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SNB 86 Quartalsheft 2/2003 Goldstandard, Deflation und Depression: Die schweizerische Volkswirtschaft in der Weltwirtschaftskrise von Mathias Zurlinden, Forschung, Schweizerische Nationalbank

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Page 1: Goldstandard, Deflation und Depression: Die schweizerische ... · grösste Krise der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert. Die Zentren der Krise lagen in den USA und in Deutschland,

SNB 86 Quartalsheft 2/2003

Goldstandard, Deflation und Depression: Die schweizerische Volkswirtschaft in der Weltwirtschaftskrise

von Mathias Zurlinden,Forschung, Schweizerische Nationalbank

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Die Grosse Depression der 1930er-Jahre war diegrösste Krise der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert.Die Zentren der Krise lagen in den USA und inDeutschland, aber kein Land, das in die Weltwirt-schaft integriert war, blieb verschont. In der Schweizsank die Industrieproduktion von 1929 bis 1932 um20% und ausser in den Jahren 1937 und 1939 bliebsie bis zum Ende des Jahrzehnts (und bis nach demZweiten Weltkrieg) unter dem Stand von 1929. Esüberrascht deshalb nicht, dass die Sorge, die GrosseDepression könnte sich wiederholen, die Menschenbis heute beschäftigt.

Die Weltwirtschaft der Zwischenkriegszeitwurde durch die Entwicklung in den USA, in Deutsch-land, Grossbritannien und Frankreich geprägt. DerGrossteil der Literatur zur Grossen Depression kon-zentriert sich daher auf diese vier Länder. An ersterStelle sind die USA zu nennen, wo die von Friedmanund Schwartz (1963) ausgelöste Diskussion zur Rolleder amerikanischen Geldpolitik lange Zeit das Feldbeherrschte (siehe Brunner, 1981; Temin, 1978). Inden letzten zwanzig Jahren wandte sich die For-schung aber vermehrt komparativen Studien zu, wel-che die Entwicklung in einer grossen Zahl von Län-dern miteinander vergleichen. Bernanke (1995) siehtin diesem Wandel vor allem zwei Vorteile. Erstens wardie Grosse Depression ein weltweites Ereignis, so dasssie auch in einem internationalen Rahmen behandeltwerden sollte, und zweitens verbessert die kompara-tive Behandlung von zwanzig oder dreissig Länderndie Aussichten, die Ursachen und Wirkungen (im öko-nometrischen Sinne) korrekt zu identifizieren.

Obwohl die Grosse Depression auch für dieSchweiz ein einschneidendes Ereignis war, ist die Zahl makroökonomischer Untersuchungen, die mitSchweizer Daten arbeiten, klein geblieben. Dies giltsowohl für die traditionellen Länderstudien, vondenen es für die Schweiz nur wenige gibt (Kneschau-rek, 1952; Rutz, 1970; Weber, 1983; Faber, 1997), alsauch für die komparativen Studien der letzten Jahre,welche die Schweiz oft weglassen. In beiden Fällenliegt der Grund vor allem in der schwachen Daten-lage, welche die Möglichkeiten für empirische Analy-sen stark einschränkt. So gibt es beispielsweise fürdas schweizerische Sozialprodukt der 1930er-Jahreweder eine Gliederung nach der Verwendungsseitenoch geeignete Deflatoren.

Die verfügbaren Daten reichen indessen fraglosaus, um die Entwicklung der schweizerischen Volks-wirtschaft nachzuzeichnen. Dies ist der Ausgangs-punkt der vorliegenden Darstellung. Sie ist bewusstdatenorientiert und macht intensiv von Grafiken undTabellen Gebrauch. Ausserdem ist sie darum bemüht,den schweizerischen Fall in den internationalen Zu-sammenhang zu stellen. Nur am Rande erörtert wer-

den Einzelheiten der schweizerischen Wirtschafts-politik. Darüber gibt es die umfassende Arbeit von Rutz (1970). Weitgehend weggelassen wird auchdie zeitgenössische wirtschaftspolitische Auseinan-dersetzung. Diese ist von Müller (2000) behandeltworden.

Es besteht heute weitgehende Einigkeit darü-ber, dass die Weltwirtschaftskrise nicht auf eineeinzelne Ursache zurückgeführt werden kann. DerKurssturz an den Aktienmärkten, Probleme im Ban-kensektor und der wachsende Handelsprotektionis-mus spielten alle eine Rolle. Besonders hervorzuhe-ben sind aber die monetären Faktoren und dabei vorallem die Rolle des internationalen Goldstandards.Die festen Wechselkurse des Goldstandards verbreite-ten die Deflation weltweit und das Festhalten derZentralbanken an den Goldparitäten trug massgeblichdazu bei, dass eine zunächst noch normale Rezessionin die Grosse Depression mündete. Cassel (1936) undHawtrey (1939) vertraten solche Auffassungenbereits in den 1930er-Jahren. Weitgehend durchge-setzt haben sie sich aber erst in den letzten zwanzigJahren mit den vergleichenden Studien von Choudhriund Kochin (1980), Eichengreen und Sachs (1985)und Bernanke und James (1991), sowie den Synthe-sen von Temin (1989), Eichengreen (1992, 2002) undBernanke (1995).

Die internationale monetäre Sicht der GrossenDepression bildet den Rahmen dieses Aufsatzes. Imersten Teil wird der globale Hintergrund und dasZusammenspiel zwischen Goldstandard, Deflationund Depression behandelt. Anschliessend wird imzweiten Teil die Entwicklung der schweizerischenVolkswirtschaft zwischen 1929 und 1937 dargestellt.Wir betrachten neben den wichtigsten Indikatorender Wirtschaftsaktivität und der Preisentwicklung vorallem die Zinssätze und Wechselkurse, die Geldaggre-gate und deren Bestimmungsfaktoren sowie dieSchwierigkeiten im Bankensektor. Der dritte Teil ent-hält Schlussbemerkungen und fasst die von den Zen-tralbanken aus der Grossen Depression gezogenenLehren kurz zusammen.

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1 Die Weltwirtschaftskrise

Der erste Teil beschäftigt sich mit dem Hinter-grund, vor dem sich die Entwicklung der schweizeri-schen Volkswirtschaft abspielte. Die weltweite Defla-tion und Depression wird anhand einiger wichtigerIndikatoren illustriert und der Zusammenhang zwi-schen Deflation und Depression dargelegt. Anschlies-send wird die Funktionsweise des Goldstandardserklärt und begründet, weshalb vom Goldstandard eindeflationärer Druck auf die Weltwirtschaft ausging.Schliesslich wird der schrittweise Zusammenbruchdes Goldstandards nachgezeichnet, der die Grund-lage für die Erholung der Weltwirtschaft schuf.

Der Akzent liegt auf wenigen wichtigen Punk-ten. Viele Aspekte, die für ein vertieftes Verständnisder Grossen Depression nützlich sind, werden nichtbehandelt. Dazu gehört vor allem die Vorgeschichteder Grossen Depression, die bis zum Ersten Weltkriegzurückreicht und so wichtige Ereignisse umfasst wiedie Hyperinflation in Deutschland und anderen Län-dern, die weltweite Agrarkrise und der Streit umdeutsche Reparationen und alliierte Kriegsschulden.Ausführliche Darstellungen, welche die Grosse De-pression in die Wirtschaftsgeschichte der Zwischen-kriegszeit integrieren, geben Eichengreen (1992) undFeinstein, Temin und Toniolo (1997).

1.1 Deflation und Depression

Grafik 1 zeigt die Entwicklung der Industriepro-duktion in den vier grössten Volkswirtschaften (USA,Deutschland, Grossbritannien, Frankreich) und in derSchweiz von 1928 bis 1938.1 Aus den Jahresdatengeht hervor, dass die Industrieproduktion ihrenHöhepunkt in den USA, Deutschland, Grossbritannienund der Schweiz im Jahre 1929 erreichte. Nur inFrankreich verharrte sie noch 1930 auf dem Niveauvon 1929, bevor sie auch dort zu fallen begann. DerTiefpunkt fiel in den meisten Ländern auf das Jahr1932; anschliessend begann sich die Situation zu ver-bessern. Die Schweiz erlebte allerdings ähnlich wieFrankreich nur eine kurzlebige Erholung und musste1935 und 1936 einen neuen Rückschlag einstecken.

Gemessen an den Jahresdaten war der Rückgangder Industrieproduktion in den USA (1929–32:–46%) sowie Deutschland (1929–32: –41%) amstärksten und in Grossbritannien am schwächsten(1929–32: –11%). Frankreich (1930–35: –28%) unddie Schweiz (1929–32: –21%) lagen dazwischen. DieGrafik deutet ausserdem an, dass die Weltwirtschaftim Jahre 1937 wieder ungefähr auf dem Niveau von1929 produzierte und 1938 bereits wieder ein Rezes-sionsjahr war. Dies liefert uns die zeitliche Abgren-zung der Grossen Depression, die wir in diesem Auf-satz verwenden: 1929–1937.2

1 Die Quellen zu den in den Gra-fiken und Tabellen verwendetenDaten sind im Anhang wiederge-geben.

2 In der Literatur wird das Endeder Grossen Depression nicht ein-heitlich datiert. Die Unterschiedeergeben sich vor allem daraus,dass die Erholung in den verschie-denen Ländern nicht gleichzeitigeinsetzt und nicht gleich schnellverläuft. Ausserdem stellen einige

Autoren auf trendbereinigteDaten ab oder auf einen anderenIndikator der Wirtschaftstätigkeitals die Industrieproduktion.

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

5060708090

100110120130140

Industrieproduktion Grafik 1Index 1929 = 100

USA GB CHD F

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

50

60

70

80

90

100

110

Grosshandelspreise Grafik 2Index 1929 = 100

USA GB CHD F

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Zu den bekanntesten Merkmalen der GrossenDepression zählt der in den ersten Jahren registriertemassive Preiszerfall. Grafik 2 zeigt die Entwicklungder Grosshandelspreise der gleichen fünf Länder wieGrafik 1. Daraus geht hervor, dass die Preise zwarschon 1929 unter Druck standen, ab 1930 aberbeschleunigt zurückgingen. Bis 1931 fielen sie inallen Ländern nahezu gleich stark, was mit den festenWechselkursen des Goldstandards erklärt werdenkann. Anschliessend fächerte sich die Entwicklungauf: Während sich die Preise zunächst in Grossbri-tannien, dann auch in den USA und Deutschland sta-bilisierten und bald darauf zu erholen begannen,standen sie in Frankreich und der Schweiz noch wei-tere drei Jahre unter Druck. Gemäss den in Grafik 2verwendeten Jahresdaten bewegte sich der ab 1929registrierte maximale Rückgang zwischen 25%(Grossbritannien, 1929–32) und 44% (Frankreich,1929–35). In der Schweiz betrug er 36% (1929–35).

Die Wirtschaftsgeschichte liefert zwar verschie-dene Beispiele dafür, dass eine mässige Deflation miteinem positiven Wirtschaftswachstum einhergehenkann. Eine starke Deflation wie in den 1930er-Jahrenwar aber so gut wie immer mit einem Rückgang derProduktion und der Beschäftigung verbunden. Mankann verschiedene Wirkungskanäle unterscheiden,über die eine Deflation die Produktion und dieBeschäftigung beeinträchtigen kann. In der GrossenDepression dürften vor allem drei eine Rolle gespielthaben (Bernanke und James, 1991; Bernanke, 1995):

Der erste Kanal führt über die relative Starrheitder Nominallöhne. Wenn die Nominallöhne nicht mitdem fallenden Preisniveau Schritt halten, steigen dieReallöhne. Reallöhne, die über das hinausgehen, wasauf Produktivitätsfortschritten basiert, reduzierendie Nachfrage nach Arbeitskräften und verteuern dieProduktion. Die Daten zeigen, dass die Reallöhne inder Grossen Depression mit der Ausnahme Deutsch-lands in allen grossen Ländern stiegen. Ausserdemgibt es eine starke inverse Beziehung zwischen denReallöhnen und der Industrieproduktion und zwarsowohl im Zeitablauf als auch im internationalen Ver-gleich (siehe Eichengreen und Sachs, 1985; Bernankeund Carey, 1996).

Der zweite Kanal verläuft über den Realzins, derals Nominalzins abzüglich die erwartete Inflationdefiniert ist. Inflationserwartungen können nichtdirekt beobachtet werden und müssen deshalbgeschätzt werden. In einer Untersuchung für die USAkommt Hamilton (1992) zum Ergebnis, dass dieDeflation die Märkte zwar zunächst überraschte, nachetwa einem Jahr aber ein wesentlicher Teil der Defla-

tion erwartet wurde. Da die Realzinsen im Ausmassder Deflationserwartungen über den Nominalzinsenliegen, deutet dies darauf hin, dass sich die Realzin-sen zu Beginn der 1930er-Jahre auf einem hohenNiveau bewegten.

Ein dritter Kanal, über den die Deflation die Pro-duktion reduziert, läuft über die Vermögensbilanz derSchuldner. Ein unerwarteter Rückgang des Preisni-veaus erhöht den realen Wert aller Nominalschulden.Damit steigt die Gefahr, dass Kredite nicht zurückbe-zahlt werden können. Die Gläubiger reagieren miteiner Reduktion des Kreditangebots, so dass wenigerInvestitions- und Konsumvorhaben realisiert werdenkönnen. Dieser Mechanismus wurde zuerst von IrvingFisher (1933) beschrieben. Durch das Aufkommenmikroökonomischer Modelle unvollkommener Kredit-märkte erfuhr er in den letzten Jahren eine Renais-sance.3

Im Modell von Bernanke, Gertler und Gilchrist(1996) besteht die Unvollkommenheit des Kredit-marktes darin, dass die Gläubiger nicht in der Lagesind, sich kostenlos über die Aktivitäten und Charak-teristiken der Schuldner zu informieren (agency cost).Aus diesem Grund kostet die Eigenfinanzierung odereine durch Sicherheiten gedeckte Fremdfinanzierungweniger als eine Fremdfinanzierung ohne Sicher-heiten. Die Prämie variiert mit dem Vermögen (networth) des Schuldners, das als Summe aus den liqui-den und den als Sicherheiten verwendbaren illiqui-den Vermögenswerten nach Abzug der Schulden defi-niert ist. Reduziert die Deflation das Vermögen desSchuldners, so steigen damit die Kosten der Finanzie-rung. Einige Projekte, die sonst zur Ausführunggelangt wären, werden nicht mehr realisiert. Produk-tion und Beschäftigung sinken.4

3 Verschiedene empirischeAnwendungen dieses Ansatzes aufdie Grosse Depression werden vonCalomiris (1993) diskutiert.4 Vom hier beschriebenen Kre-ditkanal, der von den Wirkungender Deflation auf die Bilanzen derFirmen und Haushalte ausgeht,kann ein zweiter Kreditkanal un-terschieden werden, der von denWirkungen der Deflation auf die

Bilanzen der Banken ausgeht.Wenn sich die Qualität der Bank-bilanzen verschlechtert, werdendiese ihre Kredite verteuern bzw.ihre Kredittätigkeit einschränken.Da Bankkredite für viele Firmenund Haushalte die einzige Quelleder Fremdfinanzierung darstel-len, kann dieser zweite Kreditka-nal den ersten überlagern undverstärken.

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1.2 Die deflationäre Wirkung desGoldstandardsWo liegen nun die Ursachen der Deflation? Zu

den üblichen Verdächtigen zählt das Geldangebot.Ein Rückgang des Geldangebots führt, unter sonstgleichen Bedingungen, zu einem Rückgang des Preis-niveaus. Tatsächlich deuten die Daten darauf hin,dass die Weltgeldmenge in den ersten Jahren derGrossen Depression sank (Bernanke und Mihov,2000). Damit stellt sich die Frage nach dem damalsherrschenden monetären Regime, dem internationa-len Goldstandard.

Der internationale Goldstandard war 1914, d.h.zu Beginn des Ersten Weltkriegs, zusammengebro-chen und wurde zwischen 1922 und 1927 wieder auf-gebaut. Vor 1914 hatte der internationale Goldstan-dard während rund 40 Jahren ziemlich gut funktio-niert. Seine Wiederherstellung war deshalb mit derHoffnung verbunden, dass die Weltwirtschaft nachdem Chaos der ersten Nachkriegsjahre zu stabilerenVerhältnissen zurückfinden werde. Von den grossenLändern waren nur die USA ohne Unterbrechungbeim Goldstandard geblieben. Deutschland, Gross-britannien und Frankreich banden ihre Währungende facto 1923, 1925 bzw. 1926 wieder ans Gold. DieSchweiz tat dies 1924 (de jure 1930). Nur wenigeLänder kehrten zur Vorkriegsparität zurück (Däne-mark, Grossbritannien, Niederlande, Norwegen,Schweden, Schweiz). In den anderen Ländern war derseit 1914 erfolgte Anstieg des Preisniveaus so stark,dass sie ihre Währungen auf einem mehr oder weni-ger abgewerteten Niveau in den Goldstandard zu-rückführten.

Die Grundidee eines internationalen Goldstan-dards besteht darin, dass jedes Land sich dazu ver-pflichtet, Gold zu einem festen Preis gegen eigeneWährung zu kaufen und zu verkaufen. Damit hält esden Goldpreis und indirekt auch die Wechselkurse zuden anderen Währungen stabil. Bei einem Ungleichge-wicht zwischen zwei Ländern wirken Goldzu- und -ab-flüsse als Stabilisator. Falls ein Land beispielsweise einüber dem Potenzial liegendes Wirtschaftswachstumund steigende Preise aufweist, so verschlechtert sichdie Ertragsbilanz dieses Landes und Gold fliesst insAusland ab. Als Folge davon sinkt auch die Geldmenge,was die Zinssätze erhöht und Druck auf die Produktionund die Preise auslöst. Im Ausland hingegen steigt mitden Goldzuflüssen die Geldmenge, so dass dort dieProduktion und die Preise anziehen. Der Goldmecha-nismus sorgt also automatisch dafür, dass die Stabi-lität wiederhergestellt wird.5

In der Wirklichkeit funktionierte der Goldstan-dard nicht ganz so einfach und elegant wie hierbeschrieben. Ein Hauptunterschied lag darin, dasssich die Goldbewegungen nicht automatisch in ent-sprechenden Bewegungen der Geldmengen nieder-schlagen mussten. Damit war es möglich, dass sichdie Weltgeldmenge in den ersten Jahren der GrossenDepression schwächer entwickelte als der Goldbe-stand der Zentralbanken. Drei Faktoren waren dafürausschlaggebend:

Erstens schlossen die Währungsreserven dermeisten Ländern nicht nur Gold, sondern auch Devi-sen ein.6 Diese Devisen – vor allem amerikanischeDollar, britische Pfund, französische Franken – konn-ten bei den Zentralbanken der betreffenden Ausga-beländer jederzeit in Gold umgetauscht werden.Solange die Goldparitäten auf Vertrauen stiessen, wardiese Lösung für alle Beteiligten vorteilhaft. Die Zen-tralbank, die Devisen hielt, konnte darauf einen Zins-ertrag erzielen und der internationale Goldstandardwar imstande, mit einer verhältnismässig kleinenGoldreserve in den Ausgabeländern zu funktionieren.Als der Glaube in die Goldparitäten jedoch zu schwin-den begann, tauschten die Zentralbanken ihre Devi-sen in Gold um. Der daraus resultierende Rückgangdes Anteils der Devisen an den weltweit gehaltenenWährungsreserven war beträchtlich. Gemäss Datenaus 24 Ländern sank er von 42% Ende 1928 auf 35%Ende 1930 und 8% Ende 1932 (siehe Nurske, 1944, S.235). Die Folge war, dass sich die Währungsreservenschwächer entwickelten als der Goldbestand der Zen-tralbanken.

Zweitens hielten alle Zentralbanken neben denWährungsreserven auch inländische Vermögenswerte(Diskont- und Lombardkredite, Wertschriften). Siehatten somit die Möglichkeit, die Auswirkungen vonGold- oder Devisenbewegungen auf die monetäreBasis oder Notenbankgeldmenge durch kompen-sierende Bewegungen im Bestand der inländischenVermögenswerte zu sterilisieren. Allerdings waren die Möglichkeiten für Überschuss- und Defizitländerungleich. Ein Defizitland, das fortgesetzt Gold verlor,war über kurz oder lang zu einer Reduktion der Geld-menge gezwungen. Für ein Überschussland, das Gold-zuflüsse hatte, gab es hingegen keinen entsprechen-den Zwang, die Geldmenge steigen zu lassen. DieseAsymmetrie ist das Hauptargument für die gängigeAuffassung, dass ein Goldstandard tendenziell defla-tionär wirkt. In unserem Zusammenhang ist vor allemdas Verhalten der französischen und amerikanischenWährungsbehörden von Interesse. Beide hatten inden entscheidenden Jahren starke Goldzuflüsse und

5 Siehe Niehans (1978) für eine analytische Darstellung desGoldstandards und Eichengreen(1992) oder Hawtrey (1939) für die institutionellen und prak-tischen Einzelheiten.

6 Der Goldstandard der Zwi-schenkriegszeit wird deshalb auchals Gold-Devisen-Standardbezeichnet. Zwar hielten dieZentralbanken auch vor demErsten Weltkrieg schon Devisenals Währungsreserven, doch war deren Anteil damals kleiner.

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8 Siehe Ferguson und Temin(2002). Für eine kurze Einführungin die moderne Debatte überBrünings Deflationspolitik sieheauch Feinstein, Temin und Toniolo(1997, S. 120–124).

7 Siehe Cassel (1936) undEichengreen (1992, S. 258–286).

beide sterilisierten die Auswirkungen dieser Goldzu-flüsse auf die Notenbankgeldmenge durch einenAbbau des Bestandes an inländischen Vermögenswer-ten (siehe Hamilton, 1987). Die Gründe waren unter-schiedlich. Frankreich befürchtete eine Zunahme derInflation und wollte dies verhindern. Die amerika-nischen Währungsbehörden wiederum wollten denstarken Anstieg der Aktienkurse bekämpfen, den sieals eine spekulative Übertreibung betrachteten. Wieauch immer diese binnenwirtschaftlichen Sorgenbeurteilt werden mögen, standen sie im Gegensatz zuden Spielregeln des Goldstandards. Die Folge war,dass sich die Notenbankgeldmenge schwächer ent-wickelte als die Währungsreserven.

Drittens ist neben dem Verhalten der Zentral-banken auch das Verhalten des Publikums und derBanken zu berücksichtigen. Dieses wurde durch diewachsende Unsicherheit geprägt, die sich in denersten Jahren der Grossen Depression breit machte.Das Publikum reagierte darauf damit, dass es Bank-depositen durch Bargeld ersetzte. Die Banken wieder-um mussten sich gegen Depositenabzüge wappnen,indem sie genügend Reserven hielten. Beides führtedazu, dass die Geldmenge sich schwächer entwickelteals die Notenbankgeldmenge.

Das Verhalten der Zentralbanken (Devisenum-tausch in Gold, Sterilisierung von Goldzuflüssen), derBanken (höhere Reserverate) und des Publikums(höhere Bargeldrate) trugen gemeinsam dazu bei,dass sich die Geldversorgung der Weltwirtschaftschwächer entwickelte als der Goldbestand (sieheBernanke und Mihov, 2000). Eichengreen (1992)argumentiert, dass der deflationäre Druck des Gold-standards hätte korrigiert werden können, wenn alleLänder ihre Währungen koordiniert abgewertet, d.h.die in Goldeinheiten ausgedrückten Preise derWährungen gleichzeitig gesenkt hätten. Die Gelegen-heit verstrich, weil die Regierungen und Notenban-ken die Situation unterschiedlich beurteilten undsich nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigenkonnten.7 Unter diesen Umständen musste jedes Landseinen eigenen Weg gehen. Zwischen 1931 und 1936werteten alle Länder ihre Währungen gegenüber demGold ab oder führten Devisenkontrollen ein. Beideswidersprach dem Grundgedanken des Goldstandards.Auch wenn viele Länder ihre Währungen in der einenoder anderen Form weiterhin ans Gold banden, warder internationale Goldstandard als ein Mechanismuszur Koordination der Geldpolitik zusammengebro-chen.

1.3 Die Abkehr vom Goldstandard unddie Überwindung der KriseDer Zerfall des internationalen Goldstandards

erfolgte in mehreren Schritten. Er begann im Jahre1931 mit der deutsch-österreichischen Bankenkrise.Im Mai 1931 brach in Wien die grösste österreichischeBank, die Creditanstalt, zusammen. Dieses Ereignisstrahlte vor allem auf Deutschland aus, wo die Ban-ken, ähnlich wie die Creditanstalt, grosse kurzfristigeAuslandverbindlichkeiten hatten und die RegierungBrüning das Vertrauen der ausländischen Anlegeraufs Spiel setzte, indem sie das Ende der Reparatio-nen forderte und sich für eine Zollunion mit Öster-reich einsetzte.8 Das prominenteste Opfer war dieDarmstädter und Nationalbank (DANAT), die fünft-grösste Bank des Landes, die im Juli ihre Schalterschloss. Nachdem die Deutsche Reichsbank schwereGoldverluste erlitten hatte und Bemühungen umeinen internationalen Kredit gescheitert waren, sahsich Deutschland vor die Wahl gestellt, entweder dieGoldparität aufzugeben oder Kapitalverkehrskontrol-len einzuführen. Die Regierung entschied sich für diezweite Lösung. Mitte August erliess sie eine Devisen-verordnung und eine Notverordnung gegen Kapital-und Steuerflucht. Gleichzeitig nahm sie Verhandlun-gen mit den ausländischen Banken auf, die EndeAugust zu einem Stillhalteabkommen für die kurzfris-tigen Kredite führten. In den folgenden Jahren wurdedie Devisenbewirtschaftung immer weiter ausgebaut.

Im Laufe des Sommers 1931 geriet das britischePfund in Bedrängnis. Die Schwachstelle der briti-schen Volkswirtschaft war die überbewertete Wäh-rung, die hohe Arbeitslosigkeit und die angespannteHaushaltslage. Daraus ergab sich die Erwartung, dassdie amtierende Labour-Regierung die Goldparitätkaum vehement verteidigen würde. Als private Anle-ger und ausländische Zentralbanken ihre Pfundan-lagen in Gold tauschten, erhöhte die Bank von Eng-land den Diskontsatz moderat auf 4,5%. Das Vertrauender Märkte in die Währung kehrte jedoch nicht zurückund am 20. September 1931 suspendierte die briti-sche Regierung die Verpflichtung der Bank von Eng-land, Gold zu einem festen Kurs abzugeben. DasPfund verlor darauf gegenüber allen wichtigenWährungen stark an Wert. Dem Beispiel Grossbritan-niens folgten die Länder des britischen Imperiumsund die skandinavischen Länder, während die meis-ten mittel- und osteuropäischen Länder den deut-schen Weg einschlugen und Kapitalverkehrskontrol-len einführten.

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ben.9 Selbst nach der Abwertung des französischenFrankens sprach sich die SNB in den Beratungen mitdem Bundesrat gegen eine Abwertung des Frankensund für eine Fortsetzung des bisherigen Kurses aus.Dabei konnte sie darauf hinweisen, dass die Gold-deckung der Banknoten weit über dem gesetzlich vor-geschriebenen Minimum lag und die Wirtschaftslagesich seit Beginn des Jahres etwas verbessert hatte.Dennoch beschloss der Bundesrat mit 5 gegen 2 Stim-men die Abwertung. Er begründete seinen Entscheidmit wirtschaftspolitischen Argumenten und der Hoff-nung, dass das Dreimächteabkommen zwischen denUSA, Grossbritannien und Frankreich Aussichten aufeinen währungspolitischen Neuanfang biete.10

Der Abwertungszyklus der 1930er-Jahre wurdevon den Zeitgenossen überwiegend negativ beurteilt.Ein typisches Beispiel ist die vom Völkerbund inAuftrag gegebene Studie von Nurske (1944). Eichen-green und Sachs (1985, 1986) argumentieren hinge-gen, dass sich die unkoordinierten Abwertungennicht einfach neutralisierten, sondern insgesamteine Lockerung der monetären Bedingungen brach-ten und damit die Erholung der Weltwirtschaftbeschleunigten. Da eine frühzeitige koordinierteAbwertung nicht möglich war, bildeten sie die zweit-beste Lösung.

Aus Grafik 1 ist ersichtlich, dass die wirtschaft-liche Erholung in jedem Land erst begann, nachdemsich das betreffende Land vom Zwang der Goldparitätbefreit hatte. Zwar wurde der gewonnene Spielraumnicht von allen gleich schnell wahrgenommen. Den-noch ist das Muster eindeutig: Je später die Abkehrvom Goldstandard, umso später die wirtschaftlicheErholung. Dies wird durch mehrere empirische Unter-suchungen, die mit grösseren Stichproben arbeiten,gestützt (Choudhri und Kochin, 1980; Eichengreenund Sachs, 1985; und Bernanke und James, 1991).Die Ergebnisse dieser Studien sind im Ganzen einschlüssiges Argument dafür, dass das Festhalten anden alten Goldparitäten ein Fehler war, da die GrosseDepression dadurch vertieft und verlängert wurde.Sie stützen ausserdem die Auffassung, dass monetäreFaktoren einen wichtigen Beitrag zur Erklärung derGrossen Depression leisten.11

9 Siehe Eichengreen und Temin(2000) für eine aufschlussreicheDarstellung der sog. Goldstan-dardmentalität, d.h. der wirt-schaftspolitischen Ideen undÜberzeugungen, die das Handelnder damaligen Eliten prägten.

10 Siehe Müller (2000) für dieGeschichte der schweizerischenAbwertungsdiskussion.11 Für Darstellungen der Erho-lungsphase siehe Temin (1989, S. 89–137) für die Weltwirtschaftund Romer (1992) für die USA.

Noch im September 1931 sprang die Währungs-krise auf die USA über. Zweifel der Anleger an derGoldparität des Dollar lösten Goldverluste aus, wasdie amerikanische Zentralbank zu einer Anhebungdes Diskontsatzes veranlasste. Zwar konnte sie damitdie Währungskrise vorerst beilegen, verstärkte abergleichzeitig die Krise im Bankensektor. Die Wendekam in den USA im Jahre 1933, nachdem Franklin D. Roosevelt die Präsidentschaftswahl gewonnenhatte. Die Politik der neuen Administration war dar-auf ausgerichtet, die Produktion und die Preise wie-der anzuheben und sich dabei durch den Goldstan-dard nicht irre machen zu lassen. Im März 1933 wurdedie Einlösepflicht der Noten aufgehoben und einAusfuhrembargo auf Gold erlassen. Im April folgte die Freigabe des Dollarwechselkurses. Der Dollarschwächte sich darauf deutlich ab, bis er Ende Januar1934 auf 59% seines früheren Goldwertes stabilisiertwurde.

Nach der Abkehr der USA vom Gold schlossensich Belgien, Frankreich, Italien, die Niederlande,Polen und die Schweiz am 8. Juli 1933 in Paris zumsog. Goldblock zusammen. Infolge der Abwertung desbritischen Pfund, des amerikanischen Dollar und vie-ler anderer Währungen litten die Länder des Gold-blocks unter einer massiven Verschlechterung ihrerpreislichen Wettbewerbsfähigkeit. In der Logik desGoldstandards blieb ihnen nichts anderes übrig, alszu deflationieren, d.h. ihre Produktionskosten undGüterpreise zu senken. Diese Politik stiess auf denWiderstand der Gewerkschaften und anderer Interes-sengruppen. In den folgenden Jahren wurden dieGoldblock-Währungen immer wieder zum Ziel speku-lativer Attacken. Belgien wertete seine Währung imMärz 1935 nach einer Bankenkrise ab. Im gleichenJahr führten Italien und Polen Kapitalverkehrskon-trollen ein. Das endgültige Ende kam 1936. Als im Mai das Volksfront-Bündnis unter Léon Blum die fran-zösischen Parlamentswahlen gewann und mit derUmsetzung eines sozialreformerischen Programmsbegann, geriet der französische Franken unter star-ken Druck. Am 25. September 1936, einem Freitag,verliess Frankreich den Goldstandard und werteteseine Währung ab. Die Schweiz und die Niederlandezogen am gleichen Wochenende nach. Die Abwertungdes Schweizer Frankens betrug 30%.

Die Schweiz hielt also bis zuletzt an der Goldpa-rität fest. Bundesrat und Nationalbank (SNB) hattensich über die Jahre vor allem mit zwei Argumentengegen eine Abwertung des Frankens gestemmt. Zumeinen nutze sie wenig und führe bloss zu Inflationund zum anderen verstosse sie gegen Treu und Glau-

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2 Die schweizerische Volkswirtschaftin der WeltwirtschaftskriseDer erste Teil beschäftigte sich mit dem Zu-

sammenspiel zwischen Goldstandard, Deflation undDepression. Im zweiten Teil wird nun die Entwicklungder schweizerischen Volkswirtschaft behandelt.Zuerst werden mit dem Sozialprodukt und der Ar-beitslosenquote zwei zentrale Konjunkturindikatorenerörtert. Es wird gezeigt, dass die entsprechendenDaten, die für die damalige Zeit verfügbar sind, nichtvoll befriedigen können. Deshalb werden anschlies-send verschiedene Indikatoren von Nachfragekompo-nenten behandelt, die zusammen ein recht nuancier-tes Bild liefern. Die weiteren Abschnitte beschäftigensich mit den Preisen und Löhnen, den Zinssätzen, denWechselkursen, den Geldaggregaten und ihren Be-stimmungsfaktoren sowie dem Geschehen im Banken-sektor.

2.1 Sozialprodukt und Arbeits-losenquoteDie Schweiz hat erst seit 1948 eine Nationale

Buchhaltung. Vorarbeiten dazu wurden aber bereitsfrüher geleistet. Das Eidgenössische Statistische Amtlegte Anfang der 1940er-Jahre eine Schätzung desnominellen Nettovolkseinkommens für 1938 vor undberechnete anschliessend nach der gleichen Methodedie Werte für die Jahre von 1929 bis 1937. Vombekannteren Konzept des Bruttosozialprodukts (BSP)unterscheidet sich das Nettovolkseinkommen da-

durch, dass die indirekten Steuern und die Abschrei-bungen auf dem Kapitalbestand abgezogen sind. Nunverfügen wir für jene Jahre zwar über Angaben zu denindirekten Steuern, doch nicht zu den Abschreibun-gen. Somit kann neben dem Nettovolkseinkommenauch das Nettosozialprodukt (NSP), nicht aber dasBSP ausgewiesen werden.

Um eine Einkommensreihe zu konstanten Prei-sen zu erhalten, deflationierte das EidgenössischeStatistische Amt das nominelle Nettovolkseinkom-men mit dem Landesindex der Konsumentenpreise(KPI). Spätere Autoren verfuhren mit dem NSP auf diegleiche Weise (siehe Historische Statistik derSchweiz, 1996). Auch Andrist, Anderson und Williams(2000), die das reale Bruttoinlandprodukt von 1914bis 1947 schätzen, gründen ihre Angaben für denZeitraum von 1929 bis 1938 auf den mit dem KPIdeflationierten offiziellen Schätzungen des nominel-len NSP.12

Tabelle 1 zeigt den Verlauf des nominellenNettovolkseinkommens, des nominellen NSP und desrealen NSP (kalkuliert mit dem KPI als Deflator). Imvorliegenden Zusammenhang interessiert vor allemdie Entwicklung des realen NSP. Dieses steigt 1930noch leicht an, bevor es in den folgenden beiden Jah-ren um insgesamt rund 5% fällt. Im Vergleich zurschweizerischen Industrieproduktion wird das realeNSP von der Weltwirtschaftskrise also später undweniger stark erfasst. Nach einer vorübergehendenleichten Erholung (1933–34) folgt ein neuer Rück-gang (1935–36). Erst im Jahr nach der Frankenab-wertung tritt eine deutliche Erholung ein.

Jahr Nettovolkseinkommen Indirekte Steuern Nettosozialprodukt (NSP) KPI, 1929=100 NSP deflationiert mit KPI (Index 1929=100)

1929 9469 284 9753 100,0 100,0

1930 9344 290 9634 98,3 100,5

1931 8609 296 8905 93,2 98,0

1932 7685 302 7987 85,9 95,3

1933 7698 308 8006 81,5 100,7

1934 7599 314 7913 80,3 101,0

1935 7429 320 7749 79,5 99,9

1936 7457 326 7783 80,9 98,6

1937 8160 332 8492 84,8 102,7

1938 8202 340 8542 85,0 103,1

Nettovolkseinkommen und Nettosozialprodukt Tabelle 1

12 Es gelang mir nicht, die vonMitchell (1992) ausgewieseneIndexreihe für das reale NSP zurekonstruieren. Die nominellenWerte entsprechen bis auf Run-dungsdifferenzen den offiziellenSchätzungen. Der implizite Defla-tor weicht aber vom Konsumen-tenpreisindex ebenso ab wie vomGrosshandelspreisindex.

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SNB 94 Quartalsheft 2/2003

Das Problem dieser Schätzung des realen NSP istdie Verwendung des KPI als Deflator. Es handelt sichum eine Notlösung, die sich daraus ergibt, dass dasEidgenössische Statistische Amt für die Jahre vor demZweiten Weltkrieg keine eigens für das Sozialproduktberechneten Deflatoren ausweist. Ein KPI und einkonventioneller Sozialproduktdeflator messen nichtdasselbe. Während ein KPI das Preisniveau von Güternmisst, die von Konsumenten gekauft werden, misstein Sozialproduktdeflator die Preise der mit Schwei-zer Ressourcen produzierten Güter. Zwei konzeptio-nelle Unterschiede sind vor allem zu beachten:

Erstens gehen die Preise von importiertenGütern zwar in den KPI, aber nicht in den Sozialpro-duktdeflator ein. Da alle verfügbaren Daten daraufhindeuten, dass die Preise der importierten Güter inder Grossen Depression deutlich stärker fielen als diePreise der im Inland produzierten Güter, ergibt sichdaraus, dass der KPI – unter sonst gleichen Bedin-gungen – den Rückgang des Sozialproduktdeflatorsüberzeichnet.

Zweitens basiert der KPI auf einem festenWarenkorb (Laspeyres-Index), während der Sozial-produktdeflator die Preise der Güter misst, die in der jeweiligen Periode produziert werden (Paasche-Index).13 Der KPI ignoriert damit die Möglichkeit, dassdie Konsumenten auf Veränderungen der relativenPreise reagieren und Güter, deren Preise gestiegensind, durch solche, deren Preise gesunken sind, erset-zen. Als Folge davon weist der KPI, unter sonst glei-chen Bedingungen, eine geringere Deflation aus alsder Sozialproduktdeflator.

Die beiden konzeptionellen Differenzen wirkennicht in die gleiche Richtung und lassen daher keineeindeutigen qualitativen Schlussfolgerungen zu. Wennnicht unplausibel hohe Substitutionselastizitäten un-terstellt werden, so dürfte allerdings die zweite Dif-ferenz, d.h. die Unterscheidung zwischen Paasche-und Laspeyres-Index, deutlich geringere Auswirkun-gen haben als die erste. Daraus ergibt sich, dass derKPI wahrscheinlich stärker fiel, als ein konventionel-ler Sozialproduktdeflator dies getan hätte. Das mitdem KPI berechnete reale NSP der Schweiz dürfte inder Grossen Depression somit einen zu geringenRückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion an-zeigen.

Schwierigkeiten anderer Art gibt es bei denArbeitsmarktdaten. Die in Grafik 3 abgebildeten Zah-len der bei den Arbeitsämtern registrierten Arbeitslo-sen zeigen, dass im Jahre 1929 durchschnittlich rund8000 Personen arbeitslos waren. In den folgendenJahren nahm die Zahl der erfassten Arbeitslosen mit

Ausnahme des Jahres 1934 von Jahr zu Jahr zu undbetrug im Jahre 1936 schliesslich 93 000 Personen.Der höchste Monatsstand wurde im Januar 1936 mit124 000 Personen ausgewiesen (nicht saisonberei-nigt). Wenn diese Zahlen ins Verhältnis zur Zahl derErwerbstätigen gesetzt werden (1930: 1 943 000 Per-sonen), so ergibt sich eine Arbeitslosenquote, dievon durchschnittlich 0,4% im Jahre 1929 auf 4,8% imJahre 1936 steigt und Anfang 1936 mit 6,4% (nichtsaisonbereinigt) ihren Höchststand erreicht. Aller-dings dürfte der Anreiz, sich als arbeitslos registrie-ren zu lassen, unter den damaligen Bedingungen fürviele nicht allzu gross gewesen sein. Eine allgemeineund obligatorische Arbeitslosenversicherung gab esnicht und die Aussichten, über das Arbeitsamt eineStelle zu erhalten, waren gering. Die tatsächlicheArbeitslosigkeit dürfte damit höher liegen, als in denoffiziellen Zahlen zum Ausdruck kommt.

13 Dieser Unterschied beziehtsich auf den damaligen KPI(1921=100). Der aktuelle KPI (Mai2000=100) ist ein Kettenindex,bei dem die Gewichtung der Kom-ponenten ein Mal pro Jahr ange-passt wird.

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

102030405060708090

100

Arbeitslosigkeit Grafik 3

TausendZahl der Stellensuchenden

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SNB 95 Quartalsheft 2/2003

Diesen Einwänden versucht eine zweite Art, dieArbeitslosenquote zu ermitteln, Rechnung zu tragen.Sie besteht darin, die Arbeitslosen, die bei öffentli-chen und privaten Arbeitslosenkassen versichertsind, ins Verhältnis zum Total der Mitglieder dieserKassen zu setzen.14 Die so berechnete Arbeitslosen-quote liegt wie erwartet deutlich über der auf her-kömmliche Art berechneten Quote. Sie steigt auf14,6% im Jahresdurchschnitt 1936 und erreicht imJanuar 1936 mit 20,9% (nicht saisonbereinigt) ihrenHöchststand.15 Auch diese zweite Methode ist nichtohne Schwächen. Zum einen decken die Daten nichtden ganzen Arbeitsmarkt ab und zum anderen war derAnreiz, einer Kasse beizutreten, für Berufsgruppenmit hohem Risiko, arbeitslos zu werden, wahrschein-lich grösser als für andere. Damit dürfte die anhandder Kassenmitglieder berechnete Quote die Arbeitslo-sigkeit tendenziell zu hoch ausweisen.

Die Schwächen der Daten des realen NSP undder Arbeitslosigkeit lassen erkennen, dass Vergleichemit heute oder Vergleiche mit anderen Ländern nureine ungefähre Vorstellung von der Wirklichkeitgeben. Allerdings sollte die Relativierung nicht über-trieben werden. In den USA ging das reale BSP von1929 bis 1933 um 30% zurück und waren im Jahre1933 durchschnittlich 25% der Erwerbstätigen alsarbeitslos registriert (siehe Mitchell, 1992). InDeutschland, dem anderen Zentrum der Krise, sankdas reale NSP von 1928 bis 1932 um 23% und warenim Jahre 1932 durchschnittlich 30% der Erwerbstäti-gen als arbeitslos registriert (siehe Mitchell, 1993).Angesichts solcher Grössenordnungen kann keinZweifel daran bestehen, dass die Grosse Depression inder Schweiz vergleichsweise mild war.

2.2 Industrieproduktion,Bauausgaben, Aussenhandel und StaatsausgabenEs gibt eine Reihe weiterer Wirtschaftsindikato-

ren, die unser Bild der Grossen Depression in derSchweiz ergänzen. Dazu gehört zunächst die Indus-trieproduktion, die bereits für den internationalenVergleich in Grafik 1 herangezogen wurde. Bei denIndustrieproduktionsdaten handelt es sich um Schät-zungen von David (1996), der verschiedene Bran-chenindizes zusammenfügte. Gemäss diesen Schät-zungen fiel die Industrieproduktion von 100 im Jahre1929 mit zunehmender Geschwindigkeit auf 79 imJahre 1932. Anschliessend erholte sie sich leicht(1934: 88), bevor sie 1935 (80) und 1936 (82)

nochmals nahe am Tiefstand von 1932 notierte. Erstdie Abwertung des Frankens brachte die Wende: ImJahre 1937 lag die Industrieproduktion wieder unge-fähr auf dem Niveau von 1929 (103).

Die Branchengliederung verdeutlicht die auf die schweizerische Industrieproduktion wirkendenKräfte. Am frühsten und stärksten wurde mit derUhrenindustrie eine typische Exportbranche getrof-fen. Auch andere Exportbranchen wie die Maschinen-und Metallindustrie, die Textilindustrie oder die Che-mie erlitten bereits in den ersten beiden Depressions-jahren deutliche Einbussen. Von all diesen Industrie-zweigen konnte sich nur die Chemie ab 1933 wiederrelativ gut entwickeln; in allen anderen blieb die Pro-duktion bis 1937 gedrückt. Ganz anders das Bild inden Industrien, die hauptsächlich für den einheimi-schen Markt produzieren. Die Produktion der Zement-industrie stieg bis 1931 deutlich an und auch die Nah-rungsmittelindustrie wies 1931 noch ein besseresResultat auf als 1929. Zwar verringerte sich die Pro-duktion der Zementindustrie darauf kontinuierlich bis1936, doch blieb die ohnehin nur ein schwacheszyklisches Muster aufweisende Nahrungsmittelindus-trie weiterhin gut ausgelastet.

Grafik 4 zeigt die Entwicklung der von David(1996) berechneten Teilindizes der Export- und derInlandindustrie.16 Daraus geht hervor, dass die Pro-duktion der Exportindustrie von 1929 bis 1932 umrund 30% fiel und erst im Jahre 1937 wieder unge-fähr das Niveau von 1929 erreichte. Demgegenüberstieg die Produktion der Inlandindustrie von 1929 bis1931 und von 1932 bis 1934 an. Darauf folgt zwar inden Jahren 1935 und 1936 ein deutlicher Rückgang,doch bewegte sie sich auch in diesen beiden Jahrennoch leicht über dem Niveau von 1929.

14 Die Berechnung basiert aufden Angaben von 15 öffentlichenArbeitslosenkassen der Deutsch-schweiz und 15 privaten Arbeits-losenkassen (siehe HistorischeStatistik der Schweiz, 1996).

15 Die Teilarbeitslosigkeit gingder Ganzarbeitslosigkeit zeitlichvoraus. Sie erreichte bereits 1932ihren Höchststand (durchschnitt-lich 11,6% der Kassenmitglieder).Im Jahre 1935 betrug sie 4,9%.

16 David (1996) berechnet Teil-indizes nach Branchen und ordnetdie Chemie, die Metall- undMaschinen-, die Schuh-, dieUhren- und die Textilindustrie derExportindustrie zu; die Papier-industrie, die Nahrungsmittel-industrie und die Industrie Steineund Erden bilden die Inland-industrie.

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

60

70

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100

110

120

Schweizerische Industrieproduktion Grafik 4Index 1929 = 100

Total Exportindustrie Inlandindustrie

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SNB 96 Quartalsheft 2/2003

Die gegenläufige Entwicklung von Export- undInlandindustrie liefert einen Grund für die Diskrepanzzwischen der Entwicklung des realen NSP und derIndustrieproduktion zu Beginn der Grossen Depres-sion. Während die Industrieproduktion ab 1929 zu-rückging, stieg das reale NSP 1930 noch an. DieserAnstieg widerspiegelt die robuste Binnenkonjunktur,die im realen NSP deutlicher zum Ausdruck kommt alsin der stärker durch die Exportwirtschaft geprägtenIndustrieproduktion.

Die Binnenkonjunktur wurde in den erstenDepressionsjahren vor allem durch die Bauinvesti-tionen gestützt. Wie bereits erwähnt stieg die Pro-duktion der Zementindustrie bis 1931 deutlich an.Bestätigt wird dies durch die Entwicklung der Bauaus-gaben. Wie Grafik 5 zeigt, stiegen die realen Bauaus-gaben von 1929 bis 1931 um 17%. Anschliessend fie-len sie bis 1934 wieder auf den Stand von 1929; 1935und 1936 nahmen sie nochmals deutlich ab. DasNiveau der ersten Hälfte der 1930er-Jahre erreichtendie realen Bauausgaben erst in der Nachkriegszeitwieder.17

Der Einfluss der Auslandnachfrage kann ambesten anhand der Aussenhandelsstatistik überprüftwerden. Diese zeigt, dass die wertmässigen Warenex-porte von 1929 bis 1932 um rund zwei Drittel sanken(Grafik 6). Ein Teil davon war zwar auf den Rückgangder Weltmarktpreise zurückzuführen. Aber auch die inTonnen gemessenen Exporte nahmen in diesen dreiJahren um mehr als 50% ab (Grafik 7). In die gleicheRichtung weist die Entwicklung des Anteils der nomi-nellen Warenexporte am nominellen NSP. DieserAnteil sank von 22% im Jahre 1929 auf 10% im Jahre1932. Anschliessend blieb er bis 1936 nahezu unver-ändert. Erst die Abwertung von 1936 brachte einegewisse Erholung, doch blieb die Lage der Export-wirtschaft schwierig. In den Jahren 1937 und 1938lag der Anteil der nominellen Exporte am NSP nurgerade auf dem Niveau von 1931 (15%).

Während die Exporte in den ersten beidenDepressionsjahren fast allein mit der Auslandkon-junktur erklärt werden können, sind ab 1931 zweiweitere Faktoren zu beachten: die Währungsabwer-tungen wichtiger Abnehmerländer und der zuneh-mende Handelsprotektionismus. Die Schweiz reagier-te darauf Ende 1931 mit der Umstellung von einermultilateralen zu einer bilateralen Handelspolitik.Die Devise war, die Importe in den Dienst der Exportezu stellen. Das Instrument dieser Politik waren Kon-tingente. Im Verkehr mit den Ländern, welche Devi-senkontrollen hatten, wurde ausserdem ein staatlichkontrollierter Verrechnungsverkehr (Clearing) einge-

17 Im Bausektor verfügen wirüber Daten zu den nominellenBauausgaben. Um die realen Bau-ausgaben zu erhalten, wurden die nominellen Bauausgaben mitdem Zürcher Baukostenindexdeflationiert.

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

50

60

70

80

90

100

110

120

Bauausgaben Grafik 5Index 1929 = 100

nominal zu Preisen von 1929

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

500

1000

1500

2000

2500

3000

Aussenhandel Grafik 6

Mio. Fr.Einfuhrwerte Ausfuhrwerte

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

50

60

70

80

90

100

110

Aussenhandel (2) Grafik 7Indizes 1929 = 100

TonnenEinfuhrmengen Ausfuhrmengen

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SNB 97 Quartalsheft 2/2003

18 Nachdem die Schweiz 1931mit Österreich und Ungarn dieersten beiden Clearingabkommenabgeschlossen hatte, erklärte die SNB den Clearingverkehr wiefolgt: «Die Abwicklung des Zah-lungsverkehrs geht in der Weisevor sich, dass die schweizerischenKäufer österreichischer Warenden Kaufpreis in Schweizer Fran-ken auf ein Sammelkonto einzah-

führt, d.h. der Aussenhandel weitgehend ohne Devi-sen abgewickelt.18 Insgesamt schloss die Schweiz von1931 bis 1937 mit 12 verschiedenen Staaten Clearing-abkommen ab, das wichtigste davon mit Deutschland(1934). Dieser handelspolitische Bilateralismus trugdazu bei, dass das Handelsbilanzdefizit, trotz derWährungsabwertungen im Ausland, relativ kleinblieb. Wie Grafik 6 zeigt, nahm es nach einem deutli-chen Anstieg in den Jahren 1931 und 1932 wieder ab.Ausgedrückt als Anteil am nominellen NSP stieg dasHandelsbilanzdefizit von 7% im Jahre 1929 auf 12%im Jahre 1932, bevor es ziemlich regelmässig auf 5%im Jahre 1936 und 3% im Jahre 1938 fiel. Zwischen1935 und 1938 lag es stets tiefer als am Anfang derKrise im Jahre 1929.

Zum Schluss ein Blick auf die Staatsausgabenund die Finanzpolitik. Tabelle 2 zeigt die Daten ausden Verwaltungsrechnungen des Bundes, der Kanto-ne und der grossen Gemeinden (jeweils als Anteil amnominellen NSP).19 Daraus geht hervor, dass derAnteil der öffentlichen Ausgaben am NSP in denDepressionsjahren moderat zunahm. Zwischen 1930und 1936 stieg der Anteil der Bundesausgaben von5,0% auf 6,7% und der Anteil der Kantonsausgabenvon 6,1% auf 8,6%. Da gleichzeitig auch die Einnah-

men im Verhältnis zum NSP stiegen, blieben dieStaatshaushaltsdefizite bescheiden. Der Bundeshaus-halt wies nur gerade in den Jahren 1933 und 1934einen kleinen Fehlbetrag auf. Die Haushalte der Kan-tone und der Gemeinden waren zwar ab 1931 ständigdefizitär, doch blieben die Fehlbeträge mässig. DasTotal der Verwaltungsrechnungsdefizite von Bund,Kantonen und grossen Gemeinden stieg nie über1,2% des NSP (1933).

Die Entwicklung der Staatshaushalte deutetdarauf hin, dass von der Finanzpolitik nur geringekonjunkturstützende Impulse ausgingen. Die Finanz-politik war klar auf Budgetausgleich ausgerichtet.Die Erinnerung an die frühen 1920er Jahre, alsStaatshaushaltsdefizite und Inflation in vielen Län-dern Hand in Hand gingen, war noch wach. Zudemverstand man, dass eine lockere Finanzpolitik dasVertrauen der Märkte in die Währung untergrabenkonnte. Soweit Mehrausgaben zur Krisenbekämpfung(Arbeitsbeschaffungsprogramme, Arbeitslosenfürsorgeusw.) notwendig waren, wurde deshalb versucht,durch Einsparungen in anderen Bereichen sowiedurch die Erhöhung einzelner Steuern den Budget-ausgleich wiederherzustellen.

len, das bei der SchweizerischenNationalbank für die Österrreichi-sche Nationalbank geführt wird.In analoger Weise hat der öster-reichische Käufer schweizerischerWaren seine Schuld an den schwei-zerischen Verkäufer durch Einzah-lung des Kaufpreises in österrei-chischen Schillingen bei der Öster-reichischen Nationalbank für Rech-nung der Schweizerischen Natio-

nalbank zu tilgen. Die Notenban-ken verständigen sich gegenseitigüber die erfolgten Einzahlungenund führen alsdann im Rahmen dergemäss Abkommen verfügbarenSummen die Auszahlungen an dieVerkäufer aus.» (SNB Geschäfts-bericht 1931, S. 9–10.) SieheFrech (2001) für eine umfassendeDarstellung des Clearingverkehrsmit Deutschland und Italien.

19 Die Gemeinden sind die Mit-glieder des schweizerischenStädteverbandes. Je nach Jahrschwankt die Zahl zwischen 59und 64. Um Doppelzählungen zuvermeiden, können die Brutto-zahlen der Bundes-, der Kantons-und der Gemeindehaushalte nichteinfach zusammengezählt wer-den.

Jahr Ausgaben, in % des NSP Einnahmen, in % des NSP Überschuss, in % des NSPBund Kantone grosse Bund Kantone grosse Bund Kantone grosse

Gemeinden Gemeinden Gemeinden

1929 3,9 2,8 5,3 2,9 1,4 0,1

1930 5,0 6,1 2,9 6,6 6,4 3,0 1,6 0,4 0,1

1931 4,5 7,1 3,4 5,5 7,1 3,4 1,0 –0,1 –0,0

1932 5,4 8,3 3,9 5,9 7,8 3,7 0,5 –0,5 –0,2

1933 5,6 8,6 4,0 5,5 7,7 3,8 –0,1 –0,9 –0,2

1934 6,3 8,6 4,0 6,1 7,9 3,9 –0,1 –0,7 –0,1

1935 6,5 8,6 4,2 6,8 8,1 4,0 0,3 –0,5 –0,1

1936 6,7 8,6 4,1 7,0 8,1 4,0 0,3 –0,5 –0,2

1937 6,3 8,1 3,8 6,6 8,0 3,7 0,3 –0,1 –0,0

1938 7,1 8,5 3,8 6,7 8,2 3,8 –0,4 –0,3 0,0

Staatshaushalt (Verwaltungsrechnung) Tabelle 2

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SNB 98 Quartalsheft 2/2003

2.3 Preise und Löhne

Ein Wesenszug der Grossen Depression war dermassive Rückgang der Preise. Wie bereits gezeigtwurde, fielen die Grosshandelspreise von 1929 bis1931, d.h. bevor die Währungsabwertungen ihrenLauf nahmen, im In- und Ausland ungefähr gleichschnell. Anschliessend fächerte sich die Entwicklungje nach Währungsregime stark auf (Grafik 2). Grafik8 zeigt die schweizerischen Grosshandelspreise an-hand von Monatsdaten, was eine präzisere Datierungder Wendepunkte ermöglicht. Demnach begann derRückgang der Grosshandelspreise im August 1929und setzte sich bis März 1933 nahezu ohne Unterbre-chung fort. Der Tiefstand wurde im März 1935 er-reicht (Juli 1929 bis März 1935: –39,6%). Nach derAbwertung des Frankens im September 1936 zogendie Grosshandelspreise sofort stark an, doch bliebensie bis zum Ende des Beobachtungszeitraums imDezember 1938 stets deutlich unter dem Stand von1929.

Die Konsumentenpreise schwanken in der Regelweniger als die Grosshandelspreise, da viele Kompo-nenten des KPI dem internationalen Wettbewerb ingeringerem Masse unterworfen sind. Wie aus Grafik 8ersichtlich ist, sanken die Konsumentenpreise zwi-schen Mitte 1929 und der ersten Jahreshälfte 1935nur etwa halb so stark wie die Grosshandelspreise.Der Rückgang der Konsumentenpreise setzt im No-vember 1929, also etwas später als bei den Gross-handelspreisen ein. Der Tiefstand wurde ebenfallsetwas später als bei den Grosshandelspreisen, näm-lich im Mai 1935 erreicht (Oktober 1929 bis Mai1935: –22,0%).20

Anders als die Güterpreise gaben die Nomi-nallöhne in den Jahren der Grossen Depression nurbescheiden nach. Wie Grafik 9 zeigt, stiegen sie bis1931 sogar noch leicht an, bevor sie bis 1936 konti-nuierlich fielen.21 Der Rückgang gegenüber 1929 be-trug aber in jedem Zeitpunkt weniger als 10%. Derdeutliche Kontrast zwischen der Entwicklung derPreise und der Löhne bedeutet, dass die Reallöhnevor allem in den ersten Jahren der Grossen Depres-sion deutlich stiegen. Die mit den Konsumentenprei-sen deflationierten Nominallöhne zogen von 1929bis 1933 um 17% an. Anschliessend verringerten siesich bis 1937, lagen aber auch dann noch um gut 7%über dem Stand von 1929.

Von der Produzentenseite her betrachtet, sinddie Nominallöhne mit den Produzentenpreisen zu de-flationieren. Aufgrund der Datenlage müssen diesedurch die Grosshandelspreise approximiert werden.Die so berechneten Reallöhne stiegen deutlich stär-ker als die mit Hilfe der Konsumentenpreise berech-neten Reallöhne. Auch nach einer deutlichen Korrek-tur in den Jahren 1936 und 1937 lagen sie noch im-mer klar höher als zu Beginn der Grossen Depression.Trotz der mässigen Qualität der Daten bleibt damitder Eindruck stark steigender Reallöhne.

20 Die beiden Preisindizes über-trafen den durchschnittlichenStand von 1929 erst 1940 (Gross-handelspreisindex) bzw. 1941(Konsumentenpreisindex).

21 Diese Angaben beziehen sichauf die nominalen Stunden-verdienste verunfallter Arbeit-nehmer. Die entsprechendenAngaben für die Wochen-verdienste liefern nahezu identische Ergebnisse.

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

65707580859095

100105110

Preise Grafik 8Indizes Juni 1929 = 100

Grosshandelspreise Konsumentenpreise

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

90

100

110

120

130

140

150

160

Löhne Grafik 9Indizes Juni 1929 = 100

nominal real, GPI real, KPI

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SNB 99 Quartalsheft 2/2003

22 In leicht veränderter Formwurde das gleiche Anliegen indes-sen später über einen dringlichenBundesbeschluss durchgesetzt.Siehe Rutz (1970, S. 185).

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

1

2

3

4

5

6

7

Offizielle Diskontsätze Grafik 10

%USA GB CH

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

2.5

3.0

3.5

4.0

4.5

5.0

5.5

Obligationenrenditen Grafik 11

%USA GB CH

Die staatlichen Behörden waren sich bewusst,dass das hohe Reallohnniveau ein Hindernis auf demWeg zur Wiedererlangung der internationalen Wett-bewerbsfähigkeit war und zur steigenden Arbeitslo-sigkeit beitrug. Sie hatten jedoch keine Möglichkeit,auf die Lohngestaltung im privaten Sektor direkt Ein-fluss zu nehmen und mussten sich deshalb mit demVersuch begnügen, die Löhne im öffentlichen Sektorzu reduzieren. Wie wenig populär diese Politik war,zeigte sich 1933, als Bundesrat und Parlament dieGehälter und Löhne der im Dienste des Bundes ste-henden Personen für die Jahre 1933 und 1934 vor-übergehend um 7,5% senken wollten. Gegen das Ge-setz wurde das Referendum ergriffen und in derVolksabstimmung vom 28. Mai 1933 unterlag die Vor-lage mit einer Mehrheit der Nein-Stimmen von 55%.22

Im Vergleich zu den Ländern, die den Goldstan-dard früh verlassen hatten, wies die Schweiz in derGrossen Depression einen sehr starken Anstieg derReallöhne auf. Sie teilte damit das Schicksal allerGoldblockländer. Eichengreen und Sachs (1985) undBernanke und Carey (1996) zeigen, dass Goldblock-länder ab 1932 systematisch höhere Reallöhne hat-ten als die anderen Länder. Die fehlende Flexibilitätder Löhne war damit ein Grund für die lange Dauerder Depression in den Goldblockländern.

2.4 Zinssätze

In den nächsten beiden Abschnitten wenden wiruns den monetären Bedingungen zu, unter denen dieschweizerische Wirtschaft in der Grossen Depressionagierte, zunächst den Zinssätzen und dann den Wech-selkursen. Das Zinsniveau war im Goldstandard, wie injedem System fester Wechselkurse, der Kontrolledurch die Zentralbank weitgehend entzogen. Dies giltvor allem für ein kleines Land wie die Schweiz. Mit demDiskont- und dem Lombardsatz legte die SNB zwardirekt zwei Zinssätze fest, doch hatte sie damitRücksicht auf den Wechselkurs und die Metalldeckungdes Notenumlaufs zu nehmen. Das Münzgesetz vom 3. Juni 1931 setzte den Goldwert des Frankens auf290,322 mg fest und das Nationalbankgesetz schriebeine Metalldeckung des Notenumlaufs von 40% vor.

Zwischen Anfang 1930 und Anfang 1931 redu-zierte die SNB den Diskontsatz in drei Schritten um je-weils 1/2 Prozentpunkt von 3,5% auf 2% (3. April1930, 10. Juli 1930 und 22. Januar 1931). Anschlies-send blieb der Diskontsatz während mehr als vier Jah-ren unverändert. 1935 geriet der Franken indessen sostark unter Druck, dass die SNB den Diskontsatz von 2 auf 2,5% erhöhte (3. Mai 1935). Kurz vor der Abwer-tung des Frankens reduzierte sie ihn wieder auf 2% (9. September 1936). Dies deutet darauf hin, dass sichdie SNB wenige Wochen vor der Abwertung sehr sicherfühlte. Nach der Abwertung senkte die SNB den Dis-kontsatz auf 1,5% (26. November 1936), das nied-rigste Niveau seit der Gründung der SNB im Jahre1907. Der Lombardsatz bewegte sich immer über demDiskontsatz. Die Differenz betrug vom 8. Februar 1933bis zum 3. Mai 1935 1/2 Prozentpunkt; vorher undnachher belief sie sich auf 1 Prozentpunkt.

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SNB 100 Quartalsheft 2/2003

Grafik 10 weist neben dem Schweizer Diskont-satz auch die Diskontsätze der USA und Grossbritan-niens aus. Sie zeigt die Straffung der amerikanischenGeldpolitik in den Jahren 1928–29, welche nach Auf-fassung Hamiltons (1987) die Rezession verursachte,die schliesslich in die Grosse Depression mündete.Grossbritannien wurde durch die Anhebung des ame-rikanischen Zinsniveaus gezwungen, seinen Diskont-satz ebenfalls zu erhöhen. Hingegen blieb derschweizerische Diskontsatz in dieser Phase unverän-dert. Dasselbe wiederholte sich im Jahre 1931, alsDeutschland, Grossbritannien und die USA ihre Dis-kontsätze vorübergehend auf 10%, 6% bzw. 3,5%erhöhten, während die SNB ihren Satz wiederum un-verändert liess. Beides weist darauf hin, dass dasVertrauen der Märkte in den Franken in den erstenJahren der Grossen Depression gross war.

Die Situation drehte sich, nachdem Grossbri-tannien und die USA mit der Freigabe des Wech-selkurses ihre geldpolitische Handlungsfähigkeiterlangt hatten. Nun waren es die Goldblockländer,die ihre Goldparitäten mit einer Anhebung des Dis-kontsatzes zu verteidigen suchten, während Gross-britannien seinen Diskontsatz auf 2% beliess und dieUSA ihren Satz schrittweise auf 1% senkten. Im Ver-gleich zu anderen Goldblockländern blieb die Situa-tion für die Schweiz aber verhältnismässig komforta-bel. Sie erhöhte ihren Diskontsatz vorübergehendnur gerade auf 2,5% (3. Mai 1935), während Frank-reich seinen Satz zeitweise bis auf 6% hinaufsetzte.

Die Gründe für das schwindende Vertrauen indie Goldparität des Frankens lagen im Frühjahr 1935vor allem in der schwachen Gesamtnachfrage, diesich immer stärker von der Exportwirtschaft auf dieBinnenwirtschaft übertrug und zu einem starken An-

stieg der Arbeitslosigkeit führte. Dazu kam die vonden Gewerkschaften und Jungbauern eingereichteInitiative zur Bekämpfung der Krise (sog. Krisen-initiative), die im Juni 1935 zur Abstimmung kam.Die Kriseninitiative war ein Versuch, die Wirtschafts-krise mit staatsdirigistischen Mitteln zu lösen. DieGegner der Initiative argumentierten, bei einer An-nahme der Initiative sei eine Abwertung unvermeid-bar. Am 2. Juni 1935 wurde die Kriseninitiative in der Volksabstimmung mit 423 000 gegen 563 000Stimmen und 4 gegen 18 Kantone verworfen.23

Ein ähnliches Bild wie die Diskontsätze zeich-nen auch die Obligationenrenditen (Grafik 11). DieDurchschnittsrendite der Bundesobligationen fiel vonEnde 1929 bis Anfang 1933 um etwas mehr als 1 Pro-zentpunkt. Anschliessend stieg sie wieder an und lag1935 sowie 1936 zumeist zwischen 4,5 und 5%. Nachder Abwertung im September 1936 ging die Obliga-tionenrendite schlagartig zurück und bewegte sichwie bereits 1928 und 1929 wieder auf dem Niveau derbritischen Renditen. Der Verlauf der Obligationenren-diten bestätigt also, dass die Länder, die den Gold-standard verliessen, in den Genuss tieferer Zinssätzekamen.

Für den Einfluss der Zinssätze auf die Realwirt-schaft sind nicht die nominellen, sondern die realenZinssätze entscheidend. Wie hoch müssen diesewährend der Grossen Depression veranschlagt wer-den? Die erste Schwierigkeit besteht darin, dass sichInflations- und Deflationserwartungen nicht direktbeobachten lassen. Im Folgenden wird deshalb ver-einfachend davon ausgegangen, dass die Märkte diePreisentwicklung aus der Vergangenheit einfach fort-schreiben. Die über die nächsten 12 Monate erwar-tete Inflation ist somit gleich der über die vergange-

23 Siehe Müller (2000) zurAuseinandersetzung über dieKriseninitiative.

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

1

2

3

4

5

6

Frankenzinssätze Grafik 12

%Obligationenrendite Diskontsatz Privatdiskontsatz

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

–20

–10

0

10

20

Realer Zinssatz Grafik 13Privatdiskontsatz minus Teuerung über die letzten 12 Mte.

%mit GPI mit KPI

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SNB 101 Quartalsheft 2/2003

nen 12 Monate realisierten Inflation.24 Die zweiteSchwierigkeit besteht darin, dass keine kurzfristigenFrankenzinssätze mit festen Laufzeiten verfügbarsind. Wir approximieren daher den nominellen Zins-satz auf einer Geldmarktanlage von 12 Monaten mitdem Privatdiskontsatz, der damals als guter Indika-tor für die Verhältnisse am Geldmarkt galt.25

Unter diesen Annahmen ist der reale Geld-marktzins gleich dem Privatdiskontsatz abzüglich derüber die letzten 12 Monate realisierten Teuerungs-rate. Die in Grafik 13 abgebildeten Jahresdaten bezie-hen sich jeweils auf den Juni des betreffenden Jah-res. Die Resultate deuten darauf hin, dass die kurzfris-tigen Realzinsen von 1930 bis 1932 sehr hoch waren.Dies gilt vor allem dann, wenn das Preisniveau amGrosshandelspreisindex gemessen wird. Ein deutlicherRückgang der Realzinsen erfolgt erst nach der Abwer-tung des Frankens im September 1936. Die fallendenNominalzinsen und das steigende Preisniveau tragengemeinsam dazu bei, dass vorübergehend negativeRealzinsen resultieren.

2.5 Wechselkurse

Eine zweite wichtige monetäre Variable nebendem Zinssatz ist der Wechselkurs. Da die meistenLänder ihre Währungen gegenüber dem Gold früherabwerteten als die Schweiz, hatte die schweizerischeWirtschaft im Zeitraum von 1931 bis 1936 unter ei-nem massiven Anstieg des Aussenwerts des Frankenszu leiden. Dieser Anstieg senkte die in Franken aus-gedrückten Preise der international gehandeltenGüter und verschärfte damit die Krise vor allem inder Exportindustrie und im Tourismus.

Die Grafiken 14a–d zeigen die Entwicklung desFrankenkurses der wichtigsten ausländischen Wäh-rungen (amerikanischer Dollar, britisches Pfund,französischer Franken, Deutsche Reichsmark) von1928 bis 1938. Ein Rückgang des als Index (Juni1929=100) abgebildeten Wechselkurses ist alsogleichbedeutend mit einer Höherbewertung desFrankens. Neben den nominellen Kursen werden zweium das Verhältnis zwischen schweizerischem und je-weiligem ausländischen Preisniveau bereinigte, realeKurse abgebildet. Die beiden realen Kurse unter-scheiden sich darin, dass die Preisniveaus an denKonsumenten- bzw. an den Grosshandelspreisindizesgemessen werden.

Die Grafiken zeigen, dass die nominelle undreale Höherbewertung des Frankens vor allemgegenüber dem Pfund und dem Dollar zum Ausdruck

24 Eine Alternative wäre, per-fekte Voraussicht zu unterstellen,d.h. die für einen bestimmtenZeitraum erwartete Inflation mitder über den gleichen Zeitraumrealisierten Inflation gleichzuset-zen. Diese Alternative wurde hiernicht gewählt, weil die Deflationdie Märkte im ersten Jahr der

Grossen Depression wahrschein-lich weitgehend unerwartet traf(siehe Hamilton, 1992) und auchdie Abwertung von 1936, wie wirim nächsten Abschnitt sehen wer-den, die Märkte überraschte.25 Der Privatdiskontsatz wurdeallerdings zeitweise durch eineVereinbarung zwischen den Ban-ken fixiert.

kommt. Da die amerikanischen und britischen Konsu-mentenpreise vor der Abkehr dieser Länder vom Goldetwas schneller fielen als die schweizerischen,gewann der Franken bereits in den ersten Jahren dergrossen Depression real an Wert. Die Situation ver-schärfte sich aber dramatisch, als zuerst Grossbritan-nien (1931) und dann die USA (1933) ihre Währungenfrei schwanken liessen. Das Pfund und der Dollar ver-loren darauf deutlich an Wert. Als der Dollar Anfang1934 stabilisiert wurde, bewegte sich der nominelleWechselkurs um rund 40% unter dem Stand vom Juni1929. Der mit den Konsumentenpreisen berechnetereale Wechselkurs lag praktisch ebenso tief, währendder mit den Grosshandelspreisen berechnete realeKurs rund 30% eingebüsst hatte. Erst mit der Abwer-tung des Frankens im September 1936 kam der mitden Grosshandelspreisen berechnete Wechselkurswieder etwa auf das Niveau von 1931 zu liegen.26

Gegenüber dem französischen Franken blieb dernominelle Frankenkurs beinahe über die ganze Beob-achtungsperiode unverändert. Im September 1936werteten beide Länder ihre Währungen im gleichenAusmass ab, so dass der bilaterale Wechselkurs davonnicht betroffen wurde. Aufgrund der Teuerung, diesich in Frankreich ab Mitte 1935 immer stärkerbemerkbar machte, stand der französische Frankenallerdings schon kurz nach der Abwertung wiederunter Druck. Wenige Monate später überliess die fran-zösische Regierung den französischen Franken sei-nem Schicksal.

Der Frankenkurs der Reichsmark ist für uns imvorliegenden Zusammenhang von geringerem Inte-resse. Deutschland reagierte auf die Banken- undWährungskrise im Jahre 1931 mit der Einführung vonDevisenkontrollen. Der in Grafik 14d abgebildeteWechselkurs von Sichtdevisen, der sich auch nach1931 an der offiziellen Goldparität der Reichsmarkorientierte, ist deshalb wenig aussagekräftig. Deut-sche Banknoten wurden im Ausland mit einem deutli-chen Abschlag gehandelt. Dasselbe gilt auch für dieverschiedenen Marksorten, die aus dem Stillhalteab-kommen von 1931 (später regelmässig erneuert) unddem Transfermoratorium von 1933 (verschärft 1934)erwuchsen. Tabelle 3 zeigt die Kursentwicklung fürdrei dieser Marksorten: Registermark, Effektensperr-mark und Reisemark. Alle drei wurden mit einem gros-sen, im Laufe der Zeit steigenden Abschlag gehan-delt.

26 Die Abwertung des Frankensum 30% (ausgedrückt in Goldein-heiten pro Franken) entsprichteinem Anstieg des Wechselkursesum 43% (ausgedrückt als Frankenpro Gold- oder Deviseneinheit).

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SNB 102 Quartalsheft 2/2003

Die Grafiken machen insgesamt deutlich, dassdie schweizerische Wirtschaft ihre preisliche Wett-bewerbsfähigkeit, die sie zwischen 1931 und 1933gegenüber einem grossen Teil der übrigen Welt verlo-ren hatte, erst mit der Abwertung vom September1936 zurückgewann. Es gelang der Schweiz nur ingeringem Masse, die nominelle Abwertung wichtigerausländischer Währungen durch eine im Vergleichzum Ausland grössere Deflation (oder geringereInflation) auszugleichen.

Rutz (1970) argumentiert in seiner Untersu-chung zur schweizerischen Wirtschaftspolitik, dassdie Anpassungspolitik durch viele behördliche Mass-nahmen, welche die Preise tendenziell stützten,unterlaufen wurde.27 Die SNB sah die Situation imRückblick auf das Jahr 1936 ähnlich und wies über-

dies auf die Rolle der hohen Hypothekarverschuldunghin: «Bis zum 26. September 1936 war die Wirt-schaftspolitik des Bundesrates auf eine Anpassungdes schweizerischen Preisniveaus durch Senkung derPreise und Löhne an dasjenige des Auslandes gerich-tet (…). Der praktischen Durchführung dieser Richt-linie wirkte aber der Schutz notleidender Wirtschafts-zweige entgegen. Nicht zuletzt stand der Anpassungdie verhältnismässig grosse hypothekarische Ver-schuldung der privaten Wirtschaft im Wege.» (SNBGeschäftsbericht, 1936, S. 11.)

Vor dem Hintergrund der gescheiterten An-passungspolitik drängt sich die Frage auf, ob die Ab-wertung vom 27. September 1936 erwartet wordenwar oder nicht. Ein Indikator für die Wechsel-kurserwartungen der Märkte ist der Terminwechsel-

27 Zu den angebotsreduzieren-den Massnahmen gehörten dieKartellisierung der Uhrenindus-trie, das Hotelbauverbot, dasVerbot der Eröffnung und Erwei-terung von Warenhäusern undähnliche Massnahmen zugunstender Stickereiindustrie, der Schuh-

industrie und des Schuhmacher-gewerbes. Zu den nachfrageerhö-henden Massnahmen gehörtenAbnahmegarantien in der Land-wirtschaft und die Stützung desMilchpreises.

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

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70

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110

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Wechselkurs CHF per USD Grafik 14aIndex Juni 1929 = 100

nominal real, KPI real, GPI

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

60

70

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110

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130

Wechselkurs CHF per FRF Grafik 14cIndex Juni 1929 = 100

nominal real, KPI real, GPI

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

60708090

100110120130140150

Wechselkurs CHF per RM Grafik 14dIndex Juni 1929 = 100

nominal real, KPI real, GPI

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

60

70

80

90

100

110

120

130

Wechselkurs CHF per GBP Grafik 14bIndex Juni 1929 = 100

nominal real, KPI real, GPI

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SNB 103 Quartalsheft 2/2003

kurs. Grafik 15 zeigt den Verlauf der Dreimonats-prämie des Schweizer Frankens gegenüber dem briti-schen Pfund von Anfang 1935 bis Ende 1936. ZumVergleich werden auch die entsprechenden Prämiendes französischen Frankens und des holländischenGuldens angegeben, d.h. der beiden anderen imJahre 1936 noch übrig gebliebenen Goldblock-währungen.

Die Grafik zeigt, dass alle drei Währungen amTerminmarkt mit einem Abschlag gehandelt wurden.28

Dieser Abschlag betrug auf dem Schweizer Franken inruhigen Phasen rund 1% (Dreimonatsprämie, nichtannualisiert). Grössere spekulative Attacken erfolg-ten im April 1935, nachdem Belgien seine Währungabgewertet hatte, und erneut im Juni 1936 nach demWahlsieg des Linksbündnisses in Frankreich. In die-sen beiden Phasen erhöhte sich der Abschlag aufrund 6% bzw. 21/2%.

In den Wochen vor der Abwertung vom 27. Sep-tember 1936 bewegte sich der Abschlag des Schwei-zer Frankens zumeist knapp unter 1%. Am 26. Sep-tember betrug er 1,8%. Im gleichen Zeitraum stiegder Abschlag des französischen Frankens deutlich.Ein Abschlag von 1,8% impliziert die Erwartung, dassder in britischen Pfund ausgedrückte Wechselkurs desSchweizer Frankens in den nächsten drei Monaten um1,8% fallen wird. Die Wahrscheinlichkeit einer 30%-Abwertung wurde mit anderen Worten mit bloss etwa6% veranschlagt. Die Entwicklung des Terminkursesstützt somit den Eindruck, dass die Abwertung desSchweizer Frankens weit herum überraschte.

28 Ein Abschlag (–) bedeutet,dass die drei Goldblockwährungenam Terminmarkt zu tieferen Kur-sen (ausgedrückt in britischenPfund) gehandelt wurden als amKassamarkt. Beachte, dass derWechselkurs in Grafik 15 als briti-

sche Pfund per Schweizer Fran-ken, in Grafik 14 hingegen alsSchweizer Franken per EinheitFremdwährung ausgedrückt ist.

Jahr Sichtdevisen Clearing Banknoten Registermark Effekten- Reisemarksperrmark

Durchschnitt Jahresende Jahresende Jahresende Jahresende JahresendeDezember

1934 123.82 123.50 113.50 75.50 49.50 85.00

1935 123.86 123.60 – 64.75 27.75 77.00

1936 174.90 174.50 – 80.50 36.25 95.00

1937 174.16 174.00 88.00 92.50 29.00 109.00

1938 177.05 176.85 53.50 76.00 18.75 105.00

Kurse für 100 Reichsmark in der Schweiz Tabelle 3

1935 1936

–10

–5

0

5

Terminprämien Grafik 153 Monate, nicht annualisiert, gegenüber GBP

%CHF FRF NLG

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SNB 104 Quartalsheft 2/2003

2.6 Geldaggregate und Gold-bewegungen: NiveausDie Geldaggregate und ihre Komponenten bie-

ten eine andere Perspektive auf die monetäre Ent-wicklung als Zinssätze und Wechselkurse. In der Lite-ratur zur Grossen Depression spielen sie seit Friedmanund Schwartz (1963) eine grosse Rolle. Friedman undSchwartz argumentierten, dass der von Bankzusam-menbrüchen begleitete Rückgang der Geldmenge inden USA der Hauptgrund für den massiven Rückgangder Gesamtnachfrage war und die amerikanische Zen-tralbank dies hätte verhindern müssen: «Preventionor moderation of the decline in the stock of money,let alone the substitution of monetary expansion,would have reduced the contraction’s severity andalmost as certainly its duration» (Friedman undSchwartz, 1963, S. 301). Die Frage ist, ob das FederalReserve diesen Spielraum hatte, ohne mit dem Gold-standard in Konflikt zu geraten. Für die USA, die überrund 40% der weltweiten Goldreserven der Zentral-banken verfügten, trifft dies wahrscheinlich zu (sieheBordo und Schwartz, 2001). Aber für kleine Länderwaren die Möglichkeiten, auf die Geldmengenent-wicklung Einfluss zu nehmen, wohl eher gering.29

Dennoch ist es aufschlussreich, die Entwicklungder schweizerischen Geldaggregate zu untersuchen.Die Grafiken 16 und 17 zeigen die nominelle und diereale Entwicklung der Geldaggregate M1 und M3. Das

Geldaggregat M1 umfasst den Bargeldumlauf und dieSichteinlagen des Publikums bei den Banken und beider Post. M3 schliesst darüber hinaus auch die Ter-mineinlagen und die Spareinlagen des Publikums beiden Banken ein. Alle Daten sind Jahresendwerte.

Die Grafiken zeigen, dass die nominellen Geld-aggregate unter teilweise grossen Schwankungentendenziell stiegen. Sie bewegten sich von 1929 bis1938 immer über dem Niveau von Ende 1928. DasGeldaggregat M1 nahm vor allem im Jahre 1931, indem Grossbritannien den Goldstandard verliess undDeutschland Devisenkontrollen einführte, deutlichzu. 1931 und 1932 liegt M1 um mehr als 40% überdem Stand von Ende 1928. In den folgenden drei Jah-ren büsste M1 den grössten Teil dieses Anstiegs wie-der ein und lag am Jahresende 1935 wieder ungefährauf dem Niveau von Ende 1929 oder Ende 1930. Erst1936 stieg M1 wieder kräftig. Das breiter definierteGeldaggregat M3 entwickelte sich zwar weniger dyna-misch als M1, doch war das Entwicklungsmuster das-selbe. Die Wendepunkte lassen sich mit Hilfe vonQuartalszahlen, die ab dem vierten Quartal 1931 ver-fügbar sind, näher bestimmen. Demnach erreichtendie beiden nominellen Geldaggregate im ersten Quar-tal 1932 ihren einstweiligen Höchststand und imzweiten Quartal 1935 (M1) bzw. dritten Quartal 1935(M3) einen Tiefstand.

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

100

120

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200

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240

Geldmenge M1 Grafik 16Jahresende, Indizes 1928 = 100

nominal real, KPI real, GPI

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

100

120

140

160

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200

220

Geldmenge M3 Grafik 17Jahresende, Indizes 1928 = 100

nominal real, KPI real, GPI

29 Das Versagen der amerikani-schen Geldpolitik wird vonMeltzer (2003) vor allem damitbegründet, dass sich das FederalReserve in seinem geldpolitischenHandeln durch die sog. real billsdoctrine leiten liess. Die Publika-tionen und Sitzungsprotokolle derSNB zeigen, dass die real bills

doctrine auch in der SNB ihreAnhänger hatte. Weber (1983) istallerdings zuzustimmen, wenn erschreibt, dass die Auswirkungenim schweizerischen Fall geringwaren, da sich die SNB in derPraxis letztlich allein an denErfordernissen des Goldstandardsorientierte.

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SNB 105 Quartalsheft 2/2003

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

500

1000

1500

2000

2500

3000

3500

Notenbankgeldmenge Grafik 18NBGM und Komponenten

Mio. Fr.NBGM Noten Giro

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

500

1000

1500

2000

2500

3000

3500

Notenbankgeldmenge (2) Grafik 19NBGM und SNB-Aktiven

Mio. Fr.NBGM Gold Devisen Kredite

30 Die «täglich fälligen Verbind-lichkeiten» setzen sich aus denGiro- und Deponentenkonti zu-sammen. Sie schliessen die Kontider Bundesverwaltung (nach derAbwertung auch das sog. Gold-aufwertungskonto, dem zunächstder Aufwertungsgewinn gutge-schrieben wurde) ein, die eigent-

lich nicht zur Notenbankgeld-menge gehören. Die Konti derBundesverwaltung wurden in der Jahresrechnung gesondertausgewiesen. Siehe Grüebler(1958) und Weber (1983) fürBerechnungen der Notenbank-geldmenge bzw. der monetärenBasis mit Jahresdaten.

Die Entwicklung der nominellen GeldaggregateM1 und M3 macht deutlich, dass die Preise in derSchweiz fielen, obwohl die nominellen Geldaggregatestiegen. Das bedeutet, dass die realen Geldaggregateinsgesamt deutlich stärker zunahmen als die nomi-nellen. Die Grafiken 16 und 17, die neben den nomi-nellen auch die mit zwei verschiedenen Preisindizesberechneten realen Aggregate ausweisen, illustrierendies. Die hohen realen Kassabestände können mitden niedrigen Zinssätzen und der Deflation erklärtwerden. Beides machte die Geldhaltung relativattraktiv und erhöhte die reale Geldnachfrage. DieEntwicklung des realen NSP, das ab 1931 unter Druckgeriet, reduzierte zwar die reale Geldnachfrage,konnte die Gegenkräfte aber offensichtlich nichtkompensieren.

Ein enger definiertes Geldaggregat als M1 ist dieNotenbankgeldmenge, für die Monatsdaten verfügbarsind. Wir definieren die Notenbankgeldmenge als dasTotal aus dem Notenumlauf und den «täglich fälligenVerbindlichkeiten» der SNB. Sie drückt das von derSNB geschaffene Geld aus, berücksichtigt das von denBanken geschaffene Depositengeld also nicht.30 Gra-fik 18 zeigt die Entwicklung dieses Aggregats von1928 bis 1938. Daraus geht hervor, dass sich dieNotenbankgeldmenge im Jahre 1931 innert wenigerMonate verdoppelte und sich anschliessend aufhohem Niveau stabilisierte. Dieser Anstieg derNotenbankgeldmenge entfiel zu rund zwei Drittel aufdie Giroguthaben und zu einem Drittel auf den Noten-umlauf. Beim Notenumlauf waren es vor allem diegrossen Abschnitte (1000er- und 500er-Noten), dievermehrt nachgefragt wurden. Die Situation blieb bisins erste Quartal 1933 ruhig. Nach der Aufhebung der

Goldkonvertibilität des amerikanischen Dollar gerietder Franken hingegen mehrmals unter spekulativenDruck, so dass die Notenbankgeldmenge bis zurAbwertung im Jahre 1936 unter grossen Schwankun-gen abnahm. Nach der Abwertung von 1936 nahm dieNotenbankgeldmenge wieder zu und übertraf schonbald das hohe Niveau von 1932.

In den Jahren 1933 bis 1935 lassen sich dreiWellen von spekulativen Attacken auf den SchweizerFranken unterscheiden, die jeweils die Notenbank-geldmenge beträchtlich reduzierten. Die erste Welledauerte von März bis Juli 1933 und stand im Zusam-menhang mit Spekulationen, dass nach der Abkehrder USA vom Goldstandard auch die Schweiz gezwun-gen sein könnte, ihre Goldparität aufzugeben. Das Ver-trauen in den Schweizer Franken kehrte erst zurück,als die Schweiz zusammen mit Frankreich und ande-ren Ländern den Goldblock gründete (8. Juli 1933).Die zweite Spekulationswelle dauerte von Februar bisApril 1934. Auslöser war die Stabilisierung des Dollarauf 59% seiner alten Parität (31. Januar 1934), diedas Vertrauen in den Dollar stärkte und zu erneutenZweifeln an der Goldparität des Frankens und deranderen Goldblockwährungen führte. Die dritte zogsich vom Januar bis Juni 1935 hin. Sie wurdezunächst vor allem durch die Bankenkrise in Belgienund durch die Abwertung der belgischen Währung(31. März 1935) vorangetrieben. Anschliessend führteder hart geführte Abstimmungskampf um die Krisen-initiative der Gewerkschaften und Jungbauern zueiner erneuten Verunsicherung. Die Situation beru-higte sich erst nach der Verwerfung der Initiative inder Volksabstimmung (2. Juni 1935).

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SNB 106 Quartalsheft 2/2003

Die SNB verfügt über verschiedene Instrumente,mit denen sie eine Veränderung der Notenbankgeld-menge herbeiführen kann. Nach dem Nationalbank-gesetz von 1929 konnte sie Gold, Devisen und staatli-che Schuldverschreibungen erwerben sowie Diskont-und Lombardkredite einräumen.31 Grafik 19 zeigt dieEntwicklung der wichtigsten Aktivpositionen, die imSNB-Ausweis publiziert wurden. Daraus geht hervor,dass der Goldbestand ab 1931 den weitaus grösstenTeil der Aktiven der SNB ausmachte. Zu Beginn desBerichtszeitraums waren die Devisen und die Refinan-zierungskredite zusammen noch etwa ebenso grosswie der Goldbestand. Die Refinanzierungskreditewurden dann im Laufe des Jahres 1930 stark redu-ziert. Dasselbe geschah 1931 innerhalb von zweiMonaten mit dem Devisenbestand. Erst als sich dieKrise 1935 und 1936 zuspitzte, stiegen die Refinan-zierungskredite vorübergehend wieder an. Mit Devi-senkäufen wartete die SNB noch länger (1937).

Der Gewinn von 539 Mio. Franken, der bei derNeubewertung des Goldbestandes Anfang Oktober1936 entstand, wurde nicht ausgeschüttet, sondernunter «täglich fällige Verbindlichkeiten» einem Wäh-rungsausgleichsfonds gutgeschrieben. Dieser Fondssollte der SNB bei der Durchführung ihrer währungs-politischen Aufgaben dienen und als Reserve für all-fällige Währungsverluste zur Verfügung stehen.32 DieInterpretation des SNB-Ausweis wird durch den Fondszeitweise erschwert. Fest steht, dass die SNB in den2–3 Wochen nach der Abwertung am Markt Goldzulasten des Girokontos des Währungsausgleichs-fonds (sog. Goldaufwertungskonto) kaufte. Damitkönnen die «täglich fälligen Verbindlichkeiten», dievorübergehend stark durch dieses Girokonto geprägtwurden, bereits Ende Oktober 1936 wieder als guterIndikator für die Liquidität des Marktes betrachtetwerden. Dafür muss man bei der Deutung der Gold-und Devisenbestände im SNB-Ausweis bis zur Aufhe-bung des Währungsausgleichsfonds im Jahre 1940vorsichtig sein. Die Anlagen des Währungsausgleichs-fonds wurden im Ausweis zunächst gar nicht und abEnde 1936 nur pauschal und getrennt von den norma-len Gold- und Devisenbeständen ausgewiesen. Ausdiesem Grund geben die Angaben in Grafik 19, die aufdem SNB-Ausweis basieren, ab Oktober 1936 auchnicht die wahren Gold- und Devisenbestände der SNBan, da die Anlagen des Währungsausgleichsfondsdarin nicht enthalten sind.

31 In der Praxis machte die SNBvom Instrument der Offenmarkt-politik nur in sehr geringem Um-fang Gebrauch. Das National-bankgesetz erlaubte der SNB den«Erwerb von zinstragenden, aufden Inhaber lautenden, leichtrealisierbaren Schuldverschrei-bungen des Bundes, der Kantoneund auswärtiger Staaten, jedochnur zum Zwecke vorübergehender

Anlage von Geldern.» (Art. 14Abs. 7 NBG).32 Die Währungslage entwickeltesich so, dass die SNB davon kaumGebrauch machte. Im Mai 1940wurde der Währungsausgleichs-fonds aufgehoben, wobei die Mit-tel (533 Mio. Franken) zwischenBund (325 Mio.), Kantonen (150Mio.) und SNB (58 Mio.) aufge-teilt wurden.

33 Die Angaben zu den Anlagendes Währungsausgleichsfondswurde Jaquemet (1974, Anhang 3)entnommen. Dessen Monatsdatenbeginnen Ende Dezember 1936.Da die Bank bereits am 15. Okto-ber neu eingegangenes Gold be-sass, das nicht mehr an den Fondsweitergegeben werden konnte(Jaquemet, 1974, S. 88), gehen

wir davon aus, dass der FondsEnde Oktober und Ende Novembervoll in Gold investiert war.

2.7 Geldaggregate und Gold-bewegungen: Bernanke RatiosEs ist oft nützlich und interessant, die Entwick-

lung der Geldaggregate anhand von einfachen Ver-hältniszahlen zu beschreiben und zu interpretieren.Friedman und Schwartz (1963) machten dies mit demGeldschöpfungsmultiplikator und dessen Zerlegungin die Bargeldrate (currency-deposit ratio) und dieReserverate (reserve-deposit ratio). Weber (1983)ging in seiner Untersuchung der schweizerischenGeldaggregate den gleichen Weg. Eine alternativeZerlegung der Geldmenge, die sich für den Goldstan-dard aufdrängt, ist von Bernanke (1995) in die Lite-ratur eingeführt und von Faber (1997) auf dieSchweiz angewandt worden. Die entsprechende Defi-nition lautet

M � M · BASE · RES ·QGOLD·PGOLD,BASE RES GOLD

wobei M das Geldaggregat M1, BASE diemonetäre Basis (in unserem Fall die Notenbankgeld-menge), RES die in Franken bewerteten Währungs-reserven (Total aus Gold und Devisen), GOLD den inFranken bewerteten Goldbestand, QGOLD die Gold-menge und PGOLD den Goldpreis (Ankaufspreis derSNB) bezeichnen. RES und GOLD unterscheiden sichvon den in Grafik 19 ausgewiesenen Werten darin,dass sie auch die Anlagen des Währungsausgleichs-fonds einschliessen und der Goldbestand zum offizi-ellen Ankaufspreis der SNB und nicht zu den Buchhal-tungskursen bewertet ist.33

Anhand dieser Zerlegung von M kann die Her-kunft der Bewegungen der Geldmenge veranschau-licht werden. Bernanke und Mihov (2000) haben diesfür acht verschiedene Länder gemacht (USA, Deutsch-land, Frankreich, Grossbritannien, Kanada, Japan,Polen, Schweden). Die Grafiken 20a–f zeigen unsereResultate für die Schweiz. Um den Vergleich mit denentsprechenden Resultaten von Bernanke und Mihovzu erleichtern, sind sie gleich wie dort als kumulierteVeränderungen der logarithmierten Monatsreihen abJuni 1928 ausgewiesen (ausgenommen M/BASE, dieauf Jahresendwerten basiert).

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SNB 107 Quartalsheft 2/2003

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

10

20

30

40

50

60

M1 Grafik 20aJahresende, kumulierte Log-Differenzen

M1

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

–60

–40

–20

0

20

40

BASE/RES Grafik 20cMonatsende, kumulierte Log-Differenzen

BASE/RES

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

20406080

100120140160180200

Goldmenge Grafik 20eMonatsende, kumulierte Log-Differenzen

QGOLD

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

0

5

10

15

20

25

30

35

40

Goldpreis Grafik 20fMonatsende, kumulierte Log-Differenzen

PGOLD

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

–30

–20

–10

0

10

20

RES/GOLD Grafik 20dMonatsende, kumulierte Log-Differenzen

RES/GOLD

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

–50

–40

–30

–20

–10

0

10

M1/BASE Grafik 20bJahresende, kumulierte Log-Differenzen

M1/BASE

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SNB 108 Quartalsheft 2/2003

Der erste Ausdruck auf der rechten Seite derDefinition von M ist M/BASE, der Geldschöpfungs-multiplikator. Der Geldschöpfungsmultiplikator hängtnegativ von der Bargeld- und der Reserverate ab.Nach Bernanke (1995) ist der Geldschöpfungsmulti-plikator in der Grossen Depression vor allem ein Indi-kator für Bankenkrisen. Zweifel an der Sicherheit derBanken bewegen das Publikum dazu, vermehrt Bar-geld statt Bankeinlagen zu halten. Dies wiederumzwingt die Banken, ihre Liquiditätsreserven zu erhö-hen, um gegen einen plötzlichen starken Abzug vonDepositen gewappnet zu sein. Beide Veränderungensenken den Geldschöpfungsmultiplikator M/BASE.

In der Schweiz belief sich der Geldschöpfungs-multiplikator Ende 1929 auf 2,7. Wie Grafik 20b zeigt,fiel er im Jahre 1931 massiv, stieg dann bis 1935 wie-der leicht an und bildete sich 1936 bis 1938 auf neueTiefstände zurück. Der massive Rückgang im Jahre1931 trifft mit der internationalen Bankenkrisezusammen, die sich in diesem Jahr ausgehend vonDeutschland und Österreich auch auf die Schweiz aus-wirkte. Zwei Grossbanken (Schweizerische Volksbank,Banque d’Escompte Suisse) gerieten in Schwierigkei-ten und mussten Bundeshilfe in Anspruch nehmen.

Neben der Bankenkrise dürfte sich aber auch dieinternationale Währungskrise direkt auf den schwei-zerischen Geldschöpfungsmultiplikator ausgewirkthaben. Erstens galt der Franken 1931 als relativsicher, so dass die Spekulation gegen andere Währun-gen zu einem starken Zustrom von Geldern aus demAusland führte. Da die Banken damit rechneten, dassein Teil dieser Gelder nach einer Beruhigung derSituation rasch wieder abfliessen würde, erhöhten sieihre Reserverate. Zweitens führte Deutschland 1931Devisenkontrollen ein. Da Noten sich dazu eignen,Devisenkontrollen zu umgehen, dürfte sich dies ineiner höheren Nachfrage nach Frankennoten undeinem Anstieg der Bargeldrate niedergeschlagenhaben.

Der zweite Quotient auf der rechten Seite derGeldmengendefinition ist BASE / RES, das Verhältniszwischen monetärer Basis und Währungsreserven. Derinvertierte Quotient, RES / BASE, erinnert an die ge-setzlichen Deckungsvorschriften.34 Bernanke behan-delt BASE / RES als Indikator für die Geldpolitik. Erzeigt, ob die Zentralbank die Auswirkungen von Ver-änderungen der Währungsreserven auf die monetäreBasis durch kompensierende Diskont- und Lombard-geschäfte sterilisierte, oder ob sie diese Auswirkun-gen zuliess (und möglicherweise noch verstärkte).Wie Grafik 20c zeigt, ging BASE / RES in den erstenJahren der Grossen Depression tendenziell zurück. In

dieser Phase wurde der grösste Teil der Wirkungen dergestiegenen Währungsreserven auf die monetäreBasis durch den Abbau der Refinanzierungskrediteneutralisiert. Der Abbau der Refinanzierungskreditewar aber weitgehend abgeschlossen, als die Wäh-rungsreserven in der zweiten Jahreshälfte 1931 ihrenstärksten Zuwachs verzeichneten. BASE / RES nahmerst im April 1935 wieder deutlich zu und bewegtesich anschliessend bis zur Abwertung im September1936 auf einem durchschnittlichen Niveau, das etwajenem aus dem Zeitraum von Mitte 1929 bis Mitte1931 entsprach. Dieser Verlauf deutet darauf hin,dass die SNB auf die periodischen Vertrauenskrisen,von denen der Franken ab 1933 erfasst wurde,zunächst kaum reagierte, unter den wirtschaftlichzunehmend kritischen Verhältnissen von 1935 und1936 aber bemüht war, die Schweizer Wirtschaftgegen die Wirkungen der spekulativen Attacken aufden Franken abzuschirmen. Der scharfe Einbruch vonBASE / RES im Oktober 1936 widerspiegelt nicht einerestriktivere Geldpolitik, sondern die Neubewertungdes Goldbestandes. Da der Abwertungsgewinn nichtausgeschüttet, sondern einem Währungsausgleichs-fonds gutgeschrieben wurde, fällt BASE / RES umrund 35 Log-Punkte.

Der dritte Quotient auf der rechten Seite derGeldmengendefinition ist RES / GOLD, das Verhält-nis zwischen Währungsreserven und Goldbestand.Dieser Quotient gibt darüber Auskunft, wie die SNBihren Devisenbestand einsetzte. Der in Grafik 20dabgebildete Verlauf von RES / GOLD ist durch einenkräftigen Einbruch im September und Oktober 1931geprägt. In diesen zwei Monaten sank der Quotientum 29 Log-Punkte. Zwei Faktoren bestimmen dieseBewegung. Zum einen führte die Währungs- und Ban-kenkrise im Ausland zu einem massiven Anstieg desGoldbestandes und zum anderen wechselte die SNBihre Sterlingguthaben in Gold um. Im Jahre 1937erhöhte die SNB den Anteil der Devisen in ihrenWährungsreserven vorübergehend stark. Sie reagier-te damit auf Diskussionen über eine Herabsetzungdes internationalen Goldpreises (Jaquemet, 1974, S. 89). Um die Märkte nicht zu beunruhigen, wurdeder Grossteil dieser Umschichtung in den Anlagen desWährungsausgleichsfonds vorgenommen.

Die beiden letzten Teilgrafiken, 20e und 20f,zeigen die Entwicklung des in Gewichtseinheitengemessenen Goldbestandes, QGOLD, und den Gold-preis, PGOLD. QGOLD umfasst den gesamtenGoldbestand der SNB, also auch die Goldanlagen desWährungsausgleichsfonds. PGOLD basiert auf demoffiziellen Goldankaufspreis der SNB. Der Abwer-

34 Allerdings gibt es Unter-schiede. Das Nationalbankgesetzsah vor, dass der Notenumlauf(also nicht die monetäre Basis) zu40% mit Edelmetall (also nichtmit Währungsreserven) gedecktsein musste. Für die Metall-deckung konnte bis 31. März 1930

Gold und Silber, nachher nur nochGold eingesetzt werden. DasGesetz sah ausserdem vor, dass100% des Notenumlaufs durcheinen weiteren Kreis von Aktiven,der insbesondere auch dieDiskont- und Lombardkredite ein-schloss, gedeckt sein musste.

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SNB 109 Quartalsheft 2/2003

tungsbeschluss wies die SNB an, den Goldwert desFrankens zwischen 190 und 215 Milligramm Feingoldzu halten, was einer Abwertung des Frankens um min-destens 25,9% und höchstens 34,6% gleichkommt.Kurz darauf beauftragte der Bundesrat die SNBdamit, den Goldwert des Frankens auf einem Stand zuhalten, der einer Abwertung von ungefähr 30% ent-spricht. Dies deckt sich mit der Erhöhung des in Fran-ken ausgedrückten Ankaufspreises des Goldes von42% (oder 35 Log-Punkten).

Als Fazit kann festgehalten werden, dass sichRES / GOLD, BASE / RES und M / BASE in den erstenJahren der Grossen Depression alle stark verringer-ten. Als Folge davon stieg die Geldmenge M1 (M) zwi-schen Ende 1929 und Ende 1932 um 26 Log-Punkte,obwohl der Goldbestand (QGOLD) um 142 Log-Punkte zunahm. Nach der Abwertung vom September1936 stiegen QGOLD, RES / GOLD und BASE / RESallesamt an, so dass auch M deutlich wuchs, obwohlM / BASE nochmals zurückging.

Ein Vergleich mit den acht von Bernanke undMihov (2000) behandelten Ländern zeigt, dass derschweizerische Fall die grössten Parallelen zu Frank-reich aufweist. Auch in Frankreich sanken RES /GOLD und M / BASE in der zweiten Jahreshälfte1931 deutlich. Frankreichs M1 und Goldbestand stie-gen zwischen Ende 1929 und Ende 1932 allerdingsnur um 1 Log-Punkt bzw. 69 Log-Punkte. Die Schweizweist einen deutlich stärkeren relativen Anstieg desGoldbestandes auf als alle von Bernanke und Mihovbehandelten Länder. Der Goldzufluss war so stark,dass M1 in diesem Zeitraum – trotz des massivenRückgangs der drei Quotienten – deutlich zunahm.Der Goldzufluss sorgte also dafür, dass die schweize-rische Volkswirtschaft und das schweizerische Ban-kensystem liquider waren, als dies sonst der Fallgewesen wäre. Damit trug er auch dazu bei, dass dieSchweiz die Grosse Depression lange Zeit besser über-stand als andere Länder.

2.8 Die Banken

Es gibt zwei Gründe, sich zum Schluss nochmalsetwas ausführlicher mit den Banken zu beschäftigen.Erstens waren die Schwierigkeiten im Bankensektoreine wichtige Ursache des im letzten Abschnittbeschriebenen Rückgangs des Geldschöpfungsmulti-plikators und zweitens können Schwierigkeiten imBankensektor dazu führen, dass die Banken ihre Kre-dite verteuern oder einzelnen Kundensegmentenüberhaupt keine Kredite mehr gewähren. Da Bankkre-dite für die meisten Firmen und Haushalte die einzigeForm der Fremdfinanzierung sind, resultiert darauseine negative Wirkung auf Produktion und Beschäfti-gung.35

Einen Einblick in die Entwicklung des Banken-sektors liefern die Bankbilanzen. Tabelle 4 zeigt, dassdie nominelle Bilanzsumme 1930 noch leicht zunahm(5%), bevor sie sich bis 1935 kontinuierlich verrin-gerte (1930–1935: –19%); erst im Abwertungsjahr1936 setzte eine Erholung ein. Auf der Aktivseite derBankbilanzen zeigt sich zudem eine markante Ver-schiebung zugunsten sicherer Anlagen. Der Anteil derKassamittel nimmt stark, jener der Wertschriftenmoderat zu.36 Einen Zuwachs weist auch der Anteil derHypothekaranlagen auf. Rückläufig sind im Gegenzugdie Anteile der gewährten Darlehen und Vorschüsse(Kundendebitoren, Bankdebitoren und Wechsel).37

Dieses Muster ist das, was man unter den damaligenUmständen von einer risikobewussten Bank erwartenwürde. Die Banken wappneten sich gegen die Gefahrunerwarteter Depositenabzüge mit höheren Kassa-mitteln und Wertschriften (zulasten der Debitorenund der Wechsel). Ausserdem reagierten sie auf dieverminderte Qualität der Schuldner, indem sie denAnteil der gedeckten Kredite erhöhten.

Wir wissen nicht, wie gross die Abschreibungenwaren, welche die Banken in der Grossen Depressionauf ihren Aktiven machen mussten. Sicher ist, dassdie Zahlungsschwierigkeiten der Bankkunden unterdem Druck von Deflation und Depression zunahmenund die notleidenden Kredite in den Büchern derBanken stiegen. Grafik 21 zeigt die Entwicklung derin der Schweiz registrierten Firmenkonkurse. Darausgeht hervor, dass die Konkurse im Jahre 1936 denHöchststand erreichten. Dies deckt sich mit dem Bildanderer Indikatoren, wonach die Krise ab 1932 immerstärker auf die durch eine grosse Zahl mittlerer undkleiner Firmen geprägte Binnenwirtschaft übergriff.

35 Siehe Bernanke (1983) für einfrühes Beispiel dieser Argumenta-tion und Calomiris (1993) für eineLiteraturübersicht.36 Kasse umfasst auch die Giro- und Postcheckguthaben.Wertschriften umfasst auch die dauernden Beteiligungen.

37 Die Debitoren sind das Totalaus den Kontokorrentdebitorenund den Festen Vorschüssen undDarlehen. Seit 1930 wird auch derAnteil der gegen hypothekarischeDeckung gegebenen Festen Vor-schüsse und Darlehen ausgewie-sen. Dieser Anteil nahm ab 1930von Jahr zu Jahr zu (ausser 1934).

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SNB 110 Quartalsheft 2/2003

Der zweite wichtige Grund, weshalb die BankenAbschreibungen auf ihren Aktiven vornehmen muss-ten, war die Blockierung der Guthaben in Deutsch-land (und in einigen mittel- und osteuropäischenLändern). Im September 1931 schloss Deutschlandmit seinen Bankgläubigern ein Stillhalteabkommenab, das in den folgenden Jahren regelmässig er-neuert wurde. Zwar gab es einen Markt, auf dem dieStillhalte-Bankguthaben gehandelt werden konnten,doch wurde die entsprechende Marksorte (Register-mark) mit einem massiven Abschlag gehandelt. Nochschwieriger war die Liquidation von anderen Anlagen(Wertschriften, Hypotheken usw.). So gestaltete sichdie Rückführung der blockierten Guthaben ausDeutschland mühevoll und teuer.38

Nicht alle Bankengruppen waren von denSchwierigkeiten in gleichem Masse betroffen. Amstärksten unter Druck gerieten die Grossbanken.Darunter verstand man damals die acht grösstenHandelsbanken (Schweizerischer Bankverein, Schwei-zerische Kreditanstalt, Schweizerische Volksbank,Banque d’Escompte Suisse, Schweizerische Bank-gesellschaft, Eidgenössische Bank, Basler Handels-bank, Bank Leu). Alle Grossbanken hatten Anfang der1930er-Jahre grosse Kreditausstände in Deutschlandund wurden deshalb von den Transferbeschränkungenund der daraus resultierenden Verunsicherung derAnleger hart getroffen. Grafik 22 illustriert diesanhand der Bilanzsumme. Die Bilanzsumme der achtGrossbanken fiel zwischen 1929 und 1938 auf etwadie Hälfte, während jene der übrigen Banken prak-tisch konstant blieb.

Jahr Kasse Wertschriften Wechsel Banken- Debitoren Hypothekar- Bilanzsummedebitoren anlagen

in % in % in % in % in % in % in Mio. Fr.

1929 1,8 6,4 9,4 10,7 34,0 33,7 20 493

1930 2,2 6,5 9,4 11,2 34,8 33,2 21 530

1931 6,3 7,1 6,8 5,7 34,1 36,9 20 467

1932 6,3 7,5 5,8 4,4 32,3 40,7 19 945

1933 5,4 7,1 5,0 3,9 31,4 43,9 19 150

1934 5,0 7,0 5,0 3,5 30,6 46,0 18 646

1935 3,1 7,5 3,9 3,7 25,0 49,2 17 552

1936 7,3 7,8 3,8 4,3 21,8 47,6 18 080

1937 8,8 8,5 3,9 5,2 19,7 47,1 18 497

1938 9,3 8,8 3,5 4,5 18,9 48,2 18 297

Anteile wichtiger Aktivpositionen an der Bilanzsumme der Schweizer Banken Tabelle 4

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

80

100

120

140

160

180

Konkurse Grafik 21Index 1929 = 100

Neu eröffnete Konkurse

1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

2

4

6

8

10

12

14

16

Bilanzsumme der Banken Grafik 22

Mrd. Fr.Grossbanken Übrige Banken

38 Siehe Fior (2000) undPerrenoud et al. (2002) für dieEntwicklung des Engagementseinzelner Schweizer Grossbankenin Deutschland.

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SNB 111 Quartalsheft 2/2003

Von den acht Grossbanken hatten nur geradezwei, die Schweizerische Kreditanstalt und derSchweizerische Bankverein, ausreichend hohe Reser-ven, um ihre Verluste ohne Rückgriff auf das Aktien-kapital zu decken. Drei Institute (Basler Handels-bank, Eidgenössische Bank und SchweizerischeBankgesellschaft) zogen zur Deckung ihrer Verlustedie Aktionäre heran. Ein Institut (Bank Leu) belas-tete neben den Aktionären auch die Gläubiger. DieSchweizerische Volksbank konnte dies vermeiden, sahsich aber nach einer starken Reduktion des Genossen-schaftskapitals gezwungen, vorübergehend Bundes-hilfe in Anspruch zu nehmen. Noch schlimmer traf es die Banque d’Escompte Suisse, die trotz Bundes-hilfe und mehrjährigen Sanierungsbemühungen am30. April 1934 ihre Schalter schloss und liquidiertwerden musste. Tabelle 5 zeigt eine Zusammenstel-lung der Beiträge, welche die Aktionäre und Gläu-biger dieser sechs Grossbanken bis Ende 1937 leiste-ten. Sie macht deutlich, dass die Banque d’EscompteSuisse und die Schweizerische Volksbank die beidengrössten und teuersten Fälle waren.39

Die 28 Kantonalbanken, die zweite wichtigeBankengruppe neben den Grossbanken, überstandendie Krise im grossen Ganzen in guter Verfassung. Siehatten kein nennenswertes Auslandgeschäft und pro-fitierten wahrscheinlich auch von der Staatsgarantie.So blieb es bei drei Sanierungen (Banque Cantonale

Neuchâteloise, 1935; Kantonalbank von Bern, 1939;Bündner Kantonalbank, 1939). Diese wurden vorallem deshalb notwendig, weil wichtige Wirtschafts-zweige der betreffenden Kantone von der Krise hartbetroffen waren (Uhrenindustrie, Hotellerie).

Der Staat reagierte auf die Bankenkrise mit zweiReformen. Erstens wurde die Eidgenössische Darle-henskasse geschaffen (1932), die auch solche Wech-sel zum Diskont entgegennahm, welche die SNB nichtakzeptierte. Damit wurde die von Bagehot (1873)beschriebene traditionelle Aufgabe einer Zentralbankals lender of last resort teilweise ausgelagert. Für dieVerbindlichkeiten der Darlehenskasse haftete einGarantiefonds, an dem der Bund mit 75 Mio. Franken,die Banken und Versicherungen mit 25 Mio. beteiligtwaren. Zweitens wurde das Bankengesetz verabschie-det (1934), das neben Vorschriften zum Gläubiger-schutz verschiedene Bestimmungen enthielt, die beiZahlungsschwierigkeiten einer Bank zur Anwendungkommen sollten (Fälligkeitsaufschub, Stundung,Konkurs). Damit wurde der spezifischen Situationeiner Bank Rechnung getragen, die wegen der Mög-lichkeit von Bankpaniken eine andere Regelung erfor-derte als ein Gewerbe- oder Industriebetrieb.40 ImZeitraum von 1935 bis 1938 verlangten 12 Bankeneinen Fälligkeitsaufschub, 15 Banken eine Banken-stundung, 21 eine Nachlassstundung und 8 Bankengerieten in Konkurs (Ehrsam, 1985, S. 84).

39 Die Angaben aus Tabelle 5stammen von Paul Rossy , zitiertnach Ehrsam (1985, S. 90). ZumUntergang der Banque d’EscompteSuisse siehe Scheuss (1960) undEhrsam (1985, S. 93–97). ZurSanierung der SchweizerischenVolksbank siehe Ehrsam (1985, S. 97–101).

40 Zur Entstehungsgeschichtedes Bankengesetzes sieheBänziger (1986).

Bank Opfer BilanzsummeEnde 1930

Aktionäre Gläubiger Total

Banque d’Escompte Suisse 165 85 250 677

Schweizerische Volksbank 195 195 1680

Bank Leu 33 31 64 416

Basler Handelsbank 55 55 835

Schweizerische Bankgesellschaft 40 40 983

Eidgenössische Bank 33 33 854

Total 521 116 637 5445

Sanierungen von Grossbanken (in Mio. Franken) Tabelle 5

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SNB 112 Quartalsheft 2/2003

Wie gross waren die Schwierigkeiten der Schwei-zer Banken im Vergleich zu jenen anderer Wirt-schaftszweige? Die Einschätzung der Finanzmärktewiderspiegelt sich in der Entwicklung der Aktien-kurse. Grafik 23 zeigt die Entwicklung des Gesamtin-dexes der Schweizer Aktien sowie der beiden Bran-chenindizes der Bank- und Industrieaktien. Darausgeht hervor, dass Bankaktien bis 1934 ungefährgleich stark fielen wie Industrieaktien. 1935 stürztendie Bankaktien aber noch tiefer, während die Indus-trieaktien sich bereits auf einem leichten Aufwärts-trend bewegten. Die Grafik zeigt ausserdem auf, dassder Aktienmarkt auf die Abwertung vom September1936 mit einem Kursfeuerwerk reagierte, von dem dieBankaktien am meisten profitierten. In den letztendrei Monaten des Jahres 1936 stiegen die Kurse derBankaktien um nicht weniger als 65%. Die Kurse derIndustrieaktien legten im gleichen Zeitraum um 35%zu. Die verbreitete Auffassung, dass das Festhaltenam Goldstandard im Interesse der Banken lag, ist imLichte dieser Zahlen wenig überzeugend. Zumindestdie Finanzmärkte waren am Ende offenkundig ande-rer Meinung.

Die Rückwirkung der Bankenkrise auf die Wirt-schaftsentwicklung ist schwer zu beurteilen. Iminternationalen Vergleich scheinen die SchweizerBanken mit ihren Schwierigkeiten noch verhältnis-mässig gut fertig geworden zu sein. Teilweise verhee-rende Bankenkrisen trafen vor allem die USA,Deutschland und Belgien sowie die meisten mittel-und osteuropäischen Länder. Viele davon mündetenin allgemeine Moratorien und die vorübergehendeSchliessung der Banken (bank holidays). In den USAscheiterte zwischen 1929 und 1933 ein Drittel allerBanken und viele der übrigen schlossen sich zusam-men, so dass die Zahl der Banken auf etwa die Hälftezurück ging. Im Unterschied dazu gab es in derSchweiz zwar verschiedene Restrukturierungen, abernur wenige Zusammenschlüsse und Liquidationen(darunter mit der Banque d’Escompte Suisse aller-dings eine Grossbank). Die Zahl der Banken bewegtesich zwischen 1928 und 1938 nur wenig und schwank-te ohne klaren Trend zwischen 357 (1934) und 365(1937 und 1938).41 Auch kam es in der Schweiz zu kei-nen allgemeinen, den ganzen Sektor betreffendeMoratorien oder bank holidays.

41 Ohne Privatbanken undFinanzgesellschaften, sieheHistorische Statistik der Schweiz(1996, S. 818).

1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938

40

60

80

100

120

140

Aktienkurse Grafik 23Index Juni 1929 = 100

Total Banken Industrie

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SNB 113 Quartalsheft 2/2003

3 Schlussbemerkungen

In diesem Aufsatz wurde die Grosse Depressionin der Schweiz aus der Perspektive der Auffassungenvon Temin (1989) und Eichengreen (1992) nachge-zeichnet, die dem internationalen Goldstandard einezentrale Rolle bei der Verbreitung und Vertiefung derKrise geben.

Die Ursachen der Grossen Depression lagen imAusland und die ersten Opfer waren denn auch dieverschiedenen Branchen der Exportindustrie. Diefesten Wechselkurse des Goldstandards übertrugendie Deflation rasch auf die Schweiz und als Folgedavon stiegen die Reallöhne, die realen Zinssätze unddie reale Schuldenlast der Nominalschuldner. Damitgeriet mit einer gewissen Verzögerung auch die Bin-nenwirtschaft unter Druck, die in den ersten Jahrennoch als Wachstumsstütze gewirkt hatte.

Das kritische Jahr war auch für die Schweiz1931, als Grossbritannien den Wechselkurs des bri-tischen Pfundes freigab und Deutschland Kapital-verkehrskontrollen einführte. Von da an hatte dieSchweiz mit einer überbewerteten Währung und mitder Hypothek der in Deutschland blockierten Gutha-ben zu leben. Die Währungs- und Bankenkrise im Aus-land brachten indessen auch massive Goldzuflüsse.Diese trugen dazu bei, dass die Geldmenge im Unter-schied zu vielen anderen Ländern nicht unter dasNiveau von 1929/30 fiel. Gleichwohl war der hoheGoldbestand ein gemischtes Glück, denn er trugseinen Teil dazu bei, dass die Schweiz an der altenGoldparität festhielt und die Wiederherstellung derpreislichen Wettbewerbsfähigkeit über die sog. An-passungspolitik zu erreichen versuchte. Diese Politikscheiterte: Die Reallöhne und der reale Aussenwertdes Frankens verharrten weit über dem Niveau von1929/30 und die Wiedererlangung der internationa-len Wettbewerbsfähigkeit rückte in weite Ferne. Erstdie Abwertung des Frankens von 1936, die durch dieAbwertung des französischen Frankens erzwungenwurde, brachte die Wende.

Alles deutet darauf hin, dass das Festhalten amGoldstandard die Depression in der Schweiz vertiefteund verlängerte. Sicher wäre die Krise auch bei einemfrüheren Abgehen von der alten Goldparität nicht zuvermeiden gewesen, denn auf die Weltkonjunktur,den internationalen Handelsprotektionismus oder dieBlockierung der ausländischen Guthaben in Deutsch-land hatte die Abwertung keinen Einfluss. Aber dasFesthalten an der alten Goldparität verhinderte, dassdie Deflationserwartungen verschwanden, das Preis-niveau stieg und der reale Wechselkurs zu Ländern

wie den USA oder Grossbritannien sich normalisierte.Ausserdem führte das Festhalten an der alten Goldpa-rität dazu, dass die schweizerische Wirtschaftspolitikin vielen Bereichen zu marktfremden MassnahmenZuflucht nahm. Es entbehrt deshalb nicht der Ironie,dass die Verteidigung des Goldstandards, der seinenAnhängern als Eckpfeiler einer liberalen Wirtschafts-ordnung galt, unter den Bedingungen der 1930er-Jahre letztlich zu vermehrten Staatseingriffen führte.

Für die Geldpolitik liefert die Grosse Depressionvor allem drei Lehren. Erstens hat sie gezeigt, wiegefährlich ein internationaler Goldstandard seinkann. Der Goldstandard wirkte unter den Bedingun-gen der 1930er-Jahre deflationär. Zudem liess er –wie jedes System fester Wechselkurse – einem kleinenLand wie der Schweiz keinen Spielraum für eineeigenständige Geldpolitik. Es vergingen nach demZweiten Weltkrieg allerdings noch rund 30 Jahre, bissich diese Erkenntnis durchsetzte. Das in BrettonWoods (1944) gestaltete Weltwährungssystem warwiederum ein Gold-Devisen-Standard und damit einFestkurssystem. Auch dieses System brach schliess-lich zusammen, diesmal jedoch nicht als Folge derDeflation, sondern der Inflation. Im Unterschied zuden 1930er-Jahren reagierte die Schweiz diesmal ver-gleichsweise rasch und gehörte Anfang 1973 zu denersten Ländern, die zu frei schwankenden Wechsel-kursen übergingen.

Zweitens hat die Grosse Depression gezeigt, wiewichtig ein stabiles Bankensystem für das reibungs-lose Funktionieren einer Volkswirtschaft ist. Dazugehört die Aufgabe der Zentralbanken als lender oflast resort (Bagehot, 1873). Diese Rolle wurde in derGrossen Depression von vielen Zentralbanken nurzaghaft ausgefüllt. Ein Grund waren die Restriktio-nen des Goldstandards und die damit verbundeneFurcht vor spekulativen Attacken auf die Währungsre-serven. Die Scheu der Zentralbanken, die Aufgabe alslender of last resort im Sinne von Bagehot beherztanzugehen, zeigt sich auch in der Schweiz. Als deut-lich wurde, dass die SNB infolge der gesetzlichen Be-schränkung ihres Geschäftskreises Banken manchmalnicht wirkungsvoll helfen konnte, wurde nicht derGeschäftskreis der SNB erweitert, sondern die Eid-genössische Darlehenskasse geschaffen. Diese be-lehnte Vermögenswerte, die von der SNB nichtbevorschusst werden konnten. Heute ist allgemeinanerkannt, dass die Zentralbanken einen wichtigenBeitrag zur Stabilität des Finanzsystems zu leistenhaben und die Umschreibung des Geschäftskreisesder Erfüllung dieser Aufgabe nicht im Wege stehensollte.

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Drittens hat die Grosse Depression gezeigt, wieschädlich Deflation sein kann. Dies hat sich in vielenLändern im gesetzlichen Notenbankauftrag niederge-schlagen. Eine auf die Erhaltung der Preisstabilitätausgerichtete Geldpolitik, wie sie heute in vielen Län-dern gesetzlich verankert ist, überträgt der Noten-bank ausdrücklich die Aufgabe, Deflation ebenso zuverhindern wie Inflation. Die operationellen Zielesind zudem in vielen Ländern so definiert, dass dieWahrscheinlichkeit einer Deflation reduziert wird.Einerseits werden die Ziele in Form von Jahresteue-rungsraten und nicht in Form eines Pfades für dasPreisniveau ausgedrückt. Dies bedeutet, dass eineJahresteuerung, die über dem Ziel liegt, in dennächsten Jahren nicht durch eine unter dem Ziel lie-gende Jahresteuerung kompensiert werden muss.Anderseits wird das Ziel in den meisten Ländern alseine leicht positive KPI-Jahresteuerungsrate defi-niert. Beide Faktoren tragen dazu bei, dass eineDeflation weniger wahrscheinlich ist.

Anhang: Datenquellen

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