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    Gerhard Senft

    IM VORFELD DER KATASTROPHE.

    DIE WIRTSCHAFTSPOLITIK DES STNDESTAATES.

    STERREICH 1934-1938

    Die Originalausgabe erschien im Jahr 2002 als Band 15 der wissenschaftlichen Buchreihe

    Vergleichende Gesellschaftsgeschichte und politische Ideengeschichte der Neuzeit,

    herausgegeben von Anton Pelinka und Helmut Reinalter

    Erste Auflage:

    Braumller Universittsverlag Wien 2002

    ISBN 3-7003-1402-7

    Zweite Ausgabe:

    Online-Publikation Wien 2014

    Umschlagmotiv: Arbeitsbeschaffung ein Wegweiser wirtschaftlicher Notwehr, hrsg. von der

    Bundesfhrung des sterreichischen Heimatschutzes, Wien 1934 (Bildausschnitt)

    Fair use statement: This title has been put online with the permission of the author. This mate-

    rial may be used freely for educational and academic purposes. It may not be used in any way

    for profit.

  • 3

    Inhalt

    Vorwort zur zweiten Ausgabe ................................................................................................... 9

    Vorwort zur ersten Auflage ..................................................................................................... 12

    1. Einleitung: Von der groen Krise zum Stndestaat ..................................................... 15

    1.1. Die konomische Dauerkrise .......................................................................................... 23

    1.2. Die Zuspitzung der sozialen Konflikte ............................................................................ 38

    1.3. Modernisierung in der Sackgasse .................................................................................... 52

    1.3.1. Exkurs zu den Modernisierungstheorien ...................................................................... 54

    1.3.2. Facetten der sterreichischen Krise und ihr stndisch ausgerichtetes

    Bewltigungsmuster ............................................................................................................... 61

    2. Die Ideologie des Stndestaates ....................................................................................... 75

    2.1. Vom homo oeconomicus zum homo corporativus? Architekten

    des Stndestaates .................................................................................................................. 108

    2.1.1. Karl Freiherr von Vogelsang und die christlichen Sozialreformer ............................. 110

    2.1.2. Der Solidarismus von Heinrich Pesch bis Johannes Messner .................................... 114

    2.1.3. Othmar Spann und sein Kreis ..................................................................................... 119

    2.1.4. Die Beitrge Ignaz Seipels ......................................................................................... 127

    2.1.5. Die dynamischen Einflsse des italienischen Faschismus ......................................... 134

    2.1.6. Die Enzyklika Quadragesimo anno Papst Pius d. XI. ............................................. 144

    2.2. Das stndische Organisationsmodell in sterreich Eine Einschtzung ..................... 150

    3. Wesen und Aufbau des real existierenden Stndestaates ....................................... 157

    3.1. Der Weg zur Mai-Verfassung 1934 .............................................................................. 157

    3.2. Die berufsstndischen Elemente in der Mai-Charta 1934 ............................................. 200

    4. Auf neuen Wegen zu alten Zielen. Interessenpolitische Konstellationen

    im Stndestaat .................................................................................................................... 227

  • 4

    4.1. Zur Herausbildung des Verbndewesens in sterreich ................................................. 227

    4.2. Die Neuordnung der Arbeitnehmervereinigungen ........................................................ 245

    4.3. Durchsetzungsbedingungen im Bereich der Interessenpolitik bei den

    Unternehmer- bzw. Selbstndigenverbnden ....................................................................... 272

    4.3.1. Die Industrie im Stndestaat ....................................................................................... 272

    4.3.2. Hort der Traditionsgebundenheit I: die Landwirtschaft ............................................. 304

    4.3.3. Hort der Traditionsgebundenheit II: die gewerbliche Wirtschaft ............................... 312

    4.3.4. Geldsektor und Versicherungswesen ......................................................................... 317

    4.3.5. Die Kammernproblematik im Stndestaat ................................................................. 325

    4.3.5.1. Die Handelskammerorganisation ............................................................................ 325

    4.3.5.2. Die Kammern der freien Berufe .............................................................................. 333

    5. Sektoren des wirtschaftspolitischen Handelns ............................................................ 341

    5.1. Leitlinien der Wirtschaftspolitik in sterreich von 1934 bis 1938 ............................... 341

    5.2. Die Irrlichter im monetren System. Fragen der Geld- und Whrungspolitik .............. 363

    5.3. Der Staat muss sparen. Der finanzpolitische Dogmatismus im Stndestaat .............. 394

    5.4. sterreichs Auenhandelspolitik in den 1930er Jahren. Groraumwirtschaftliche

    und protektionistische Anstze ............................................................................................. 439

    5.5. Das Kreuz mit der Moderne. Industrie- und Infrastrukturpolitik in der Endphase

    der Ersten Republik .............................................................................................................. 489

    5.6. Der Kampf um den historischen Mittelstand. Gewerbepolitik

    in sterreich 1934 bis 1938 ................................................................................................. 558

    5.7. Am buerlichen Wesen wird sterreich genesen. Die alpenlndische

    Landwirtschaft zwischen Traditionalismus und Plangebundenheit .................................... 593

    5.8. Ein Schritt vorwrts, zwei Schritte zurck. Bilanz einer Sozialabbaupolitik ............... 630

    5.9. Symphonie der Arbeit. Beschftigungspolitische Initiativen

    im Korporativstaat ................................................................................................................ 658

    6. konomische Entwicklung, Wirtschaftspolitik und wirtschaftspolitische

    Alternativen im sterreich der 1930er Jahre .................................................................. 687

  • 5

    Tabellenverzeichnis

    Durchschnittliches Wachstum des Bruttonationalprodukts 1913 bis 1938 in verschiedenen Nachfolgestaaten der Donaumonarchie und in Westeuropa ................................................... 21

    Wachstum der landwirtschaftlichen Produktion 1919 bis 1929 ............................................. 26

    sterreichs Auenhandel 1920 bis 1930 ................................................................................. 28

    Zahl der Arbeitslosen 1921-1929 ............................................................................................ 35

    Gewerkschaftliche Mitgliederbewegungen 1918-1932 ......................................................... 239

    Entwicklung der Streikbewegungen in sterreich 1932 bis 1936 ........................................ 256

    Anteil der Einkommensarten am Volkseinkommen zu laufenden Preisen 1929 bis 1937 in Prozent .............................................................................................................................. 278

    Valutarische Bestnde der Nationalbank 1924 bis 1930 ...................................................... 386

    Monatszahlen der Ein- und Ausfuhr 1929 bis 1932 ............................................................. 445

    Der Handel zwischen den sechs Nachfolgestaaten 1928 und 1935 ins Verhltnis gesetzt zum gesamten Handelsaustausch ................................................................................................. 447

    Auenhandelsanteile der Staaten der Kleinen Entente im Donauraum ............................... 464

    sterreichs Ausfuhr nach den wichtigsten Bestimmungslndern von 1929 bis 1937 ......... 470

    sterreichs Einfuhr aus den wichtigsten Herkunftslndern von 1929 bis 1937 .................. 471

    Die Entwicklung des sterreichischen Auenhandels 1929 bis 1937 .................................. 475

    Die Fremdenverkehrsentwicklung in sterreich 1928 bis 1933 .......................................... 481

    Entwicklung der Arbeitsleistung in sterreich 1929 bis 1936 im Vergleich zu 1913 ......... 502

    Index fr die Erzeugung von Verbrauchsgtern 1929 bis 1937 ........................................... 513

    Industrieproduktion nach Branchen 1929 bis 1937 .............................................................. 515

    Der Kraftfahrzeugbestand in sterreich 1930 bis 1937 ....................................................... 520

    Index fr die industrielle Produktion in verschiedenen Lndern 1929 bis 1937 .................. 528

    Die Kohlenversorgung sterreichs 1931 bis 1937 .............................................................. 532

  • 6

    Stromverbrauch und Kopfquoten des Stromverbrauchs in sterreich 1929 bis 1938 ......... 535

    Erzeugung elektrischer Energie in sterreich 1929 bis 1938 .............................................. 537

    Die Lngen des Hochspannungsnetzes in sterreich 1932 bis 1936 ................................... 540

    Die Gewinnung von Erdl und Erdgas 1930 bis 1937 .......................................................... 542

    Erdlverbrauch in sterreich 1929 bis 1937 ......................................................................... 545

    Die Entwicklung des elektrischen Zugbetriebes in sterreich ............................................. 554

    Preisentwicklung landwirtschaftlicher Erzeugnisse in sterreich 1926/27 bis 1937/38 ...... 618

    Beitrge der Landwirtschaft zum Bruttonationalprodukt 1929 bis 1937 .............................. 626

    Der durchschnittliche Jahresverbrauch in Wiener Arbeiter- und Angestellten- haushalten .............................................................................................................................. 628

    Ausgaben der ffentlichen Hand fr den Bereich Soziale Verwaltung in den Jahren 1932 bis 1937 ....................................................................................................................................... 636

    Stand der versicherten Personen der Wiener Arbeiter-Versicherungskrankenkasse 1930 bis 1936 ................................................................................................................................. 651

    Zahl der Arbeitslosen in sterreich in den Jahren 1929 bis 1937 ........................................ 681

    Anteil der Frauenarbeit im Industriesektor 1934 bis 1937 .................................................... 683

    Kursindexentwicklung der 34 wichtigsten Industrieaktien in sterreich 1927 bis 1931...... 694

    Entwicklung des Produktionsvolumens der sterreichischen Landwirtschaft 1929 bis 1932 ................................................................................................................................. 697

    Die Entwicklung des Quantum-Index fr den Auenhandelsbereich 1929 bis 1937............ 699

    Indexziffern der Produktions- und Konsumgterumstze 1929 bis 1937.............................. 705

  • 7

    Verzeichnis der Schaubilder

    Investitionsausgaben der ffentlichen Hand 1923-1932 ......................................................... 36

    Wirtschaftswachstum, Arbeitslosigkeit, Streiks und die Zunahme politischer Gewalt in ster-reich ......................................................................................................................................... 50

    Die Struktur der sterreichischen Verfassung von 1934 ....................................................... 198

    Die Einordnung der berufsstndischen Ausschsse im Gewerbe ......................................... 270

    Bauerntum und Landarbeiterschaft im Berufstand Land- und Forstwirtschaft ..................... 307

    Preisentwicklung in sterreich 1923 bis 1937 ..................................................................... 391

    Bundeseinnahmen und -ausgaben in sterreich 1934 bis 1938 im Vergleich zu den Jahren 1924 und 1931 ...................................................................................................................... 417

    Entwicklung der Bundesausgaben nach Sektoren 1933 bis 1937 ........................................ 432

    Investitionsausgaben des Bundes in den Jahren 1929 bis 1938 ........................................... 435

    Entwicklung der Defizite und der Investitionsausgaben der Bundesbahnen ...................... 437

    Der Fremdenverkehr in den vier Winterhalbjahren, 1. November bis 30. April 1933/34 bis 1936/37 in den Bundeslndern ohne Wien .......................................................................... 486

    Anteile der Sektoren Handel, Gewerbe, Industrie und Baugewerbe am Bruttonationalprodukt 1920 bis 1937 ....................................................................................................................... 564

    Gewerbe An- und Abmeldungen im Raume Wien 1933 bis 1937 ....................................... 581

    Entwicklung des Bruttonationalprodukts in sterreich 1929 bis 1937 ................................. 704

    Vernderungen auf der Seite der Masseneinkommen 1929 bis 1937 ................................... 707

    Anteil der Bundesausgaben am Bruttonationalprodukt in Prozent 1929 bis 1937 ............... 710

  • 9

    Vorwort zur zweiten Ausgabe

    Seit dem Einsetzen der heftigen Turbulenzen auf den Finanzmrkten 2007 hat die Geschichts-

    forschung immer wieder auf Parallelen zwischen der groen Krise der 1930er Jahre und den

    aktuellen konomischen Problemen hingewiesen.1 Ein erheblicher Unterschied besteht jedoch

    darin, dass diesmal in wesentlichen Teilen der Weltwirtschaft sehr rasch und sehr gezielt auf

    Krisenbewltigung gesetzt wurde. In den Vereinigten Staaten etwa konnten mit entsprechen-

    den geldpolitischen Manahmen tiefere Einbrche in die Realwirtschaft abgefangen werden.

    Etwas zgerlicher kamen in Europa die Dinge in Gang. Aber auch hier ist mittlerweile die

    Bereitschaft erhht, das der Europischen Zentralbank zur Verfgung stehende Instrumentari-

    um auszuschpfen, um so wieder ein investitionsfreundliches Klima zu schaffen. Dennoch

    bleiben im europischen Raum nicht zu vernachlssigende Problemfelder bestehen. Die ein-

    seitige Ausrichtung auf die Bedrfnisse der Kapitalmrkte hat sich nicht nur als nachhaltig

    gesellschafts- und wirtschaftsschdigend erwiesen, auch die Spielrume der ffentlichen Hand

    sind mit Bankenrettungsaktionen u. . dramatisch eingeengt worden. Im Zuge der Austeri-

    ttspolitik verordnete Sparzwnge und Strukturreformen haben groen Bevlkerungsgruppen

    wesentliche Nachteile gebracht, Systeme der sozialen Sicherung erlebten ihre Demontage.

    Auerordentlich davon betroffen waren Lnder wie Griechenland, Portugal und Spanien.

    Niemand kann heute sagen, ob die Prozesse der Konditionalisierung als abgeschlossen zu be-

    trachten sind; zu befrchten ist aber, dass die Weichen weiterhin in Richtung eines autoritren

    Kapitalismus gestellt werden.2 Sicher ist auf alle Flle, dass eine auf falschen Prmissen und

    instabilen Fundamenten beruhende Finanzmarktarchitektur auch in der Zukunft erhalten blei-

    ben soll. Als besonders fatal erweist sich in der gegebenen Situation, dass die Politik der

    Schuldenbremsen notwendige konjunkturpolitische Manahmen verhindert. Wirtschaftsfor-

    scher sprechen bereits von einem verlorenen Jahrzehnt fr Europa.3

    1 Vgl. etwa: Ferguson, Niall (2009): Aufstieg des Geldes. Die Whrung der Geschichte, Berlin. 2 Bruff, Ian (2012): Authoritarian Neoliberalism, the Occupy Movements, and IPE. In: Journal of Critical

    Globalisation Studies, vol. 5, no. 5, 2012, p. 114-116. Deppe, Frank (2013): Autoritrer Kapitalismus: Demokra-

    tie auf dem Prfstand, Hamburg. 3 Karl Aiginger zitiert in: Fnf Jahre nach Lehman: Wir haben gut gelscht, aber zu wenig gelernt. In:

    Format. Magazin fr Politik, Wirtschaft & Wissen, 15. Jg., Nr. 37, 13. September 2013, http://www.format.at/ news/international/fuenf-jahre-lehman-wir-366164 [29. August 2014].

  • 10

    Mit einer gewissen Folgerichtigkeit erfhrt heute die Debatte der Zwischenkriegszeit pro und

    kontra Austeritt eine Neuauflage. Die von Ludwig von Mises inspirierte sterreichische

    Schule bekmpfte whrend der 1930er Jahre die von John Maynard Keynes und seinen Anh-

    ngern eingebrachten wirtschaftspolitischen Vorschlge auf der ganzen Linie und das uerst

    erfolgreich. Die Spitzen von Politik und Zentralbank, die oberen Etagen des Verwaltungsap-

    parates bildeten in sterreich einen erratischen Block, der sich gegenber Neuerungsanstzen

    in der Wirtschaftspolitik etwa im Sinne von Keynes als vllig unzugnglich erwies. Die

    Weltwirtschaftskrise wurde als Folge eines geschwundenen Vertrauens im Bereich des welt-

    weiten Kapitalmarktgeschehens gedeutet. Dementsprechend bestand die Zielsetzung, dieses

    Vertrauen auf dem Wege von Haushaltsdisziplin und einer straff gefhrten Finanzpolitik wie-

    derherzustellen, ohne jedoch auf deflationre Effekte Rcksicht zu nehmen. Den Unmutsbe-

    kundungen aus der Bevlkerung, die keinerlei Aussicht auf eine Verbesserung ihrer wirt-

    schaftlichen Lage erkannte, wurde mehr und mehr mit den Mitteln der Gewalt begegnet. Eine

    durchgehende Militarisierung der Gesellschaft setzte ein, noch bevor der Zugriff des NS-

    Regimes auf sterreich erfolgte. Aus begrenzbaren sozialen Divergenzen wurden unkontrol-

    lierbare, zerstrerische Konflikte, die das Ende der Ersten Republik beschleunigten.

    Dabei waren im sterreich der Zwischenkriegszeit durchaus auch alternative Anstze in Dis-

    kussion. Das kurz nach dem Anschluss 1938 von dem Exilanten Erich Hans Wolf in Zrich

    herausgegebene Buch Katastrophenwirtschaft dokumentiert zahlreiche Bemhungen um

    eine Wende in der Wirtschaftspolitik.4 Unter anderen hatte der Finanztheoretiker Rudolf

    Goldscheid vor der wachsenden Macht des Finanzkapitalsektors gewarnt. Er pldierte fr

    Manahmen zur Sicherstellung der finanzpolitischen Unabhngigkeit sterreichs und fr eine

    Strkung der ffentlichen Hand. Mittels Repropriation sollte der ffentliche Sektor aus einer

    Schuldner- in eine Glubigerposition gebracht werden und so mehr Gestaltungsspielraum fr

    die Wirtschaftspolitik erhalten.5 Nicht zuletzt sei auf Gottfried Kunwald verwiesen, der als

    4 Wolf, Erich Hans (1939): Katastrophenwirtschaft. Geburt und Ende sterreichs 1918-1938, Zrich -

    New York. 5 Schwarz, Richard (1919): Rathenau, Goldscheid, Popper-Lynkeus und ihre Systeme zusammengefasst

    zu einem Wirtschaftsprogramm, Wien. Goldscheid, Rudolf; Schumpeter, Joseph (1976): Die Finanzkrise des

    Steuerstaats, hrsg. von Rudolf Hickel, Frankfurt/M.

  • 11

    Jurist und Wirtschaftsfachmann zahlreiche Expertisen fr Banken und Firmen erstellte, wobei

    er ber weite Strecken auch als Regierungsberater herangezogen wurde. Mit dem politischen

    Rechtsruck Anfang der 1930er Jahre und mit dem Erstarken des Austrofaschismus wurde

    Kunwald kaltgestellt. Einfluss gewann hingegen sein Kontrahent Viktor Kienbck, der auf

    einer beinharten Sanierung des Staatshaushaltes bestand. In verschiedenen medialen Auftritten

    warnte Kunwald vor den unbeherrschbaren Folgen einer Finanzdiktatur. Unmittelbar nach

    dem Einmarsch der deutschen Truppen im Mrz 1938 nahm sich Kunwald das Leben.6 Sein

    Testament liest sich wie eine Anklage gegen die im Stndestaat wirtschaftspolitisch Verant-

    wortlichen.

    Wien, Sommer 2014 Gerhard Senft

    6 Weissensteiner, Friedrich (2003): Bundeskanzler Seipels Graue Eminenz. In: David. Jdische Kultur-

    zeitschrift, 14. Jg., Heft 59, Dezember 2003, http://www.david.juden.at/kulturzeitschrift/57-60/59-

    Weissensteiner.htm [29. August 2014].

  • 12

    Vorwort zur ersten Auflage

    Als im Jahre 1936 Fritz Neumarks Buch ber Neue Ideologien in der Wirtschaftspolitik

    erschien, in dem auch das Wesen des stndischen Denkens eingehend abgehandelt wird, war

    die Aufbaueuphorie in den Reihen der Proponenten des autoritren Stndestaates bereits weit-

    gehend abgeklungen.7 Als Krisenbewltigungsmodell hatte das Stndesystem in sterreich

    seit dem Ende der 1920er Jahre zunchst an Zugkraft stetig gewonnen, die daran geknpften

    Erwartungen waren keine geringen: nicht nur eine Neutralisierung der konomischen Kri-

    senerscheinungen sollte mit der Errichtung einer stndischen Ordnung mglich werden, gese-

    hen wurde darin besonders ein Mittel zur Befriedung einer zerrissenen Gesellschaft, zur Ab-

    schaffung des Klassenkampfes. Die zahlreichen inneren Widersprche, die das Scheitern

    dieses Modells in der Praxis (mit-)verursachten, sind im Rahmen der vorliegenden Arbeit aus-

    fhrlich dargestellt.

    Die Gliederung der Abhandlung ist so gewhlt, dass in einem ersten Teil die Facetten wirt-

    schaftlicher und sozialer Probleme, wie sie die Zwischenkriegszeit prgten, anschaulich ge-

    macht werden. Will man die historischen Koordinaten in ihrer Gesamtheit bercksichtigen, ist

    auch der Einbezug der geistesgeschichtlichen Komponente, die ein Nachvollziehen der Gene-

    se und der Entwicklung des stndischen Denkens mglich macht, erforderlich. Im Zuge der

    hrter werdenden Auseinandersetzungen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen wurde die

    stndische Ordnung von der politischen Rechten zusehends hufiger als Alternative zum Sys-

    tem des Parlamentarismus angepriesen. Nach der Beseitigung der demokratischen Strukturen

    und nach einem grausamen Brgerkrieg war in sterreich der Weg frei fr ein stndisches

    Experiment, dessen Vorbilder in Mussolinis Italien oder in Salazars Portugal zu finden waren.

    Der Untersuchung der wirtschaftsrelevanten und berufsstndischen Elemente in der sterrei-

    chischen stndischen Verfassung von 1934 ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Die verfas-

    sungspolitische Neuordnung brachte die bis dahin bestehenden Formen eines gesellschaftli-

    chen Interessenausgleichs zum Verschwinden. Verdrngt war die Kultur des freien

    7 Neumark, Fritz (1936): Neue Ideologien in der Wirtschaftspolitik. Wiener Staats- und Rechtswissen-

    schaftliche Studien, hrsg. von Hans Kelsen, Hans Mayer und Adolf Merkl, Band XXV, Leipzig-Wien, S. 11 ff.

    Das Buch Neumarks darf zur deutschen Exilliteratur gezhlt werden. Fritz Neumark emigrierte 1933 aus

    Deutschland in die Trkei, von 1933 bis 1951 hatte er einen Lehrstuhl an der Universitt Istanbul inne.

  • 13

    Aushandelns von Kollektivvertrgen, fr Werkttige und Unternehmer war nun der Zusam-

    menschluss in Zwangsverbnden vorgesehen. In welchem Ausma einzelne gesellschaftliche

    Gruppen bedingt durch die Manahmen des Stndestaat-Regimes mit vernderten Durchset-

    zungsbedingungen oder mit der Begrenzung ihrer Spielrume konfrontiert waren, wird im

    Zuge eines weiteren Kapitels zu klren versucht. Das Kernstck der Schrift bildet eine be-

    schreibend-analytische Darstellung der verschiedenen Sektoren der sterreichischen Wirt-

    schaftspolitik zwischen 1934 und 1938. Ausgehend von einer Erhebung des damaligen Stan-

    des der Wirtschaftsforschung werden alle wichtigen Bereiche, vom Auenhandels-

    Interventionismus ber die finanzpolitischen Kontraktionen bis zur Zinspolitik, ausgeleuch-

    tet. Ein Schlusskapitel, in dem wirtschaftspolitische Alternativen in Bezug auf die Wirt-

    schaftsentwicklung der 1930er Jahre diskutiert werden, rundet die Arbeit ab.

    Das Forscherinteresse am sterreichischen Stndestaat hatte sich in den 1980er Jahren fr eine

    kurze Zeitspanne nahezu boomartig geuert, in der jngeren Vergangenheit wurde das The-

    ma aber nur mehr sehr am Rande behandelt. Es erschien daher berfllig, dass der Reihe vor-

    zglicher und unentbehrlicher Arbeiten ber die dramatische Phase von 1934 bis 1938 eine

    umfassende Darstellung der konomischen und wirtschaftspolitischen Implikationen des

    Stndestaates hinzugefgt wird, die auch in Detailbereiche wie Fragen der Kartellpolitik oder

    der technisch-organisatorischen Rationalisierung vordringt. Der theoretische Zugang, der im

    Rahmen dieser Abhandlung gewhlt wurde, versucht den kritischen Anstzen in der Moderni-

    sierungsforschung Rechnung zu tragen. Wirtschaftliche Modernisierung ist demnach nicht als

    ein kontinuierlicher Aufstieg in die lichten Hhen des Wohlstandes und der Freiheit des Indi-

    viduums zu betrachten, da die Industrialisierung in ihrer Geschichte immer wieder auch

    schwerwiegende Folgeprobleme und Krisen hervorgebracht hat. Es ist keineswegs verfehlt,

    den Prozess der Modernisierung als ein paradoxes Phnomen zu begreifen, da das Ergebnis

    auch eine Verstrkung antimoderner Positionen und Verhaltensmuster in der Gesellschaft oder

    eine Verminderung von Handlungsspielrumen des Menschen bedeuten kann.8 Auf die Er-

    scheinung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen (Wilhelm Pinder) wird bei der Unter-

    8 Loo, Hans van der; Reijen, Willem van (1992): Modernisierung. Projekt und Paradox, Mnchen. Postu-

    liert ist damit keineswegs eine Gegnerschaft zur Modernisierung, angesprochen ist allerdings das Erfordernis

    einer weitergehenden Beschftigung etwa mit den Anstzen der reflexiven Modernisierung im Sinne Ulrich

    Becks. Beck, Ulrich (1991): Politik in der Risikogesellschaft. Essays und Analysen, Frankfurt/M.

  • 14

    suchung sozialer Transformationsprozesse immer besonders zu achten sein. Karl Mannheim

    zhlte zu den ersten, die anschaulich herausarbeiteten, welche Irrationalismen ein Zeitalter

    der Unsicherheit freizusetzen imstande ist, welche Voraussetzungen in modernen Industrie-

    gesellschaften fr das Emporkommen diktatorischer Tendenzen bestehen.9 Die vorliegende

    Abhandlung begreift sich selbstverstndlich nicht als eine Anklageschrift, wo dennoch Wer-

    tungen eingeflossen sind, waren sie vom Standpunkt der Ablehnung autoritrer bzw. totalit-

    rer Mentalitten sowie von der Unverletzbarkeit der Menschenwrde bestimmt.

    Die Auseinandersetzung mit dem sterreichischen Stndestaat bildet den vorlufigen Ab-

    schluss einer mehrjhrigen wissenschaftlichen Beschftigung mit dem Thema Zwischen-

    kriegszeit. Wie immer bei solchen Gelegenheiten ist man dabei einer Reihe von Personen zum

    Dank verpflichtet. Stellvertretend fr alle, die mir mit ihrer Diskursbereitschaft, ihren gedank-

    lichen Impulsen und mit ihren kritischen Kommentaren zum Manuskript zur Seite gestanden

    sind, mchte ich mich besonders bei Professor Karl Bachinger vom Institut fr Wirtschafts-

    und Sozialgeschichte an der Wirtschaftsuniversitt Wien bedanken. Fr die im Text verblie-

    benen Irrtmer und Fehler trage selbstverstndlich ich alleine die Verantwortung.

    Wien, Sommer 2002 Gerhard Senft

    9 Mannheim, Karl (1958): Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, Darmstadt.

  • 15

    1. Einleitung: Von der groen Krise zum Stndestaat

    Wall Street in Panic as Stocks Crash10, lautete die Schlagzeile der New Yorker Tageszei-

    tung Brooklyn Daily Eagle am 24. Oktober 1929, dem sogenannten schwarzen Donners-

    tag. Der Brsenkrach vom Oktober 1929 in den USA zog sehr rasch auch Erschtterungen

    der realwirtschaftlichen Fundamente nach sich. Dennoch verknpfte anfangs kaum jemand die

    Turbulenzen am Wertpapiersektor mit der Erwartung einer langandauernden Depressionsperi-

    ode.11 Auch nicht wenige Fachkonomen unterschtzten die Situation vllig, als sie trotz des

    rasanten bergreifens der Wirtschaftskrise von den USA auf andere Lnder weiterhin emp-

    fahlen, auf die Selbstheilungskrfte des Marktgeschehens zu hoffen. Drastische Einbrche auf

    der Seite des Konsums, in der Folge auch im Investitionsbereich, setzten eine deflationre

    Spirale in Gang, deren negative Effekte bald sprbar wurden. Etliche Staaten gingen dazu

    ber, Schuldenrckzahlungen kurzweg einzustellen, die eingeschrnkte Nachfrage in Verbin-

    dung mit protektionistischen Manahmen reduzierten das Volumen des Welthandels auf ein

    Minimum, whrend das internationale Whrungssystem auf einen ungesunden Abwertungs-

    reigen zusteuerte. Die notwendig gewordenen Produktionsdrosselungen in den betroffenen

    Lndern schwchten die Substanz der Unternehmen, Betriebszusammenbrche waren an der

    Tagesordnung, Massenentlassungen und ein gigantischer Anstieg der Arbeitslosenrate waren

    logische Folgen. Im Rahmen der Wirtschaftspolitik verlie man sich zunchst auf altherge-

    brachte Rezepte wie Lohnsenkungen oder Ausgabenlimitierungen im Bereich der ffentlichen

    Haushalte.

    10 Schlagzeile im Brooklyn Daily Eagle and Complete Long Island News, 89. Jg., No. 295, 24. Oktober

    1929, S. 1. Faksimile, Der Standard, 6. Jg., Nr. 1439, S. 20. 11 Zur Weltwirtschaftskrise: Robbins, Lionel C. (1934): The great Depression, London; Grotkopp, Wil-

    helm (1954): Die groe Krise: Lehren aus der berwindung der Weltwirtschaftskrise 1929-1932, Dsseldorf;

    Galbraith, John Kenneth (1989): Der groe Crash 1929: Ursachen, Verlauf, Folgen, Mnchen; Bernstein, Micha-

    el A. (1989): The great Depression: delayed recovery and economic change in America 1929-1939, Cambridge;

    Blaich, Fritz (1985): Der schwarze Freitag. Inflation und Wirtschaftskrise, Mnchen; Garside, William R.

    (1993): Capitalism in Crisis: international responses to the great depression, London; Kindleberger, Charles P.

    (1984): Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert. Die Weltwirtschaftskrise 1929-1939, Mnchen; Ter-

    kel, Studs (1972): Der Groe Krach. Die Geschichte der amerikanischen Depression, Frankfurt/M.

  • 16

    Als der angebliche Selbstreinigungsprozess des Marktes die erwartete Erlsung zu verwei-

    gern schien, begannen sich da und dort Anstze einer Kurskorrektur mit antizyklischem Cha-

    rakter abzuzeichnen. Das Bild wandelte sich zusehends. Wir leben in einer merkwrdig inte-

    ressanten Zeit, schrieb der prominente Schweizer Bankier und Wirtschaftspublizist Felix

    Somary 1932, als die Wirtschaftskrise ihrem Hhepunkt zustrebte: Starke Richtungen drn-

    gen zur Ausweitung der Staatsttigkeit, aber kaum je hat eine Zeit so schwache Regierungen

    gesehen.12 Auf die sterreichische Situation bezogen war die Feststellung Somarys allerdings

    wenig zutreffend. Jene Krfte, die die Folgen der groen Wirtschaftskrise mit modernen inter-

    ventionistischen Manahmen glaubten bewltigen zu knnen,13 verharrten mehrheitlich in

    einer Defensivposition, whrend die Regierungsaktivitten immer strker das Bestreben zeig-

    ten, den bestehenden allgemeinen Schwchezustand der Staatsfhrung mit autoritren politi-

    schen Mitteln zu berwinden. 1931 hatte der Christlichsoziale Otto Ender fr den Fall seiner

    Wiederbestellung zum Bundeskanzler auerordentliche Vollmachten gefordert, die die

    Mitwirkung des Nationalrates bei der Feststellung des Staatshaushaltes erheblich einschrn-

    ken sollten.14 Auch der Nachfolger Enders im Bundeskanzleramt, Karl Buresch15, zeigte deut-

    liche Ambitionen, den Weg der parlamentarischen Demokratie zumindest partiell zu verlas-

    sen. Um seinem Vorschlag des Budgetsanierungsgesetzes fr 1931, das unter anderem die

    Reduktion ffentlicher Investitionen, eine Krzung der Gehlter und Pensionen der Staatsdie-

    ner sowie einen groangelegten Beamtenabbau vorsah, zu mehr Durchsetzungskraft zu verhel-

    fen, forderte er zur Begrenzung der Rechte des Parlaments eine entsprechende Notverordnung.

    Allein die Drohgebrde reichte aus, den Nationalrat gefgig zu machen und die Zustimmung

    zu den geforderten Abbaumanahmen zu erhalten. Doch die Neigung, wirtschaftspolitische

    12 Somary, Felix (1932): Krisenwende? Berlin, S. 25. 13 So waren etwa in der Sozialdemokratie gewisse Anstze vorhanden, die Krise mittels beschftigungspo-

    litischer Impulse zu berwinden, doch waren diese berlegungen innerhalb der Fhrungsgremien von nur wenig

    wirklicher berzeugung getragen. Bauer, Otto (1933): Arbeit fr 200.000. Ein Wegweiser aus der Not, Wien. 14 Stiefel, Dieter (1988a): Die groe Krise in einem kleinen Land, Wien-Kln-Graz, S. 109. Otto Ender,

    der frhere Landeshauptmann Vorarlbergs bildete am 25. November 1930 seine Regierungsmannschaft, beste-

    hend aus Christlichsozialen, Grodeutschen und Vertretern des Landbundes. Seine Ambitionen zur Einschrn-

    kung der parlamentarischen Befugnisse sind auch deshalb besonders bemerkenswert, da Ender von seinen

    Grundstzen her nicht den Prototyp des autoritren Politikers verkrperte. 15 Karl Buresch, vormals christlichsozialer Landeshauptmann Niedersterreichs, bildete seine erste Regie-

    rung mit Vertretern aller brgerlicher Parteien am 20. Juni 1931.

  • 17

    Notwendigkeiten gegebenenfalls auch mit Gewaltmitteln durchzusetzen, war nicht geringer

    geworden. Das zeigten etwa die Auseinandersetzungen um das neue Budgetsanierungsgesetz

    von 1932.16 Auch auerhalb der Volksvertretung wurde mit parlamentsfeindlichen Tnen zu

    punkten versucht. Im Herbst 1932 Engelbert Dollfu war bereits Bundeskanzler17 wurden

    von Regierungsseite den Mitgliedern des sterreichischen Gewerbevereins grozgige Steuer-

    senkungen angekndigt. Unverhohlen wurde gleichzeitig zum Ausdruck gebracht, dass dafr

    die bedingungslose Untersttzung eines autoritren Stndestaates notwendig sei.18 Die liberal-

    konservativ ausgerichtete Fachzeitschrift Der sterreichische Volkswirt urteilte damals:

    Fr das Land bedeutet diese Entwicklung der Christlichsozialen Partei das Ende der Hoff-

    nung, sie, deren innere Widersprche seit dem Bestand der Republik die Volksgemeinschaft

    beunruhigen, werde sich von innen heraus neu gestalten und zu demokratischer Klarheit

    durchringen. Man muss sich nun mit dem Gedanken vertraut machen, dass diese Partei auch

    weiterhin eine Gefhrdung jeder sachlichen Aufbauarbeit sein wird ...19

    Am 4. Mrz 1933 spitzten sich die Konflikte zwischen Regierung und Nationalrat erneut zu,

    als die Frage des Eisenbahnerstreiks20 vom Beginn des Monats von der Opposition am Tages-

    ordnungsplan platziert werden konnte. Die unklare Situation im Gefolge einer Abstimmung

    fhrte dazu, dass im Verlaufe der Sitzung die drei Nationalratsprsidenten Renner (Sozialis-

    ten), Ramek (Christlichsoziale) und Straffner (Grodeutsche) zurcktraten. Die Chance, die

    Parlamentskrise21 mittels bestehender verfassungsmiger Mglichkeiten beizulegen, blieb

    16 Stiefel 1988a, S. 113. 17 Das Kabinett Engelbert Dollfu, bestehend aus Christlichsozialen sowie Vertretern des Heimatblocks

    und des Landbundes, hatte die Regierung Buresch II im Mai 1932 abgelst. 18 Dollfu und die Opposition. In: Der sterreichische Volkswirt, 25. Jg., Nr. 2, 8. Oktober 1932, S. 29.

    Beachte dazu auch: Vermiedene Parlamentsauflsung. In: Der sterreichische Volkswirt, 24. Jg., Nr. 33, 14.

    Mai 1932, S. 789. 19 Klein, Franz (1932): Regierung Dollfu. In: Der sterreichische Volkswirt, 24. Jg., Nr. 35, 28. Mai

    1932, S. 846. Die Christlichsozialen stellten im sterreich der Zwischenkriegszeit die grte brgerliche Forma-

    tion und zugleich die wichtigste Regierungspartei. In ihr vereinigte sich eine konservative Politik (besonders im

    Agrar- und Gewerbebereich) mit sozialreformerischen Bestrebungen und wirtschaftsliberalen Anstzen. 20 Eisenbahnerstreik. In: Der sterreichische Volkswirt, 25. Jg., Nr. 23, 4. Mrz 1933, S. 521. 21 Keine Parlamentskrise, sondern eine Regierungskrise ortete: Der sterreichische Volkswirt, 25. Jg.,

    Nr. 24, 11. Mrz 1933, S. 545. Sachverhaltsdarstellung im Chronikteil der zuvor zitierten Ausgabe des sterrei-

  • 18

    ungentzt. Drei Tage spter, am 7. Mrz, erklrte sich die von Dollfu gefhrte Regierung als

    im Amt befindlich und stellte klar, auf der Basis eines autoritren Kurses weiterregieren zu

    wollen. Als Grundlage dafr wurde das kriegswirtschaftliche Ermchtigungsgesetz vom

    24. Juli 1917 herangezogen. Die sofortige Einschrnkung brgerlicher Freiheiten und das Ein-

    setzen der Parteienverbote besiegelten das Ende der parlamentarischen Demokratie in ster-

    reich.22 Engelbert Dollfu erklrte in seiner Rede anlsslich der Trkenbefreiungsfeier der mit

    den Christlichsozialen verbndeten Heimwehrbewegung im Mai 1933: Diese Form von Par-

    lament und Parlamentarismus wird nicht wiederkommen. Wir wollen in neuen Formen und

    auf einer neuen, dem christlich-deutschen Volke eigentlich doch wieder sehr alten Grundlage,

    Grundstze und Ideen unserer Heimat und das Zusammenleben unseres braven deutschen

    chischen Volkswirt, S. 562: Der Nationalrat nimmt am 4. Mrz den oppositionellen Antrag, die Verfolgung der

    am Proteststreik am 1. Mrz beteiligten Eisenbahner faktisch einzustellen, mit 81 gegen 80 Stimmen an. Das

    Abstimmungsergebnis wird von den Regierungsparteien angefochten. Nationalratsprsident Renner entscheidet

    fr die Gltigkeit der Abstimmung, legt aber dann wegen der Opposition der Regierungsparteien seine Stelle

    nieder. Auch die zwei anderen Prsidenten demissionieren.- Am 7. Mrz erlsst die Regierung einen Aufruf, in

    dem sie feststellt, dass sich das Parlament durch die Demission der Prsidenten selbst ausgeschaltet habe. Das

    Volk wird aufgefordert, Ordnung und Ruhe zu halten und die Regierung zu untersttzen. Gleichzeitig werden auf

    Grund des kriegswirtschaftlichen Ermchtigungsgesetzes zwei Verordnungen erlassen, die ein allgemeines Ver-

    sammlungs- und Aufmarschverbot und eine wesentliche Einschrnkung der Pressefreiheit verfgen. Der Charak-

    ter der eingeleiteten Manahmen macht deutlich, wie willkommen der Anlass der angeblichen Parlamentsaus-

    schaltung gewesen sein muss. Ab nun musste keinerlei Rcksicht auf oppositionelles Aufbegehren mehr

    genommen werden. Funder, Friedrich (1957): Als sterreich den Sturm bestand. Aus der Ersten in die Zweite

    Republik, Wien-Mnchen; Benya, Anton (Hg.)(1973): Vierzig Jahre danach: der 4. Mrz 1933 im Urteil von

    Zeitgenossen und Historikern, Wien; Gulick, Charles A. (1976): Von Habsburg zu Hitler, Wien; Holtmann,

    Everhard (1978): Zwischen Unterdrckung und Befriedung: sozialistische Arbeiterbewegung und autoritres

    Regime in sterreich 1933-1938, Wien; Reichhold, Ludwig (1984): Kampf um sterreich. Die Vaterlndische

    Front und ihr Widerstand gegen den Anschluss 1933-1938. Eine Dokumentation, Wien; Frschl, Erich; Zoitl,

    Helge (Hg.)(1984): Der 4. Mrz 1933. Vom Verfassungsbruch zur Diktatur . Beitrge zum wissenschaftlichen

    Symposion des Dr.-Karl-Renner-Instituts, abgehalten am 28. Februar und 1. Mrz 1983, Wien.

    Die politische Vorgeschichte zum Mrz 1933 in sterreich ist ausfhrlich dargestellt im Kapitel 3.1. 22 Eine harsche Kritik des Dollfu'schen Konservativismus, der seine Massenbasis verloren hat und der

    daher auf Gewaltmittel setzen muss, um eine demokratische Lsung im parlamentarischen Rahmen zu verhindern

    findet sich in: Kampf ums Parlament. In: Der sterreichische Volkswirt, 25. Jg., Nr. 25, 18. Mrz 1933, S. 573

    f.

  • 19

    Volkes in sterreich neu gestalten.23 Was Dollfu vorschwebte, war die politische Umset-

    zung der stndischen Verfassungsidee, wie sie seit geraumer Zeit innerhalb der Christlichsozi-

    alen, der Heimwehr und verschiedener anderer Gruppen propagiert wurde.

    Stndische Neuordnung von Staat und Gesellschaft verhie die Herstellung einer neuen sozi-

    alen Harmonie jenseits aller Krisen und Konflikte, wobei als Grundgestaltungsprinzip der

    Gesellschaft die Gliederung in Berufsstnde bindend sein sollte. Otto Ender, Altkanzler und

    Verfassungsminister, wurde beauftragt, den stndischen Gedanken in Verfassungsform zu

    bringen. Am 1. Mai 1934, nur wenige Wochen zuvor war das Aufbegehren der Arbeiterschaft

    gegen den autoritren Staat militrisch niedergewalzt worden, konnte Dollfu in einer Radio-

    rede anlsslich der Einfhrung der neuen Verfassung in sterreich verknden: Am

    11. September des Vorjahres habe ich auf dem Trabrennplatz (anlsslich des Allgemeinen

    deutschen Katholikentages, G.S.) vor Hunderttausenden von bewussten Bekennern zum neu-

    en sterreich die Erneuerung unseres christlich-deutschen Staates sterreich auf stndischer

    Grundlage unter starker autoritrer Fhrung angekndigt, in einer Zeit, in der das kaum je-

    mand fr mglich hielt, in absehbarer Frist dieses groe Werk, diese fast bermenschliche

    Aufgabe zu meistern. ... Heute ist das groe Werk abgeschlossen: Das neue sterreich ist ge-

    worden.24 Dem aufmerksamen zeitgenssischen Beobachter war natrlich klar, dass die auto-

    ritren Tendenzen und die Zerstrung der parlamentarischen Demokratie mit den wirtschaftli-

    chen Problemen, die die groe Depression mit sich gebracht hatte, eng zusammenhingen.25

    Der Versuch, die Kosten der Krise einseitig abzuwlzen, indem die Senkung der Lebenshal-

    tung der Massen zum zentralen Bestandteil des Krisenbewltigungsprogramms der brgerli-

    chen Reichshlfte auserkoren wurde, wre ohne diktatorische Gewalt zum Scheitern verurteilt

    gewesen.

    23 Engelbert Dollfu zitiert in: Carstens, Francis Ludwig (1977): Faschismus in sterreich. Von Schnerer

    zu Hitler, Mnchen, S. 213. 24 Dollfu, Engelbert: Radiorede anlsslich der Einfhrung der neuen Verfassung in sterreich, 1934. In:

    Berchtold, Klaus (Hg.)(1967): sterreichische Parteiprogramme, Wien, S. 435. 25 Klein, Franz (1933): Wirtschaftsdiktatur? In: Der sterreichische Volkswirt, 25. Jg., Nr. 28, 8. April

    1933, S. 653.

  • 20

    sterreich war Mitte des Jahres 1930 von den verheerenden Auswirkungen der Weltwirt-

    schaftskrise erfasst worden. Das Hinzukommen extern erzeugter Kriseneffekte bedeutete fr

    sterreich, dass seit dem Zusammenbruch der Monarchie ohnehin mit einer Unzahl hausge-

    machter konomischer Probleme zu kmpfen hatte, eine ungeheure Verschrfung der gesam-

    ten Situation. Zwischen 1929 und 1933 verringerte sich das Bruttonationalprodukt um etwa 25

    Prozent, der Produktionsindex sank um mehr als ein Drittel, whrend die Vergleichszahl der

    allgemeinen Geschftsttigkeit um 41 Prozent zurckging.26 Lhne und Gehlter sanken bis

    1934 auf rund 70 Prozent des Niveaus von 1929.27 Insbesondere die Grenordnung des

    Nachfrage-Rckganges von der Ausgangsposition 100 im Jahr 1929 auf 76 im Jahr 1934 ver-

    anschaulicht einiges an Dramatik.28 Trotz verschiedener Abgabenerhhungen reduzierten sich

    im Betrachtungszeitraum die ffentlichen Einnahmen um mehr als 10 Prozent.29 Wie in vielen

    anderen Lndern anfangs auch, verhinderte in sterreich eine deflationistische Wirtschaftspo-

    litik, gekennzeichnet durch rigorose Sparmanahmen und Budgetkrzungen, die rasche Rck-

    kehr zu einigermaen normalen Verhltnissen. Insbesondere in den Krisenbranchen (Eisen-

    und Stahlindustrie, Bauwirtschaft) und in den Problemregionen (niedersterreichisches In-

    dustrieviertel, Obersteiermark, Httenberg in Krnten, Raum Bischofshofen) erhhte sich die

    Zahl der Arbeitslosen drastisch. War schon in der Periode 1927 bis 1929 die Arbeitslosenrate

    stndig ber 8 Prozent gelegen, so stieg sie in der Phase der Weltwirtschaftskrise in schwin-

    delnde Hhen. Im Jahr 1932 war der Stand an Arbeitslosen bei 470.000, 1933 zhlte man

    557.000 Personen ohne Beschftigung, was etwa einer Arbeitslosenrate von 26 Prozent ent-

    sprach.30 Als auerordentlicher sozialer Sprengstoff erwies sich die groe Zahl jugendlicher

    Arbeitsloser, denen der Eintritt in das Erwerbsleben berhaupt verwehrt blieb. Auch die stei-

    gende Selbstmordrate in sterreich war auf die durch die Arbeitslosigkeit verursachte wirt-

    26 Stiefel 1988a, S. 95. 27 sterreichs Volkseinkommen 1913 bis 1963. Monatsberichte des sterreichischen Institutes fr Wirt-

    schaftsforschung, 14. Sonderheft, Wien 1965, S. 39. 28 Ausch, Karl (1965): Licht und Irrlicht des sterreichischen Wirtschaftswunders, Wien, S. 34. Auschs

    Angaben finden sich besttigt in: sterreichs Volkseinkommen 1913 bis 1963. Monatsberichte des sterreichi-

    schen Institutes fr Wirtschaftsforschung, 14. Sonderheft, Wien 1965, S. 41. 29 Stiefel 1988a, S. 95, S. 107. 30 Bruckmller, Ernst (1985a): Sozialgeschichte sterreichs, Wien-Mnchen, S. 500 ff. Detaillierte Anga-

    ben zur Arbeitlosenentwicklung im sterreich der Zwischenkriegszeit siehe: Stiefel, Dieter (1979): Arbeitslosig-

    keit. Soziale, politische und wirtschaftliche Auswirkungen am Beispiel sterreichs 1918-1938, Berlin.

  • 21

    schaftliche Notlage zurckfhrbar. Das Jahr 1933 war ein Jahr der negativen Spitzenwerte:

    Jeder zweite Industriearbeiter war ohne Beschftigung, auf eine freie Brostelle kamen 18

    arbeitslose Angestellte.31 Umgekehrt proportional zur Entwicklung der Arbeitslosenziffern

    verhielt sich die Streikhufigkeit: Waren es 1929 rund 200 Streikaktionen (mit 286.000 ver-

    lustig gegangenen Arbeitstagen) gewesen, so zhlte man 1932 nur noch 30 organisierte Ar-

    beitsniederlegungen (was etwa 80.000 verlorenen Arbeitstagen entsprach).32 Der Verband der

    freien Gewerkschaften, der 1921 ungefhr eine Million Mitglieder umfasste, schrumpfte in

    der Weltwirtschaftskrise bis Anfang 1934 (unmittelbar vor dem allgemeinen Gewerkschafts-

    verbot) auf etwa 400.000 Personen.33

    Durchschnittliches Wachstum des BNP 1913 bis 1938 (in Prozent) in verschiedenen Nachfol-

    gestaaten der Donaumonarchie und in Westeuropa.

    1913-29 1929-38

    sterreich 0,31 -1,16 CSR 4,06 -0,16Ungarn 1,49 1,42 Jugoslawien 1,83 1,34Durchschnitt 1,92 0,04 Staaten Europa 0,95 2,61Durchschnitt

    Quelle: Bairoch, Paul: Europes Gross National Product: 1800-1975. In: Journal of Europe-

    an Economic History, Nr. 3, 1976, S.296

    Die wirtschaftspolitischen Reaktionen auf die groe Krise waren in sterreich eine eigenar-

    tige Mischung, bestehend aus einem orthodoxen Konservativismus und ad-hoc-

    31 Mit seinen Vorschlgen im Hinblick auf freiwilligen Arbeitsdienst, Innenkolonisation und Ausgabe von

    Naturaluntersttzungen, die Kanzler Engelbert Dollfu zur Bewltigung der Krise in der ersten Jahreshlfte 1932

    eingebracht hatte, wurde er von den Vertretern der Industrie als Mann mit konstruktiven Ideen gefeiert. Die

    Regierung an der Arbeit. In: Die Industrie. Offizielles Organ des Hauptverbandes der Industrie sterreichs, 27.

    Jg., Nr. 23, 3. Juni 1932, S. 6. 32 Bruckmller 1985a, S. 106.

  • 22

    Entscheidungen, bei denen eindeutig der tagespolitische Aspekt im Vordergrund stand. Die

    Starrheit im wirtschaftspolitischen Vorgehen resultierte aber nicht ausschlielich aus dem

    Glauben an die Selbstheilungskrfte des Marktes. Der prozyklische Kurs mit den zentralen

    Zielen der Whrungsstabilitt und des Budgetgleichgewichts war auch eine Folge einer hohen

    Auenverschuldung. Im Zuge der Sanierungsmanahmen nach dem Ersten Weltkrieg waren

    alle Chancen versumt worden, einen eigenstndigen Pfad aus dem wirtschaftlichen Nach-

    kriegsdesaster zu finden, so dass erst die Vlkerbundanleihe von 1922 einen wie sich aller-

    dings zeigte: unsicheren Weg zur Stabilisierung erffnete. Gegenber den Glubigerstaaten

    wurden Verpflichtungen eingegangen, die sich in der Folge noch als verhngnisvoll erweisen

    sollten. Die Mitspracherechte des Vlkerbundes im Rahmen der sterreichischen Wirtschafts-

    gestaltung und die hinzukommenden Probleme im Sektor der Geldinstitute verminderten die

    Mglichkeiten eines krisenmildernden Gegensteuerns betrchtlich.34 Die Kette der Bankenzu-

    sammenbrche, die vor Mitte der1920er Jahre eingesetzt hatte, bescherte wachsende Verluste,

    die auch den Staatshaushalt zusehends belasteten. Der aus den gegebenen Umstnden resultie-

    rende Zwang zu einer restriktiven Geldpolitik35 zerstrte alle Hoffnungen auf eine baldige

    Erholung der wirtschaftlichen Lage. Zwar steigerte sich der ffentliche Konsum zwischen

    1929 und 1931 geringfgig, doch reichte dies bei weitem nicht, die Investitionsttigkeit in der

    Gesamtwirtschaft, die seit dem Einsetzen der groen Krise ebenso wie das Volkseinkommen

    dramatisch zurckgegangen war, anzuregen.36

    Fasst man die Fakten zusammen, lsst sich klar erkennen, dass das bergreifen der Weltwirt-

    schaftskrise auf sterreich im Grunde nur die Zuspitzung einer bereits prekren Situation be-

    deutete. Wirtschaftliche Probleme bedrngten die junge Republik seit ihrer Grndung. Davon

    nicht unabhngig mehrten sich die sozialen Konflikte, die aber ohne Zweifel auch das Produkt

    33 Nubaumer, Josef (1981): Sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Aspekte der Weltwirtschaftskrise in

    sterreich, Dissertation, Innsbruck, S. 113 ff. 34 Ausfhrlich zur Zuspitzung der Bankenkrise: Stiefel, Dieter (1989): Finanzdiplomatie und Weltwirt-

    schaftskrise. Die Krise der Credit-Anstalt fr Handel und Gewerbe 1931, Frankfurt/M. 35 Wesentlich weniger Hemmungen, eine bewusst eigenstndige Politik zu betreiben, zeigten sich im Be-

    reich der Auenwirtschaft. Im Jahr 1932 ging man zur Devisenbewirtschaftung ber und begann Auenhandels-

    beschrnkungen zu erlassen. Stiefel 1988a, S. 355. 36 sterreichs Volkseinkommen 1913 bis 1963. Monatsberichte des sterreichischen Institutes fr Wirt-

    schaftsforschung, 14. Sonderheft, Wien 1965, S. 43.

  • 23

    einer, fast knnte man sagen chronischen Modernisierungskrise darstellten. Diese Aspekte,

    die allesamt einen sehr sterreich-spezifischen Charakter aufzuweisen haben, sollen in der

    Folge nun eingehend behandelt werden.

    1.1. Die konomische Dauerkrise

    Der bergang sterreichs in das Lager autoritr bzw. diktatorisch regierter Staaten zu Beginn

    der 1930er Jahre kann nicht ohne die Vielzahl der konomischen Erschtterungen, die seit

    dem Ende des Ersten Weltkrieges prgend waren, verstanden werden. Der Zerfall der Habs-

    burgermonarchie bedeutete das Ende eines groen, geschichtlich gewachsenen Wirtschaftsge-

    bietes, das zudem mit einem sehr hohen Grad an Autarkie versehen war. Die vielfltigen For-

    men regionaler Arbeitsteilung wurden 1918 durch nationalstaatliche Grenzen unterbrochen,

    und an die Stelle eines einheitlichen Absatzgebietes trat quasi ber Nacht eine Flle von

    Auslandsmrkten.37 In mancherlei Hinsicht htte die Ausgangsposition des kleinen Neu-

    sterreich durchaus mit optimistischen Erwartungen verbunden werden knnen. Als Hinter-

    lassenschaft der Monarchie hatte sterreich einen betrchtlichen Teil der Industriegebiete

    geerbt38: Auf sterreich entfielen (...) etwa 23 Prozent der Bevlkerung, aber rund ein Drittel

    aller Fabriken und Industriearbeiter Cisleithaniens. Bei den Grobetrieben war der Anteil et-

    was geringer: Klein- und Mittelbetriebe bildeten das bergewicht. Von der aktiven Bevlke-

    rung waren etwa 39 Prozent in der Landwirtschaft beschftigt, 32 Prozent in Industrie, Berg-

    bau und Handwerk, 16 Prozent in Handel und Verkehr; auf den ffentlichen Dienst und die

    privaten Dienstleistungen entfielen 13 Prozent.39 Auch der Vergleich der Pro-Kopf-

    Einkommen besttigt ein relativ hohes Entwicklungsniveau sterreichs. Whrend 1913 das

    pro-Kopf-Einkommen der sterreichischen Bevlkerung 1.038 Kronen betrug, blieb der ent-

    37 Ausfhrlich zu den Strukturvernderungen der sterreichischen Wirtschaft nach dem Ersten Weltkrieg:

    Bayer, Hans (1929): Strukturwandlungen der sterreichischen Volkswirtschaft nach dem Kriege, Wien - Leipzig. 38 Die hier angegebenen Zahlen beziehen sich auf den Stand von 1910. 39 Kernbauer, Hans; Mrz, Eduard; Weber, Fritz: Die wirtschaftliche Entwicklung. In: Weinzierl, Erika;

    Skalnik, Kurt (Hg.)(1983): sterreich 1918-1938. Geschichte der Ersten Republik, Band 1, Wien - Graz - Kln,

    S. 344.

  • 24

    sprechende Vergleichswert etwa fr die Tschechoslowakei mit 668 Kronen deutlich darun-

    ter.40

    Neu-sterreich war dem Typus des Industriestaates wesentlich nher als der industrialisierte

    Agrarstaat, den das Habsburgerreich dargestellt hatte. Der kleine Rumpfstaat verfgte ber

    Industriegebiete im Osten, im der steirischen Region und in Vorarlberg. Im Raume Wien exis-

    tierten in starker Ausprgung auch gewerbliche Produktion und Dienstleistungssektor. Die an

    sich nicht ungnstige Ausgangssituation war auch gekennzeichnet durch einen nicht zu unter-

    schtzenden Reichtum an Wldern, Bodenschtzen und Wasserkrften.41 Es gelang aber nicht,

    den Sto in die Moderne, der mit dem Umbruch erfolgt war, wirtschaftspolitisch auch nutz-

    bringend umzusetzen. Die im Gefolge des Krieges gegeben massiven Bremswirkungen, die

    Verzerrungen in der Produktionsstruktur und die Disproportionalitten im gesamten Wirt-

    schaftsgefge erwiesen sich als schwerwiegend.42 Der Industriebereich zeigte beachtliche Un-

    gleichgewichte zwischen Rstungs-, Metall- und Eisenindustrie einerseits sowie Nahrungs-

    mittelherstellung und Textilfertigung andererseits. Dazu kam das Problem einer nur schmal

    vorhandenen Basis fossiler Energietrger.43 Dass der Weg des wirtschaftlichen Aufstieges, der

    im Rahmen der Habsburgermonarchie zwar spt aber doch erfolgversprechend begonnen hat-

    40 Bachinger, Karl; Lacina, Vlastislav: Wirtschaftliche Ausgangsbedingungen. In: Teichova, Alice; Matis,

    Herbert (Hg.)(1996): sterreich und die Tschechoslowakei 1918-1938. Die wirtschaftliche Neuordnung in Zent-

    raleuropa in der Zwischenkriegszeit, Wien - Kln - Weimar, S. 52. 41 Bachinger, Karl; Hemetsberger-Koller, Hildegard; Matis, Herbert (1987): Grundriss der sterreichi-

    schen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Von 1848 bis zur Gegenwart, Wien, S. 42. 42 Rothschild, Kurt W.: Wurzeln und Triebkrfte der Entwicklung der sterreichischen Wirtschaftsstruktur.

    In: Weber, Wilhelm (Hg.)(1961): sterreichs Wirtschaftsstruktur gestern heute morgen, Erster Band, Berlin,

    S. 55 f. 43 sterreich-Ungarn hatte 1914 ber ein, am damaligen und damals voraussehbaren Bedarf gemessen,

    berreichliches Energiepotential verfgt groe und gute Braunkohlevorkommen im nrdlichen Bhmen, reiche

    Steinkohlelager an der mhrisch-schlesischen Grenze, aber auch Erdl in Galizien und sehr viel ungentzte Was-

    serkraft. Die kleine Republik musste demgegenber 1918 eine vorerst trostlose Energiebilanz aufstellen. Dem

    verhltnismig hohen Energiebedarf stand ein technisch mehr als bescheidenes und nur zu recht ungnstigen

    wirtschaftlichen Bedingungen gentztes bzw. nutzbares Energiepotential gegenber. Die Steinkohlelager waren

    verloren, whrend die Braunkohlelager sich als unzureichend erwiesen. Weber, Wilhelm: Wirtschaftsfragen der

    Ersten und Zweiten Republik. Ein Vergleich. In: Institut fr sterreichkunde (Hg.)(1971): Die Wirtschaftsge-

    schichte sterreichs, Wien, S. 199.

  • 25

    te, nicht mehr ohne weiteres fortsetzbar erschien, war aber auch auf gewisse sozialpsychologi-

    sche Momente zurckfhrbar.44 Der mit der Umwlzung bzw. mit dem Verlust der Reichs-

    gre verbundene Schock frderte die Herausbildung problematischer Legenden, etwa wenn

    es um die Frage der Lebensfhigkeit sterreichs ging.45 In dem in der Zwischenkriegszeit an

    Wirtschaftskrisen nicht gerade armen sterreich konnten die Proponenten des Anschlusses

    an das Deutsche Reich auf eine stetig wachsende Resonanz hoffen.

    In der Land- und Forstwirtschaft waren zwar rund zwei Fnftel aller Erwerbsttigen beschf-

    tigt, allerdings erwiesen sich die vorherrschenden traditionalen Strukturen in diesem Sektor

    als groer Hemmschuh.46 Da nur eine geringe Zahl der Agrarbetriebe in den Kreislauf der

    Volkswirtschaft eingebunden war, musste zunchst ein erheblicher Teil der Ernhrungsgter

    importiert werden. In dem Bemhen, die Versorgung der Bevlkerung sicherzustellen, wurden

    moderne Arbeits- und Dngemethoden, das Mhlenwesen und die genossenschaftliche Ver-

    netzung der Betriebe besonders gefrdert. Verhltnismig rasch wurde die Landwirtschaft

    auch zu einem Hort des Protektionismus ausgebaut. Diese Entwicklungen vollzogen sich pa-

    rallel zu der Vervielfachung verschiedener Pressure-Groups (landwirtschaftliche Gesellschaf-

    ten und Bauernkammern), die sich der Interessen der Landwirtschaft annahmen.47 In der Folge

    bot der landwirtschaftliche Sektor ein Bild des Aufschwunges und des Fortschritts, was weni-

    ger auf die Auenhandelsergebnisse,48 als auf den wachsenden Beitrag zum Volkseinkommen

    zurckzufhren war. Vergleicht man die Gegebenheiten in der Agrarwirtschaft mit anderen

    44 Nicht vergessen werden sollten an dieser Stelle auch die Hinweise auf die zunehmende politische Polari-

    sierung und auf weltwirtschaftliche Gegebenheiten, die die ungnstige Position sterreichs zustzlich verschlech-

    terten. 45 Bachinger, Karl (1981): Umbruch und Desintegration nach dem Ersten Weltkrieg. sterreichs wirt-

    schaftliche und soziale Ausgangssituation in ihren Folgewirkungen auf die Erste Republik. Habilitationsschrift,

    Wien, Band 1, S. 337 ff. 46 Dazu kam der Umstand, dass bedingt durch den alpinen Charakter sterreichs die Zahl der agrarischen

    Nutzflchen eher niedrig war. 47 Bruckmller, Ernst (1985b): Die Bauern und die Erste Republik. In: Christliche Demokratie. Schriften

    des Karl Vogelsang-Instituts, 3. Jg., Nr. 2, 1985, S. 118. 48 Ausfuhrberschsse konnten nur in einigen wenigen Bereichen wie bei den Zuckerrben oder bei der

    Milch erzeugt werden. Meihsl, Peter (1961): Die Landwirtschaft im Wandel der politischen und konomischen

    Faktoren. In: Weber, Wilhelm (Hg.): sterreichs Wirtschaftsstruktur gestern heute morgen, Band 2, Berlin,

    S. 767 und 783.

  • 26

    Produktionsbereichen wie Industrie und Gewerbe, so erscheint es naheliegend, von einer Re-

    agrarisierung sterreichs nach dem Ersten Weltkrieg zu sprechen,49 dies trotz Bercksichti-

    gung des Umstandes, dass sich der Anteil der in buerlichen Betrieben Beschftigten zwi-

    schen 1923 und 1934 von 29,3 Prozent auf 27,3 Prozent verringerte.50

    Wachstum der landwirtschaftlichen Produktion 1919 bis 1930

    - Ernteertrge in 1000 q

    - Viehbestand in 1000 Stck

    1919/22 1923/29

    Weizen 1781 2874

    Roggen 2989 4810

    Gerste 1131 2165

    Hafer 2491 4117

    Kartoffeln 8914 20567

    Zuckerrben 1291 5411

    1920 1930

    Rinder 268 312

    Klber 414 361

    Schweine 778 1574

    Quelle: Meihsl, Peter (1961): Die Landwirtschaft im Wandel der politischen und konomi-

    schen Faktoren. In: Weber, Wilhelm (Hg.): sterreichs Wirtschaftsstruktur gestern heute

    morgen, Band 2, Berlin, S.682 und 691

    Whrend im landwirtschaftlichen Bereich das drngendste Problem die Produktionssteigerung

    darstellte, stand die alpenlndische Industrie vor der permanenten Schwierigkeit, Abnehmer

    ihrer Waren zu finden. Der in der Zwischenkriegszeit verbreitete Protektionismus vieler Staa-

    49 Mosser, Alois (1985): Industrielle Entwicklung und konjunkturelle Dynamik in sterreich 1920-1937.

    In: Christliche Demokratie. Schriften des Karl Vogelsang-Instituts, 3. Jg., Nr. 4, 1985, S. 320. 50 Bruckmller 1985b, S. 116.

  • 27

    ten erschwerte die Auenhandelsbeziehungen, ein Umstand, der den Entwicklungsmglich-

    keiten der sterreichischen Industrie enge Grenzen setzte. Die wirtschaftlichen Probleme der

    Ersten Republik mssen natrlich vor dem Hintergrund der internationalen Vernderungen

    betrachtet werden. Europa hatte nach dem Ersten Weltkrieg einen sprbaren Bedeutungsver-

    lust hinzunehmen, sowohl was seine Anteile an der Gesamtproduktion als auch die Partizipa-

    tion am Welthandel betraf. Die Zerrttung des internationalen Whrungssystems, ebenfalls

    den nachtrglichen Kosten der Kriegskatastrophe zurechenbar, untersttzte die Tendenz vieler

    Lnder in Richtung Neomerkantilismus. Unter diesen Bedingungen konnte jeder Versuch ei-

    ner Neuorientierung und Anpassung nicht ohne vorprogrammierte Schwierigkeiten angegan-

    gen werden. Verschlechtert wurde die Auenhandelsposition sterreichs gegenber seinen

    Partnerlndern besonders durch den Umstand, dass die Importprodukte lebensnotwendige

    Gter darstellten, whrend demgegenber die Marktchancen der in sterreich fr den Export

    gefertigten Waren weniger gnstig gelagert waren. sterreich anfngliches Bestreben, den

    Freihandel zu forcieren, entsprang einerseits dem Zwang, erforderliche Rohstoffe und Fertig-

    waren beschaffen zu mssen, andererseits erhoffte man sich als entwickelter Teil der ehe-

    maligen Monarchie groe Exportchancen in den Nachfolgestaaten. Alle hochgesteckten Ziele

    erwiesen sich jedoch als trgerisch. sterreich hatte die Zwischenkriegszeit ber ein perma-

    nentes Auenhandelsdefizit zu verbuchen, obwohl bereits ab 1926/27 eine Politik der Zoller-

    hhungen (besonders betreffend die Bereiche Landwirtschaft und Industrie) verfolgt wurde.

  • 28

    sterreichs Auenhandel 1920 bis 1930

    Ausfuhr Einfuhr Defizit

    1920 1347,7 2453,9 1106,2

    1921 1302,0 2448,4 1146,4

    1922 1589,3 2530,5 941,2

    1923 1615,6 2768,0 1152,4

    1924 1970,1 3447,5 1477,4

    1925 1922,8 2897,4 968,6

    1926 1703,1 2766,0 1062,9

    1927 2036,8 3088,5 1051,7

    1928 2208,2 3239,2 1031,0

    1929 2188,5 3262,6 1074,1

    1930 1851,4 2699,1 847,7

    1920 bis 1923 in Mill. Goldkronen

    1924 bis 1930 in Mill. Schilling

    Quelle: sterreichisches Statistisches Zentralamt (Hg.)(1946): Der Auenhandel sterreichs

    zwischen den beiden Weltkriegen. Beitrge zur sterreichischen Statistik, 1. Heft, Wien, S.20

    Die am schwersten wiegenden Probleme bei der Umstellung von der Kriegs- auf die Frie-

    denswirtschaft waren durch den Inflationsprozess bedingt, der bereits in den ersten Monaten

    des Krieges eingesetzt hatte.51 Der finanzielle Engpass in der Staatskasse zwang 1914 zur

    Suspendierung der kaiserlichen Bankakte, die eine entsprechende Golddeckung der Papier-

    krone festgelegt hatte. Damit war es mglich geworden, die Staatsausgaben ber die Betti-

    gung der Notenpresse zu finanzieren. Gestaltete sich die daraus resultierende Verfnfzehnfa-

    chung des Preisniveaus bis 1918 bereits besorgniserregend, so setzte nach Kriegsende zuerst

    eine trabende, ab 1921 eine galoppierende Inflation ein, die Bevlkerung wie Wirtschaftspoli-

    tiker das Frchten lehrte. Verschiedene Grnde, unter anderem die Versorgungsansprche

    51 Suppanz, Christian (1976): Die sterreichische Inflation 1918-1922, Forschungsbericht des Instituts fr

    Hhere Studien 111, Wien.

  • 29

    heimkehrender Kriegsteilnehmer und die Subventionierung der Grundnahrungsmittel, sorgten

    dafr, dass der Geldbedarf des Staates hoch blieb und die Notenpresse nicht zur Ruhe kam.

    Der Inflationsverlauf bewirkte gewaltige Einkommensverschiebungen zwischen den einzelnen

    Bevlkerungsgruppen. Kriegsgewinnler und Whrungsspekulanten konnten ihre Vermgens-

    zuwchse vervielfachen, whrend Arbeiter und Angestellte trotz partieller Anpassungsversu-

    che von einer Erringung des Niveaus ihrer Vorkriegslhne bzw. -gehlter nur trumen konn-

    ten. Der Mittelstand, der schon bei der Zeichnung der Kriegsanleihen geblutet hatte, musste

    nach dem Weltkrieg auch noch den Verlust seiner restlichen Ersparnisse hinnehmen.

    Die gesamtwirtschaftlichen Effekte der Inflation waren mehr als ambivalent. Zwar trug die

    einsetzende Kapitalflucht wesentlich zum Substanzverlust der sterreichischen Wirtschaft bei,

    zugleich aber wurde eine hektische Betriebsamkeit ausgelst, die das zgerliche Anlaufen der

    Friedensproduktion berwinden half. Durch den Niedergang des Auenwertes der Krone wur-

    de die Exportwirtschaft temporr angekurbelt, doch die Flle von Betriebsneugrndungen, die

    in dieser Situation gegeben war, erwies sich rasch als Scheinblte, als nach der Whrungssta-

    bilisierung klar wurde, dass viele dieser Unternehmen auf Sand gebaut waren. Im gesamten

    betrachtet zhlten die Klein- und Mittelbetriebe zu den Verlierern der Inflation, da sie nicht

    ber die Dispositionsmglichkeiten der Grounternehmen verfgten.

    Im Herbst 1922 erreichte die Hyperinflation ihren Hhepunkt, als der Wert der Krone nur

    noch 1/15.000 seiner ursprnglichen Paritt betrug.52 Rasches Handeln war nun unabdingbar

    geworden. Nachdem verschiedene Vorschlge zur Whrungssanierung in Diskussion gestan-

    den hatten, entschied sich die Regierung Ignaz Seipel zur Sicherstellung der erforderlichen

    Mittel fr den Weg einer Auslandsanleihe. Am 4. Oktober 1922 unterzeichneten Vertreter

    Grobritanniens, Frankreichs, Italiens, der CSR und sterreichs die Genfer Protokolle,

    die der jungen Alpenrepublik die Inanspruchnahme einer Vlkerbundanleihe in der Gren-

    ordnung von nicht ganz 650 Millionen Goldkronen mglich machten. Die in Genf geschlosse-

    nen Vertrge bildeten nicht nur die Basis fr die Sanierung der Staatsfinanzen und fr die

    Whrungsrekonstruktion, darber hinaus war auch eine ganz wesentliche Weichenstellung

    52 Bachinger, Karl; Matis, Herbert (1986): Die sterreichische Nachkriegsinflation 1918-1922. In: Beitr-

    ge zur historischen Sozialkunde 16. Jg., Nr. 3, Juli-September 1986, S. 83 ff.

  • 30

    fr die sptere wirtschaftspolitische Vorgangsweise erfolgt53: sterreich hatte mit der Unter-

    zeichnung seine Souvernitt in whrungs- und finanzpolitischen Fragen weitgehend an das

    Ausland abgegeben. Das Genfer Sanierungsprogramm sah unter anderem die Kontrolle der

    sterreichischen Finanzpolitik durch einen Sonderkommissr des Vlkerbundes vor. Der erste

    Akt, mit dem die neuen Glubiger zufriedengestellt werden sollten, war das Wiederaufbau-

    gesetz vom November 1922, das als Hauptziel die Beseitigung des Budgetdefizits vorsah. Im

    Rahmen der Durchfhrung dieses Gesetzes wurden eine drastische Reduktion der Staatsaus-

    gaben und die Erhhung der Steuereinnahmen vorgesehen. Die Verringerung der Staatsausga-

    ben betraf vor allem die Bundesbeamten, deren Zahl um 100.000 reduziert werden sollte.54

    Die Stabilisierung der sterreichischen Whrung ging aber auch in anderer Hinsicht nicht

    schmerzfrei vor sich.55 Die Wirtschaftskrise des Jahres 1923 war vor allem auf die de facto-

    Aufwertung der Kronenwhrung im Bereich des Auenhandels zurckzufhren, die nahezu

    schlagartig alle Chancen im Exportgeschft reduziert hatte. Die whrungspolitische Wende

    gelang schlielich, da die Stabilisierungskrise mit einem Schrumpfen des Bruttoinlands-

    produkts von real 1,1 Prozent verhltnismig glimpflich berstanden werden konnte.

    53 Bachinger, Karl (1983): Anmerkungen zur Wirtschaftspolitik der Ersten Republik. Die Genfer Protokol-

    le und die Lausanner Anleihe im Spiegel zeitgenssischer Forschung. In: Christliche Demokratie. Schriften des

    Karl Vogelsang-Instituts, 1. Jg., Nr. 1, 1983, S. 47. 54 Tatschlich betraf der Beamtenabbau etwas mehr als 84.000 Staatsdiener. Der Wille zur Sanierung

    ohne soziale Rcksicht (Ferdinand Tremel) verringerte den wirtschaftspolitischen Spielraum der ffentlichen

    Hand insgesamt drastisch. So blieb die permanent hohe Arbeitslosenrate unbewltigt, die staatlichen Ausgaben

    blieben unter dem erforderlichen Limit, so dass wesentliche Projekte wie etwa die fr 1926 ins Auge gefassten

    neuen Exportfrderungsmanahmen zurckgestellt werden mussten. 55 Die de facto-Aufwertung der Krone wirkte sich negativ auf den Fremdenverkehr aus und verringerte die

    Exportchancen der sterreichischen Wirtschaft betrchtlich, so dass es in etlichen Bereichen zu Produktionsdros-

    selungen, zu Entlassungen und zur Einfhrung der Kurzarbeit kam. Ein vllig anderes Bild bot sich 1923 im

    Rahmen des Brsengeschehens. Die Spekulationswelle hatte sich nmlich vom Whrungssektor an die Brse

    verlagert. Dort berstrzten sich aufgrund der berregen Anlegerttigkeit die Ereignisse; die Brsenkonjunktur

    zog viele Mittel nach sterreich. Der Aufschwung im Wertpapiergeschft fhrte auch zu einem Grndungsboom

    im Bankenbereich, wobei jedoch die Existenzgrundlagen vieler neuer Geldinstitute mehr als drftig ausgestattet

    waren.

  • 31

    Die Einrichtung der neuen Nationalbank und das Schillingrechnungsgesetz von 20. Dezember

    1924 besiegelten den neuen Kurs.56

    Die ehrgeizig angelegte Sanierung des Staatshaushaltes gelang relativ rasch. Ende 1923

    konnte das angestrebte Budgetgleichgewicht hergestellt werden. Doch die sterreichische

    Wirtschaft sollte nicht zur Ruhe kommen. Dem Sanierungspaket folgte eine Kette von Ban-

    kenzusammenbrchen, die den sterreichischen Geld- und Kapitalmarkt in seinen Fundamen-

    ten schwer erschtterte.

    Der Weltkrieg und der Zusammenbruch der sterreichisch-ungarischen Monarchie hatten den

    Bankensektor in sterreich zwar geschwcht, doch ein gewisser Einflussbereich in den Nach-

    folgestaaten konnte aufrechterhalten werden.57 ber Beteiligungen der Wiener Grobanken an

    ehemaligen Filialen im mitteleuropischen Raum blieben wichtige Kontakte bestehen, die

    sterreich als Zwischenstation fr auslndische Investoren attraktiv erscheinen lieen.58 Wien

    war somit ein wichtiges konomisches Entscheidungszentrum geblieben. Wichtig war in die-

    sem Zusammenhang besonders das Interesse, das dem osteuropischen Raum von westlichen

    Anlegern entgegengebracht wurde.59 Aber nicht nur die Rolle als Vermittler im Kapitalflu

    56 Die Grndung der Nationalbank erfolgte am 14. November 1922 (BGBL. Nr. 823), die statutenmige

    Aufnahme ihrer Ttigkeit geschah am 1. Jnner 1923. Bachinger, Karl; Matis, Herbert (1974): Der sterreichi-

    sche Schilling. Geschichte einer Whrung, Graz-Wien-Kln, S. 77 ff. 57 Vor dem Auseinanderbrechen des Habsburger-Reiches kontrollierten die Wiener Grobanken ca. 2/3

    des Bankaktienkapitals der gesamten Monarchie. Nautz, Jrgen: Die sterreichische Wirtschaft und die An-

    schlufrage. In: Albrich, Thomas; Eisterer, Klaus; Steininger, Rolf (Hg.)(1988): Tirol und der Anschlu. Voraus-

    setzungen, Entwicklungen, Rahmenbedingungen 1918-1938, Innsbruck, S. 386. 58 Mattes, Reinar (1983): Der konomische Aspekt in den Krisen der Ersten Republik. In: Christliche

    Demokratie. Schriften des Karl Vogelsang-Instituts, 1. Jg., Nr. 1, 1983, S. 7. 59 Es entstand also in der Zwischenkriegszeit die in der modernen Wirtschaftsgeschichte wohl ziemlich

    einzigartige Situation, dass ein Land, das selbst einen groen Kapitalbedarf zur Akkommodation seiner Wirt-

    schaft aufwies, einen betrchtlichen Kapitalexport durchfhrte, durch den nicht zuletzt auch Konkurrenzunter-

    nehmungen in den Nachfolgestaaten alimentiert wurden. Die Erste Republik erbte zwar die Kapitalorganisation

    des frheren Groreiches, die umfangreichen Kapitalressourcen konnten jedoch unter diesen Umstnden nicht in

    eine Intensivierung der heimischen Wirtschaft umgesetzt werden. Bachinger 1983, S. 51.

  • 32

    von West nach Ost strkte die Geldinstitute, auch die (schon vor 1914 gegebene) starke Ab-

    hngigkeit des Industriekapitals vom Bankkapital unterstrich die Dominanz dieses Sektors.60

    Die Krise des sterreichischen Bankensektors begann im Jahr des kleinen Wiener Brsen-

    krachs 1924, im Zuge einer gro angelegten Franc-Spekulation. Turbulenzen der franzsi-

    schen Whrung hatten zu einer fieberhaften Spekulationsttigkeit gefhrt. Mit Millionenbe-

    trgen setzten die beteiligten Banken auf einen weiteren Kursverfall des Franc, machten die

    Rechnung aber ohne das amerikanische Bankhaus J. P. Morgan, das der franzsischen Regie-

    rung eine beachtliche Dollar-Anleihe zur Sttzung der Whrung zukommen lie. Als der Kurs

    des Franc sofort stark zu steigen begann, brach der Spekulationsrummel zusammen. Diese

    Situation bedingte, dass die Banken zur Abdeckung ihrer Spekulationsverluste nun alles an

    verfgbaren Mitteln mobilisieren mussten.

    Das verunglckte Engagement im Zusammenhang mit der franzsischen Whrung war aber

    nur der Auftakt zu einer groen Bankenkrise in sterreich, die bis in die 1930er Jahre andau-

    ern sollte. Nach der Inflationszeit, viele der mit dem Bankenbereich verbundenen Konzerne

    hatten eine verlusttrchtige Periode hinter sich, war fr den ungesund aufgeblhten Sektor der

    Geldinstitute ein Punkt erreicht gewesen, an dem es nur mehr abwrts gehen konnte. Da auch

    das laufende Geschft in den Nachfolgestaaten weit hinter den Erwartungen zurckgeblieben

    war, kann die schiefgelaufene Franc-Spekulation hchstens als auslsendes Moment, nicht

    aber als entscheidende Ursache fr das in sterreich einsetzende Bankensterben gelten. Nach-

    dem Institute wie etwa die Bauernbank oder die Steirerbank insolvent geworden waren, be-

    gannen Sanierungsmanahmen einzusetzen, die jedoch zur dauerhaften Verbesserung der Si-

    tuation nichts beizutragen imstande waren. Gesunde Bankunternehmen wurden veranlasst,

    einer unglcklichen Fusionierungsstrategie zuzustimmen, und bezahlten mit einer eigenen

    Substanzschwchung, die den nchsten Krach schon wieder absehbar werden lie. Da vieles

    unter politischem Druck und immer auch etwas verschleiert vor den Augen der ffentlichkeit

    geschah, wurde jeder neue Bankenzusammenbruch von massiven Vertrauensverlusten in Poli-

    60 In kaum einem anderen Land war die Verschmelzung von Bankkapital und Industriekapital soweit fort-

    geschritten wie in sterreich. Mrz, Eduard; Sochor, Karl: Whrung und Banken in Cisleithanien. In: Wandrus-

    zka, Adam; Urbanitsch, Peter (Hg.)(1973): Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Band 1: Brusatti, Alois (Hg.):

    Die wirtschaftliche Entwicklung, Wien, S. 360.

  • 33

    tik und Wirtschaft begleitet. Der Postsparkassenskandal wurde bertroffen vom Krach der

    Bodenkreditanstalt 1929.61 Dieser Pleite folgte eine bernahme der Bodenkreditanstalt durch

    die Creditanstalt, doch damit war man am Ende der Kette angelangt. Als am 12. Mai 1931 die

    Creditanstalt zusammenbrach, war kein Institut mehr da, das die Grobank bernehmen htte

    knnen.62 Fr die ffentliche Hand bedeutete dieser letzte groe Bankenzusammenbruch der

    Zwischenkriegszeit einen mchtigen Aderlass. Die Folgen, die die schweren Erschtterungen

    im Geld- und Kreditapparat nach sich zogen, htten schlimmer nicht sein knnen: Der Rck-

    zug auslndischer Kreditgeber, das Ansteigen des Zinsniveaus und die erheblichen Betrge

    aus ffentlichen Mitteln fr Sanierungsmanahmen, die natrlich in anderen Bereichen fehl-

    ten all das konnte nicht ohne Auswirkungen auf das reale Wirtschaftsgeschehen bleiben.

    Neben dem Bankensektor hatte die sterreichische Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit auch

    andere Sorgenkinder zu bewltigen. So wies der Industriebereich noch Ende der 1920er

    Jahre deutliche Disproportionalitten auf. Whrend Papier-, Elektro- und Edelstahlindustrie

    oder auch die Fabrikation chemischer Produkte betrchtlich expandieren konnten, hatten die

    Bereiche Textil, Eisen- und Metallverarbeitung wesentliche Schrumpfungen hinzunehmen.63

    In einer ausgesprochen hoffnungslosen Situation war die Bauwirtschaft, die an einer nahezu

    chronischen Unterauslastung litt. Der Mangel an konomischer Dynamik lsst sich auch an

    der Entwicklung der Investitionsquote ablesen: Die Bruttoinvestitionsrate betrug zwischen

    1924 und 1937 durchschnittlich etwa 7 Prozent, whrend sie 1913 noch bei 12,9 Prozent gele-

    gen hatte.64 Rationalisierungsinvestitionen erwiesen sich aufgrund der erschwerten Export-

    mglichkeiten hufig als zwecklos, nur in den Bereichen, in denen fr den Inlandsmarkt pro-

    61 Weber, Fritz (1991): Vor dem groen Krach. Die Krise des sterreichischen Bankenwesens in den

    zwanziger Jahren. Habilitationsschrift, Wien, S. 403 ff. 62 Ausch, Karl (1968): Als die Banken fielen. Zur Soziologie der politischen Korruption, Wien, S. 338 ff 63 Siehe Angaben zur Industrieproduktion, nach Branchen gegliedert, in: sterreichs Volkseinkommen

    1913 bis 1963. Monatsberichte des sterreichischen Institutes fr Wirtschaftsforschung, 14. Sonderheft, Wien

    1965, S. 12. Die Textilindustrie Wiens und des Wiener Beckens befand sich in einer besonders schwierigen La-

    ge, da sie in der Zeit der Monarchie eng mit der Textilfertigung in Nordbhmen und Schlesien verbunden war.

    Alle Entflechtungsversuche erwiesen sich als uerst kostspielig. 64 Im Jahr 1927 lag die Investitionsquote bei rund 8 Prozent, 1930 noch bei 9,4 Prozent. sterreichs

    Volkseinkommen 1913 bis 1963. Monatsberichte des sterreichischen Institutes fr Wirtschaftsforschung, 14.

    Sonderheft, Wien 1965, S. 41.

  • 34

    duziert wurde etwa in der Brauindustrie erwiesen sich die Anstze zu einer rationelleren

    und damit billigeren Herstellung als erfolgreich.65 Auch das Zinsniveau war nicht dazu ange-

    tan, die Investitionsfreudigkeit zu frdern: Im August 1925 betrug der Eskomptzinsfu der

    Nationalbank 15 Prozent, Industrieunternehmen zahlten an Kontokorrentzinsen 25 bis 45 Pro-

    zent. Die Zinsstze sanken dann zwar, blieben aber im Zeichen einer bervorsichtigen Defla-

    tionsgesinnung weiterhin hoch. Ende 1925 betrug die Bankrate noch immer 9 Prozent; sie

    sank bis 1930 auf 5,5 Prozent. Die hohen Spesen des aufgeblhten und monopolisierten Bank-

    apparates zogen hohe Spannen nach sich, so dass selbst erstklassige Kreditwerber einen um 6

    bis 7 Prozent ber der Bankrate liegenden Zinssatz zu bezahlen hatten.66 Soweit in den

    1920er Jahren im industriellen Bereich Wachstumsraten zu erzielen waren, war dies auf ent-

    sprechende Nachfrageimpulse bzw. auf gestiegene Masseneinkommen zurckfhrbar, die sich

    jedoch ab 1927/28 wieder reduzierten. Ohne bertreibung wird man fr die Phase der Zwi-

    schenkriegszeit von einer Deindustrialisierung sterreichs sprechen knnen. Das Bruttoin-

    landsprodukt blieb dem Groteil der Zwischenkriegszeit unter dem Vorkriegsstandard von

    1913, nur 1928 bis 1930 lag es kurzfristig darber. Bestimmend dafr waren der internationa-

    le Konjunkturanstieg in der zweiten Hlfte der 1920er Jahre und ein gewisser Nachholbedarf,

    der nach der Erholung von den Kriegsfolgen zum Tragen kam. Dennoch, die Arbeitslosenrate

    blieb auch in dieser Phase in sterreich relativ hoch.

    65 Kernbauer; Mrz; Weber in: Weinzierl; Skalnik 1983, Band 1, S. 362. 66 Rothschild in Weber 1961, Band 1, S. 82.

  • 35

    Zahl der Arbeitslosen 1921-1929 (Jahresdurchschnitt)

    Jahr Gesamtzahl der Arbeitslosenrate

    Arbeitslosen (in Prozent der Arbeitnehmer)

    1921 28.000 1,4

    1922 103.000 4,8

    1923 212.000 9,1

    1924 188.000 8,4

    1925 220.000 9,9

    1926 244.000 11,0

    1927 217.000 9,8

    1928 183.000 8,3

    1929 192.000 8,8

    Quelle: Stiefel, Dieter (1979): Arbeitslosigkeit. Soziale, politische und wirtschaftliche Aus-

    wirkungen am Beispiel sterreichs 1918-1938, Berlin, S.29

    Manahmen zur Belebung der Wirtschaft kamen nur uerst sprlich und waren daher nicht

    dazu angetan, eine Dynamisierung zu bewirken. Lediglich der Ausbau der Wasserkraft und

    die Elektrifizierung der Bundesbahnen deuten auf ein bescheidendes Engagement der ffentli-

    chen Hand hin: Zwischen 1918 und 1933 stieg die installierte Leistung der Wasserkraftwerke

    von 241.000 kW auf 732.000 kW, die Stromerzeugung auf hydraulischem Wege nahm von

    895 Mill. kWh auf 1958 Mill. kWh zu. Der Beitrag der Dampfkraftwerke reduzierte sich

    demgegenber. 1918 war noch rund 50 Prozent des Stromaufkommens kalorisch hergestellt

    worden, 1933 nur noch 19 Prozent.67 Zwischen 1920 und 1930 konnten die elektrifizierten

    Bahnstrecken von 215 auf 833 km ausgebaut werden.68 Das Inflationstrauma und die Zielset-

    67 Koren, Stephan: Struktur und Nutzung der Energiequellen sterreichs. In: Weber, Wilhelm

    (Hg.)(1961): sterreichs Wirtschaftsstruktur gestern heute morgen, Band 1, Berlin, S. 171. 68 Tremel 1969, S. 379 und 382.

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    zung eines ausgeglichenen Budgets trugen mageblich dazu bei, dass konjunkturpolitische

    Impulse praktisch nicht erfolgten.69

    Investitionsausgaben der ffentlichen Hand 1923-1932 (in Mill. S)

    Quelle: Weber, Fritz: Staatliche Wirtschaftspolitik in der Zwischenkriegszeit. Zum Investiti-

    onsverhalten der ffentlichen Hand 1918-1938. In: Tlos, Emmerich; Dachs, Herbert; Ha-

    nisch, Ernst; Staudinger, Anton (1995): Handbuch des politischen Systems in sterreich. Ers-

    te Republik 1918-1938, Wien, S.535

    Die Abwehrkrfte der sterreichischen Wirtschaft waren also zu dem Zeitpunkt, als die groe

    Weltwirtschaftskrise auch ber die Alpenrepublik hereinbrach, uerst unterentwickelt. Mitte

    des Jahres 1930 wurden die Auswirkungen der Wirtschaftskatastrophe im Industriesektor

    69 Dass der budgetre Rahmen fr eine groangelegte Investitionspolitik zu schmal erschien, war zweifel-

    los auch steuerbedingt gegeben. Bachinger 1983, S. 47.

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    sprbar. In diesem Jahr sank die Produktion industrieller Erzeugnisse um 9 Prozent. Ein str-

    kerer Konjunktureinbruch konnte durch verschiedene Bundesinvestitionen, die 1930 mit 248,4

    Millionen Schilling den Spitzenwert in der Ersten Republik erreichten, und durch die Auf-

    tragsvergabe der Gemeinde Wien im Bereich der Bauwirtschaft abgefangen werden.70 Im Mai

    1931 verschlimmerte sich die Lage zusehends, als neben die Industriekrise noch eine Finanz-

    krise hinzutrat. Der Krach der sterreichischen Creditanstalt erschtterte das internationale

    Kreditsystem schwer, da das Geldinstitut die Bank of England sowie wichtige franzsische

    und amerikanische Finanzgruppen zu seinen Groaktionren zhlte. Die Folgen dieser Pleite

    waren unbersehbar: sowohl sterreichische Einleger als auch auslndische Investoren kn-

    digten ihre Guthaben bzw. Kredite bei der Creditanstalt, wobei die gesamte Wiener Banken-

    szene von der sich ausbreitenden Panikstimmung in Mitleidenschaft gezogen wurde. Rasch

    zog der Creditanstalt-Zusammenbruch seine Kreise, die wichtigen Anlegerpltze in Deutsch-

    land und in England wurden von den Investoren fluchtartig verlassen. Sowohl in England als

    auch in sterreich fhrten diese Einbrche zu einem Wertverfall der Whrungen. Die Sanie-

    rungs- und Sttzungsmanahmen, die in sterreich in aller Eile ausgeheckt wurden, erforder-

    ten einen riesigen Finanzierungsrahmen, der fr Nationalbank und Staatshaushalt enorme Be-

    lastungen verhie. Das Unvermgen, andere Auswege zu finden, erzeugte den Appetit auf

    weitere Auslandshilfe: Nach mehreren Brandmeldungen an den Generalsekretr des Vlker-

    bundes begannen unter Bundeskanzler Buresch Verhandlungen um eine neue Anleihe. Als

    dem sterreichischen Anliegen stattgegeben wurde, konnte der 1932 in sein Amt eingetretene

    Bundeskanzler Engelbert Dollfu den Erls der sogenannten Lausanner Anleihe in der Gr-

    enordnung von 308,6 Millionen Schilling in Empfang nehmen.71 Die Bedingungen, unter

    denen diese Anleihe aufgenommen wurde, war allerdings wieder alles andere als gnstig. Die

    Geldgeberstaaten England, Frankreich, Italien und Belgien pochten auf straff organisierte

    Spar- und Abbaumanahmen im Rahmen der sterreichischen Wirtschaftspolitik. Der deflati-

    70 Weber, Fritz: Staatliche Wirtschaftspolitik in der Zwischenkriegszeit. Zum Investitionsverhalten der

    ffentlichen Hand 1918-1938. In: Tlos, Emmerich; Dachs, Herbert; Hanisch, Ernst; Staudinger, Anton (1995):

    Handbuch des politischen Systems in sterreich. Erste Republik 1918-1938, Wien, S. 545. 71 Klingenstein, Grete (1965): Die Anleihe von Lausanne. Ein Beitrag zur Geschichte der Ersten Republik

    in den Jahren 1931 bis 1934, Wien - Graz; Strau, Helmut (1988): Die Vertrge von Genf und Lausanne in ihrem

    wirtschaftlichen, politischen und sozialen Umfeld, Diplomarbeit, Wien .

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    onre Kurs wurde verschrft und die sterreichischen Regierungsverantwortlichen hatten ab

    1933 mehr als 500.000 arbeitslose Personen im Jahresdurchschnitt zu verbuchen.72

    1.2. Die Zuspitzung der sozialen Konflikte

    Die Hinterlassenschaft der Monarchie bildete die Grundlage fr eine Krise in Permanenz

    (Fritz Weber) auf der konomischen Ebene, deren Auswirkungen naturgem auch gewalti-

    gen sozialen Zndstoff in sich bargen. Viele Umwlzungen in der unmittelbaren Nachkriegs-

    zeit, aber auch die soziokonomischen Vernderungen im weiteren Verlaufe lieen in kaum

    einer sozialen Gruppe ein echtes Gefhl von Beheimatung innerhalb der Gesellschaft auf-

    kommen. Eine gewisse Gltigkeit scheinen in diesem Zusammenhang die Worte von Jrgen

    Habermas zu besitzen: Die konomische Krise folgt aus widersprchlichen Systemimperati-

    ven und bedroht die Systemintegration; sie ist zugleich eine soziale Krise, in der die Interessen

    von handelnden Gruppen aufeinanderstoen und die soziale Integration der Gesellschaft in

    Frage stellen.73 Als groe Verlierer der neuen Situation empfanden sich die sozialen Mittel-

    schichten.74 Es war der Mittelstand gewesen, dessen Sparguthaben im Zuge des Kriegsge-

    schehens partiell in Kriegsanleihen umgewandelt worden waren. In mehreren Etappen waren

    mittelstndische Ersparnisse in das staatliche Haushaltsfass ohne Boden geflossen, verscho-

    ben in den Sektor der Militrgter, die nach dem Kriege verrostet, wertlos und verschrottbar

    die ehemaligen Schlachtfelder bestckten. Die Anleihepapiere besaen nach 1918 nur noch

    den Substanzwert von Makulatur. Wer aber nach dem Weltkrieg in sterreich noch ber Er-

    sparnisse verfgte, der wurde durch die Hyperinflation auf kaltem Wege enteignet. Eindring-

    72 Kernbauer; Mrz; Weber in: Weinzierl; Skalnik 1983, Band 1, S. 372. 73 Habermas, Jrgen (1973): Legitimationsprobleme im Sptkapitalismus, Frankfurt/M, S. 48. 74 In der Geschichtswissenschaft wird der Mittelstand unterschiedlich definiert. Im Rahmen der vorliegen-

    den Studie werden unter dem Begriff Mittelstand dem am meisten gngigen Muster entsprechend all jene Grup-

    pen subsumiert, die einerseits weder Eigentmer bzw. leitende Angestellte grerer Industrieunternehmen, Gro-

    grundbesitzer oder politische Fhrungskrfte, noch Lohnarbeiter andererseits sind. Zu differenzieren wre

    zwischen dem historischen Mittelstand (Kleingewerbetreibende, Bauern) und dem neuen Mittelstand (A