honneth, axel_kapriolen der wirkunsgeschichte

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32 Forschung intensiv  Forschung Frankfurt 3–4/2003 Z war bleiben Adornos »Ästhetische Theorie« und seine musikphilosophischen Schriften über die Jahre hinweg ein lebendiges Zentrum der weitver- zweigten Debatten über Anspruch und Aktualitätsge- halt moderner Kunst; kaum eine andere Theorie hat wohl die zeitgenössische Ästhetik so nachhaltig beein- usst wie diejenige, die in den einschlägigen Schriften Adornos angelegt ist. Aber innerhalb der anderen Ge-  biete, auf denen Ad orno bis zuletzt intellektuell tätig war, kann von einer vergleichbaren Wirkungsgeschich- te kaum die Rede sein; im Gegenteil, mit Ausnahme des Poststrukturalismus verlor sich in den Hauptströmun- gen der Philosophie die Spur seines Werkes schon in Bald nach dem Tode Adornos setzte interna- tional eine intellektuelle Entwicklung ein, die der Hinterlassenschaft seines theoreti- schen Werkes nicht eben förderlich war. Unter dem wachsenden Druck der angel- sächsischen Philosophie, aber auch ange- sichts einer sich zunehmend vom marxisti- schen Erbe lösenden Gesellschaftstheorie, geriet die Rezeption seiner Schriften in ei- ne immer stärkere Isolation. In der jüngsten Zeit mehren sich nun die Zeichen, die in Richtung einer Wiederbelebung des Interes- ses am Werk Adornos weisen – als sei das Heranrücken seines 100. Geburtstags eine wissenschaftliche Herausforderung, der sich auch die herrschenden Strömungen in der Philosophie und den Sozialwissenschaften nicht gänzlich verschließen dürften. Kapriolen der Wirkungsgeschichte Tendenzen einer Reaktualisierung Adornos von Axel Honneth den späten 1980er Jahren beinahe vollständig, während innerhalb der Sozialwissenschaften das Interesse an sei- nen soziologischen Schriften in dem Augenblick rapide nachließ, in dem mit den Theorien von Foucault, Bour- dieu und Giddens ganz neue Formen der Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus auf den Plan getreten waren. Die Zirkel, in denen die Theorie Adornos mit dem Mut zur intellektuellen Opposition gleichwohl noch rezipiert wurde, befanden sich daher in der letzten Dekade des alten Jahrhunderts in einer Art von selbst- gewählter Isolation. In der Philosophie und den Sozialwissenschaften scheint jedoch gegenwärtig die Bereitschaft anzuwach- Als Direktor des Instituts für Sozialforschung und Professor für Sozialphilosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität hat Theodor W. Adorno entscheidende Jahre in Frankfurt ver- bracht. Adorno war einer der bedeutendsten Philosophen und Gesellschaftstheoretik er des 20. Jahrhunderts. Doch wie aktu- ell sind Kritische Theorie und Adornos Denken heute?

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Zwar bleiben Adornos »Ästhetische Theorie« undseine musikphilosophischen Schriften über dieJahre hinweg ein lebendiges Zentrum der weitver-

zweigten Debatten über Anspruch und Aktualitätsge-halt moderner Kunst; kaum eine andere Theorie hatwohl die zeitgenössische Ästhetik so nachhaltig beein-flusst wie diejenige, die in den einschlägigen SchriftenAdornos angelegt ist. Aber innerhalb der anderen Ge- biete, auf denen Adorno bis zuletzt intellektuell tätig

war, kann von einer vergleichbaren Wirkungsgeschich-te kaum die Rede sein; im Gegenteil, mit Ausnahme desPoststrukturalismus verlor sich in den Hauptströmun-gen der Philosophie die Spur seines Werkes schon in

Bald nach dem Tode Adornos se tz te inte rna -

t iona l e ine inte l lek tue l le Entwick lung e in,

die de r Hinte r lassenschaf t se ines theore t i -

schen Werkes nicht eben fö rde r l ich war .

Unte r dem wachsenden Druck der ange l -

sächs ischen Phi losophie , aber auch ange-

s ichts e ine r s ich zunehmend vom marx is t i -

schen Erbe lösenden Gese l lschaf ts theor ie ,

ge r ie t d ie Rezept ion se ine r Schr i f ten in e i -

ne immer s tä rke re Iso la t ion. In de r jüngs ten

Ze i t mehren s ich nun die Ze ichen, d ie in

Richtung e ine r Wiederbe lebung des Inte res -

ses am Werk Adornos we isen – a ls se i das

Heranrücken se ines 100. Gebur ts tags e ine

wissenschaf t l iche Herausfo rde rung , der s ich

auch die he r rschenden St römungen in de r

Phi losophie und den Soz ia lwissenschaf ten

nicht gänz l ich ve rschl ießen dür f ten.

Kapriolen der WirkungsgeschichteTendenzen einer

Reaktualisierung Adornos

von Axel Honneth

den späten 1980er Jahren beinahe vollständig, währendinnerhalb der Sozialwissenschaften das Interesse an sei-nen soziologischen Schriften in dem Augenblick rapidenachließ, in dem mit den Theorien von Foucault, Bour-dieu und Giddens ganz neue Formen der Analyse desgegenwärtigen Kapitalismus auf den Plan getretenwaren. Die Zirkel, in denen die Theorie Adornos mitdem Mut zur intellektuellen Opposition gleichwohlnoch rezipiert wurde, befanden sich daher in der letzten

Dekade des alten Jahrhunderts in einer Art von selbst-gewählter Isolation.

In der Philosophie und den Sozialwissenschaftenscheint jedoch gegenwärtig die Bereitschaft anzuwach-

Als Direktor des Instituts für Sozialforschung und Professor für

Sozialphilosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität

hat Theodor W. Adorno entscheidende Jahre in Frankfurt ver-

bracht. Adorno war einer der bedeutendsten Philosophen und

Gesellschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts. Doch wie aktu-

ell sind Kritische Theorie und Adornos Denken heute?

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terpretiert wird: Wie die entsprechenden Passagen ausder »Dialektik der Aufklärung« deutlich machen, istAdorno einerseits mit Hegel der Überzeugung, dass derFormalismus der Pflichtethik Kants sogar bis zu einerRechtfertigung menschenverachtender, erniedrigenderHandlungen hin ausgedeutet werden kann; daher hatAdorno auch nie gezögert, im Rigorismus dieser Ethikeine der Ursachen für die Steigerung der instrumentel-len Vernunft zu sehen, deren Totalisierung er kulturge-schichtlich dafür verantwortlich macht, dass sich einefugenlose Herrschaftsordnung etablieren konnte.

Andererseits ist aber Adorno nie soweit gegangen,den Kern der Kantischen Achtungsmoral vollständigpreiszugeben; vielmehr hat er gerade in seinen jüngst

veröffentlichten »Vorlesungen zur Moralphilosophie«immer wieder zeigen wollen, dass die Vermeidung vonErniedrigung den eigentlichen Impuls von Kants Begriffdes »Respekts« ausmacht, der daher unter Einbezie-hung auch von nichtmenschlichen Wesen unbedingt bewahrt werden sollte. In dieser »positiven« Schicht derMoralvorstellungen Adornos finden sich zudem Ele-mente einer geradezu existentialistischen Ethik, in derdie Widerständigkeit der intellektuellen Lebensform alsAusweis einer moralischen Antwort auf die »verwalteteWelt« gewertet wird. Hier berühren sich für AdornoFragen des persönlichen Lebensstils so eng mit den For-derungen einer Respektmoral, wie das von kaum einer

zeitgenössischen Ethik heute noch vertreten wird. Es istwahrscheinlich diese Engführung von existentialisti-scher Ethik und Achtungsmoral, die in jüngster Zeit dasInteresse an den moralphilosophischen Betrachtungen

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sen, sich wieder mit Adornos Schriften auseinanderzu-setzen. Ob dieser Dammbruch mit soziokulturellenWandlungen zusammenhängt, wie sie sich etwa auseinem neu erwachten Bewusstsein für die zerstöreri-schen Effekte eines globalisierten Kapitalismus ergebenhaben mögen, oder auf innertheoretische Entwicklun-gen zurückzuführen ist, lässt sich aufgrund des Mangelsan historischer Distanz nur schwer ausmachen.

Innerhalb der Philosophie hat sicherlich die pragma-tische und hermeneutische Wende der analytischenTradition zum Abbau der Barrieren beigetragen, dieeiner Rezeption des Werkes von Adorno entgegenstan-den. In den Sozialwissenschaften hingegen scheint diegewachsene Sensibilität für kulturelle Pathologien einesolche Wiederannäherung bewirkt zu haben. Auf jedenFall sind heute, nur zehn Jahre nachdem das Interesse anseiner Theorie einen Tiefpunkt erreicht hatte, überra-schende, aber deutliche Signale einer Wiederbelebungder Rezeption zu vernehmen. Ich will fünf theoretischeBrennpunkte von Adornos Werk benennen, die im Au-genblick auf dem Grenzgebiet zwischen Philosophie undSoziologie erneut große Aufmerksamkeit auf sich ziehen;für alle diese Themenfelder kann gelten, dass sie eher ander Peripherie als im Zentrum seiner Schriften liegen:

Eine Mikrosoziologie des Sozialen –Adornos »Minima Moralia«

Die Gesellschaftstheorie von Adorno besitzt immerdann eine gewisse Neigung zu einem recht starren Dog-matismus, wenn es in ihr um die Bestimmung allgemei-ner Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung geht;an solchen Stellen wird deshalb häufig von Marx’schenTotalitätsbegriffen Gebrauch gemacht, um etwa voneiner wachsenden Tendenz der Subsumption lebens-weltlicher Verhältnisse unter den Imperativ der Kapital-verwertung sprechen zu können. Dieser Hang zu einer bloß deduktiven Gesellschaftsanalyse wird bei Adornoallerdings immer dort aufgebrochen, wo er sich derphänomenologisch inspirierten Feinanalyse sozialer Le- benswelten zuwendet: Hier treten Risse und Brüche imallgemeinen »Verblendungszusammenhang« in denBlick, die in Form von Gesten, Handhabungen und mo-ralischen Reaktionen eine Spur von mimetischem Wi-derstand dokumentieren.

Die »Minima Moralia«, die mit Recht zumeist alsaphoristischer Entwurf einer Lehre widerspenstiger Tu-genden interpretiert werden, lassen sich unter einer sol-

chen Perspektive auch als Versuch einer Mikrosoziolo-gie verstehen, in der an den Prozessen eines wachsen-den Interaktionsverlusts die Gegentendenzen einer Be-harrung auf den Eigenwert von Dingen und Personenaufgespürt werden: In Analysen, die in ihrer phänome-nologischen Genauigkeit an Simmel oder Kracauer er-innern, wird aufgezeigt, inwiefern bestimmte Umgangs-formen oder Konventionen des Takts dazu angetansind, der diagnostizierten Verarmung zwischenmensch-licher Kontakte zu widerstehen. Wo immer die Kulturdes Kapitalismus heute unter einer solchen Perspektiveerschlossen wird, gewinnt die soziologische Phänome-nologie Adornos wieder an Prominenz. Dabei spielt eine

zentrale Rolle wohl die Tatsache, dass bei aller Auf-merksamkeit für den kulturellen Wandel menschlicherPraktiken nicht geleugnet wird, dass sie mit sozioökono-mischen Strukturbedingungen zusammenhängen.

Ethik nach Auschwitz –Adornos Konzeption der Moral

Adorno hat bekanntlich keine »Ethik« im klassischenSinne verfasst; aber alle Schriften, die er nach der Erfah-rung der Katastrophe des Nationalsozialismus geschrie- ben hat, sind implizit von ethischen Überlegungendurchzogen, die um die Voraussetzungen kreisen, eine

Wiederkehr der Barbarei zu verhindern. Was dieseSchicht seines Werkes anbelangt, so besteht sie weitge-hend aus einer ununterbrochenen Auseinandersetzungmit der Kantischen Moralphilosophie, die auf eine kom-plizierte, vielleicht »dialektisch« zu nennende Weise in-

»Minima Moralia – Reflexionen aus dem

beschädigten Leben«: 1951 zum ersten

Mal veröffentlicht, begründeten die »Mi-

nima Moralia« Adornos Ruhm als litera-

rischer Philosoph. In den Aphorismen

und Kurzessays verbindet sich stilisti-

sche Prägnanz mit philosophischer Tiefe

sowie die Erfahrung einer barbarischen

Geschichte mit dem Blick auf die Ge-

sellschaft der Nachkriegszeit.

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Adornos wiederbelebt hat. Wie andere Strömungen derzeitgenössischen Ethik wirken auch sie der Tendenzentgegen, Fragen der Moral in allzu großer Distanz zuindividuellen Problemen des guten Lebens zu behan-deln.

Kulturindustrie und neue Medien –die Aktualität der KultursoziologieAdornos

In der »Dialektik der Aufklärung« hatten Adorno undHorkheimer die Vorstellung entwickelt, dass auf derBasis eines monopolistisch organisierten Wirtschaftssys-tems die neuartigen Reproduktionstechniken des Films,des Radios und des Fernsehens mit der sich rasch aus- breitenden Vergnügungsindustrie zu einem kulturindu-striellen Komplex zusammenwachsen, dessen manipu-lativ eingesetzte Produkte das individuelle Bewusstsein bis in die kleinsten Regungen hinein zu kontrollieren

vermögen. Diese berühmte These von der »Kulturindu-strie« hat Adorno in seinen späteren Studien ohne Zö-gern auf das kulturelle Szenarium der Nachkriegszeitübertragen, wobei er freilich in einigen Studien der wi-derspenstigen Indifferenz des Publikums einen größerenStellenwert einräumt. Im Ganzen aber herrscht die Vor-stellung vor, dass die von den technischen Reprodukti-onsmedien ausgestrahlten Botschaften ohne Wider-

stand die ich-geschwächten Individuen in ihren Regun-gen und Absichten manipulieren können.Mit der nächsten, digitalen Revolutionierung der

technischen Kommunikationsmedien, wie sie in derEntwicklung des Internets, des Mobilphones und derneuen Videotechniken zum Ausdruck gelangt, stellt sichnun die Frage, wie der manipulationstheoretische Ge-halt der Kulturindustrie-These heute zu beurteilen ist:Dem Eindruck, dass durch diese Entwicklungen dieChancen einer unreglementierten, kommunikativenVerwendung der technischen Medien erhöht werden,steht die Wahrnehmung gegenüber, dass die Gestal-tungsmacht der Kommunikationsmedien inzwischen bis in die innere Empfindungswelt der Individuen hi-neinreicht, die am Ende nicht mehr zwischen Fiktionund Wirklichkeit, zwischen Probehandeln und ver-pflichtender Interaktion unterscheiden können.

Während die erste Position sich auf die spekulativeKonzeption von Walter Benjamin berufen kann, der indem neuen Medium des Films stets auch das Potenzialeiner Demokratisierung des Massenpublikums gesehenhat, stützt sich die zweite, ungleich pessimistischere Po-sition bis heute vornehmlich auf die düsteren Beschrei- bungen Adornos. Daher ist es nicht überraschend, dassin den jüngsten Auseinandersetzungen über die kultu-relle Bedeutung der neuen Medien auch die einschlägi-gen Abhandlungen Adornos wieder zur Geltung gelangtsind: Mit ihrer Hilfe kann der Blick für soziale Patholo-gien geschärft werden, die neue Kommunikationsmedienstets dadurch auslösen können, dass sie einem Publi-kum nichtbeabsichtigt höchst deformative Rezeptions-haltungen aufzwingen.

Interaktionszerfall und menschen-würdige Beziehungen – die Moral-psychologie Adornos

Einen bedeutsamen, wenn auch häufig unterschätztenStrang des Werkes von Adorno bilden moralpsychologi-sche Überlegungen, in denen im Stile von Nietzsche

nach den psychischen Quellen von moralischen Einstel-lungen und Haltungen gefragt wird. Hat Nietzsche frei-lich in seiner »Genealogie der Moral« solche Erkundun-gen vor allem mit dem dekonstruktiven Interesse ange-stellt, die Herkunft unserer Pflichtmoral in Gefühlen desRessentiments und der Unterlegenheit nachzuweisen,so nimmt Adorno in konstruktiver Absicht durchausauch die psychischen Wurzeln von moralischen Einstel-lungen der Achtung und des kontextsensiblen Umgangsin den Blick. Unter diesem Gesichtspunkt stellen nichtnur die »Minima Moralia«, sondern auch seine sozial-psychologischen Arbeiten eine wahre Fundgrube anmoralpsychologischen Einsichten sowohl der ersten als

auch der zweiten Kategorie dar: Während Adorno dieFähigkeit zur moralischen Sensibilität und Aufmerk-samkeit immer wieder auf frühkindliche Erfahrungenliebender Sorge zurückführt, so dass die bürgerliche Fa-

Das Schlüsselwerk

der Kritischen

Theorie in seiner

Erstausgabe: In

den 1940er Jahren

erwuchs aus der

intensiven Diskus-

sion zwischen

Horkheimer und

Adorno im ameri-

kanischen Exil die

gemeinsame

Schrift über die

Dialektik der Auf-

klärung. In einer

Theorie der moder-

nen Massenkultur

wird die Aufklä-

rung über sich

selbst aufgeklärt.

Das Buch erschien

1947 bei Querido

in Amsterdam.

Eine Sonderausga-

be von »Dialektik

der Aufklärung –

Philosophische

Fragmente« bringtder S. Fischer Ver-

lag zum 100. Ge-

burtstag von Ador-

no heraus.

Stilleben mit »The Authoritarian Personality« – diese 1950 erschienene Veröffentli-

chung beschäftigte sich mit den Vorurteilen autoritärer Charaktere. Das Foto ent-

stammt Horkheimers privatem Fotoalbum. In den 1940er Jahren wurden unter der

Leitung von Horkheimer mit finanzieller Unterstützung des American Jewish Com-mittee in den USA umfangreiche Studien zum vorurteilsvollen Verhalten erarbeitet.

Die grundlegende Untersuchung zum autoritätsgebundenem Charakter entstand im

Zusammenwirken Adornos mit amerikanischen Psychologen und wurde 1950 bei

Harper in New York veröffentlicht.

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milie paradoxerweise als »Keimzelle des kompromißlo-sen Willens«, einer vernünftigen Ich-Stärke, erscheint, bringt er die wachsenden Tendenzen der bloß strategi-schen Einstellung und der habituellen Kälte mit denAuflösungserscheinungen jenes Familientyps in Zusam-menhang.

Wird dieser Strang des Werkes weiter verfolgt, sozeigt sich, dass Adorno über ein komplexes Netz von

moralpsychologischen Erklärungen verfügt, in dem zwi-schen bestimmten Weisen des zwischenmenschlichenUmgangs und psychischen Reaktionsmustern kausaleVerbindungen hergestellt werden. Heute trägt eine Be-schäftigung mit diesem Thema Adornos nicht nur dazu bei, unseren herkömmlichen Moralbegriff phänomeno-logisch zu präzisieren; vielmehr leisten seine Betrach-tungen auch einen Beitrag zu der philosophisch hoch-aktuellen Fragestellung, welche Sozialisationsbedingun-gen wir unterstellen müssen, wenn wir von Subjektendie Orientierung an moralischen Prinzipien erwarten.

Vermarktlichung und Interaktions-

zerfall – Adornos Soziologie desKapitalismus

In vielen seiner soziologischen Schriften, nicht zuletztaber auch in der »Minima Moralia«, hat Adorno einenengen Zusammenhang hergestellt zwischen den Prozes-sen einer wachsenden Vermarktlichung und Tendenzeneines Zerfalls zwischenmenschlicher Interaktion; ja,vielleicht lässt sich von heute aus sogar der mikro-sozio-logisch geführte Nachweis als der eigentliche Kern sei-ner Gesellschaftstheorie bezeichnen, dass die Auswei-tungen des kapitalistischen Marktes in die bislang un- berührten Sphären des Privatlebens hinein den Subjek-ten Verhaltensweisen aufzwingt, die gegenüber den spe-zifischen Eigenschaften des Gegenübers indifferent ma-chen und daher stets eine Tendenz zur Missachtung desAnderen aufweisen.

Über die letzten dreißig Jahre hinweg galt diesesHerzstück der soziologischen Theorie Adornos eher alsein Relikt seiner marxistischen Orthodoxie; und in vie-len Passagen seiner zeitdiagnostischen Beobachtungenklingen die entsprechenden Sätze tatsächlich so, alswürde Adorno die Marx’sche These einer »reellen Sub-sumption« aller Lebensverhältnisse unter das Kapital

 bloß auf die Gegenwart anwenden. Angesichts der jüngsten Entwicklungen aber, in der unter dem Diktatder ökonomischen Flexibilisierung tatsächlich vielezuvor sozialstaatlich eingehegte Sphären dem Steue-rungsprinzip des privatkapitalistischen Marktes unter-worfen waren, scheint dieser Zeitdiagnose Adornos eineneue Aktualität zuzukommen. Vor allem besticht an sei-nen Analysen heute, mit welcher geradezu phänome-nologischen Akribie es ihm gelingt, an Alltagsinteraktio-nen die schleichende Verwandlung von zweckfreienKommunikationen in bloß noch strategische Begegnun-gen aufzuzeigen. Vielleicht ist dieser Teil der SchriftenAdornos sogar derjenige, der in Zukunft die größte Auf-merksamkeit auf sich ziehen wird; denn noch sind ge-sellschaftstheoretische Ansätze nur spärlich vertreten, indenen auf vergleichbarem Niveau der kausale Zusam-menhang zwischen Vermarktlichung und Interaktions-zerfall analysiert wird.

Prof. Dr. Axel Honneth,

54, hat 1996 die Nachfol-

ge des 1994 emeritierten

Jürgen Habermas am Insti-

tut für Philosophie der Jo-

hann Wolfgang Goethe-

Universität angetreten.

Honneth, der 1992 bis

1996 politische Philoso-

phie an der Freien Univer-

sität Berlin lehrte, war zu-

vor in den 1980er Jahren

Hochschulassistent bei Habermas an der Universität Frank-

furt, wo er sich mit einer Studie mit dem Titel »Kampf undAnerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflik-

te« habilitierte. Im Anschluss an diese Frankfurter Zeit war

Honneth, der Philosophie, Soziologie und Germanistik in

Bonn, Bochum und Berlin studiert hatte, »Fellow« am Berli-

ner Wissenschaftskolleg. Er lehrte in der Folgezeit in Kon-

stanz, in Berlin und an der New School for Social Research

in New York. Nach seiner Berufung an die Universität Frank-

furt hatte er im Sommersemester 1999 den Spinoza-Lehr-

stuhl am Department of Philosphy der Amsterdamer Univer-

sität inne. Im April 2001 übernahm Honneth zusätzlich die

Leitung des Instituts für Sozialforschung und löste damit

Ludwig von Friedeburg als geschäftsführenden Direktor ab.

Von Honneth sind in den vergangenen Jahren folgende

Bücher erschienen: Die zerrissene Welt des Sozialen (erwei-

terte Neuausgabe 1999), Das Andere der Gerechtigkeit

(2000), Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung

der Hegelschen Rechtsphilosophie (2001), Unsichtbarkeit.Stationen einer Theorie der Intersubjektivität (2003), Um-

verteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische

Kontroverse (zusammen mit Nancy Fraser) (2003).

Der Autor

Adorno als Postwertzeichen: Diese Briefmarke, gestaltet von dem Offenbacher Grafi-

ker Gerhard Lienemeyer, erscheint pünktlich zum 100.Geburtstag des Frankfurter

Philosophen. Lienemeyers Marke zeigt einen Ausschnitt aus einer Manuskriptseite

aus dem Theodor W. Adorno Archiv (Ts 17750) mit dem Foto von Ilse Mayer Gehr-

ken. Dazu die Jury des Kunstbeirats, der sich mit 9:3 Stimmen für diesen Entwurf

entschied: »Der Siegerentwurf zeigt ein Foto Adornos manuskriptlesend bei der Ar-

beit. Im Hintergrund wird ein korrigiertes Manuskript gezeigt, was die Arbeitsatmos-

phäre hervorhebt. Durch die Korrekturen wird die permanente Selbstreflektion des

Theoretikers deutlich.«

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Das theoretische Werk Theodor W.Adornos zieht weiterhin interna-tional reges Interesse auf sich; inden verschiedensten Ländern fin-den regelmäßig Veranstaltungenzu seinen ästhetischen und philo-

sophischen Schriften statt, die De- batte um den französischen Post-strukturalismus hat noch einmalein neues Licht auf die vernunft-kritischen Elemente seiner Theoriegeworfen, und aus der musikphilo-sophischen Diskussion ist sein Na-me nicht mehr wegzudenken.Aber in der Rezeption des Werkeshat sich in den letzten Jahrzehnteneine Kluft aufgetan, die der pro-duktiven Aneignung und Fortset-zung seiner Intentionen heute im

Wege steht: Gelesen und debattiertwerden die Schriften Adornos inwachsendem Maße vornehmlichin den theoretischen Zirkeln, dievon ihrer Bedeutung ohnehinüberzeugt sind, während sich dieheute vorherrschenden Strömun-gen in der Soziologie, Ethik oderErkenntnistheorie von dem Anre-gungspotenzial seiner Theorie nurwenig beeindruckt zeigen – inner-halb der neueren Forschungslitera-tur in diesen Bereichen ist der Na-

me Adornos selten zu finden. DieInternationale Adorno-Konferenz,die das Institut für Sozialforschungim Rahmen der Veranstaltungender Stadt Frankfurt aus Anlass des100. Geburtstags von Theodor W.Adorno vom 25. bis 27. Septemberausrichten wird, soll unter dem Ti-tel »Dialektik der Freiheit« der da-mit umrissenen Tendenz entgegen-wirken. Im Vordergrund der breit-gefächerten Vorträge und Diskus-sionen wird der Versuch stehen,

den kritischen Gehalt seiner Schrif-ten für die aktuellen Diskussionenin der Philosophie, Soziologie undÄsthetik fruchtbar zu machen.

Die Konferenz wird am Nach-mittag des 25. September von demSozialphilosophen Prof. Dr. JürgenHabermas zum Thema »›Ich selbst bin ja ein Stück Natur‹ – Adornoüber die Naturverflochtenheit der

Vernunft. Überlegungen zum Ver-hältnis von Freiheit und Unverfüg- barkeit« eröffnet. Am Abend folgtein Vortrag von Prof. Dr. Jan-Phi-lipp Reemtsma über »Adorno unddie Literatur«. Am zweiten Abendder Konferenz wird zudem in Ko-operation mit dem HessischenRundfunk eine Sonderveranstal-tung stattfinden, auf der unter Ein- beziehung von Originaldokumen-ten aus Rundfunk und Fernsehenüber »Adorno und die Medien«

diskutiert wird. Diesem prominen-ten ersten Teil der InternationalenTheodor W. Adorno-Konferenz2003 schließt sich vom 28. Sep-tember (Sonntag) bis 30. Septem- ber (Dienstag) ein zweiter Teil un-ter dem Thema »MusikalischeAnalyse und Kritische Theorie« an.(weitere Informationen zu diesemTeil vergleiche Seite 37).

Diese Ausrichtung der Konfe-renz macht es nötig, auch die orga-nisatorische Struktur ein wenig an-

ders anzulegen, als es vor zwanzigJahren bei der letzten großenAdorno-Tagung an der UniversitätFrankfurt der Fall gewesen ist:Während damals im Wesentlichendie zentralen Komplexe der Theo-rie Adornos in Podiumsveranstal-tungen mit mehreren Spezialistendiskutiert wurden, sollen diesmalKernelemente seines vielschichti-gen Werkes in der Konfrontationzwischen zwei international re-nommierten Theoretikern oder

Theoretikerinnen erörtert und pro-duktiv weitergedacht werden; dashat es nötig gemacht, weniger dieeigentlichen Kenner des Werkes

als vielmehr theoretisch avancierteVertreter der jeweiligen Spezialdis-ziplinen zur Teilnahme zu gewin-nen. Um der Komplexität derSchriften Adornos gerecht zu wer-den, sind überdies in zeitlicher Ver-

setzung zu den Plenarveranstal-tungen eine Reihe von Workshopsgeplant, in denen im kleinerenKreis nach einem einleitendenVortrag über die Aktualität einzel-ner, auch randständiger Schriftendiskutiert wird.

Die Kombination dieser beidenVeranstaltungsformen soll sicher-stellen, dass auf der Konferenz dieganze Breite des Werks Adornoszur Sprache kommt. Dabei wid-men sich die sechs Plenarveranstal-

tungen, die jeweils von zwei Vor-tragenden bestritten werden, den- jenigen Themen, die heute wohlals bleibendes Erbe seiner philoso-phischen, soziologischen undästhetischen Schriften gelten kön-nen: Auf die Frage hin, inwiefernseine Einsichten heute in die aktu-elle Forschung einfließen könnenund müssen, sollen hier der Reihenach seine Beiträge zur Moralphi-losophie, zur Ästhetik, zur Er-kenntnistheorie, zur Moralpsycho-

logie, zur Phänomenologie der All-tagskultur und zur Gesellschafts-theorie diskutiert werden. In Er-gänzung zu diesen Plenarveran-staltungen werden in den Work-shops diejenigen Bücher Adornosauf ihren Aktualitätsgehalt hin ge-prüft, die in der breiteren Öffent-lichkeit die größten Spuren hinter-lassen haben; zusätzlich wurden indiesen Teil der Veranstaltung auchdie verstreuten Aufsätze aufge-nommen, die Adorno im Laufe sei-

nes Lebens der Psychoanalyse ge-widmet hat.Nähere Informationen unter:www.ifs.uni-frankfurt.de

»Dialektik der Freiheit« – Internationale Theodor W. Adorno-Konferenz

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Chancen eines Jubiläums

Mit diesen fünf Themen sind nur die intellektuellen Fel-der umrissen, in denen sich heute am deutlichsten Indi-katoren für eine Wiederbelebung des Interesses anAdorno erkennen lassen. Vergleichbare Entwicklungenmag es gegenwärtig aber auch innerhalb der Kernberei-che der Philosophie geben, weil hier neuere Strömun-

gen in Richtung eines moderaten Naturalismus weisen,wie ihn auch Adorno in seinem Freiheits- und Subjekti-vitätskonzept vertreten hat; und schließlich zeichnensich selbst innerhalb der Erkenntnistheorie heute Ten-

denzen ab, die insofern den epistemologischen Erwä-gungen Adornos nicht sehr fern stehen dürften, als sieauf eine Form des rationalistischen Realismus zulau-fen.

Der 100.Geburtstag Adornos sollte daher zum Anlassgenommen werden, sein Werk wieder verstärkt in denMainstream der Philosophie und Sozialwissenschafteneinfließen zu lassen; der Auftrieb, den die Rezeption sei-

ner Schriften in der jüngsten Zeit erhalten hat, könntegenutzt werden, um auf undogmatische Weise den Ak-tualitätsgehalt seiner Theorie erneut unter Beweis zustellen.   ◆