dies setzte voraus, daß „Ordnung" nicht mehr im alten, umfassen-den Sinn, sondern enger verstanden wurde, grob gesagt nämlich: als Ver-hältnis zwischen den Bürgern als Bürgern, also von der Form politischer Organisation her. Erst in Folge davon - und nach einiger Zeit vermut-lich - konnte die Herrschaftsverteilung maßgebend fur die „Verfassung" werden. Und sie wurde es gleich im Sinne der äußersten Möglichkeit: Daß nämlich auch der Demos herrschen konnte, die Regierten also, Leu-te, die sich auf Politik nicht spezialisieren konnten, die auch die Vorzüge adliger Bildung nicht genossen hatten. Es ist kaum zu ermessen, welche Möglichkeiten menschlichen Entwerfens, Verfugens, Handelns eben da-mit freigesetzt wurden, auch in der Kunst und der intellektuellen Weltbe-mächtigung.16

Allein, die so diagnostizierte einschneidende Veränderung vom Nomi-stischen zum Kratistischen hat sich, wenn der Quellenbefund nicht trügt, gerade in der Verfassungsterminologie so bald nicht niedergeschlagen. Damit, daß nicht nur der Anspruch auf und die Erfahrung von Volksherr-schaft, sondern auch der Begriff Demokratie aufgekommen war, wurde, soweit wir sehen können, keineswegs gleich die Verfassungsterminolo-

15 Dazu Christian Meier, Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, Berlin 21994, 69 ff. 16 Dazu: Tonio Hölscher, Griechische Historienbilder des 5. und 4.Jahrhunderts v.Chr., Würzburg 1973, 205 ff.; ders., Die Nike der Messenier und Naupaktier in Olympia. Kunst und Geschichte im späten 5. Jahrhundert v.Chr., JDAI 89, 1974, 70-111,101; 142.

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gie auf eine neue Basis gestellt. „Demokratie" scheint vielmehr zunächst neben einen andern Begriff getreten zu sein, der den Übergang von der nomistischen zur kratistischen Phase markiert; der offenkundig der erste war, der die Mitsprache der breiten Schichten und die Forderung danach formulierte; und dem von daher (wie von seinem primären Aussagewert) lange Zeit eine besondere Dignität zukam: Isonomie. Daneben gab es weitere Bezeichnungen für das, was sich da als neue Form politischer Ordnung heranbildete.

„Demokratia" könnte also zunächst nur einen Aspekt (und eine Erfah-rung) dieser Ordnung neben andern bezeichnet haben, und die Meinun-gen darüber, also das Verständnis und der Gebrauch des Wortes, mögen weit auseinandergegangen sein.

Möglicherweise hat die Erfahrung der Volks-Herrschaft zunächst über-haupt nur im Sonderfall Athen, seit etwa den 460er Jahren, eine größere, dauernde Bedeutung gehabt17 - sofern überhaupt das Bedürfnis nach ge-nauerer typologischer Unterscheidung vorhanden war (s. u.).

Athen freilich war allen andern weit voraus. Vieles, was man dem kra-tistischen Zeitalter an neuen Möglichkeiten zuweisen kann, wurde dort zuerst entfaltet oder jedenfalls zum ersten Mal zur Geltung gebracht. Nur eben, in der Verfassungsterminologie ist eine längere Phase des Über-gangs zu beobachten, die sich über das mittlere Drittel des fünften Jahr-hunderts und vielleicht noch darüber hinaus erstreckt. Das scheint sich mir zu ergeben, wenn man die Terminologie für die neuen Ordnungen studiert, wie sie sich uns vor allem bei Herodot und älteren Quellen im Unterschied zu Thukydides darbietet.

IV.

Der Begriff Isonomie ging, wie allgemein angenommen wird, dem der Demokratie vorauf. Er bezeichnete zunächst vermutlich eine, wie man ex eventu sagen kann, Vorform von „Volksherrschaft", eine politische Ord-nung also, in der breiten Schichten stärkere Mitspracherechte eingeräumt wurden. Wann er aufkam, ist nicht auszumachen. Die ersten sicheren Zeugnisse dafür finden wir bei Herodot etwa in der Zeit um 430 oder

17 So auch Bleicken, Verfassungstypologie (wie Anm. 4) 164 f. Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library

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etwas eher.18 Freilich spricht vieles dafür, daß zwei andere Belege älter sind.

Ein Skolion, das sogenannte Harmodios-Lied, in dem die Tyrannenmör-der von 514 dafür gepriesen werden, daß sie Athen ( Αθήνας) ίσονόμους machten, könnte sehr gut noch aus den letzten Jahren des sechsten oder dem Anfang des fünften Jahrhunderts stammen.19 In die gleiche Zeit (oder um einiges später) könnte ein Fragment des Philosophen und Arztes Alk-maion von Kroton20 gehören. Dort ist davon die Rede, daß die Ausge-wogenheit zwischen Feuchtem, Trockenem, Kaltem, Warmem, Bitterem, Süßem etc. gut, das Vorwalten des je einen über das andere dagegen schlecht ist. Was ich hier als Ausgewogenheit übersetze, heißt griechisch Isonomia, mit Vorwalten ist Monarchia wiedergegeben.

Zwei verschiedene Dinge sind also in den beiden ältesten Belegen aus-gedrückt. Zum einen die Gleichheit der politischen Rechte der einzelnen Bürger, zum andern das Gleichgewicht verschiedener, ja gegensätzlicher großer Elemente. Dieses könnte etwa im sechsten und frühen fünften Jahrhundert aktuell gewesen sein. Denn wenn die politischen Denker darauf sannen, das willkürliche Regiment führender Aristokraten einzu-schränken (und eventuell Tyrannis auszuschließen), mußten sie über kurz oder lang daraufkommen, daß das nur möglich war, wenn man dem Volk, also breiteren Schichten mehr Rechte verschaffte (und Ansprüche weck-te), das heißt: wenn man sie zum Gegengewicht gegen den Adel machte.

Da das von irgendeinem Zeitpunkt an auf die Gleichheit der politischen Rechte der Bürger, genauer: auf die Möglichkeit für viele, diese Rech-te auch wirklich gleichermaßen wahrzunehmen, zielen mußte, erweisen sich die beiden Bedeutungen des frühen Gebrauchs von Isonomia als zwei Seiten einer Sache: Was von den einzelnen Bürgern her gesehen politische Gleichheit war, mochte im Blick auf das Verhältnis zwischen aristokratischer Führung und Volk als Gleichgewicht erscheinen - so lan-

18 Hdt. 3,80,6; 3,83,1; 3,142,3; 5,37,2; vgl. 6,5,1. Zur Isonomie immer noch grundlegend: Gregory Vlastos, 'Ισονομία πολιτική, in: Jürgen Mau u. a. (Hg.), Isonomia. Studien zur Gleichheitsvorstellung im griechischen Denken, Berlin 1964, 1-35. Zur Wortbildung: Pe-ter Frei, ΙΣΟΝΟΜΙΑ. Politik im Spiegel griechischer Wortbildungslehre, MH 38, 1981, 205-219. " Scolia Anonyma 10,4 D. 20 DK 24 Β 4. Dazu Charlotte Triebel-Schubert, Der Begriff der Isonomie bei Alkmaion, Klio 66, 1984, 40-50, der ich freilich nicht in jedem Punkt zu folgen vermag. Μοναρχία έκατέρου kann nach meinem Urteil nur die Alleinherrschaft je des einen von beiden be-deuten. Was dort weiterhin zur Mischung gesagt wird, hat mich nicht überzeugt. - Die Be-trachtung muß sich anschließend, man weiß wegen der Lücke nicht recht wie, ausgeweitet haben auf κράσις.

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ge wirklich „der Adel" (solonisch gesprochen, aber auch bei Theognis steht es ähnlich: die ηγεμόνες του δήμου)21 einen Gegenpol gegenüber der breiten Bürgerschaft darzustellen vermochte. Später, in den Demo-kratien, verlor sich das.

Es ist nicht auszumachen, ob das Verständnis der Isonomie im Sinne eines solchen Gleichgewichts ursprünglich war. Doch war der Begriff of-fen für eine solche Bedeutung. Daß er sie schon früh, spätestens also etwa im frühen fünften Jahrhundert annahm, ist zu vermuten. Die Problematik eines (halbwegs) gleichgewichtigen Verhältnisses zwischen verschiede-nen Teilen (μέρη) des Volkes stellte sich aber auch weiterhin, wie etwa Thukydides 6,39,1 zeigt, wo freilich statt von Isonomie von Isomoirie22

die Rede ist: φύλακας μέν άριστους είναι χρημάτων τους πλουσίους, βουλεΰσαι δ' αν βέλτιστα τους ξυνετούς, κρΐναι δ' αν άκούσαντας άρι-στα τους πολλούς, καΐ ταΰτα ομοίως καί κατά μέρη και ξύμπαντα έν δημοκρατία ίσομοιρεΐν.

Verschiedentlich ist vermutet worden, daß Isonomie ursprünglich als adliger Kampfbegriff gegen den Tyrannen aufgebracht worden ist.23 Das ist nicht auszuschließen, scheint mir aber nicht mehr wahrscheinlich zu sein. Wenn es aber so gewesen wäre, konnte jedenfalls der Anspruch auf Gleichheit relativ mühelos und unvermittelt von breiten Schichten über-nommen werden, sobald sie einmal auf entsprechende Forderungen ka-men, was in Athen spätestens zur Zeit des Kleisthenes der Fall war.24

Im Isonomie-Begriff ist erstmals, soweit wir sehen können, ein be-stimmtes Merkmal als konstitutiv für eine Form von Verfassung akzen-

21 Sol. 3,7 D; 5,7 D; Thgn. 41. 22 Dies ist übrigens der bei den Medizinern bevorzugte Begriff für das Gleichgewicht meh-rerer Elemente. Triebel-Schubert, Alkmaion (wie Anm.20) 41, Anm. 8. Zur Sache: Chri-stian Meier, Die Welt der Geschichte und die Provinz des Historikers. Drei Überlegungen, Berlin 1989, 91 if. Im Hinblick auf die im Begriff mitgedachten Gleichgewichtsvorstel-lungen, aber auch angesichts der Problematik der Gleichsetzung von Demokratie und Iso-nomie scheint es mir notwendig, die These von Vlastos in diesem Punkt zu modifizieren. 23 Dazu Meier, Drei Bemerkungen (wie Anm. 1) 10, Anm. 27 (135, Anm. 28) mit weiterer Literatur. Ferner: Pierre Lévêque, Pierre Vidal-Naquet, Clisthène l'Athénien. Essai sur la représentation de l'espace et du temps dans la pensée politique grecque de la fin du VIe

siècle à la mort de Platon, Paris 1964, 30 f.; 41; Alfred Heuß, Vom Anfang und Ende ,ar-chaischer' Politik bei den Griechen, in: Gebhard Kurz, Dietram Mueller, Walter Nicolai (Hg.), Gnomosyne. Menschliches Denken und Handeln in der frühgriechischen Literatur. Festschrift für Walter Marg zum 70. Geburtstag, München 1981, 1-29, 26 f. (wieder ab-gedruckt in: Alfred Heuß, Gesammelte Schriften in drei Bänden, Stuttgart 1995, Bd. 1, 39-67, 64 f.). 24 Christian Meier, Kleisthenes und die Institutionalisierung der bürgerlichen Gegenwär-tigkeit in Athen, in: ders., Die Entstehung des Politischen (wie Anm. 1) 91-143. Ferner: Ders., Paul Veyne, Kannten die Griechen die Demokratie? Zwei Studien, Berlin 1988,51 ff.

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Zum Aufkommen des Demokratie-Begriffs 59

tuiert worden. Der Begriff steht an der Schwelle zwischen nomistischem und kratistischem Verständnis von Polisordnung; worauf schon sein zweiter Bestandteil -nomia weist. Wir haben freilich keine Mittel, um festzustellen, ob man Isonomie als Forderung dem alten Ideal der Euno-mie entgegensetzte oder die Forderung nach Gleichheit gleichsam in das alte, hochangesehene Wort hineinprojizierte (um die Eunomia auf diese Weise zu modifizieren und - zu verwirklichen). Jedenfalls bewegt sich der Begriff doch wohl noch im Horizont des einen rechten Nomos. Indem die Gleichheit aber Konsequenzen für die Herrschaftsstrukturen nach sich ziehen konnte, weist er auf das neue Verfassungsverständnis nach dem Kriterium der Herrschaft voraus.

Und offensichtlich spiegelt sich in ihm der Anspruch, über den sich breitere Bürgerschichten eine maßgebende Rolle in der Polis erwarben. Es ging nicht - oder genauer: nicht gleich respektive nicht so bald - um Herrschaft (des Volkes an Stelle des Adels). Davon konnte zunächst ver-mutlich gar keine Rede sein. Es muß vielmehr ausgesprochen schwierig gewesen sein, sich das Volk als herrschendes vorzustellen.25 Es ging üb-rigens auch nicht um Freiheit,26 sondern eben um Gleichheit. Gleichheit nämlich der politischen Rechte, griechisch: des μετέχειν. Sie bestand vermutlich mehr oder weniger darin, daß die Volksversammlung aufge-wertet wurde, die Bürger das Gefühl hatten, respektiert zu werden und in irgendeinem nicht geringen Ausmaß auch mitsprechen konnten. In die-sen Poleis, in diesen Bürgerschaften war Teilhabe an der Politik nicht Mittel zum Zweck (um die eigenen, primär unpolitischen Interessen zu befördern), sondern der Zweck selbst. Denn was einer war, bestimmte sich von seinem Rang innerhalb der Polis, innerhalb ihrer Öffentlichkeit her.27 Diese Poleis tendierten (in unterschiedlichem Ausmaß) dazu, in ih-ren Bürgern zu bestehen, und zwar ziemlich unmittelbar. Eben in dieser -nicht nur: Auffassung, sondern - strukturellen Gegebenheit gründete die Bereitschaft dieser Bürger zum regelmäßigen Engagement in der Politik. Sie konnten sich nicht - oder jedenfalls nur im unumgehbaren Mindest-maß - vertreten lassen.28

25 Meier, Entstehung des Begriffs (wie Anm. 1) 39; ders., Wandel (wie Anm. 1) 284. 26 Heuß, Anfang (wie Anm. 23) 23 (61). 27 Meier, Veyne, Griechen (wie Anm. 24) 74 f.; 79; 82; 84; Meier, Athen (wie Anm. 15) 700: Öffentlichkeit. Ferner: Ders., Griechische Arbeitsauffassungen in archaischer und klassischer Zeit: Praxis. Ideologie. Philosophie. Weiterer Zusammenhang, in: Manfred Bierwisch (Hg.), Die Rolle der Arbeit in verschiedenen Epochen und Kulturen, Berlin 2003, 19-76, 37f., Anm. 50. 28 Dazu Aristot. pol. 1317 b 30 f f ; auch: 1299b32; 1299b38ff . ; 1323a9.

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60 Christian Meier

Welche Rolle die Partizipation bei den Griechen spielte, läßt sich gut an Aristoteles illustrieren, der es fur die Demokratie nicht nur kennzeichnend fand, daß dort der Demos im eigenen Interesse herrschte,29 sondern daß alle an der Polis teilhatten. „Gleichgültig, ob das Regieren (αρχειν) etwas Gutes oder etwas Schlechtes ist, wenn alle Bürger von Natur gleich sind, ist es gerecht, daß alle daran teilhaben" (pol. 1260 a 39). Gleichheit mußte sich nicht nur in Möglichkeiten, sondern in der Wirklichkeit der Teilhabe manifestieren. Entsprechend hat Aristoteles auch Freiheit (als sie endlich zu den Merkmalen der Demokratie gehörte) im Wechsel von αρχειν und αρχεσθαι (wohl am besten mit: regieren und regiert werden wiederzuge-ben; ebd., 1317 b 2) realisiert gesehen. Doch dies nur nebenbei. Mit solch einem weitgetriebenen Wechsel, überhaupt einer so breiten Teilhabe am Regieren, ist für die frühen Zeiten der Isonomie bis in die 450er Jahre (in Athen) und sonst zumeist wohl auch darüber hinaus kaum zu rechnen.

Wie sich der in Isonomie enthaltene Gleichheitsanspruch in den An-fangszeiten (also im späten sechsten und frühen fünften Jahrhundert, weit vor den Verhältnissen, von denen Aristoteles ausgeht) mit den Ansprü-chen der Adligen vertrug, ist schwer auszumachen. Manch einer von ih-nen mag sich dadurch um Vorrechte geprellt gesehen haben. Doch blieben ihnen zunächst die Ämter (deren Bekleidung Abkömmlichkeit voraus-setzte), und es erschlossen sich gerade den Ehrgeizigen unter ihnen in der Zusammenarbeit mit der Volksversammlung neue Möglichkeiten. Ein Gegensatz zwischen „dem Adel" und „dem Volk" war mit den Isonomien keineswegs notwendig gegeben.

Wenn wir den Begriff Isonomie speziell für Vorstufen der Demokratie gebrauchen, so meinen wir ein Stadium der Verfassungsgeschichte, in dem man noch nicht von Volksherrschaft sprach und sprechen konnte, weil es zunächst nur um Gleichheit ging und bestimmte Ansprüche, die zur Demokratie gehörten, noch nicht erhoben wurden. Denn wenn aus dem Anspruch auf Gleichheit der auf Herrschaft werden oder auch: wenn sich (ob nun affirmativ oder kritisch) statt bloß der Gleichheit eine Herrschaft des Volkes feststellen lassen sollte, so mußte dies vor allem im Willen oder in der Erfahrung der breiten Bürgerschaft zum Ausdruck kommen: daß man nicht nur, eventuell gelegentlich, mitsprach, sondern die Politik, und zwar regelmäßig, mitbestimmte; etwa indem man nach vorangegan-genem Meinungsstreit wirklich und nicht zu selten freie Entscheidungen über weite Teile der Politik traf. Und auch: daß man bei der Besetzung

29 Aristot. pol. 1279 b 8; 1284 b 5 ff.; Meier, Demokratie. Antike Grundlagen (wie Anm. 1) 832.

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Zum Aufkommen des Demokratie-Begriffs 61

der Ämter nicht nur unter adligen Kandidaten (und je nach deren Einfluß) wählte, sondern auch Angehörige anderer Schichten bedachte (eventuell gleich losen ließ) und die Amtsführung kontrollierte. Viele institutionel-le Veränderungen waren dazu vielleicht gar nicht notwendig. Es mochte mehr um die Nutzung schon vorhandener institutioneller Möglichkeiten gehen, darum, daß man sich einer Rolle bewußt wurde, die man schon zu proben begonnen hatte.

Weil dem so war, konnte im Blick auf deren Institutionen der Demo-kratiebegriff, nachdem er einmal da war, nachträglich auf die frühen „Iso-nomien" angewandt werden (wie umgekehrt Demokratien gerne den Be-griff Isonomie für sich in Anspruch nahmen, in welchem eben Gleichheit, aber nicht Herrschaft [im eigenen Interesse] anklang). Ein Gegensatz zum Adel mußte dazu nicht imbedingt vorausgesetzt werden.

In Athen freilich lagen die Dinge ganz anders. Dort hat das Volk nicht nur direkt (in der Versammlung) oder indirekt (durch Rat und Volksgerichte) mitgewirkt, etwa Gesetze beschlossen; es hat vielmehr die Gesamtrich-tung der Politik bestimmt und bis ins Detail hinein die einzelnen politi-schen Entscheidungen gefallt, die Beamten, wenn sie nicht erlost wurden, gewählt, die Tauglichkeit der Amtsträger überprüft und schließlich deren Rechenschaft entgegengenommen.30 Dazu bedurfte es einschneidender Änderungen, angefangen bei der Entmachtung des Areopags.

V.

Neben dem Begriff Isonomia begegnet bei Herodot (5,92 a) ein anderer, dessen erster Bestandteil ebenfalls auf Gleichheit zielt: Isokratie. Er fin-det sich nur einmal, um dort eine Art von Ordnung zu bezeichnen, die den Gegensatz zur Tyrannis bildet. Mit diesem Begriff scheint man ei-nen Schritt weiter zu sein. Man beurteilt Ordnungen danach, wie dort das κράτος respektive das κρατεϊν verteilt ist, nämlich offenbar gleich an alle. Denn es ist doch wohl nicht an irgendein Gleichgewicht zwi-schen μέρη gedacht. Zu vergleichen wäre etwa eine Formulierung, die Euripides später, in anderm begrifflichen Horizont, für die Macht in der Demokratie gebraucht: δεδήμευται κράτος: die Macht ist „vervolklicht", also im Demos verteilt.31

30 Raaflaub, Einleitung (wie Anm. 9) 18. 31 Eur. Cycl. 119.

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Dieser Begriff ist dadurch besonders interessant, daß er die Teilhabe der Bürger am Gemeinwesen als Teilhabe an der Machtausübung in ihm versteht. Er bewegt sich offenkundig in dem durch die Erkenntnis der Herrschaft des Volkes neu erschlossenen Horizont eines kratistischen Ver-ständnisses der Ordnung der Stadt - ohne freilich die Inhaber der Macht, das Volk als politisches Subjekt irgendwie zu kennzeichnen (was Euri-pides nachher tut); ja ohne daß gar mit besonderen Inhabern der Macht gerechnet werden müßte. Er nimmt die Bürger nur als Einzelne, die zu gleichen Teilen an der Macht respektive Herrschaft partizipieren.

Herodot gebraucht daneben, wiederum ein einziges Mal, noch einen weiteren auf Gleichheit zielenden Begriff: Isegorie, die Bezeichnung des gleichen Rede- und Antragsrechts aller in der Volksversammlung.32 Hier also dient eines der wesentlichen Elemente pars pro toto dazu, die neue Ordnung des kleisthenischen Athens zu kennzeichnen. Eine Demokratie, wie Herodot meint (6,131,1 ).

Schließlich benutzt Herodot noch einen dritten Begriff fur Demokratie: δήμος, das Wort für Volk und Volksversammlung. Und er tut dies auffal-ligerweise in einer terminologisch besonders ausgefeilten Passage, dem sogenannten Verfassungsdialog, für den er sich - nach meinem Urteil: mit aller Wahrscheinlichkeit - ziemlich dicht an eine Vorlage hält. Dort fehlt der Begriff Demokratie interessanterweise. Die Sache wird in deut-lichen Formulierungen umschrieben. Dann aber heißt es aus dem Mund eines Gegners dieser Form: δήμω μεν νυν, οϊ Πέρσησι κακόν νοέουσι, οΰτοι χράσθων (3,81,3).

Und ähnlich wird das Wort bei Thukydides und andern, nicht zuletzt bei Aristoteles, vielfach gebraucht.33 Zumeist in Zusammenhängen wie dem der Einrichtung oder der Abschaffung respektive Zerstörung des Demos. Dabei mag später, besonders bei Aristoteles, die Auffassung mitsprechen, das Wesentliche an einer politischen Ordnung sei, wie dort der Kreis der politisch vollberechtigten Bürger bestimmt ist. Entsprechend gewinnt das Wort Politela, das ursprünglich Bürgerrecht und Bürgerschaft bedeutet, auffalligerweise die Bedeutung „Verfassung" (was in den Übersetzungen zu manchem Mißverständnis fuhrt, da der Sinn des Wortes verschiedent-

32 Kurt A. Raaflaub, Des freien Bürgers Recht der freien Rede. Ein Beitrag zur Begriffs-und Sozialgeschichte der athenischen Demokratie, in: Werner Eck, Hartmut Galsterer, Hartmut Wolff (Hg.), Studien zur antiken Sozialgeschichte. Festschrift Friedrich Vitting-hoff, Köln u.a. 1980, 7-57. 33 Zu den Belegen: Meier, Drei Bemerkungen (wie Anm. 1) 18 ff. (144 ff.) (ergänzt; zwei besonders interessante Belege fehlen aber auch dort: Thuk. 8,91,3 ; 8,92,11 ). Meier, Entste-hung des Begriffs (wie Anm. 1 ) 40, Anm. 27.

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lieh zwischen „Bürgerschaft" und „Verfassung" oszilliert).34 Doch muß man dieses Verständnis von Verfassung als Bestimmung primär des Krei-ses der politischen Aktivbürger noch nicht für Herodots Gebrauch von δήμος annehmen.

So hat man es hier vermutlich, wenn auch auf ganz andere Weise, wie-derum mit einem pars pro toto zu tun: Demos, also, wie man doch wohl sagen muß: die Volksversammlung samt ihren Rechten, etwa dem Recht, regelmäßig zusammenzutreten und verschiedene Entscheidungen zu tref-fen (vielleicht auch der ihr zugeordneten βουλή), steht für das, was sich schließlich als eine ganze Ordnung erweist. Jene Ordnung nämlich, von der auch gesagt wird, sie bringe die Dinge den Bürgern in die Mitte (und die dann, wie Herodot im Verfassungsdialog zeigt, noch durch weitere Charakteristika ausgezeichnet ist, etwa die Bestimmung der Beamten durch das Los und deren Pflicht zur Rechenschaftsablage).

Das Nebeneinander der Termini für Ordnungen mit stärkerer Mitspra-che des Volkes ist sehr bemerkenswert. Um so mehr, als es sich bei einem Autor findet, dem der Demokratiebegriff an sich geläufig ist, ja der ver-mutlich etwa eine Generation nach dessen Aufkommen schreibt. Darin könnte sich die Tatsache spiegeln, daß er auf sehr verschiedene Gewährs-männer, noch dazu aus verschiedensten Teilen Griechenlands zurück-greift und ein weit über Athen hinausreichendes Publikum im Auge hat. Jedenfalls zeigt sich darin, wie wenig der Demokratiebegriff es so bald vermochte, andere Bezeichnungen aus dem Felde zu schlagen.

Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, daß Herodot gemeint hätte, mit den verschiedenen Termini verschiedene Dinge zu bezeichnen. Im Gegenteil. Kleisthenes' Ordnung nennt er sowohl Isegorie wie Demokratie und läßt sie zugleich unter den Isokratien eingeschlossen sein. Die Geschichte der Begriffe interessiert ihn nicht. Vermutlich hätte er an allen zitierten Stel-len „Demokratie" einsetzen können, wenn er sich nicht, wie ich vermute, immer wieder auch an die Worte hätte halten wollen, in denen ihm seine Gewährsmänner die Dinge wiedergaben und - wenn für ihn jener Termi-nus so einfach die andern verdrängt hätte.35

Erklärlich ist dieser - trotz der absolut gesehen relativ geringen Anzahl der Belege - auffällige Tatbestand wohl nur, wenn man annimmt, daß sich bis ins letzte Drittel des fünften Jahrhunderts hinein die „Volks-Herr-

34 Meier, Entstehung des Begriffs (wie Anm. 1) 64 ff., bes. Anm. 82; ders., Wandel (wie Anm. 1)299 ff. 35 Ähnlich auch zu den ionischen Städten: Isonomie Hdt. 5,37,2; vgl. 3,142,3. Demokratie 6,43,3; vgl. 4,137,2.

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schaft" als solche erst wenig ausgeprägt hatte.36 So sehr der eine oder an-dere - oder so sehr man hier oder dort - Demokratien ausmachen konnte: Der Begriff vermochte es, nachdem er einmal da war, nicht gleich, das ganze Verständnis der neuen Form an sich zu ziehen und vor allem eine Vielzahl unterschiedlicher Ordnungen zur Einheit eines Typs zusammen-zubringen. Offenbar beobachtete man weithin erst nur die Modifikationen herkömmlicher Ordnung durch Gleichheit (der Rechte wie der Machtver-teilung) oder eben die verbesserte Rolle des Demos für sich genommen. Und da die Begriffe auswechselbar waren, stellte auch „Demokratie" zu-nächst nur eine Möglichkeit, solche Modifikationen zu charakterisieren, neben anderen dar. Auf den Sonderfall Athen wäre gleich zurückzukom-men.

Besonders interessant scheint in dieser Hinsicht das Pamphlet des Pseudo-Xenophon, wohl aus den 20er Jahren des fünften Jahrhunderts, zu sein. Der Verfasser verficht die These, die attische Demokratie sei zwar schlecht, läge aber durchaus im wohlkalkulierten Interesse des in der Stadt herrschenden niederen Volkes. Es sei in Athen alles auf des-sen Herrschaft eingerichtet. Folglich könne man diese Verfassung nicht durch irgendwelche Modifikationen verbessern, sondern nur abschaffen oder eben beibehalten. Dies alles wird mit einer solchen Verve gegenüber Gesinnungsgenossen vorgetragen, daß daraus zu schließen ist, daß selbst in den der Demokratie kritisch gegenüberstehenden Teilen der attischen Oberschicht die Meinung verbreitet war, es komme wesentlich darauf an, durch einzelne Korrekturen die althergebrachten Maßstäbe wieder zur Geltung zu bringen.

Hatte man nicht genügend Distanz? War die Wahrnehmung zu sehr in Einzelheiten befangen? War die politische Machtverteilung zwischen Adel und Volk vielfach zu schwer bestimmbar, als daß man so einfach -und so durchweg - hätte disponiert sein können, hier klare Alternativen in Hinsicht auf Herrschaft - oder „Obmacht"37 - zu sehen? Was uns so pas-send und praktisch erscheint - und so selbstverständlich. Und wie kam es, daß Demokratie und Oligarchie sich am Ende durchsetzten? Dahinter steht die weitere Frage, wann sich ein Begriff von Verfassung herausge-stellt hat, für den gerade dies, nämlich die Unterscheidung zwischen einer Herrschaft des Volkes und einer Herrschaft (relativ) weniger Männer, das zentrale Kriterium ist.

36 So auch Bleicken, Verfassungstypologie (wie Anm. 4). 37 So nach meinem Dafürhalten die beste Übersetzung von κράτος, sofern es die aus-schlaggebende Macht innerhalb einer Verfassung meint.

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Zum Aufkommen des Demokratie-Begriffs 65

VI.

Bei Thukydides liegen die Dinge anders. Zwar kennt auch er noch die Gleichsetzung von δήμος und δημοκρατία,38 aber aufs ganze gesehen sind bei ihm Demokratie und Oligarchie (respektive Umschreibungen des damit gemeinten Sachverhalts wie πολλοί ολίγων αρχουσι, ... πλεόνων έλάσσους; 4,126,2; vgl. 4,86,4) die üblichen Termini zur Bezeichnung von Verfassungen (πολιτειαι), gelegentlich findet sich auch δυναστεία (3,62,3; 4,78,2; 6,38,3). Will er feinere Unterschiede, sei es der Macht-respektive Herrschaftsausübung, sei es des agitatorischen Anspruchs, ausdrücken, so benutzt er meist Modifizierungen, die von diesen Termini ausgehen.39 Isonomie dagegen war ihm entweder nur noch „schön klin-gende Benennung", wo es sich in Wirklichkeit um Machtausübung mit Hilfe der Demokratie handelte (3,82,8), oder er bezeichnete damit einfach den Gegenpol zur engen Oligarchie (δυναστεία, 4,78,3), wenn ihm das Wort nicht in der Adjektivform zur Charakterisierung einer Oligarchie mit breiter Beteiligung der Bürgerschaft diente (3,62,3).

Die Veränderung in den Auffassungen (und in irgendeiner Weise wohl auch in der Realität verschiedener Polis-Ordnungen respektive der sie tragenden Kräfte), die sich in Thukydides' Wortgebrauch spiegelt, ist vermutlich auf die Verschärfung innenpolitischer Gegensätze zurück-zufuhren, welche ihrerseits durch den Krieg zwischen Athen und Sparta mitbedingt war. Dadurch nämlich, daß die Großmächte bereit waren, auf Hilfsgesuche, sei es der των δήμων προστάται, sei es der ολίγοι einzu-gehen und militärisch zu ihren Gunsten zu intervenieren. Thukydides rechnet überall (έκασταχοϋ) mit Gegensätzen (διαφοραί) zwischen die-sen Gruppen (3,82). Stets scheint die eine geherrscht, die andere aber rivalisierend dagegengestanden - und auf einen Verfassungswechsel ge-drängt zu haben. Was normalerweise zu vernachlässigen war, jetzt aber an Bedeutung gewann. Thukydides bezeugt weiter, daß die Verfassungen Gegenstand der Agitation gewesen seien. Die einen gaben vor, πλήθους ισονομία πολιτική anzustreben; da wurde also die Demokratie unter dem guten alten, weit weniger zugespitzten, dafür hoch angesehenen Begriff der Isonomie verfochten. Die andern schienen sich für eine άριστοκρατία σώφρων einzusetzen; erstmals taucht der Aristokratie-Begriff für die Ord-

38 Siehe o. Anm. 33. 39 Zum Beispiel 3,62,3 (ολιγαρχία Ισόνομος); 4,74,3 (ολιγαρχία τα μάλιστα); 8,53,3 (ές ολίγους μάλλον ...); 89,2; 97,2. Dazu Wilfried Nippel, Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in antiker und früher Neuzeit, Stuttgart 1980,44 f.

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66 Christian Meier

nung auf, die uns zuvor nur als „Oligarchie" begegnet.40 In Wirklichkeit sei es beiden Seiten nur um die eigene Macht zu tun gewesen.

Damals, genauer: spätestens in den 420er Jahren, hatte sich die innen-politische Problematik also vielerorts auf den Gegensatz zwischen Demo-kratie und Oligarchie zugespitzt; das heißt, anders gesagt, die Gegensätze zwischen rivalisierenden Adelsgruppen - die Adligen stellten weiterhin die meisten Politiker - ließen sich nicht mehr so leicht austragen, ohne daß sich daraus nicht immer wieder auch Konsequenzen fur die Ordnung selbst ergeben hätten. So lief es oft darauf hinaus, daß entweder die weni-gen über die Mehrheit (το πλέον) oder die Gesamtheit (οί πάντες!) über die Minderzahl (το έλασσον) herrschten.41 Die Entfesselung der Leiden-schaften durch den Krieg scheint die Gegensätze vielfach unüberbrückbar gemacht zu haben. In dieser Polarisierung und der dazugehörigen Agi-tation mußte die Herrschaft entweder der einen oder der anderen zum ausschlaggebenden Unterschied zwischen den politischen Ordnungen werden; und das wird sich - wie weit, wissen wir nicht - zugleich in der institutionellen Prägung der Gemeinwesen ausgewirkt haben.

Für Pseudo-Xenophon herrschten in der attischen Demokratie die un-teren Schichten. Und sie scheinen damals auch in andern Orten stärker mobilisiert worden zu sein. Jedenfalls finden wir seit Thukydides, daß der Begriff Oligarchie - der sich in den älteren Belegen auf die Herr-schaft kleinerer Adelskreise bezog - jetzt auch auf Verfassungen ange-wandt wird, in denen größere Teile der Bürgerschaft, vielleicht die knap-pe Mehrheit, volle politische Rechte besaßen. Deswegen konnte man von ολιγαρχία ισόνομος sprechen. Es muß sich dabei um jene Verschiebung der Begrifflichkeit handeln, von der Aristoteles spricht, ohne für sie ein Datum zu nennen. Danach seien die Hoplitenverfassungen, die zu seiner Zeit zu den Oligarchien (oder der Mischform der sogenannten Politie) ge-zählt wurden, zuvor Demokratien genannt worden.42 In manchen Städten könnte die Schicht der Vermögenden relativ breit gewesen sein. In andern könnte man versucht haben, durch Beschränkung der Aktivbürgerschaft nach Maßgabe etwa des Zensus die Majorisierung durch die Angehörigen breiterer Schichten auszuschließen, wie es 411 in Athen versucht wird43

und für das vierte Jahrhundert mehrfach bezeugt ist.

40 Sofern sie sich nicht als Eunomie gibt (Xen. Ath. pol. 1,9). Meier, Drei Bemerkungen (wie Anm. 1)6(129). 41 Thuk. 4,86,4; 4,126,2. 42 Aristot. pol. 1297 b 24. 43 Nippel, Mischverfassungstheorie (wie Anm. 39) 75 ff.

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Zum Auflcommen des Demokratie-Begriffs 67

In die gleiche Richtung weist das Aufkommen erster Mischverfas-sungskonzepte, wohl auch des Ideals der πάτριος πολιτεία sowie die be-sondere Hochschätzung der μέσοι, der „Mittleren" also, die bei Euripides im Peloponnesischen Krieg zu greifen ist.44

Was zuvor alles in einem weniger zugespitzten Sinne Demokratie (oder auch Isonomie etc.) genannt worden sein mochte, wurde jetzt unterteilt in Demokratie im engeren Sinne und andere Verfassungen, die man als Oligarchie begreifen mochte.

Später konnte Aristoteles dann formulieren, Demokratie bedeute die Herrschaft der Armen, selbst wenn sie in der Minderheit seien. Im Laufe der Abhandlung schränkte er dies freilich ein und kam dazu, Demokratie als die Verfassung zu definieren, in der „die Freien und Armen, in der Mehrheit befindlich, die oberste Gewalt besitzen".45

Im Peloponnesischen Krieg also, um insoweit zusammenzufassen, ist der Demokratie-Begriff im Unterschied und Gegensatz zu dem der Olig-archie mehr oder weniger klar zu fassen. Angesichts der Polarisierung durch die extreme (und extrem sich gebärdende) Demokratie Athens hat-ten sich die Maßstäbe verschoben. Jochen Bleicken mag Recht haben, wenn er das Aufkommen der Verfassungstheorie in die gleiche Zeit da-tiert. Daß ein Wort, das gerade erst zur Bezeichnung von Bürgerrecht und Bürgerschaft gebildet worden war, πολιτεία, künftig für „Verfassung" gebraucht wurde, war insofern konsequent, als es jetzt offensichtlich war, daß die Verfassungen wesentlich davon abhingen, wie die Aktivbürger-schaft bestimmt war. Umfaßt sie alle oder die meisten, ist es eine Demo-kratie, umfaßt sie nur etwa die knappe Mehrheit der Bürger, ist es nach neuem Verständnis eine Oligarchie. Und diese Unterschiede waren um so bedeutender, als von ihnen oft genug auch die Politik der Stadt abhing.

Die Frage ist, ob der Begriff Demokratie, auch wenn er sich im ganzen so rasch nicht hatte durchsetzen können, nicht wenigstens in Athen und dessen Machtbereich schon zuvor eine größere Rolle gespielt hat.

44 Hierzu und zum folgenden Meier, Entstehung des Begriffs (wie Anm. 1) 54. Zu den μέσοι Spahn, Mittelschicht (wie Anm. 2). Zu den verschiedenen Oligarchien auch Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, 4 Bde., Darmstadt 1962, Bd. 1, 247. Insgesamt ist das Buch von Nippel hier mit heranzuziehen. 45 Aristot. pol. 1279 b 8; 1290 b 17; 1317 b 8. Meier, Demokratie. Antike Grundlagen (wie Anm. 1) 826.

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68 Christian Meier

VII.

Gewisse Gegensätze zwischen Volk und Adel sowie zwischen Ordnungen, die zugunsten sei es des Adels, sei es des Volkes geordnet waren, müssen zumindest in verschiedenen Seebundsstädten schon vor dem Peloponne-sischen Krieg vorhanden oder aufgrund athenischer Einwirkung hervor-gerufen worden sein.46 Denn in verschiedenen Städten hat Athen, wenn es sie nach deren Abfall wiederum unterwarf, das „Volk" an die Macht gebracht. In Samos etwa, Kolophon, Erythrai, Chalkis und anderen. Man hat zumindest Institutionen der eigenen Verfassung dorthin übertragen. Freilich ist nicht unbedingt gesagt, daß der Demos dort stärker gewesen wäre als die bis dahin herrschende Oberschicht. Aber je mehr er zur Be-hauptung seiner Macht auf Athen angewiesen war, um so besser war es fur die Befestigung des Bündnisses. Außerdem hat Athen schon in den 450er Jahren auf die innere Ordnung in Megara und Böotien eingewirkt.

Ob man die entsprechenden Ordnungen Demokratien genannt hat, ist nicht bezeugt. Angesichts der Gegensätze zwischen dem Demos und der bis dahin herrschenden Schicht, die dabei vorausgesetzt oder erzeugt wur-den, könnte es jedenfalls nahegelegen haben. Doch muß von den - insge-samt doch vereinzelten - Fällen und im Hinblick auf sie die Karriere des Begriffs nicht sonderlich gefordert worden sein.

Eine andere Frage ist, wie es sich mit den von Eric W. Robinson47 in seiner jüngst erschienenen Arbeit so genannten first democracies in ver-schiedenen Städten seit dem sechsten Jahrhundert verhält. In den Berich-ten darüber wird zwar der Terminus Demokratie öfters gebraucht, doch nur in Quellen, deren älteste ins vierte Jahrhundert gehören. Sie können nicht als Zeugnisse für ein früheres Vorkommen des Begriffs in Anspruch genommen werden. Aber vielleicht für das Vorkommen von Demokratien avant la lettre? Denn so müßten es Aristoteles und andere doch verstan-den haben, wenn sie den ihnen geläufigen Begriff dorthin übertrugen. Für einige dieser sogenannten Demokratien dient auch Herodot als Quelle, und er benutzt in diesem Zusammenhang zur Charakterisierung ihrer Ent-

46 Zum folgenden vgl. den Überblick von Wolfgang Schuller, Zur Entstehung der grie-chischen Demokratie außerhalb Athens, in: Kinzl, Demokratia (wie Anm. 1) 302-323, mit weiteren Hinweisen. Dazu Wolfgang Schuller, Die Herrschaft der Athener im Ersten Attischen Seebund, Berlin 1974. Femer: Hans-Joachim Gehrke, Stasis. Untersuchungen zu den inneren Kriegen in den griechischen Staaten des fünften und vierten Jahrhunderts v. Chr., München 1985, der nur einen etwas lässigen Umgang mit dem Begriff Demokratie treibt. 47 Eric W. Robinson, The First Democracies. Early Popular Government outside Athens, Stuttgart 1997. Dazu die Rezension Uwe Walters in Gnomon 72, 2000, 320-324.

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Zum Aufkommen des Demokratie-Begriffs 69

stehung zumindest eine Wendung, mit der er (nach seinem Verständnis) auch die von Demokratien bezeichnet: zum Beispiel ές μέσον Κφοισι καταθείς τήν άρχήν (7,164,1).

Unklar ist, nach welchen Kriterien verschiedenen Städten (es sind, je nach Zählung, etwa 15) eine demokratische Ordnung zugewiesen wird. In keinem dieser Fälle sind die Quellenaussagen detailliert oder umfassend genug, um eindeutige Schlüsse auf demokratische Institutionen zuzulas-sen. In der Inschrift zum Beispiel, welche für Chios eine βουλή δημοσίη bezeugt, ist damit zwar für die Rechte und Funktionsmöglichkeiten der Volksversammlung einiges gesagt, über ihre Stellung im Ganzen der Ver-fassung jedoch nichts, was eindeutig wäre. Im Fall Mantineas macht Ari-stoteles ganz deutlich, daß es sich bei der sogenannten Demokratie um eine Ordnung handelte, in der der (bäuerliche) Demos damit zufrieden war, die Beamten zu wählen (oder genauer: durch Wahlmänner bestellen zu lassen), ihnen Rechenschaft abzunehmen und in der Volksversamm-lung Entscheidungen zu treffen. Er hätte aber nichts dagegen gehabt, daß die Wohlhabenden die Ämter bekleideten. Derartige Ordnungen rangie-ren bei Aristoteles sonst eher als gemischte Verfassungen oder Politeiai respektive als solche, in denen aristokratische und demokratische Kon-zepte gleichermaßen zur Geltung kämen.

In manchen Fällen steht „Demokratie" (wie sonst Isonomie) einfach fur den Gegensatz zur Tyrannis.48 Da bleibt denn offen, wie sich Adel und Volk die Macht teilten. In andern mag eine Zeitlang eine Adelsclique mit Hilfe der Volksversammlung die Dinge in die Hand genommen haben, wobei überhaupt nicht zu sehen ist, wie das institutionell (und eventuell zugunsten des Volkes) abgesichert war.

Insgesamt gibt es kein irgend zuverlässiges Indiz dafür, daß es sich hier um mehr als Modifikationen herkömmlicher Ordnung gehandelt hätte, wie sie in Athen etwa schon von Solon und dann vor allem von Kleisthe-nes vorgenommen worden sind, ohne daß man Grund hätte anzunehmen, daß mehr als eine Aufwertung der Volksversammlung, eine stärkere Mit-sprache als Gegengewicht gegen den herrschenden Adel eingeführt wor-den wäre. Die betreffenden Verfassungen sind, scheint mir, aufgrund sol-cher Züge nachträglich als Demokratien verbucht worden, obwohl es sich in der Regel, dem genaueren Verständnis von heute entsprechend, um Isonomien gehandelt haben wird. Eine klare Alternative zwischen Volks-und Adelsherrschaft ist in diesen Städten nicht auszumachen.

48 Meier, Entstehung des Begriffs (wie Anm. 1)13 (138). Vgl. noch Thuk. 6,89,5-6. Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library

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70 Christian Meier

VIII.

In Athen könnten sich die Dinge am Ende der 460er Jahre auf einen tie-fen Gegensatz zwischen Adelsmehrheit und Demos zugespitzt haben. Die Entmachtung des Areopags 462/1 weist jedenfalls darauf hin, daß dort ein Kreis von Politikern und eine Mehrheit der Volksversammlung dem Adel die Möglichkeit nehmen wollten, sich politisch durch diesen Rat geschlossen zur Geltung zu bringen. Dabei ist es gleichgültig, ob die da-mit verknüpfte Veränderung der politischen Ordnung das eigentliche Ziel der Reform oder eher Mittel zum Zweck der Ermöglichung einer neuen Außenpolitik war; gerade im letzteren Falle würde sich erweisen, wie mächtig der Rat zuvor gewesen ist. Möglicherweise kann man aber die innenpolitische von der außenpolitischen Zielsetzung kaum trennen.

Aus der - nicht lange darauf verfaßten und aufgeführten - Orestie des Aischylos ist zu entnehmen, wie tief und wie erschütternd der Einschnitt empfunden worden ist, den Athen damit erfuhr.49 Oder sollte diese die ganze Welt und deren Veränderung auf ungeheuer eindrucksvolle Wei-se einfangende Trilogie bloß einem beliebigen dichterischen Einfall ent-sprungen sein?

Relativ glaubwürdig bezeugt ist zudem, daß Ephialtes, der Anfuhrer der Reformer, die Entmachtung des Areopags durch Gerichtsverfahren vorbereitet hat, daß also dem Volksbeschluß eine Phase der Auseinander-setzungen voraufgegangen ist. Wir wissen nur nicht, wie lange sie gedau-ert hat.50

Überliefert ist auch, daß der Areopag nach Salamis relativ mächtig ge-wesen sei und zwar durch Autorität (αξίωμα). Nur in den letzten Jah-ren vor seiner Entmachtung sei dieser Einfluß abgebröckelt." Der Quel-lenwert dieser Aussage wird allerdings vielfach bezweifelt. Doch muß man hier vielleicht eine Unterscheidung treffen: Wenn die Verdienste des

49 Christian Meier, Aischylos' Eumeniden und das Aufkommen des Politischen, in: ders., Die Entstehung des Politischen (wie Anm. 1) 144-246. Sowie: ders., Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988, 117 ff. 50 Dazu wie zu diesen Jahren überhaupt Christian Meier, Der Umbruch zur Demokratie in Athen (462/1 v. Chr.). Eine Epoche der Weltgeschichte und was Zeitgenossen daran wahr-nahmen, in: Reinhart Herzog, Reinhart Koselleck (Hg.), Epochenschwelle und Epochen-bewußtsein (Poetik und Hermeneutik 12), München 1987,353-380. Daß der Entmachtung des Areopags eine gewisse Phase der Agitation voraufging (ebd. 358 ff.), scheint mir nach wie vor sicher zu sein. Nur kann man die Hiketiden, wie sich gleich zeigen wird, in diesem Zusammenhang nicht zitieren. Ephialtes hat sich eher an ein schon vorhandenes Bewußt-sein von Volks-Herrschaft angeschlossen (und es eventuell nachträglich verstärkt). 51 Aristot. Ath. pol. 23,1 f.; 25,1.

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Zum Aufkommen des Demokratie-Begriffs 71

Areopags - angeblich hat er erst die Voraussetzung für den Sieg bei Sala-mis geschaffen - vermutlich stark übertrieben, also die Ursachen seines damals begründeten Einflusses tendenziös dargestellt worden sind, so muß doch nicht gleich das Zeugnis über den Einfluß selbst falsch sein.

Zudem scheint mir vor allem eines sehr stark für eine einflußreiche Position, also für die große Autorität des Adelsrats in den eineinhalb Jahr-zehnten nach Salamis zu sprechen: Athen sah sich damals schlagartig und gänzlich unvorbereitet vor die Notwendigkeit gestellt, in großem Stil und mit bedeutender Reichweite Außenpolitik zu treiben. Es ist schlechter-dings nicht zu sehen, wie die Volksversammlung und der ihr zugeordnete Rat der Fünfhundert das so rasch hätten leisten wollen. Folglich lag es nur allzu nahe, daß der Areopag, in dem die mächtigsten und vor allem die erfahrensten, auch diplomatisch geschulten, zum Teil weitgereisten Poli-tiker saßen, in dieser Situation in hohem Maße zur Beratung der Politik wie zur Politik selbst herangezogen wurden. Und es ist nach allem, was wir von ihm wissen, durchaus wahrscheinlich, daß der führende Politiker der Zeit, Kimon, sich auf den Areopag stützte, ja sich auf dessen Autorität vor der Volksversammlung berufen hat.52

Eben diese Autorität - und nicht nur, vielleicht nicht einmal so sehr die Kompetenz, den Beamten die Rechenschaft abzunehmen - muß die Macht des Adelsrats ausgemacht haben. Eben deswegen war es fur die Reformer so wichtig, ihm seine politischen Funktionen zu nehmen.

Positiv bedeutete das die Stärkung der Volksversammlung und des Rats der Fünfhundert; nicht nur, indem diese Funktionen vom Adelsrat übernahmen, sondern auch, weil sie nun frei von Autorität und Bevor-mundung durch ihn entscheiden konnten. Eben dieses - positive - Ziel könnten (oder: müßten) die Herren um Ephialtes, die künftig, gestützt auf die Volksversammlung, ihre Politik durchsetzen wollten, offen verfoch-ten und begründet haben.

Das stolze Bewußtsein von der Herrschaft des Demos, das sich in Ais-chylos' Hiketiden bezeugt, müßte ihnen dabei zugute gekommen sein. In

52 Zur Macht des Areopags in dieser Zeit auch Jochen Martin, Von Kleisthenes zu Ephial-tes. Zur Entstehung der athenischen Demokratie, in: Kinzl, Demokratia (wie Anm. 1) 160-212,193 ff. Über Kimons rhetorische Fähigkeiten, die mir (Meier, Umbruch [wie Anm. 50] 356) als Argument für die Autorität des Areopags dienten, gibt es ein etwas abweichendes Zeugnis bei Nep. Cimon 2,1: habebat satis eloquentiae. Aber vielleicht sollte man doch dem Zeugnis des Stesimbrotos bei Plutarch mehr trauen. Ob Ephialtes wirklich befürchtet hat, beim Rechenschaftsverfahren vor dem Areopag eine Niederlage zu erleiden, ist durch-aus unklar. Doch könnte eben die Kompetenz, den Beamten Rechenschaft abzunehmen, für diese ein Grund gewesen sein, sich vor größeren Unternehmen mit dem Areopag abzustim-men.

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72 Christian Meier

der Konfrontation zur Zeit der Entmachtung des Areopags müßte das Ver-ständnis von Volksherrschaft zumindest verstärkt worden sein. Da könn-ten beide Seiten das Parteiische daran deutlich empfunden haben. Wenn es in den Eumeniden heißt: παντί μέσφ το κράτος θεός ώπασεν (530), könnte das eine direkte Reaktion darauf sein: Nicht das Volk, als Teil der Polis verstanden, soll die Obmacht (κράτος) haben, sondern πάν μέσον, alles, was in der Mitte, was gemäßigt ist.53

Allein, nach den heftigen Spannungen, der Furcht vor dem Bürger-krieg, welche auf die Entmachtung des Areopags folgten, scheinen sich die Dinge mit der Zeit wieder eingerenkt zu haben. Was an Gegensätzen blieb oder neu aufkam, ließ sich innerhalb der demokratischen Ordnung austragen. Die Stadt mit all ihren Erfolgen bot auch den Adligen - trotz manchen Ärgernisses, trotz schwerer Konflikte- genügend Möglich-keiten, um sie mit dem Neuen zu versöhnen. Von einer grundsätzlichen Feindschaft gegen die bestehende Ordnung, von einem Gedanken an Oligarchie als Alternative zur Demokratie, findet sich nach Abflauen der Spannungen keine Spur.54 Wenn es Ressentiments gab, so blieb das vereinzelt. Erst im Laufe des Peloponnesischen Krieges sollte sich dies wenden. Da spitzten sich die Gegensätze erheblich zu, und vor allem: Da hatten nicht zuletzt die Angehörigen der Oberschicht unter dem Krieg und bald auch unter höchst problematischen Beschlüssen der Volksver-sammlung zu leiden.

Wenn man sich - wie Perikles in seiner Gefallenenrede bei Thukydi-des - in der Vorkriegszeit der attischen δημοκρατία respektive der άρχή des δήμος (2,37,1; 65,9) stolz bewußt war, so wird darin also nicht die Gegnerschaft zum Adel, sondern etwas ganz Anderes im Vordergrund gestanden haben: Die attische Bürgerschaft konnte wirklich - weit mehr als alle andern - die Erfahrung ihrer Herrschaft tagtäglich und in hohem Grade machen, weil sie wirklich in Volksversammlung, Volksgericht und Rat der Fünfhundert wie in zahlreichen, auch von Kleinbürgern besetzten

53 Dazu vor allem auch die Beschwörungen, daß eine Stadt nicht unbeherrscht und nicht allzu beherrscht sein sollte (aus dem Mund der Erinyen, Eumeniden 526 wie auffalliger-weise ein zweites Mal, jetzt aus dem Mund der Athene: 696; wobei eine alte Devise Solons [5,8 D] unter neuen Machtverhältnissen wieder aufgenommen wird). Aber die Einschrän-kung der Freiheit (Willkür) des Volkes wird nur auf einem Umweg über abstrakte Kräfte wie φόβος, σέβας, το δεινόν mit Blick auf den Areopag angemahnt. 54 Auch Plut. Perikles 11,3 behauptet nur einen Riß zwischen dem Demos und den Weni-gen, nicht den zwischen Anhängern verschiedener Verfassungen. Doch auch das mag über-trieben sein. Dazu: Ekkehard Meinhardt, Perikles bei Plutarch, Diss. Frankfurt 1957, 37 f.; Karl-Joachim Hölkeskamp, Parteiungen und politische Willensbildung im demokratischen Athen. Perikles und Thukydides, Sohn des Melesias, HZ 267, 1998, 1-27.

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Zum Au/kommen des Demokratie-Begriffs 73

Ämtern, sowohl eine Unmenge von Entscheidungen zu treffen, wie über vieles zu verfugen hatte. Die Herrschaft über den Seebund war wesentlich die Herrschaft des Volkes, und zwar des ganzen Volkes.55 Möglicherwei-se hat diese Erfahrung dem Begriff der Demokratie besonderes Gewicht verliehen; zunächst freilich nur fur Athen. Welche andere Stadt wäre da-mit auch vergleichbar gewesen?

Zu fragen ist, was aus dem Zeugnis der Hiketiden für die 60er Jahre des fünften Jahrhunderts in Athen entnommen werden könnte.

IX.

Die Hervorhebung der Herrschaft des Volkes durch die Schutzflehenden ist so auffällig, daß sie es zumindest nahelegt, daran zu denken, diese Herrschaft sei gerade damals bewußt geworden. Wie es dazu kam, ist eine andere Frage. Wird hier eine Parole damaliger Agitation, vielleicht gar ein Programm zitiert? Oder ist man im Laufe der Zeit, eben indem man die Rolle der Volksversammlung in der damaligen Politik immer neu erfuhr, darauf gekommen, daß hier nicht nur eine Gleichheitsordnung, sondern eben eine Demokratie am Werk war? Stolz könnte sich darin äußern und sei es, daß er auf die Bedenken anderer antwortete, welche fanden, die Menge sei zu mächtig geworden.

Wohl wäre es denkbar, daß Ephialtes der Autorität des Areopags auch dadurch den Boden zu entziehen versuchte, daß er dem Volk einhäm-merte, es selbst habe die ausschlaggebende Macht in der Polis und solle seine Entscheidungen ohne Rücksicht auf den Adelsrat treffen respektive diesem seine (wie Ephialtes meinte) angemaßten politischen Rechte neh-men. Aber gerade dann wäre es äußerst unwahrscheinlich, daß Aischylos diese Wendung zitiert hätte. So direkt konnte sich eine Tragödie nicht in die Politik einmischen.

Übrigens wissen wir nicht einmal, wann genau die Hiketiden aufge-führt worden sind. Es könnte in jedem der Jahre von 465 bis 460 gewesen sein. Das heißt sowohl vor wie nach der Entmachtung des Areopags. Die übliche Datierung auf 463 beruht auf einer unsicheren Vermutung (Vgl. o. Anm. 7).

Ebensowenig ist, entgegen meiner früheren Annahme, Zeile 370 als Anspielung auf die Agitation des Ephialtes zu verstehen. Der König Pe-

55 Respektive der ganzen Stadt, vgl. u. Anm. 63. Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library

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74 Christian Meier

lasgos bedeutet den um Asyl nachsuchenden Ägypterinnen, wenn die Stadt (πόλις) gemeinsam (το κοινόν) betroffen sei, müsse das Volk (λαός) gemeinsam (ξυνη) auf Abhilfe sinnen. Er, Pelasgos, könne die Entschei-dung über ihre Aufnahme nicht treffen, bevor er die Sache allen Bürgern unterbreitet habe (άστοΐς δέ πασι τώνδε κοινώσας πέρι). Da antworten sie ihm merkwürdigerweise zunächst (vielleicht in der allerersten Erre-gung?) mit den Worten: σύ τοι πόλις, σύ δέ το δήμιον, um dann genau-er zu werden: du bist doch der Herrscher, άκριτος, keiner Rechenschaft schuldig, Herr über den Altar, den Herd des Landes, alles (χρέος πάν) vollbringst du, ganz allein (μονοψήφοισιν νεύμασιν σέϋεν) entscheidend mit einem Wink, ganz allein dank Szepter und Thron (μονοσκήπτροισι έν θρόνοις).

Die Macht, die die Hiketiden dem König zusprechen, ist also hinläng-lich umschrieben. Und darum geht es. Denn sie meinen, er habe keinerlei Grund, das Volk zu befragen. Er allein trage die Verantwortung. Warum also setzen sie an mit den Worten: „Du (bist) doch die Stadt, du das Volk" (um τό δήμιον zunächst so zu übersetzen)?

Victor Ehrenberg meint, die Macht des Königs erscheine in den Au-gen der Mädchen aus Ägypten als absolute Monarchie, und erinnert an das Ludwig XIV. zugeschriebene „L'état c'est moi".56 In gewissem Sinne scheint diese Wendung hier, von der ersten in die zweite Person verwan-delt, in der Tat wiederzukehren. Aber ein Staat ist etwas anderes als eine Polis. Zum modernen Staat gehört die Vorstellung der Repräsentation, die im (angeblichen) Ausspruch des Sonnenkönigs nur gesteigert erscheint. Wie soll einer dagegen die Polis oder τό δήμιον sein? Mir ist aus der griechischen Literatur keine auch nur annähernd vergleichbare Aussage bekannt. Wenn Ludwigs angebliche Äußerung die Spitze einer Wahrheit bezeichnet, tragen die Hiketiden also nur eine widersinnige Behauptung vor.

Will Aischylos durch diese merkwürdige Formulierung auf die Befan-genheit der Mädchen in fremden, ägyptischen Vorstellungen anspielen? Wenn denn Pharao nicht nur zugleich den Palast, sondern auch Ägypten bezeichnet (oder wenn man in Athen dergleichen gemeint) hätte. Möglich wäre es, auch wenn man nicht weiß, ob das attische Publikum von der ägyptischen Monarchie 60 Jahre nach deren Ende noch so genaue Vor-stellungen gehabt hat.

Ich habe dagegen früher gemeint, dieser Vers sei nur als Umkehrung einer richtigen Behauptung zu verstehen, die damals in der Tat hätte vor-

56 Dazu: Fritz Härtung, L'état c'est moi, HZ 169, 1949, 1-30. Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library

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gebracht werden können, nämlich: Ihr seid (oder wir alle sind) doch die Stadt! Ephialtes hätte damit gleichsam auf die Behauptung von Adligen entgegnen können, sie wüßten besser, was der Stadt fromme. Nein, so hätte sein Einwand gelautet, die Stadt sei nicht mehr Objekt adliger Für-sorge, sondern Subjekt ihrer selbst. Sie könne selbst entscheiden, sie tra-ge ja auch das Risiko. Indes wäre diese Deutung vielleicht doch etwas umwegig, und jedenfalls würde auch hier gelten, daß politische Agitation in der Tragödie nichts zu suchen hatte. Denn wenn die auffallige For-mulierung fur die damaligen Zuhörer in dieser Weise entzifferbar hätte sein sollen, dann hätte eben die agitatorische Behauptung durchgeschim-mert. Folglich ist diese Deutung falsch. Man kann allenfalls aus dem Vers schließen, daß damals die Frage gestellt wurde, wer die Stadt sei.

Die für die Griechen absurde In-eins-Setzung von Herrscher und poli-tischer Einheit muß also anders verstanden werden. Etwa im Sinne einer Antwort, die ungefähr, wie folgt, zu explizieren wäre: Was soll das, was du da sagst? Wieso die ganze Rede vom „Gemeinsamen", von allen Bür-gern? Du hast doch die Verantwortung! Von dir hängt doch alles ab! Was heißt hier überhaupt Stadt? Die bist du doch selber! Die Stadt und auch το δήμιον.

Diese Äußerung, diese Riesen-Übertreibung gehört in den Rahmen des von einem Extrem zum andern verlaufenden Lernprozesses der Hiketi-den. Bruno Snell hat eindrücklich gezeigt, daß in diesem Stück - „neu und ... bedeutungsvoll für die Entwicklung des griechischen, ja des euro-päischen Geistes" - erstmals eine höchst schwierige Entscheidung zum Thema wird; als „ein Problem, das nur im eigenen Denken zu lösen ist, das zu lösen der Mensch sich aber auch verpflichtet fühlt".57 Man sollte nicht übersehen, daß als ein anderer Faden parallel dazu eben die Reihe der Versuche, griechische politische Wirklichkeit von außen zu verstehen, sich durch eine längere Partie hindurchzieht.

Zunächst erfahren die Hiketiden vom König, er sei „dieses Landes άρχηγέτης" (251), der Herrscher (ίίναξ, 252), er beherrsche ein großes Gebiet (254 ff.). Daraus schließen sie, er habe „alle Macht über das Land" (πάν κράτος εχων χθονός, 425). Folglich glauben sie ihm nicht, daß er das Volk befragen müsse, obwohl er herrsche (ουδέ περ κρατών, 399, fugt er selbst hinzu). Sie wissen offensichtlich nicht, daß dies unter frühen griechischen Verhältnissen kein Widerspruch ist.58 Auch die homerischen

57 Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Göttingen "1975,103 f. 58 Dazu besonders schön, vielleicht bezugnehmend darauf, Eur. Hiketiden, 349 f.

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Könige pflegten sich an das Volk zu wenden. So kommen sie dazu, nach-dem Pelasgos sich in auffälligen Wiederholungen auf das Gemeinsame des Volkes berufen hat, ebenso auffällig die Alleinigkeit seines Verfügungs-rechts zu betonen, ja ihn haarsträubend mit der Stadt in eins zu setzen.

Dann jedoch, als das Volk einstimmig für die Aufnahme der Schutzfle-henden votiert hat, schlägt die Ansicht der Hiketiden radikal um. Zwar hat ihnen ihr Vater erklärt, daß der König die Entscheidung herbeigeführt hat. Er hat den Vater (der sie vor der Volksversammlung vertreten mußte) taktisch instruiert. Und er hat so überzeugend gesprochen, daß das Volk einstimmig und spontan für seinen Antrag war (516 ff.; 605 ff.). Aber da-von ist jetzt keine Rede. Jetzt meinen sie in ähnlicher Überspitzung, daß das Volk (τό δήμιον) die Stadt beherrscht; der König scheint gar nicht mehr zu zählen. Sie sehen immer nur die eine Seite, die eine Macht, die sie jeweils weit übertrieben darstellen. Eben das gibt ihnen aber die Gele-genheit, die Herrschaft des Volkes so deutlich zu betonen - und genauer zu bezeichnen.

In der Wortwahl des Verses 699 findet sich ein deutlicher Bezug auf Vers 370. Dort stehen Polis und τό δήμιον gleichgeordnet und werden mit dem König identifiziert. Hier ist τό δήμιον zum Subjekt, die Polis zum Objekt der Herrschaft geworden. An sich hätte man τό δάμιον, an-ders als den König, mit der Stadt durchaus identifizieren können. Doch war Aischylos offenbar daran nicht gelegen. Er wollte vielmehr dessen Herrschaft über die Stadt herausstellen - und vielleicht meinte er, das auf der Folie von Vers 370 um so deutlicher tun zu können. Während dort die Herrschaft als unbeschränkte Macht des Königs erscheint, wird hier die des Demos durch die Vorzüge, die sie aufweise, qualifiziert: προμαθίς εύκοινόμητις άρχά. Die Deutung der Stelle ist trotz der zweifelhaften Überlieferung von Vers 698 aufgrund eines Scholions insoweit klar, als es sich bei άρχά um eine Apposition zu τό δάμιον handeln muß. Man über-setzt es vermutlich am besten mit Regiment: Der Lobpreis der Hiketiden bezieht sich auf das voraussehende und das Gemeinwesen wohlbeden-kende Regiment von τό δάμιον, τό πτόλιν κρατύνει. Ich vermute, so sehr habe man die Volks-Herrschaft in der Tragödie nur loben können, wenn sie in Athen eine mehr oder weniger allgemein akzeptierte Tatsache war (und nicht eine agitatorische Parole).

Was aber heißt τό δάμιον? Ist es einfach mit dem Demos gleichzuset-zen, von dessen „herrschender Hand" (κρατούσα χειρ) in Vers 604 die Rede war? Was sich dort (wie 601 ; vgl. 942) aber eindeutig auf die Volks-versammlung bezogen hatte. Oder bedeutet es etwas anderes? Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library

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Tò δήμιον respektive το δάμιον begegnet außerhalb dieser Tragödie in unserer Überlieferung nicht. Die Bezeichnung von Kollektiven durch das Neutrum singularis des vom Eigennamen abgeleiteten Adjektivs ist seit Herodot aber vielfach bezeugt, το Ελληνικό ν etwa, το Περσικόν, το Λακωνικόν. Entsprechend finden wir το πολιτικόν, το συμμαχικόν, τό ναυτικόν u. a. Selten begegnet in dieser Form das Adjektiv auf HO, το Πελοποννήσιον zum Beispiel. Fritz Gschnitzer59 hat auf diese Bil-dungen aufmerksam gemacht und festgestellt, daß sie „anscheinend na-mentlich dann" gebraucht werden, „wenn es hervorzuheben gilt, daß es sich um die Gesamtheit des Volkes handelt", gegebenenfalls auch des Heeres, der Bundesgenossenschaft oder der ganzen Menschheit (άπαν τό άνθρώπινον, Hdt. 1,86,5).

Eben das könnte auch hier der Fall sein (wenn man nicht annehmen will, daß τό δήμιον respektive τό δάμιον nur um des Versmaßes willen für δήμος eingetreten ist). Droysen übersetzt es mit „das gesamte Volk". Es hätte, wie sich gleich zeigen wird, seinen guten Sinn im Kontext einer Vielfalt gleichzeitiger Versuche, die Gesamtheit des Volkes mit umfas-senden Termini zu begreifen respektive das Volk mit der Stadt in eins zu setzen.

Wollte man den König mit der Polis identifizieren, so hätte es sich zweifellos nicht empfohlen, das gleiche mit δήμος zu tun. Aber vielleicht ist auch an der zweiten Stelle der Begriff τό δάμιον ganz bewußt gesetzt -um mehr zu bezeichnen als nur δήμος, nämlich die Gesamtheit, die alle einschloß? Um über allen Zweifel deutlich zu machen, daß es eben nicht nur das (möglicherweise niedere) Volk (die Mehrheit in der Volksver-sammlung) war, die hier herrschte? Wenn man so fragt, könnte man den Eindruck erwecken, Haare spalten zu wollen. Indes spielt das Ganze der Polis, soweit wir sehen können, in den Diskussionen im zweiten Drittel des fünften Jahrhunderts eine höchst auffällige Rolle.

59 Fritz Gschnitzer, To Έλληνικόν neben oí "Ελληνες. Eine vorläufige Umschau, in: Robert Muth, Johann Knobloch (Hg.), Natalicium Carolo Jax septuagenario a. d. VII. Kai. Dec. MCMLV oblatum, 2 Bde. (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft 3), Innsbruck 1955, Bd. 1,261-267,262 (wieder abgedruckt in: ders., Kleine Schriften zum griechischen und römischen Altertum, Bd. 1 : Frühes Griechentum. Historische und sprachwissenschaft-liche Beiträge, hrsg. v. Tassilo Schmitt u. Catherine Trümpy, Stuttgart 2001, 75-81, dort 76).

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78 Christian Meier

X.

In der Verfassungsdebatte bei Herodot zieht der Verfechter der Demokra-tie, nachdem er verschiedene Argumente zu deren Gunsten vorgetragen hat, die Summe, man solle το πλήθος άέξειν (3,80,6). Begriffsgeschicht-lich ist daran zunächst interessant, daß im ganzen Plädoyer nicht von δήμος, sondern von πλήθος gesprochen wird; πλήθος δέ αρχον heißt es zu Beginn des Passus, in dem die Eigenheiten dieser Ordnung charakte-risiert werden. Den eigentlichen Gegensatz dazu bildet die Tyrannis. Der Adel könnte in πλήθος eingeschlossen sein, leichter als in δήμος. Studiert man den Wortgebrauch bei Herodot, so zeigt sich jedenfalls die Tendenz, mit πλήθος mehr zu bezeichnen als nur den δήμος. Das Wort zielt damals offenkundig auf die Gesamtheit der Bürgerschaft, während δήμος in die-sem Sinn zumindest zweifelhaft ist.60 Und so ist es auch bei Thukydides, der gar fur die Verfechter der Demokratie die Parole (ονομα ευπρεπές): πλήθους ισονομία πολιτική bezeugt. Auffallig ist, daß πλήθος einmal sogar in die offizielle Sprache der Volksbeschlüsse eingedrungen ist, im Erythrai-Dekret, das in die 460er oder 450er Jahre gehört, vermutlich 453/2 beschlossen wurde.61 Jedenfalls läßt sich am Gebrauch von πλήθος belegen, wie man terminologisch damals versucht hat, die Gesamtheit der Bürgerschaft anders als mit (dem zugleich die Volksversammlung und damit deren Mehrheit meinenden) δήμος zu bezeichnen. Aischylos' τό δήμιον könnte genau parallel dazu verwandt worden sein, das bei Herodot (7,103,1) bezeugte τό πολιτικόν - Thukydides spricht einmal von τό πάν πολιτικόν (8,93,3) - in ähnliche Richtung weisen. Die sehr viel treffen-dere Bezeichnung der gesamten Bürgerschaft als πολιτεία kommt erst später auf.

In gewissem Widerspruch zu diesem Befund steht die summarische Be-gründung, die der Verfechter der Demokratie bei Herodot fur seine Emp-fehlung gibt: έν γαρ τφ πολλφ ενι τα πάντα. Denn wenn in der Mehrheit das Ganze drin ist, dann entspricht dem πλήθος gerade nicht τά πάντα, sondern τό πολλόν. Indes scheint Herodot (oder seine Vorlage) hier ein-

60 Meier, Drei Bemerkungen (wie Anm. 1) 25 ff. (154 ff.). Ergänzend wäre daraufhinzu-weisen, daß man eine Ausnahme zu verzeichnen hat, nämlich die Wendung τφ δήμω τά πράγματα ές μέσον τιθεναι (vgl. Hdt. 4,161,3). Doch abgesehen davon, daß hier an die Volksversammlung gedacht sein könnte, könnte es sich um eine formelhafte Wendung han-deln. Für einen späteren Gebrauch von πλήθος im Sinne von Vielfalt der Bürger: Michel B. Sakellariou, The Polis-State. Definition and Origin, Athen 1989, 229f. 61 IG I3 14 (und 15?) = David Lewis, Russell Meiggs (Hg.), A Selection of Greek Histori-cal Inscriptions to the End of the Fifth Century B.C., Oxford 1971, 89 ff. (Nr. 40).

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Zum Auflcommen des Demokratie-Begriffs 79

fach eine gängige, möglicherweise formelhafte Begründung für die das Ganze bindende Kraft von Mehrheitsentscheidungen (gleichgültig ob in kleineren oder größeren Gremien, eventuell also auch in der Oligarchie) auf die politische Ordnung der Volks-Herrschaft übertragen zu haben.

Besonders interessant ist, was sich aus dieser Übertragung ergibt: Daß nämlich als zentrales Argument für das πλήθος αρχον angeführt wird, es enthalte das Ganze. Das Ganze, alias: die Polis - oder die Bürgerschaft? - , erscheint also als eine Instanz, die gleichsam in concreto politisch präsent gemacht werden muß. Womit eine Ordnung legitimiert wird, in der dies am besten möglich ist. Geht es zu weit, wenn man auch hier die Frage, wer die Polis ist, im Hintergrund am Werk sieht?

In die gleiche Richtung zielt es, wenn sich Haimon in Sophokles' Anti-gone auf das „stadtgleiche Volk von Theben hier" (Θήβης τήσδ' όμόπτολις λεώς) beruft. Όμόπτολις kann in diesem Falle nicht (wie es der Regel bei den mit όμο- zusammengesetzten Worten, όμαίμων oder όμογάλαξ zum Beispiel, entspräche) „von der gleichen Stadt" heißen. Mit wem sollte der λεώς das sein? Nein, die Wendung behauptet die Gleichheit von λεώς und πόλις, wie auch der anschließende Vers zeigt. Kreon antwortet Hai-mon nämlich mit der Gegenfrage: Die Polis will mir sagen, was ich zu tun habe? Das Volk also ist der Polis gleich, oder genauer: Haimon nimmt es als deren Stimme, indem er beides in eins setzt. Hier wird folglich die Polis vom Volk nicht nur beherrscht wie bei Aischylos.

Es ist kaum zu beschreiben, aber offenkundig sollte das Volk, dessen Urteil Haimon hier vorbringt, mehr sein als es selbst, es sollte zur Polis überhöht oder zumindest der Polis als etwas Umfassenderem angenähert werden. Das ist etwas anderes als die später von Thukydides für einen Redner bezeugte Aussage, δήμος bezeichne (anders als Oligarchie) ein Ganzes (ξύμπαν). Die Reichen nämlich seien die besten Wächter über die Mittel der Stadt, Rat gäben am besten die Verständigen, die Vie-len schließlich urteilten am besten, nachdem sie den Rat gehört hätten (6,39,1). Denn da geht es um die verschiedenen Bestandteile, die nach Meinung des Redners zusammenwirken (und das Ganze ausmachen). Hier dagegen bleibt offen, wer alles im Demos wie zur Geltung kommt. Wesentlich ist, daß der δήμος respektive λεώς das Ganze ist.

Der Dialog zwischen Vater und Sohn stellt eines der großartigsten Do-kumente griechischer Besinnung auf das Wesen der Polis, wie auf die Größe und die Grenzen menschlicher Vernunft dar, eingebettet in eine Tragödie, in der wie in kaum einer anderen die ganze (so furcht- wie fruchtbare) Gebrochenheit der Politikerfahrung der perikleischen Zeit

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zum Ausdruck kommt. Was sich hier also äußert, muß weit über den Zu-sammenhang des Stückes hinaus von Bedeutung sein.

Ich möchte vermuten, daß wir in den genannten Zeugnissen Spuren einer Neubestimmung der Polis fassen, wie sie mit dem Aufkommen und der Frühgeschichte der Demokratie, zumal in Athen also, notwendig wur-de. Einer Neubestimmung, die in den uns bekannten Fällen im Sinne der Demokratie vorgenommen wurde; eventuell in Abwehr abfalliger Äuße-rungen über die Herrschaft der - „blinden", „anarchischen"62 - Menge, welche die Mehrheit in der Volksversammlung ausmachte. Daß die Tragi-ker davon nur spiegeln konnten, was auf breite Zustimmung stieß, sollte nicht wundernehmen.

Offenkundig ist die Polis also, wie sich hier erweist, doch um eini-ges mehr gewesen als die Summe der Bürger, die sie ausmachte. Gera-de im Athen des Perikles, der das Ganze der Stadt, der Herrscherin über ein ganzes Reich, weit über die Gesamtheit der Bürger hinaushob, als προστάτης nicht nur des δήμος, sondern der πόλις, der gesamten Polis (ξύμπασα πόλις), der übrigens auch die Menge zu moderieren wußte.63

Man kann hier die Beobachtungen anschließen, die Nicole Loraux an den attischen Gefallenenreden gemacht hat.64

Freilich - die Polis konnte sich nicht wie der Staat in einem Zentrum versammeln, ihre „Mitte" war bezeichnenderweise leer (so daß man „dem Volk die Dinge in die Mitte legen" konnte). Sie konnte von keinem „re-präsentiert" werden, keinem Monarchen, keinem Präsidenten, keinem Parlament und keiner Regierung. Ihre Macht konnte sich in keinen von der Bevölkerung abgehobenen Apparaten versammeln. Sie tendierte viel-mehr dazu, von der Gesamtheit - oder denen, die sich mit gutem Grund dafür halten konnten - präsent gemacht zu werden.

Und das Problem, ihre Gesamtheit, das Ganze also der Polis zu be-stimmen, ergab sich erst, als der Demos in die Lage kam, sie zu beherr-schen. Oder anders: Als die Gesamtheit der Bürger behaupten konnte, in der Volksversammlung und andern Institutionen die Polis zu Wort zu bringen, als die Polis in ihr zum Subjekt der Politik werden konnte. Als

62 Dazu Jacqueline de Romilly, Problèmes de la démocratie grecque, Paris 1975, 19ff.; 73 ff. 63 Thuk. 2,62; vgl. Peter Spahn (in diesem Band). Zu προύστη τής πόλεως (2,65,5) vgl. Alkibiades' Darlegungen zur politischen Stellung der Alkmeoniden: προστασία του πλήθους (offensichtlich der Gesamtheit!) und: ήμεΐς του ξύμπαντος προέστημεν (6,89,4; 6,89,5). Auch: Meier, Athen (wie Anm. 15) 530. 64 Nicole Loraux, L'invention d'Athènes. Histoire de l'oraison funèbre dans la cité clas-sique, Paris 1981, 274 ff.

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sich folglich, nicht zuletzt von Seiten der alten Führungsschicht, die Frage stellen konnte, ob der δήμος wirklich das Ganze sei und was ihn befähige (oder berechtige), für das Ganze die rechten Beschlüsse zu fassen. Oder war er nur die breite Masse, die alles parteiisch in ihrem eigenen Interesse und gerade nicht im Sinne des Ganzen regierte?

Wir wissen nicht, wie weit diese Dinge Mitte des fünften Jahrhunderts grundsätzlich diskutiert worden sind. Aber daß man sich auf das Ganze der Polis berufen, daß man es beschwören, daß man die Frage stellen konnte, wer (nicht am besten dafür sorgen, sondern:) es am besten dar-stellen konnte - und in welcher Form - , dafür scheinen die vorgebrachten Belege entschieden zu sprechen.

Im Peloponnesischen Krieg, in den damals vielerorts aufbrechenden Parteiungen, stellte sich die Frage nach dem Ganzen dann wesentlich dringender - und provozierte neue Überlegungen über das Ganze, ja Be-schwörungen des Ganzen,65 neue Konzepte, wie das der Mischverfassung und der Patrios Politela, κοινοτάτη τοις πολίταις οΰσα πάσι,66 sowie neue institutionelle Auskünfte - und schließlich neue theoretische Ansät-ze wie die Piatons und des Aristoteles.

XI.

Insgesamt scheint sich mir zu ergeben: Der Begriff Demokratie kam in den 460er Jahren auf, vermutlich in Athen. Daß die Entmachtung des Areopags oder deren unmittelbare Vorgeschichte dafür Anlaß geboten hätte, ist nicht zu erweisen, aufgrund des Zeugnisses der Hiketiden eher unwahrscheinlich. Jedenfalls wird das Bewußtsein von einer „Herrschaft des Volkes" dort, wenn nicht erstmals aufgekommen, so doch erstmals Bedeutung und Konsequenz bekommen haben.

Es kann kaum leicht gewesen sein, eine Ordnung als Demokratie zu verstehen, bevor man auf den Begriff gekommen war. Nicht unbedingt -oder nicht nur - weil sich „Herrschen" oder „Regieren" herkömmlich auf Amtsinhaber (oder Tyrannen) bezog, sondern vor allem, weil sich die Tatsache, daß der Demos in der Politik nennenswert mitsprach, über Krieg und Frieden (wie seit alters) sowie über Gesetze und anderes ent-schied, die Amtsinhaber wählte und - vielleicht auch - zur Rechenschaft

65 Romilly, Problèmes (wie Anm. 62) 131 ff. 66 Thrasymachos, DK 85 Β 1.

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zog, nicht einfach zu einer Volks-Herrschaft verallgemeinern und steigern ließ.

Entsprechend hat der Begriff, auch nachdem er da war, nicht gleich das ganze politische Feld respektive dessen Verstehen derart einschneidend verändert, daß andere Charakterisierungen von Ordnung obsolet gewor-den wären. Das geschah vielmehr erst, als der Gegensatz zwischen Olig-archie und Demokratie in den heftigen innenpolitischen Kämpfen (und vielerlei Verfassungsumstürzen!) während des Peloponnesischen Kriegs ins Zentrum der Politik rückte und auch in der Agitation eine wesentli-che Rolle zu spielen begann. Seitdem nimmt man, wie Aristoteles es aus-drückt, gewöhnlich zwei Verfassungen an „gleich wie zwei Hauptwinde, Nord und Süd, indem man alle andern Winde nur als Abarten von diesen betrachtet", entsprechendes gelte von den Tonarten (1290 a 13 ff.).

Im Gegensatz zur Oligarchie (und zumal zu den Oligarchien im weite-ren Sinne) ließ sich der Begriff Demokratie enger und schärfer fassen.67

Es wurde angesichts der vielfältigen Möglichkeiten notwendig, feinere Unterscheidungen zwischen Demokratie und Oligarchie vorzunehmen, wie sie uns (außer bei Thukydides) vor allem in Aristoteles' Politik be-gegnen. Möglicherweise hat das (außer Thukydides) vor allem die Theo-rie beschäftigt. Denn seit dem vierten Jahrhundert (und gelegentlich selbst bei - dem keineswegs immer konsequenten - Aristoteles) wird der Demokratie-Begriff zugleich in einem weiteren Sinne rückwirkend auf frühere politische Ordnungen angewandt, welche Institutionen auf-wiesen, die später als demokratisch galten, ursprünglich so aber nicht verstanden worden sein müssen; solche mit relativ breiter Aktivbürger-schaft etwa, stärkeren Mitspracherechten der Volksversammlung sowie Kontrolle der Beamten. Solche Ordnungen sind in Athen seit Kleisthenes, anderswo möglicherweise schon früher geschaffen worden. In einem wei-teren Sinne kann man sie natürlich auch als Demokratie bezeichnen, wie es schon Herodot tat, zumeist übrigens im Gegensatz zur Tyrannis. Doch scheint es mir wichtig zu sein, daß sie ursprünglich nicht so verstanden wurden (und werden konnten). Es fehlte ihnen an etwas, das sie zu mehr

67 Die Unterscheidung zwischen einem ersten und einem zweiten Begriff ist so, wie ich sie in Entstehung des Begriffs (wie Anm. 1) 49 ff. vorgenommen habe, nicht haltbar. Auch scheint es mir nicht mehr sinnvoll, die frühe Form als „liberal" oder „konstitutionell" zu bezeichnen (vgl. dagegen schon Nippel, Mischverfassungstheorie [wie Anm. 39] 35, Anm. 19). Nein, der frühe Gebrauch von „Demokratia", vor dem Peloponnesischen Krieg scheint mir dadurch bestimmt, daß das Wort zunächst in einem umfassenderen Sinne ver-wendet wurde (was gelegentliche Zuspitzungen gegen den Adel nicht ausschloß), später in einem engeren, im Gegensatz zur Oligarchie. Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library

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als Modifikationen überkommener Ordnung hätte machen können, näm-lich am nachhaltigen Bewußtsein der Herrschaft des Volkes und an deren Verwirklichung in der Nutzung vorhandener Institutionen und/oder in der Einführung neuer. So daß etwa nicht nur Adlige, sondern auch Ange-hörige breiterer Schichten - und in nicht geringem Ausmaß - Ämter be-kleiden konnten, daß die Ämter nicht aufgrund von Wahl an die Einfluß-reichsten, sondern aufgrund von Losung auch an viele andere gelangen konnten, daß die Volksversammlung nicht nur gelegentlich über dies oder jenes, sondern regelmäßig und derart Entscheidungen treffen konnte, daß sie sich nicht nur ihrer Mitsprache, sondern eben ihrer Herrschaft bewußt wurde.

In Athen war das in sehr starkem Maße seit den 460er Jahren gege-ben, wenn auch zeitweise als (demokratisches) Regiment unter dem Ersten Mann, wie Thukydides bemerkt (2,65,9: έγίγνετό τε λόγφ μεν δημοκρατία, εργφ δέ ύπό του πρώτου άνδρός αρχή).

Daß die Herrschaft des Volkes dort frühzeitig (und wahrscheinlich zum ersten Mal) bewußt wurde, hängt wesentlich mit dem Seebund und der langen Reihe von Verhandlungsgegenständen zusammen, die er mit sich brachte und über die es vermutlich auch vor der Volksversammlung zu heftigen Disputen gekommen ist. Da war „das Volk" ununterbrochen ge-fragt, gewann es eine außerordentliche Bedeutung. Ein besonderes Hoch-gefühl und ein eigenartiges Könnens-Bewußtsein verbanden sich damit (und es folgten daraus ungeheure Erschütterungen, deren Niederschlag uns in der klassischen Kunst der Griechen begegnet).

So sollte man annehmen, daß das Bewußtsein von Demokratie erst in Athen Bedeutung und Gewicht erhielt, aber nicht gleich auf andere Städte übertragen werden konnte. Sofern sich Pindars Unterscheidung von drei Ordnungen im Falle der Herrschaft des Volkes nicht auf Athen bezog, so wird er vermutlich eher an Einzelfalle gedacht haben, manches daran mag Übertreibung gewesen sein, aber es ist natürlich nicht auszuschließen, daß hier oder dort schon einmal die Gewichte so sehr zugunsten des brei-teren Volkes verschoben worden waren, daß man, und sei es kritisch oder abfallig, von seiner Herrschaft hätte sprechen können.

Korrekturnachtrag zum Staat: Könige sind in der Antike zwar Völker-rechtssubjekte (vgl. die Aufzählung bei Polybios 7,9,16: βασιλείς, πόλεις καί εθνη), aber deswegen doch keine Staaten. Ja, gerade weil sie Völker-rechtssubjekte sind, können sie Staaten weder sein noch repräsentieren (oder umgekehrt).

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