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Ideen für den Schulunterricht zum Film »FATELESS – Roman eines Schicksallosen«

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Ideen für den Schulunterricht zum Film »FATELESS – Roman eines Schicksallosen«

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Fakten zum Film

»FATELESS – Roman eines Schicksallosen«

Ein Film von Lajos Koltai

nach dem »Roman eines Schicksallosen« von Imre Kertész

mit Marcell Nagy, János Bán, Judit Schell, Áron Dimény, Daniel Craig u.a.

Musik: Ennio Morricone

Eine ungarisch-deutsch-englische Koproduktion der Magic Media/H20 Productions (Ungarn),der EuroArts Medien GmbH (Deutschland) und der Renegade Films (Großbritannien).

Der Film wurde gefördert von folgenden Fördergesellschaften:

MFG Filmförderung Baden-WürttembergMitteldeutsche Medienförderung Magyar Mozgókép Közalapitvány Nemzeti Kulturális Örökség MiniszériumaMagyar Történelmi Film AlapitványIngenious Media plcEurimages

Der Film hat von der FBW das »Prädikat besonders wertvoll« erhalten.FSK 12 Jahre.

Kinostart: 02.06.2005

Länge: 134 Minuten

Im Verleih von:NFP marketing & distribution*(eine Abteilung der NFP Neue Filmproduktion tv GmbH)Kurfürstendamm 5710707 Berlin

Im Vertrieb von:UIP United International PicturesHahnstr. 31-3560528 Frankfurt am Main

www.fateless-derfilm.de

Schulvorführungen können Sie mit Ihrem Kino vor Ort, in dem dieser Film läuft, vereinbaren.

Ein Film von Lajos Koltai

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Sehr geehrte Damen und Herren,

in letzter Zeit sind einige Filme, wie »Der Untergang« und »Sophie Scholl« oder »Napola«, über die Nazizeit in dieKinos gekommen.Wir möchten Ihnen »FATELESS – Roman eines Schicksallosen« vorstellen.FATELESS – Roman eines Schicksallosen ist die Verfilmung des »Roman eines Schicksallosen« von Imre Kertész.Dem Ungarn Kertész, der auch das Drehbuch »Schritt für Schritt« zum Film geschrieben hat, wurde 2002 für seinWerk der Literaturnobelpreis verliehen.Was unterscheidet »FATELESS – Roman eines Schicksallosen« von den anderen Filmen?Dieser Film ist anders. Er bestürzt und verstört, aber er überrascht auch »... dort bei den Schornsteinen, gab es inden Pausen zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war.« (»Roman eines Schicksallosen«)

»FATELESS – Roman eines Schicksallosen« verzichtet auf die probaten Mittel, die Filme erfolgreich machen (Starpower, Identifikation, Pathos).»FATELESS – Roman eines Schicksallosen« bietet keine Widerstandshelden an, der Film hält sich zurück, erzählt dieGeschichte eines vierzehnjährigen Jungen, schildert die Situation der Opfer und verbleibt in der subjektivenPerspektive. Das in der Musik anklingende Pathos wird als Stilmittel eingesetzt, das auf Dissonanz abzielt.

Wir nehmen diesen Film zum Anlass, Ihnen Unterrichtsmaterial zu präsentieren, das Sie fachübergreifend und zuverschiedenen Themen einsetzen können. Der Film bietet eine gute Gelegenheit, am Beispiel von Roman, Drehbuchund Film über Erinnerung und kollektives Gedenken zu arbeiten. Eine weitere zentrale Frage, die im Film ange-sprochen wird, ist die Frage nach Schicksal und Freiheit. Historische Anknüpfungspunkte sind – im 60. Jahr nachKriegsende – Nationalsozialismus, Judenverfolgung und Fremdenhass.Die Materialien, die wir ihnen zur Verfügung stellen, mögen helfen, Themenvorschläge in den Unterricht der Klassen9 bis 13 einzubringen. Sie eignen sich besonders für Exkurse in den Fächern Deutsch, Geschichte, Sozialkunde,Religion und Ethik.Alle Blätter sind als Kopiervorlagen oder zur Vorbereitung auf den Unterricht oder für den Unterricht gedacht.Sie stellen keine abgeschlossenen Unterrichtseinheiten dar.Das Material enthält neben den Texten zu dem Film einen geschichtlichen Teil.Außerdem wird Methodisches zu Film und Literatur angeboten, immer mit Bezug auf den Film »FATELESS – Romaneines Schicksallosen«.Ein Essay von Imre Kertész, in dem er sich mit den Filmen »Schindlers Liste« (Spielberg) und »Das Leben ist schön«(Benigni) auseinandersetzt, vervollständigt das Material. Außerdem sind Literaturhinweise und eine Übersicht vonFilmen zum Thema beigefügt.Den Abschluss bildet die »Todesfuge« von Paul Celan.Wir freuen uns, wenn wir von Ihnen erfahren, ob und mit welchem Nutzen Sie die Materialien haben einsetzen können. Weitere Anregungen nehmen wir gerne auf.

Ihr VOLZ JORDE TEAM

Ein Film von Lajos Koltai

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Inhalt1. Der Film »FATELESS – Roman eines Schicksallosen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .51.1 Inhaltsangabe versus Artikel von P. O. Chotjewitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .51.2 Die Frage nach Schicksal oder Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .91.3 Was »FATELESS – Roman eines Schicksallosen« zeigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .112. Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .122.1 Der Autor Imre Kertész und seine Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .122.2 Die weltgeschichtliche Situation im Kriegsjahr 1944 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .132.3 Die Geschichte der Juden und ihre Rolle in der NS-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .152.4 Die Konzentrationslager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .162.5 Der Exodus von Kunst, Literatur und Film aus Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .182.6 Film und Kino . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .203. Methodisches zu Film und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .213.1 Anmerkungen zur Literaturverfilmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .213.2 Drehbuch und Literaturverfilmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .213.3 Strategie des Drehbuchschreibens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .223.4 Der Handlungsverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .233.5. Interpretation von Filmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .253.6. Drehbuch und Roman – ein Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .283.6.1 Erste Szene: Die Dusche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .283.6.2 Zweite Szene: Schicksallosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .294. Essay von Imre Kertész: Wem gehört Auschwitz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .335. Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .386. Kino- und Fernsehfilme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .397. Das Buchenwaldlied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .408. Paul Celan: Todesfuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .42

Impressum:

Herausgeber:

NFP marketing & distribution* (eine Abteilung der NFP Neue Filmproduktion tv GmbH)Kurfürstendamm 57, 10707 Berlin

In Zusammenarbeit mit:

VOLZ JORDE, Zeppelinstraße 147 A, 70193 Stuttgart

Beratend haben mitgewirkt:

Sibylle Knauss, Schriftstellerin, Professorin Abt. Drehbuch an der Filmakademie Baden-WürttembergMartin Peter, Pädagogisches Fachseminar Kirchheim/TeckDr. Klaus Weber Oberstudienrat Deutsch, Französisch; Ida-Ehre-Gesamtschule, Hamburg

Ein Film von Lajos Koltai

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1. Der Film »FATELESS – Roman eines Schicksallosen«

1.1 Vergleich von Inhaltsangabe und Artikel über »FATELESS – Roman einesSchicksallosen«

Der Film – Inhaltsangabe

1944 in Budapest. György, der vierzehnjährige Junge erlebt die Abreise seines Vaters ins Arbeitslager der Nazis.Die Verwandten sind besorgt und verwirrt. Er hört aus den Diskussionen von Familie und Nachbarn heraus, dassalles nicht so schlimm und sicher bald zu Ende sei.

Beim Treffen mit Nachbarskindern kommt es nicht zum Kartenspielen. Auch hier Diskussionen. Die Kinder sind verstört. Warum müssen wir diesen Stern tragen, warum sind wir anders? »Es würde mir nichts ausmachen, dassman mich hasst, wenn ich es irgendwie verstehen könnte.«

György erhält einen Passierschein um in einer Fabrik am Stadtrand zu arbeiten und erlebt eine Auseinandersetzungunter Nachbarn, ob er mit dem Bus oder der Bahn zur Arbeitsstelle fahren soll. Die Argumente für den Bus über-wiegen.Eine schicksalhafte Entscheidung, denn der Bus wird von einem ungarischen Polizisten angehalten. Alle Fahrgästemit einem Stern müssen raus und werden an einen Sammelplatz gebracht. Hier trifft György auf viele andereJugendliche, einige kennt er von der Arbeit, andere sind neu. Auch Erwachsene sind dabei.

Unter Führung des Polizisten setzt man sich in Marsch zurück nach Budapest. Trifft auf andere Menschenkolonnen.Alles Menschen, die den Stern tragen.Als man an einer Kreuzung wegen Straßenbahnverkehrs stehenbleiben muss, verschwinden einige, flüchten, Györgybleibt. Der Polizist gibt ihm ein stummes Zeichen zu verschwinden. György bleibt.

Er kommt mit den anderen in ein Auffanglager. Wird von einem Ungarn vernommen, muss seine Taschen leeren.»Ich habe einen Passierschein« – er hält ihn hoch, ohne Bedeutung.György kommt zurück zu den anderen. Abermals steht eine Abreise bevor. Wohin?

Die Abfahrt. Halt an der ungarischen Grenze. Ein ungarischer Grenzpolizist erscheint und fordert alle auf, ihm dieletzten Wertsachen zu geben, da diese dann immerhin in Ungarn verblieben.Die Menschen im vollgepferchten Zug wollen Wasser. Eine fruchtlose Verhandlung beginnt. Der Aufpasser bekommtkeine Wertsachen, die Menschen kein Wasser. Unter wüsten Beschimpfungen fährt der Zug weiter.Düstere, bedrückende Zustände im Zug. Von außen dringt eisige Kälte ein. Regen und Schnee. Endloses Rangieren.Diskussion über Richtung und Ziel der Fahrt.Nach langer Fahrt erreichen sie Auschwitz. Das Lager. Sie werden sortiert nach Alter, arbeitsfähig und nicht arbeits-fähig. György hat Glück und wird zu den Arbeitsfähigen geschickt. Jetzt geht es um Leben und Überleben im Lager,um das Anpassen an die Logik der Lager. »64921 – das hatte ich ab jetzt zu antworten, wenn mich jemand fragte,wer ich bin.«

Dabei helfen andere, die länger im Lager sind. »Das Wichtigste ist, sich zu waschen . . . Hab immer ein kleines StückBrot in der Tasche . . . Zum Mittag nimmst du einen Bissen; aber der ist unerlässlich für deine Selbstachtung . . .

Ein Film von Lajos Koltai

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Weißt du was Selbstachtung ist? Sie ist genauso wichtig wie das Brot oder die Suppe.«György hält sich lange daran, dann kann er nicht mehr, zeigt anklagend seine zerschundenen Hände, die keine Schaufelmehr anfassen mögen. Er macht weiter, bis es nicht mehr geht. Schwer krank bricht er zusammen und kommt in dieSanitätsbaracke. Er erlebt das Sterben anderer und leidet weiter. Wie durch ein Wunder wird er in eine Kranken-station gebracht. Vorher gereinigt in einem Raum mit Duschköpfen an der Decke. Sein angstvoller Blick richtet sichauf diese – es kommt Wasser.

In der Krankenstation ist es sauber. Es gibt zu essen und zu trinken. Irgendwann greift er zu einer Decke und decktsich zu. Ein Funken Lebenswille scheint zurückzukehren. Während eines Bombenalarms tönen die Lautsprecher:»Krematorium ausmachen. An alle SS-Angehörige: Das Lager ist sofort zu verlassen.« Das Lager wird von denAmerikanern befreit.

György trifft einen amerikanischen Offizier, der ihm anbietet ihn mitzunehmen und sich um ihn zu kümmern. Györgylehnt ab, er will nur zurück nach Budapest. Mit dem Zug, ähnlich dem Hintransport, geht es nach Budapest. Aberdie Stimmung ist erwartungsvoll. György nimmt alles teilnahmslos hin. Immer wieder Trümmer. Dresden, dannBudapest. Am Bahnhof Menschen, die Fragen stellen: »Hast du die Gaskammern gesehen?« »Dann würde ich jetztnicht mit Ihnen reden.« György sucht zuerst die Wohnung von demjenigen, der ihm im Lager half, mit seinen einfachen Ratschlägen, mit seiner Vision zurückzukommen, mit seiner Selbstachtung.

Er trifft ihn nicht wieder. Die Antworten der Menschen in der Heimat sind kurz und abweisend. Türen bleibengeschlossen. In seinem alten Haus trifft er die Nachbarn. Ihre Art zu reden, zu diskutieren, nichts scheint verändert.»Wir konnten ja nicht wissen, dass dich dein Weg von hier in die Hölle des Lagers führt.« »Das Lager ist keine Hölle... Der Unterschied ist, die Hölle gibt es nicht, das Lager schon.« Erschreckt wird er weggeschickt, zu seiner Mutter.Auf dem Weg dorthin kommt ihm alles wieder in den Sinn »...auch die, die mich gerettet hatten ... (und) ich werdemein nicht fortsetzbares Leben fortsetzen.«

Ein Film von Lajos Koltai

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Der Schriftsteller Peter O. Chotjewitz über »FATELESS – Roman eines Schicksallosen«

Zwei Tage bilden den Rahmen – der Tag der Deportation des Vaters und der Tag der Heimkehr des Sohnes, ein Jahrspäter. Dazwischen die endlose Weite des KZ-Lagers. Wie geht der Film damit um? »»FATELESS – Roman einesSchicksallosen«« verfremdet die Welt, zeigt sie als Alptraum, und auch die Musik von Morricone nimmt Abstand,wie überwältigt von den Schrecken. Das ist die große Leistung des Regisseurs und Kameramannes Lajos Koltai, dasser den sprachlichen Stil des Romanciers Imre Kertész in Bilder umsetzt, die die streng subjektive Wahrnehmung sei-nes alter ego, des Knaben György, repräsentieren.Es ist frappierend, wenn am Anfang plötzlich alle einen gelben Stern tragen, aber es ist auch logisch, wenn man sichklar macht, dass der Knabe nur das sieht, was ihn unmittelbar umgibt, und das sind Juden. Aufgeschreckte Menschen,die in den Augen des Knaben zu Karikaturen werden. Es sind die Alltäglichkeiten im Entsetzlichen, der rasche Verfalldes Körpers und aller seelischen Kräfte, die dem Film seine humane Dimension geben. Der Film ist immens politisch.Er fragt nämlich: »Warum werden wir geschunden? Weshalb müssen wir überhaupt diesen gelben Stern tragen?Tragen wir in uns einen Unterschied zu den anderen?« Die Antwort ist eindeutig. Es gibt keinen Unterschied. DerStern macht keinen Sinn und die Verfolgung ebenso wenig. »Stell Dir vor«, sagt der kleine György, »Deine Elternsind Christen. Du bist im Krankenhaus vertauscht worden.« Der Mittelteil zeigt das Leben in drei Lagern, in Zeitz vor allem, die Zwangsarbeit, den Hunger, die Kälte, die immer-gleichen Rituale. Die Zeit scheint stillzustehen in diesem langen Abschnitt und man sieht so gut wie keine Täter.Das KZ ist eine Maschine, die die Menschen verschlingt und nur wenige Menschen braucht, die sie bedienen. »Wiewerden sie es hier machen«, fragt sich György, als seine Arbeitskraft verbraucht ist. »Mit Gas, wie in Auschwitz? Mit einem Schuss, wie in Buchenwald?« Er sagt kein Wort. Die Bilder sprechen. Als er nackt unter einem Berg halb-toter Skelette in einer Baracke liegt und sein Auge zur Brause unter dem Dach schwenkt, sprechen sie.Die Lagerzeit endet mit einer wunderbaren Errettung des Helden, unerwartet wie im Märchen, und abermals kommtalles wie aus dem Nichts und ereignet sich beiläufig. Kein gutmütiger Nazi. Nur zwei Häftlinge beim Leichenstapeln,die zufällig bemerken, dass einer noch lebt. Es ist György.Emotionslos erzählt der Film auch die Rückkehr und wiederum sind es die kleinen Dinge, die Koltai in denVordergrund stellt. Die fremden Leuten, die jetzt in der Wohnung seiner Eltern leben, die jüdischen Nachbarn, dieüberlebt haben und sich immer noch streiten, als hätte es nie ein Pogrom gegeben. Der Schaffner in derStraßenbahn, der György hinauswerfen will, weil er kein Geld hat. Der Film operiert hier mit kurzen Schnitten, wieatemlos. Alle fragen den Jungen, woher er komme, obwohl man es sieht, denn er trägt noch die gestreifte Jacke.Alle wollen wissen, wie es war, alle versuchen es sich vorzustellen und alle Vergleiche sind schief. György mussihnen erklären, daß es falsch ist, das Lager als Hölle zu definieren, denn die kann man sich nicht vorstellen,während das Lager nun eine unvergessliche Realität ist – eine zweite Natur gewissermaßen.

Er selber muss erst noch erkennen, dass es auch dort Augenblicke des Glücks gab. György begreift, dass er verlernthat, was Glück bedeutet, an einem idyllischen, sonnigen Tag, wie ihn die letzte Einstellung zeigt, nach denEnttäuschungen des ersten Tages in Budapest, das ihm leer erscheint.Ein eigenartiger, unvergleichlicher Film.

Peter O. Chotjewitz

Ein Film von Lajos Koltai

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Peter O. Chotjewitz, geboren in Berlin, ist Schriftsteller und Übersetzer aus dem Italienischen. Seinen literarischenRuf begründete der Roman-Erstling »Hommage à Frantek« aus dem Jahr 1965. Berühmt wurde er mit dem vielgelobten Roman »Machiavellis letzter Brief« aus dem Jahr 2003.

Vorschläge für die Bearbeitung im Unterricht

A Beurteilt die Inhaltsangabe.B Welche Unterschiede bestehen zwischen der Inhaltsangabe und dem Text des Schriftstellers

Peter O. Chotjewitz?C Welcher literarischen Gattung ordnet ihr den Artikel von Peter O. Chotjewitz zu?D Wird darin das Wesentliche des Films erfasst? – Begründung!E Welches sind die Elemente einer Filmkritik? – Handelt es sich bei dem Artikel um eine Filmkritik

nach den recherchierten Maßstäben? Begründet, ob und welche Elemente eurer Ansicht nach hinzukommen müssten!

F Entwickelt in Gruppen Filmplakate, präsentiert sie vor der Klasse und diskutiert anschließend die Argumente für die jeweilige Gestaltung.

Ein Film von Lajos Koltai

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1.2 Die Frage nach Schicksal oder Freiheit

Es folgt ein Text aus dem Drehbuch »Schritt für Schritt« von Imre Kertész. Der Text wurde entnommen aus editionsuhrkamp 2292, Suhrkamp, erste Auflage 2002, S. 180/181. In »3.6.2« wird der folgende Text auch dem entspre-chenden Teil aus dem »Roman eines Schicksallosen« gegenübergestellt.

Die Szene schildert den Besuch des Jungen bei früheren Nachbarn der Familie.Der Junge ist eben in der zerbombten Stadt Budapest angekommen, nachdem er sich einer Gruppe von Heimkehrernangeschlossen hatte, die ihn aus dem befreiten KZ mitnahmen.

»Der Junge beginnt zu essen. Er macht es sich in dem Sessel bequem. Streicht über das weinrote Polster: »ErinnernSie sich noch, wie ich das letzte Mal hier gesessen habe?« fragt er plötzlich. »Als Sie darüber gestritten haben, obich besser mit dem Bus oder der Vorortbahn nach Auschwitz fahren sollte,« lacht er auf.Stille.»Wir konnten nicht wissen, mein Sohn,« sagt der alte Steiner schließlich, »dass dich dein Weg von hier geradewegsin die Hölle des Lagers führt.«»Das Lager war keine Hölle«, sagt der Junge still.»Was denn dann?« fragt Herr Steiner. »Ich kann es mir nur als Hölle vorstellen.«»Ich wieder kann mir die Hölle nicht vorstellen«, sagt der Junge.»Ich verstehe nicht, worüber Sie sich streiten«, bemerkt der alte Fleischmann. »Wo ist da der Unterschied?«»Der Unterschied ist, dass es die Hölle nicht gibt, Lager aber gibt es«, sagt der Junge.»Hat es gegeben«, wirft FrauFleischmann rasch ein. »Das ist zum Glück vorbei. Und du bist wieder zuhause«, sie streichelt dem Jungen über den Kopf. Jetzt solltest du besser an deine Zukunft denken, mein liebes Kind. «»An meine Zukunft?« fragt der Junge verwundert.»Vor allem« sagt der alte Fleischmann, während er seine Hand auf den Arm des Jungen legt, »mußt du dieGreueltaten vergessen.« »Warum?« fragt der Junge betroffen.»Damit du leben kannst«, sagt Steiner. »Frei leben«, nickt der alte Fleischmann.»Mit einer solchen Last kann man kein neues Leben beginnen«, bekräftigt der alte Steiner.»Und mein altes Leben?« fragt der Junge »Was soll ich damit machen? Auch das war mein Leben . . .«»Das ist vorbei«, sagt der alte Fleischmann entschieden. «Damals hatte man uns ein anderes Schicksal bestimmt ...«»Aber ich habe dieses Schicksal akzeptiert«, beharrt der Junge.»Wir haben es alle akzeptiert«, sagt der alte Fleischmann.»Wir hatten keine andere Wahl«, setzt Herr Steiner dazu.»Aber jetzt sind wir frei«, sagt der alte Fleischmann.»Wir waren auch damals frei«, protestiert der Junge. »Und es war immer genug Zeit. Im Zollhaus haben wir einenganzen Tag verbracht. In Auschwitz warteten wir mindestens eine halbe Stunde, ehe wir vor dem Arzt ankamen.Immer hätte das, was geschehen ist, auch anders geschehen können, in Auschwitz genauso wie daheim, zumBeispiel, als wir von meinem Vater Abschied genommen haben . . .«Herr Steiner machte eine nervöse Bewegung: Er ist von der Bemerkung des Jungen peinlich berührt.»Aber was hätten wir denn tun können!« ruft er aus.

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Vorschläge für die Bearbeitung im Unterricht

A »Aber was hätten wir denn tun können?« – Welche Haltung liegt dieser Aussage zugrunde?B Diskutiert, wie ihr euch damals verhalten hättet.C »Wir waren auch damals frei«

Waren sie tatsächlich damals frei? Wenn ja, was hätten sie anders machen können?D Was verbirgt sich hinter der Aussage: «Das Lager ist keine Hölle« (. . . ) »Der Unterschied ist, dass es

die Hölle nicht gibt, Lager aber gibt es.«E Was versteht ihr unter den Begriffen »Fateless« und »schicksallos«?F Was versteht ihr unter Freiheit?

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1.3 Was »FATELESS – Roman eines Schicksallosen« zeigt

Der Nationalsozialismus hat Deutschland, Europa und die Welt grundlegend verändert.Der Nationalsozialismus war eine Zeit, in der Menschenverachtung Alltag war.

Der Film zeigt

- eine Zeit, in der Menschen spurlos verschwanden.

- dass Menschen auf dem Weg zur Arbeit von Polizeikräften ohne Erklärung aufgegriffen und in KZ’s abgeschobenwurden.

- dass Familien nie wieder von ihnen hörten.

- dass Menschen in ganz Europa gebrandmarkt wurden, indem sie ein Erkennungszeichen tragen mussten.Die Juden den gelben Stern.

- dass jüdische Kinder glaubten, erst der »Judenstern« mache sie zu Juden und damit zu Verfolgten.

- dass Menschen in den KZ’s zu Nummern wurden, die man ihnen eintätowierte.

- dass Menschen aus nackter Todesangst mit den Peinigern kooperierten.

- dass Menschen vor Hunger die Ehrfurcht vor dem Tod, den Anstand verloren.

- dass Landsleute sich aus Machtgier und Eigennutz auf die Seite der Täter schlugen.

- dass Menschen ermordet, vergast und verbrannt, ihre Habseligkeiten und Überreste gestohlen und gehortet wurde.

- dass niemand die Wahrheit hören wollte.

Der Film zeigt aber auch

- dass Menschen selbst in auswegloser Lage Solidarität übten.

- dass es Momente des Glücks im KZ geben konnte.

- dass es Menschlichkeit und Nächstenliebe im KZ gab.

- dass Menschen dank ihrer Zuversicht im KZ überlebten.

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2. Geschichte

2.1 Der Autor Imre Kertész und seine Zeit

Imre Kertész, geboren am 9. November 1929 in Budapest, wurde im Juli 1944 nach Auschwitz deportiert und imApril 1945 aus dem KZ Buchenwald befreit. Nach dem Abitur arbeitete er als Journalist, wurde aber entlassen, alsseine Zeitung zum Parteiorgan der Kommunisten wurde. Nach zweijähriger Wehrpflicht hat er als freier Schriftstellerund Übersetzer deutschsprachiger Autoren ( u.a. Nietzsche, Wittgenstein, Hugo von Hoffmannsthal, Schnitzler,Canetti und Roth) gearbeitet.

Kertész lebte in einer Zeit bedeutender weltgeschichtlicher Ereignisse.Er erlebte die Weltwirtschaftskrise mit dem Zusammenbruch der New Yorker Börse am »Schwarzen Freitag«, dem25.10.1929, den Zusammenbruch der Weimarer Republik und die Machtübernahme der Nationalsozialisten inDeutschland am 30.1.1933, Ungarn gehört zunächst zu den mit Deutschland freundschaftlich verbundenen Ländern.Doch der Vernichtungsfeldzug gegen die europäischen Juden seit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges macht auch vor Ungarn nicht Halt. Nach der militärischen Besetzung Ungarns am 19.3.1944 folgt eine beispielloseRadikalisierung der Judenvernichtung. Angeführt von Adolf Eichmann persönlich werden in etwas mehr als einemJahr von 800.000 ungarischen Juden 500.000 ermordet.

Er erlebte nach dem Waffenstillstand 1945, dass Ungarn in den Einflussbereich des sowjetischen Satellitensystemsgerät. 1956 erfolgt der Nationale Volksaufstand, der niedergeschlagen wird, aber den Übergang zu einem gemäßig-teren Kurs ermöglicht. Er verhindert jedoch nicht, dass Ungarn 1968 an einem Einmarsch von Warschauer PaktStaaten in die CSSR beteiligt ist.Er erlebte, dass unter M. Gorbatschow die Umgestaltung der sowjetischen Verhältnisse ab 1985 zu einem bestim-menden Element sowjetischer Politik in Ungarn wurde. Perestroika (Umgestaltung) und Glasnost (Transparenz)waren die neuen Schlagwörter.

Er erlebte die Einführung des Mehrparteiensystems 1989 in Ungarn und den Abbau der Grenzsperren. 1990 ziehendie sowjetischen Truppen aus Ungarn ab. Freie Wahlen werden abgehalten. Ungarn entwickelt sich zu einem demo-kratischen Staat nach westlichem Vorbild. Es wird Nato-Mitglied und Mitglied der Europäischen Gemeinschaft.

Kertész‘ Werk

1975 veröffentlichte er in Ungarn seinen ersten Roman »Sorstalanság« (in Deutschland »Mensch ohne Schicksal«,1990; »Roman eines Schicksallosen«, 1996). Die deutsche Neuübersetzung 1995 wurde als literarisches Ereignisgefeiert und verhalf Imre Kertész zu seinem internationalen Durchbruch.

Im Jahr 2002 erhielt er nach zahlreichen Veröffentlichungen den Literaturnobelpreis für »...ein schriftstellerischesWerk, das die zerbrechliche Erfahrung des Einzelnen gegenüber der barbarischen Willkür der Geschichte behauptet.«(aus der Würdigung des Nobelpreiskomitees)

Neben dem Nobelpreis erhielt Kertész zahlreiche weitere Auszeichnungen, u. a. im Jahr 2000 den Orden Pour leMérite, das große Kreuz des Verdienstordens der ungarischen Republik und 2004 die Goethe-Medaille und dasBundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland.

Ein Film von Lajos Koltai

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2.2 Die weltgeschichtliche Situation im Kriegsjahr 1944

In der ersten Jahreshälfte werden Hunderttausende von Juden aus den von Deutschland kontrollierten Gebieten inVernichtungslager deportiert und vergast. Ab März werden von 800.000 ungarischen Juden in etwas mehr als einemJahr 500.000 ermordet.

MärzAn der Italienfront erfolgt der alliierte Luftangriff auf das historisch wertvolle, 529 gegründete, Kloster am MonteCassino. Militärisch nicht gerechtfertigt, wird es dabei völlig zerstört. Bis zum 18.05. hält sich die von GeneralKesselring organisierte deutsche Verteidigung in den Trümmern.

4.6.Rom wird zerstörungsfrei geräumt. In Norditalien zieht sich die deutsche Armee Zug um Zug bis zum Alpenrand vor den unaufhaltsam vorrückenden Amerikanern zurück.

6.6.Mit dem »D-Day« beginnt die unter dem Oberbefehl von Eisenhower stehende und von langer Hand vorbereitete»Operation Overlord«, also die Landung der Alliierten in der Normandie. Es kommt zu großen Verlusten.Beim weiteren Vorgehen der Alliierten werden bei der Brücke von Arnheim sinnlos hohe Opfer gebracht.

10.6.Als Vergeltung für die Entführung eines SS-Offiziers durch die französische Widerstandsbewegung Résistance wirddas Dorf Oradour-sur-Glane von der SS niedergemacht. Alle Frauen und Kinder werden in die Dorfkirche getriebenund verbrannt. Alle männlichen Bewohner werden erschossen.

20.7.Bombenattentat auf Adolf Hitler. Die Bombe tötet drei Menschen, verfehlt aber Hitler. Der Attentäter Graf Schenkvon Stauffenberg wird sofort erschossen. Andere wie Generalmarschal von Witzleben werden im Volksgerichtshofunter Freisler rüde vorgeführt und später meist in Berlin-Plötzensee an Fleischerhaken mit Drahtseilen erhängt.Mindestens 200 Menschen werden im Zusammenhang mit diesem Attentat vom NS-Regime ermordet.

AugustDie Russen überschreiten die deutsche Grenze in Ostpreußen.

25.8.Befreiung von Paris. General de Gaulle bildet eine provisorische Regierung.

SeptemberAufstellung des »Volkssturmes«, der sich aus allen wehrfähigen Männern zwischen 16 und 60 Jahren zusammen-setzt.

8.9.Beginn des Einsatzes der Vergeltungswaffe V2. Vornehmlich werden diese gegen London geflogen. Es gibt keinAbwehrmittel. Die V1 konnte noch durch geschickte Flieger zum Absturz gebracht werden.

Ein Film von Lajos Koltai

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OktoberObwohl im Sommer die gesamte Ostfront zusammenbricht, gelingt es der militärischen Führung bis zum Herbst,die Front mehr oder weniger kontrolliert und mit heftiger Gegenwehr und hohen Verlusten nach und nach zurückzunehmen.

21.10.Mit Aachen wird die erste deutsche Großstadt erobert.

NovemberDas letzte große deutsche Schlachtschiff, die »Tirpitz« wird in einem norwegischen Fjord durch einen Luftangriff torpediert und kentert.

2.11.Angesichts des Zusammenbruchs der Ostfront befiehlt SS-Chef Heinrich Himmler die Auflösung desVernichtungslagers Auschwitz und die Verlegung der Insassen ins Reichsinnere.

Im Pazifikkrieg erleiden die Japaner eine vernichtende Niederlage trotz verbissener Kamikaze-Kommandoeinsätze imGolf von Leyte, die kriegsentscheidend ist wegen der exorbitanten Verluste bei der japanischen Marine.

27.11.Die Innenstadt von Freiburg im Breisgau wird bei einem Luftangriff derart zerstört, dass niemand an die Möglichkeiteines Wiederaufbaus glaubt.

DezemberChurchill gibt den Forderungen Stalins einer Veschiebung Polens nach Westen nach. Die Oder-Neiße-Linie wird alsWestgrenze gesehen.

16.12.Mit der zunächst scheinbar erfolgreichen Ardennenoffensive wird die letzte deutsche Gegenoffensive gestartet, dieaber mangels Lufthoheit bereits eine Woche später scheitert.

Quellen:www.weltchronik.dewww.deutsche-chronik.dewww.geschichte.2me.net

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2.3 Die Geschichte der Juden und ihre Rolle in der NS-Zeit

Das Phänomen des Antijudaismus ist bereits zweitausend Jahre alt. Der Begriff Antisemitismus entstand erst im 19. Jahrhundert und bezeichnet den Hass oder die Feindschaft einzelner Menschen oder ganzer Völker gegen die Juden.Es begann, als Juden außerhalb Palästinas, das heißt in der Diaspora lebten.Nach Aufständen der Juden im Jahr 70 n. Chr. gegen die römischen Besatzertruppen wurde Jerusalem zerstört, diejüdische Bevölkerung getötet oder vertrieben und der jüdische Staat zerschlagen. Die meisten der geflohenen Judenhielten über die folgenden Jahrhunderte in ihren Zufluchtsländern an der Religion ihrer Vorfahren und ihremVolkstum fest. Dadurch entstanden bis heute in vielen Staaten der Welt jüdische Populationen.Bereits im Mittelalter gab es Judenverfolgung in großem Maße. 1096 wurden in ganz Europa Tausende von Judengetötet und teilweise ganze jüdische Gemeinden ausgerottet. Es gab die christlich-religiöse Überzeugung, Judenseien die Feinde der Christen. Sie wurden für Naturkatastrophen, Hungersnöte und Seuchen verantwortlich gemacht.Als 1348 in Europa eine verheerende Pest ausbrach, sah man dies als eine Strafe Gottes dafür, dass die Christenheitdie Juden noch nicht aus ihrer Mitte entfernt hatten. Seit dieser Zeit mussten Juden in gesonderten Stadtteilen, denGhettos, leben. Man zwang sie auch, sich durch besondere Kleidung als Juden zu erkennen zu geben.Mit den Kreuzzügen im 11. bis 13. Jahrhundert wurden die Juden als »Christusmörder« beschuldigt. Dieser Vorwurfhielt sich durch die katholische Kirche bis in die 1960er Jahre.

Oft hatte die Missgunst gegenüber den Juden wirtschaftliche Gründe. Man unterstellte ihnen, sich an Nichtjuden zubereichern. Da der religiöse Glaube den Christen im Mittelalter untersagte, Zinsen zu nehmen, blieben dieGeldgeschäfte oft bei Juden. Häufig waren dadurch Christen bei Juden verschuldet.Die meisten Berufe wurden den Juden verboten. Man drängte sie aus der Landwirtschaft und da sie alsNichtchristen in keine Zunft eintreten durften, konnten sie auch kein Handwerk erlernen und ausüben. Ihnen bliebsomit nur das Geldgschäft und der Kleinhandel.In den Reformationsjahren hegte Luther die missionarische Hoffnung, die Juden für den christlichen Glauben gewin-nen zu können. Als sich dies als Trugschluss erwies, verfasste er eine Schrift mit dem Titel »Von den Juden und ihrenLügen«, die den Juden ihr Leben in jeder erdenklicher Weise schwer machte.Nachdem es im 18. und 19. Jahrhundert vorübergehend eine Zeit der Toleranz gegenüber Juden gab, kam es inDeutschland nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg zu einer neuen Welle der Judenfeindschaft. Diese war wenigerreligiös als nationalistisch-rassistisch geprägt. Juden wurden als »nationalistisch unzuverlässig«, als »heimatloseGesellen« und »völkisch minderwertig« bezeichnet. Eine »Reinigung« des deutschen Volkes von allem Jüdischenwurde gefordert.Der Höhepunkt antisemitisch bedingter Verfolgungen wurde 1933-1945 erreicht. Hitler und die NSDAP propagiertenden rassistischen Antisemitismus. Ziel der nationalsozialistischen Politik war es, die »Reinheit des deutschen Blutes«zu bewahren bzw. wiederherzustellen. Bei großen Teilen der deutschen Bevölkerung, in der viele Menschen antise-mitisch und nationalistisch dachten und fühlten, fanden die Nazis damit breite Zustimmung.Nach der Machtergreifung 1933 leiteten die Nazis sofort antijüdische Maßnahmen ein. Diese wurden städig verschärft und ausgeweitet.

1933 kam es zum Boykott aller jüdischen Geschäfte in Deutschland. Jüdische Rechtsanwälte und Ärzte waren eben-so betroffen. Juden durften keine Schulen oder Universitäten mehr besuchen. Jüdische Beamte wurden aus denÄmtern entfernt, Künstler und Schriftsteller erhielten praktisch Berufsverbot.1935 wurden die Nürnberger Gesetze beschlossen und traten in Kraft. Diese beinhalteten das Verbot vonEheschließung zwischen Juden und Staatsbürgern deutschen oder artverwandten Blutes und vieles mehr.1937 wurden jüdische Besitzer gezwungen, ihre Geschäfte und Unternehmen, meist unter Wert, an Deutsche zu verkaufen.

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Ab 1938 durften jüdische Ärzte nur noch als »Krankenbehandler« tätig sein. Juden durften keine Kinos, Theater undKonzerte besuchen. Juden mussten ihrem offiziellen Namen die Vornamen »Israel« oder »Sara« hinzufügen.Am 9.11.1938 wurde in der »Reichskristallnacht« zum ersten Mal systematisch rohe Gewalt gegen Juden und derenBesitz angewendet. Organisierte SA-Trupps zerstörten und brandschatzten in ganz Deutschland.1939 kündigte Hitler vor dem Reichstag im Falle eines Weltkrieges die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung inEuropa an. Mit dem Angriff auf die Sowjetunion begann im Juni 1941 eine systematische Ermordung der Juden inden von deutschen Truppen besetzten Gebieten durch SS-Sondereinheiten und Polizei-Bataillone. Der »Judenstern«wurde eingeführt. Juden ab 6 Jahren mussten diesen in der Öffentlichkeit tragen. Juden durften ihre Wohnbezirkenur mit Genehmigung der Polizei verlassen. 1942 wurden den Juden die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmittelnverboten. Ebenso durften sie keine Fernseher nutzen, Zeitungen beziehen. Sie durften sich nicht an Bahnhöfen oderin Gaststätten aufhalten. Radios und andere elektrischen Geräte mussten sie abgeben. Sie erhielten keine Karten fürKleidung, Fleisch, Milch, Zigaretten, Weißbrot, Obst, Konserven und Süßwaren.1943 wurde ein Auswanderungsverbot für Juden erlassen.

2.4 Die Konzentrationslager

Im November 1938 kam es während der »Reichskristallnacht« neben der Zerstörung von Synagogen, jüdischenGeschäften und Wohnhäusern zur Verhaftung sowie Einweisung von 26.000 männlichen Juden in dieKonzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen.Im Januar 1942 legten die Nazis auf der »Wannseekonferenz« die Einzelheiten für die »Endlösung«, die Deportationund Ausrottung des gesamten europäischen Judentums fest. Dies war der Beginn der Massenvernichtung inAuschwitz und anderen großen Vernichtungslagern, wie Majdanek, Sobibor und Treblinka. In diese Lager wurdenMenschen jüdischer Herkunft aus dem ganzen Machtbereich des »Dritten Reiches« nach und nach deportiert, sofernsie nicht schon den Erschießungskommandos der SS-Einsatzgruppen in den eroberten sowjetischen Gebieten zumOpfer gefallen waren.Unter den Konzentrationslagern gab es neben den Vernichtungslagern die Arbeitslager, in denen die Insassen zuharter und häufig auch zum Tode führender Arbeit für die deutsche Kriegsrüstung gezwungen wurden.Die genaue Zahl der jüdischen Opfer läßt sich nicht mehr feststellen. Doch wurden wohl in den Jahren 1941 bis1945 insgesamt ca. sechs Millionen Juden aus ganz Europa getötet, wie in den NS-Prozessen der Nachkriegszeitfestgestellt wurde. Die Opfer wurden vergast und verbrannt, viele starben durch Zwangsarbeit, Hunger undKrankheit.

Quellen:www.shoa.dedtv-Atlas Weltgeschichte

Vorschläge für die Bearbeitung im Unterricht

A Diskutiert das Leben eines Teenagers heute und vor 60 Jahren!B Vergleicht zwischen dem Leben eines jüdischen Jungen und dem eines Hitlerjungen!

(Literaturtipp: Hans Peter Richter: »Damals war es Friedrich« Roman. Deutscher Taschenbuch Verlag)C Welche Hinweise gibt der Film zu Ausgrenzung und Toleranz?D Welche Unterschiede gibt es zwischen dem Leben und dem Verhalten der Menschen im Lager

und außerhalb?E Gibt es heute noch Vorurteile gegenüber Juden oder anderen Gruppen?

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Die Stationen des Jungen im Film

• Die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus nach Ländern

• Die zurückgelegten Strecken (km-Angaben geschätzt)Budapest-Auschwitz 350 kmAuschwitz-Buchenwald 860 kmBuchenwald-Dresden 240 kmBuchenwald-Zeitz 50 km

• Die wichtigsten Konzentrationslager

Quelle: »Die Dimension des Völkermords«, Wolfgang Benz, Hrsg., www.shoa.de

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2.5 Der Exodus von Kunst, Literatur und Film aus Deutschland

Die Liste der bekannten Emigranten ist lang. Einige Beispiele:

Theodor W. Adorno, PhilosophHannah Ahrendt, PhilosophinWalter Benjamin, PhilosophErnst Bloch, PhilosophBertolt Brecht, SchriftstellerComedian Harmonists, GesangsgruppeMarlene Dietrich, SchauspielerinAlfred Döblin, SchriftstellerAlbert Einstein, WissenschaftlerHanns Eisler, KomponistMax Ernst, MalerLion Feuchtwanger, SchriftstellerTherese Giese, SchauspielerinWalter Gropius, ArchitektGeorge Grosz, MalerWieland Herzfelde, MalerFriedrich Hollaender, KomponistOscar Homolka, SchauspielerMax Horkheimer, PhilosophLeopold Jessner, RegisseurHermann Kesten, SchriftstellerKlabund, DichterFritz Lang, Regisseur

Bereits kurz nach ihrer Machtübernahme begannen die Nazis jüdische, kommunistische und »unerwünschte«Künstler aus öffentlichen Ämtern zu entfernen. Die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 signalisierte das Ende derkünstlerischen und kulturellen Vielfalt, die die Weimarer Republik ausgezeichnet hatte. Die eigens zum Zwecke derNeuordnung des künstlerischen Schaffens gegründete »Reichskulturkammer« unter Vorsitz von Joseph Goebbels sorgte dafür, dass nur noch Menschen mit arischer Abstammung kulturell und künstlerisch tätig sein durften.Wer ohne Nachweis war, konnte seinen Beruf nicht mehr ausüben.»Undeutsche« und »artfremde«, dem »arischen Herrenvolk« nicht angemessene Kunst wurde verboten und ver-bannt.In allen Bereichen künstlerischer Ausdrucksform, ob Malerei, Musik, Theater, Literatur usw. verbannten die Nazisalles, was experimentell, abstrakt und von ausländischen Kulturen beeinflusst war. Auch »Kunst der Kunst willen«wurde abgelehnt.

Die Kulturschaffenden der NS-Zeit sollten zunächst traditionelle Werte idealisiert darstellen und damit die Blut- undBodentheorie unterstützen. Stillende Mütter, arbeitende Bauern, kräftige Jünglinge und friedliche Familien waren dieMotive.

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Lotte Lenya, SchauspielerinPeter Lorre, SchauspielerErnst Lubitsch, RegisseurErika Mann, SchriftstellerinHeinrich Mann, SchriftstellerThomas Mann, SchriftstellerWalter Mehring, SchriftstellerMax Oppenheimer, SchriftstellerErwin Piscator, RegisseurMax Reinhardt, TheaterregisseurMies van der Rohe, ArchitektHans Sahl, SchriftstellerArnold Schönberg, KomponistAnna Seghers, SchriftstellerinKurt Tucholsky, SchriftstellerinFritz von Unruh, SchriftstellerHelene Weigel, SchauspielerinKurt Weill, KomponistFranz Werfel, SchriftstellerBilly Wilder, SchriftstellerPeter Zadek, TheaterregiesseurArnold Zweig, SchriftstellerStefan Zweig, Schriftsteller

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Später dienten die darstellenden Künste ganz direkt der Kriegspropaganda Hitlers. Eigene künstlerische Maßstäbeund originäre Werke hat die nationalsozialistische Kunst nicht hervorgebracht. Von den Nazis geduldete Künstler, diesich mit dem Regime arrangierten, zeigten in ihren Werken erstarrten Konformismus.

Die wenigen Künstler, die kritische Töne anschlugen, fanden keinerlei Gelegenheit zur Veröffentlichung ihrer Werke(wie z.B. Käthe Kollwitz, Else Lasker-Schüler, Otto Dix). Ihre Arbeit war nicht geduldet oder sie gerieten in Konfliktmit der Gestapo wie z. B. Carl von Ossietzky, der international bekannte Herausgeber der »Weltbühne«, der verhaftet und 1933 nacheinander in verschiedene Konzentrationslager verschleppt wurde. 1935 wurde ihm inAbwesenheit der Friedensnobelpreis zuerkannt. Auch der Schriftsteller Erich Kästner blieb trotz mehrfacherVerhaftungen im Land, er schrieb teilweise unter Pseudonym. Einige seiner Werke konnte er im Ausland veröffent-lichen.

Ein Höhepunkt der NS-Kulturpolitik war 1937 die Ausstellung »Entartete Kunst« in München. Die dort zur»Abschreckung« gezeigten Arbeiten von verfemten Künstlern waren zuvor konfisziert, aus Museen entfernt worden.Viele dieser Werke sind später zerstört oder verkauft worden. Ihre Schöpfer, Maler und Bildhauer, erhielten totalesArbeits- und Aufführungsverbot. Ähnlich erging es auch Schriftstellern und Komponisten.

Da die meisten fortschrittlichen Künstler, erst recht die »nicht-arischen«, durch fehlende Arbeitsmöglichkeiten auchihre Lebensgrundlage verloren, flohen viele aus Deutschland.Manche versuchten direkt in die USA zu gelangen, was aber wegen der Einwanderungsbestimmungen oft durch dasFehlen von Referenzen oder den nötigen finanziellen Mitteln erschwert wurde.Viele gingen daher zunächst in die umliegenden Länder wie Frankreich, Schweiz, Tschechoslowakei, Holland,England. Im Verlauf des Krieges mussten sie jedoch auch diese Länder verlassen, wenn sie nicht deutschenBesatzungstruppen in die Hände fallen wollten. Vielen blieb der Weg ins rettende Exil und damit in die Freiheit ver-sperrt. Nicht wenige tragische Schicksale endeten mit verzweifeltem Selbstmord (z. B. Walter Benjamin). Anderekehrten nie wieder nach Deutschland zurück.

Vorschlag für die Bearbeitung im Unterricht

A Versetzt euch in die Lage eines Schriftstellers, der emigrieren muss. Erstellt eine Übersicht der Probleme und Schwierigkeiten.

B Recherchiert die materiellen und gesetzlichen Hürden. Gibt es Parallelen zur heutigen Zeit? (z. B. fürMenschen, die nach Deutschland einwandern möchten?)

C Diskutiert das Verständnis von »guter Kunst«!

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2.6 Film und Kino in der NS-Zeit

Der deutschen Filmwirtschaft widmeten die Nazis besondere Aufmerksamkeit. Der Film war ihrer Einschätzung nacheines der modernsten Mittel zur Beeinflussung der Massen. Deswegen war es wichtig für die Nazis, Macht über dieFilmindustrie ausüben zu können, um die Inhalte zu kontrollieren.Man schätzt, dass mehr als zweitausend Regisseure, Drehbuchautoren, Produzenten, Schauspieler, Cutter undKameraleute etc. ins Exil gehen mussten, da sie zur Aufgabe ihrer Berufe gezwungen wurden und von heute aufmorgen den Arbeitsplatz verloren.Die »Reichsfilmkammer« sorgte dafür, dass jeder Berufsverbot erhielt, der jüdischer oder halbjüdischer Abstammungwar. Jedoch waren deutsche Exilanten im Ausland nicht besonders geschätzt. Dies hatte seine Ursache in der großenAngst vor Nazi-Spionen und beruflicher Konkurrenz. Auch sprachliche Einschränkungen verhinderten oft den Erfolgdeutscher Emigranten.

In USA befanden sich damals die größten Studios jener Zeit (z. B. Paramount, MGM, 20th Century Fox). FürEmigranten aus Deutschland war dies jedoch keine Arbeitsplatzgarantie. Denn die meisten Filmstudios hatten inten-sive geschäftliche Beziehungen mit Nazi-Deutschland, das nach dem Exodus führender Filmschaffender ausDeutschland sein geistiges und kreatives Potential verloren hatte und deswegen zu einem der wichtigsten Kundenamerikanischer Filme wurde. Von den großen Studios haben nur die »Warner Bros.« Filmstudios nicht mit den Naziskooperiert.

Erst mit dem Kriegseintritt Amerikas entstanden in Hollywood dank deutscher Emigranten berühmte antifaschisti-sche Filme wie z. B. »To be or not to be« von Ernst Lubitsch und von Fritz Lang »Hangman also die«.

Dem deutschen Film gelang es nach Kriegsende nie wieder, an seine früher herausragende Bedeutung in der Weltdes Kinos anzuschließen.

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3. Methodisches zu Film und Literatur

3.1. Anmerkungen zur Literaturverfilmung

Der Film »FATELESS – Roman eines Schicksallosen« basiert auf dem »Roman eines Schicksallosen«. Das Drehbuchzum Film hat ebenfalls Imre Kertész, der Autor des Romans, geschrieben. Es wurde unter dem Titel »Schritt fürSchritt« als Buch veröffentlicht.

Als die Idee zum Film bereits entstanden war, gab es mehrere Versuche, ein Drehbuch schreiben zu lassen, das demliterarischen Stoff gerecht wurde. Doch die Produzenten Hellthaler und Kemeny sowie der ungarische RegisseurLajos Koltai waren mit den Entwürfen nicht einverstanden. Schließlich ließ sich Imre Kertész überzeugen, dasDrehbuch selbst zu schreiben. Über die Schwierigkeit dieser Arbeit und die Unterschiede zum Schreiben einesRomans sagt er im Vorwort zu »Schritt für Schritt«: »Ich durfte dabei nicht das Gesetz der Gattung vergessen, dassnämlich ein Drehbuch – im Gegensatz zum Roman – nicht für die sogenannte Ewigkeit, sondern für den Regisseurdes Films geschrieben wird. ... Film und Roman sind durchaus gegensätzliche Gattungen.«

Die Kriterien für die Literaturinterpretation sind bekannt. Die Interpretation eines Films erschließt andereWahrnehmungsformen. Sie bezieht sich auf Beurteilungskriterien, die sich von denen der Literatur unterscheiden.

Um Filme beurteilen und verstehen (interpretieren) zu können, sollte man wissen,

- wie das Grundmuster für ein Drehbuch aussieht und - welches die wichtigsten Gestaltungselemente eines Films sind.

3.2. Drehbuch und Literaturverfilmung

Das Drehbuch ist eine in »Bild und Ton« erzählte Geschichte. Es ist eine schriftliche Vorlage, in der Handlung undFiguren für einen Film zusammengefügt werden. Es enthält Informationen über a) das Setting, also z. B. wo eineSzene spielt, zu welcher Zeit, b) die Charaktere, also z. B. wie sie aussehen, was sie tun und c) die Dialoge, wer sagtwas in welcher Weise.Im Falle der Literaturverfilmung liegt dem Drehbuch eine »Adaption« des literarischen Stoffes zugrunde (d. h. Ver-änderung, Umwandlung). Die Adaption kann man sich so vorstellen: Die im Buch erzählte Geschichte wird nichtabgefilmt, sondern verfilmt.Literatur und Film sind grundverschiedene Medien mit unterschiedlichen formalen Bedingungen. Kertész sagt imGespräch mit einem Journalisten: »Ich habe das Drehbuch fast dreißig Jahre nach dem Roman geschrieben, einneuer Text mit neuen Motiven, mehr anekdotisch und persönlich, mit Erinnerungen versehen – etwas, was ich im»Roman eines Schicksallosen« vermieden habe.«Damit wird der Roman als Quelle und Materialsammlung begriffen und genutzt. Aus einem Roman ein Drehbuch zumachen heißt, eine veränderte Sichtweise gelten zu lassen. » ... das Drehbuch ist viel lockerer, ein offenes Werk, einAngebot, das sich an die Filmemacher richtet.« (Kertész)

Ein Drehbuch ist ein eigenständiges fiktives Werk. Auch als Adaption einer literarischen Vorlage wird das Drehbuchin einem ähnlichen Prozess wie ein Originaldrehbuch angefertigt, insofern ist auch die Verfilmung eines Romans einselbständiges Kunst-Werk (Literaturverfilmung).

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3.3. Strategie des Drehbuchschreibens

Wie ein guter Aufsatz verfügt auch ein gutes Drehbuch über Einleitung, Hauptteil und Schluss. Die Handlung unter-teilt sich in drei Akte, die jeweils unterschiedliche dramatische Aufgaben erfüllen. (siehe unten). Dieses dramaturgi-sche Modell wird als Spieler-Gegenspieler-Modell bezeichnet. Damit ähnelt das klassische Hollywood-Drehbuch auchheute noch im Aufbau dem (antiken) Theaterstück, dessen Struktur der griechische Philosoph Aristoteles (384 bis324 v.Chr.) beschrieben hat. In seiner »Poetik« stellte er die erste Theorie des Dramas auf.

Moderne Autoren wie Christopher Vogler, der zahlreiche Hollywood-Drehbücher verfasst hat, halten an dieserDreiteilung fest. In Voglers Lehrbuch »Odyssee des Drehbuchschreibens« werden die drei Akte ebenso betont wie indem traditionsreichen Klassiker von Syd Field. Vogler lässt sich bezüglich seiner Theorie des Drehbuchschreibensinspirieren durch Studien bei dem Ethnologen Campbell und elementarer noch bei dem Psychologen C. G. Jung unddessen bahnbrechendem Werk über die Bedeutung der Mythen und Märchen für die menschliche Entwicklung.Vogler bevölkert sein dramaturgisches Grundgerüst mit archetypischen Charakteren, deren wichtigste seinerMeinung nach in jedem »erfolgreichen« Film immer wiederkehren: neben dem HELDEN treten auf der MENTOR, dasHÖHERE SELBST, der GESTALTWANDLER, der SCHWELLENHÜTER, der SCHATTEN, der HEROLD usw.

Erfolgreiches Kino beruht seiner Meinung nach auf derselben archetypischen Struktur, die auch Mythen undMärchen zu Publikumsrennern gemacht hat und immer noch macht.

Bei Vogler sind die drei Akte des Dramas eine »Reise des Helden« durchs Leben. Sie wird aufgeteilt in 12 Stationen.Alles kann in der Geschichte flexibel eingesetzt werden, sowohl die Charaktere als auch die Stationen: »JedesElement aus der Reise des Helden kann an jedem beliebigen Punkt der Geschichte auftauchen.« (Vogler). So muss z. B. der Mentor nicht im 1. Akt auftreten, doch die vom Helden zu meisternden »Schwellen«, die erzählerischenPlot Points, wie Syd Field sie nennt, sind in ihrer zeitlichen Lage fixiert.Man rechnet erfahrungsgemäß pro Minute Film mit einer Seite geschriebenem Text (Din A4).Das Drehbuch für einen Kinofilm von 120 Minuten Dauer ist somit ca. 120 Seiten lang, ganz gleich ob Dialoge oderHandlungsabläufe niedergeschrieben sind.

1. Akt Seite 1 bis 30 Exposition (Eröffnung)1. Plot Point Seite 25 bis 27 (Syd Field)= Erste Schwelle am Ende 1. Akt (Chr. Vogler)

2. Akt Seite 30 bis 90 Konfrontation2. Plot Point Seite 85 bis 90= Zweite Schwelle: Rückweg am Ende 2. Akt

3. Akt Seite 90 bis 120 Konklusion (Auflösung)

Im Drehbuch werden die Handlungsabläufe und Dialoge in SEQUENZEN untergliedert, d. h. mehrere Szenen miteinem verbindenden Element (z. B. in gleicher Umgebung) gehören einer Sequenz an. Die Szene ist das wichtigsteEinzelelement des Films, denn in jeder SZENE geschieht etwas Spezielles. Regieanweisungen und Kamera-einstellungen enthält das Drehbuch normalerweise nicht. Sie stehen im sogenannten Shooting-Script.

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3.4. Der Handlungsverlauf

Verlauf der Handlung in 12 Stationen (Vogler)

Nach Vogler erschallt in einer »GEWOHNTEN WELT« der »Ruf des Abenteuers«. Der Held »WEIGERT« sich zunächst.Nach der Begegnung mit dem »MENTOR« (»Mentorin«) überschreitet er eine »ERSTE SCHWELLE« (Wendepunkt 1.)Der Held muss nun »BEWÄHRUNGSPROBEN« bestehen, gewinnt »VERBÜNDETE« und schafft sich »FEINDE«. Als erschließlich zur »TIEFSTEN HÖHLE« vordringt, bewältigt er die »ENTSCHEIDENDE PRÜFUNG«. Hierauf erhält er eine»BELOHNUNG«. Auf dem Rückweg in die »GEWOHNTE WELT« hat er wieder mit dunklen Mächten zu tun. Nachdemer sie endgültig besiegt hat, steht der »AUFERSTEHUNG« des Helden nichts mehr im Weg. Mit dem »ELIXIER« imBesitz, dem symbolischen Heilmittel, kann der Held nun die »GEWOHNTE WELT« von Missständen befreien.

Verlauf der Handlung nach dem klassischen Hollywood-Gerüst (Field)

In der nüchternen Sprache des Klassikers Syd Field ist die Struktur starrer, aber vom Effekt her ähnlich derVorgehensweise Voglers.

Eröffnung:Auf den ersten dreißig Seiten wird die Grundlage der Geschichte gelegt. Nach ca. 10 Seiten sollte der Zuschauerwissen, wer die Hauptperson ist (Protagonist), wovon der Film handelt, wie der Konflikt beschaffen ist.Der 1. Plot Point vor dem Ende der Exposition (Wendepunkt) ist ein Ereignis, das Spannung erzeugt, in die Handlungeingreift und die Geschichte in eine möglicherweise unvermutete Richtung lenkt

Konfrontation:Die Handlung nimmt in diesem Teil ihren Lauf. Die dramatische Konstellation des Geschehens um die Hauptfigurherum wird hier gezeigt. Ihre Konflikte werden dargelegt. Hier kommt auch der Gegenspieler (Antagonist) ins Spiel,der die Hauptfigur zum Handeln zwingt und mit gegensätzlichen Aktivitäten den Konflikt verschärft.Der 2. Plot Point am Ende dieses Teils ist entweder bereits die Auflösung der dramatischen Vorgänge oder er mar-kiert als Wendepunkt 2 eine tiefgreifende Umkehr im Verlauf der Ereignisse.

Auflösung:Hier entfaltet sich die Auflösung der dramatischen Ereignisse. Es kommt zur entscheidenden Auseinandersetzungzwischen Protagonist und Antagonist. Der Zuschauer erhält üblicherweise in diesen letzten ca. 30 Minuten (entspre-chend der Seite 90 bis 120 des Drehbuchs) die Antwort auf seine Fragen: Was geschieht mit der Hauptfigur? Wie endet die Geschichte? (Finale)

Quellen:Roman eines Schicksallosen, Imre Kertész, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2004Schritt für Schritt, Imre Kertész, Suhrkamp, Frankfurt (Main) 2002Drehbuchschreiben für Fernsehen und Film, Syd Field, u. a., 6. Aufl. München 1996Poetik, Aristoteles, Ph. Reclam Junior, Stuttgart 1994Die Odyssee des Drehbuchschreibens, Christopher Vogler, 2. Aufl., Zweitausendeins, Frankfurt/M. 1998

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Vorschläge für die Bearbeitung im Unterricht:

A Überprüft, ob das Grundmuster auf das Drehbuch von FATELESS – Roman eine Schicksallosenanwendbar ist. (»Schritt für Schritt«) und vergleicht die Umsetzung, wenn möglich, im Film.

B Wie geht die filmische Adaption mit dem Roman um, ist sie eng und dokumentarisch oder eher frei und neu interpretiert? Was geschieht mit dem Stoff?

C Kertész: »Der Holocaust lässt sich nicht verfilmen.« Welche Beweggründe könnte es für Kertész gegeben haben, aus seinem Roman dennoch einen Film zu machen?

D Diskutiert, ob sich der Holocaust ästhetisch darstellen läßt. Berücksichtigt dabei Elemente wie Farbgebung, Musik etc.

E Kennt ihr weitere Literaturverfilmungen?Was könnten allgemein Gründe dafür sein, dass Romane verfilmt werden?

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3.5. Interpretation von Filmen

Wir konzentrieren uns im Folgenden auf die Filminterpretation. Auch hier liefern wir keine umfassende Darstellung,sondern konzentrieren uns auf einige Möglichkeiten von Kamera, Beleuchtung, Schnitt und Ton. Dieser Abschnittbezieht sich wesentlich auf zwei Bücher:

James Monaco: Film verstehen, rororo Sachbuch, 2001 undPeter Beicken: Wie interpretiert man einen Film, Reclam Literaturwissen, 2004

In einem weiteren Abschnitt liefern wir einige Anregungen zum Text-Film-Vergleich.

»Das Großartige an der Literatur ist, dass man sich Vorstellungsbilder machen kann; das Großartige am Film ist,dass man es nicht kann.« James Monaco (Film verstehen, S. 163)

Dazu ein Beispiel: Wird das Wort »Rose« geschrieben, so bedeutet das für die Interpretation,das Wort einzuordnen, zu verallgemeinern, zu abstrahieren und ihm Bedeutungsinhalte zu geben. Beispiel: dasÜberreichen einer Rose zwischen zwei Personen.Im Film ist dieser Vorgang sichtbar, die Rose, die Personen, die Gesichter. Hierbei hat der Filmemacher bestimmteEntscheidungen getroffen, die unser Sehen Beeinflussen: »... die Rose ist aus einem bestimmten Winkel gefilmt, dieKamera bewegt sich oder bewegt sich nicht ...«, das Licht ist hell oder dunkel,« ... die Rose frisch oder welk, dieDornen sichtbar oder versteckt, die Aufnahmedauer kurz oder lang ...« usw. James Monaco (Film verstehen, S. 163)

Die Wirkung des Films auf den Betrachter hängt von besonderen Filmelementen ab: »... Lichtverhältnisse bzw.Beleuchtung, Brennweite des Kameraobjektivs, Kameraeinstellung und Kameraperspektive. Jede Einstellung gibteinen Wirklichkeitsausschnitt wieder, dessen Wirkung von den Elementen, aber auch den Intentionen desFilmemachers ... abhängt.« Peter Beicken (Wie interpretiert man einen Film, S. 34 )

Gerade die Lichtverhältnisse oder die Beleuchtung haben auf die Dramatik des Filmbildes einen großen Einfluss. DieEntfernung der Kamera, Kamerabewegungen, die Wahl der Objektive beeinflussen entscheidend die Wahrnehmungdes Dargestellten. Dazu kommen Sprache, Musik und Geräusche mit ihren kreativen Gestaltungsmöglichkeiten.

Einige wichtige Begriffe sollen erläutert werden:

EINSTELLUNGSPERSPEKTIVEN:1) Normalsicht , »... die Normalsicht gibt dem Zuschauer die Augenhöhe, den möglichen Blickkontakt und einen

vertrauten Zugang zum Gegenüber im Film ...« Peter Beicken (Wie interpretiert man einen Film, S. 38 )2) Froschperspektive, das Bild auf der Leinwand wird übergroß in den Kinoraum hineingezogen;3) Vogelperspektive, ermöglicht eine übersichtliche Sicht auf das Filmgeschehen »...der Zuschauer wird in

die Lage eines Beobachters versetzt, ...« Peter Beicken (Wie interpretiert man einen Film, S. 39)

BELEUCHTUNGSMERKMALE: »Es ist klar, dass alle Beleuchtungscodes, die für die Fotografie gelten, ebenso für denFilm gültig sind. Volle Frontalbeleuchtung lässt das Objekt verschwinden; Oberlicht drückt es hinab. Unterlicht macht es unheimlich, Glanzlichter (Spots) können die Aufmerksamkeit auf Details richten (meistens auf Haar undAugen); Gegenlicht kann das Objekt entweder unterdrücken oder es hervorheben; ...« Peter Beicken (Wie interpretiert man einen Film, S. 199)KAMERABEWEGUNG:

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Sie ist das Grundmittel der dynamischen Filmgestaltung, weil die Kamera selbst in Bewegung gebracht wird undnicht nur bewegte Personen und Gegenstände fixiert. Dadurch wird der Zuschauer in den Film hineingezogen, ernimmt am Handlungsgeschehen teil.

Stand: eine Person, ein Gegenstand, wird aus ein und derselben Perspektive aufgenommen. Eine andere Sicht auf das Geschehen wird durch einen Standortwechsel vorgenommen.

Schwenk: »Die Kamerabewegung erfolgt, analog zur Kopfbewegung, auf einer horizontalen Achse, so dass sich der Bildausschnitt ändert.« (Wie Interpretiert ..., S. 40)

Fahrt: Die Kamera bewegt sich von einem Ort zum anderen (besonders bei Aufnahmen mit dem Kamerakran).Dabei entsteht bei den Zuschauern das Gefühl, er bewege sich physisch in die Szene hinein, die Perspektive verlagert sich. Das ist beim Zoomen nicht der Fall. Das Bildobjekt vergrößert oder verkleinert sich, die Perspektive bleibt gleich, die Tiefenschärfe verändert sich im Gegensatz zur Kamerafahrt, dieeine Bewegung mitmacht.

SCHNITT:

Jede Einstellung wird durch den Schnitt auf eine bestimmte Länge gebracht und dann zusammenmontiert. Wirunterscheiden im wesentlichen schnelle/harte Schnitte (amerikanische Aktionfilme), die einen sehr dynamischenAblauf schaffen und unauffällige Übergänge, die eine fließende Erzählung ermöglichen.

TON:

Für unsere Zwecke unterscheiden wir

- den Dialog,- die Musik und - die Geräusche.

Der TON schafft die Raumatmosphäre, insbesondere die Geräusche. Er kann die Bilder unterstützen und damit dieAufmerksamkeit lenken, aber auch für zusätzliche Spannung und Entspannung sorgen. Der Dialog wird natürlichbeachtet. Man hört hin und achtet auf die Worte. Aber auch der Dialog wird durch Geräusche unterstützt und kanndamit zur Typisierung der Personen beitragen.

Die MUSIK kann die Filmszenen unterstreichen, betonen und besonders charakterisieren, so dass die Szenen vonden Gefühlen, die erzielt werden sollen, durchdrungen werden. Die Musik kann aber auch als Kontrapunkt zum Filmeingesetzt werden und damit Distanz schaffen.

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Vorschläge für die Bearbeitung im Unterricht

A Erstellt eine »Filmkritik«. Teilt Euch bereits vor dem Kinobesuch in Gruppen auf. Jede Gruppe achtet auf unterschiedliche Gestaltungselemente:a) Kamerabewegung, Perspektiven, Schnittb) Ton und Filmmusikc) Lichtgestaltung, Beleuchtung

B Setzt die Besonderheiten des Films, die ihr zu A heraus gearbeitet habt, in Beziehung zur Handlung.Wird beim Zuschauer eine bestimmte Wirkung angestrebt? Wenn ja, welche?

C Beurteilt die Wirkung der filmischen Gestaltungselemente auf den Betrachter. Sind Licht und Ton eurer Meinung nach angemessen eingesetzt? Welches Ziel könnte der Regisseur gehabt haben?

D Imre Kertész äußert sich in seinem Essay »Wem gehört Auschwitz« zu zwei Filmen:Erstens »Schindlers Liste« von Steven Spielberg und zweitens »Das Leben ist schön« von Roberto Benigni. Vergleicht auch Kapitel 4 und die Fragen dazu.a) In welchen Punkten unterscheidet sich sein Film »FATELESS – Roman eines Schicksallosen« von den beiden genannten Filmen?b) Werden in »FATELESS – Roman eines Schicksallosen« seine kritischen Anmerkungen beachtet?

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3.6. Drehbuch und Roman – ein Vergleich von Textauszügen

Die folgenden Texte sind Auszüge aus dem »Roman eines Schicksallosen« und dem Drehbuch »Schritt für Schritt«,das stellvertretend für die filmische Adaption steht.Ausgewählt wurden zwei Szenen in Auszügen, an denen sich die Unterschiede zwischen den Textgattungen gutheraus arbeiten lassen.

Wenn möglich sollte neben den Textstellen der Film selbst herangezogen werden zur vergleichenden Analyse. DieArbeit mit den Textauszügen setzt voraus, dass die Schüler über Handlung und Personen der Geschichte informiertsind.Ein kurzer Vorspann dient jeweils dazu, die Texte inhaltlich einordnen zu können.

3.6.1. Erste Szene : Die Dusche

Vergleicht Auszug a) und b)

Die erste Szene behandelt eine kurze, aber hochbrisante Passage, die in Roman und Film ohne Dialog gestaltet ist:Die Dusche.

Was vorher geschah:Unterernährung und Schwerstarbeit in verschiedenen Konzentrationslagern haben aus dem Jungen über die Monateein körperliches Wrack gemacht. Er wird nach Buchenwald in die Krankenstation verfrachtet, doch ist eine Besserungseiner schweren Krankheit nicht zu erwarten. Als er mit anderen menschlichen Körpern auf einen Karren geworfenwird, hat der Junge nicht den geringsten Zweifel, wohin der Weg geht ...

a) Auszug aus: »Roman eines Schicksallosen«, S. 209 f, (Rechtschreibung und Zeichensetzung aus dem Originalübernommen)

»Ich muss einsehen, daß ich gewisse Dinge nie zu erklären vermag, auf keine Weise, nicht wenn ich sievon meiner Erwartung, von den Regeln, der Vernunft – im ganzen also vom Leben und der allgemeinenOrdnung her betrachte, soweit ich sie kenne, zumindest. So habe ich zum Beispiel, nachdem man michwieder vom Karren abgeladen hatte, irgendwohin auf den Boden, überhaupt nicht begriffen, was ich nochmit Rasiermesser und Haarschneidemaschine zu tun hatte. Jener bis zum Ersticken vollgepfropfte und aufden ersten Blick einem Duschbad täuschend ähnliche Raum, auf dessen glitschigen Holzrost man michablegt, zwischen unzählige Füße, geschwürige Waden und Schienbeine, die da herumwühlten und sichgegen mich preßten, entsprach im großen und ganzen schon eher meiner Erwartung. Zuletzt ging mirsogar noch flüchtig durch den Kopf: na also, demnach ist, wie es scheint, auch hier Auschwitzer Gebrauchüblich. Um so größer war meine Überraschung, als nach einer kurzen Wartezeit, nach schnaufenden, gur-gelnden Tönen unerwartet Wasser, großzügig bemessenes, warmes Wasser aus den Hähnen dort oben zuströmen begann. Hingegen war ich nicht sehr erfreut, denn ich hätte mich gern noch ein wenig gewärmt,doch was konnte ich dagegen tun, daß mich auf einmal eine unwiderstehliche Kraft aus dem Wald vonwimmelnden Beinen in die Höhe riß, während ein großes Laken und darauf eine Decke sich um michwickelten. Dann erinnere ich mich an eine Schulter, über die ich mit dem Kopf nach hinten, mit den

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Beinen nach vorn herunterhing; an eine Tür, an die steilen Stufen eines engen Treppenhauses, nochmalseine Tür, dann ein großer Raum, um nicht zu sagen ein Zimmer, wo neben Helle und Geräumigkeit einnahezu schon kasernenmäßiger Luxus der Einrichtungsgegenstände mein ungläubiges Auge traf, undschließlich das Bett – ein richtiges, echtes, ganz offensichtlich für eine Person gedachtes Bett mit einemgut gestopften Strohsack und zwei grauen Decken –, auf das ich von dieser Schulter hinüberrollte. ...«

b) »Schritt für Schritt«, Drehbuch, S. 148

»Licht. Wir befinden uns im Duschbad.Die Einzelheiten sehen wir innerhalb der von dem halbwachen Bewußtsein des Jungen gezogenenGrenzen. Gestreifte Arme heben ihn aus der Karre; Arme in weißem Trikot oder in gestreiftem Drillichbefreien ihn von den kümmerlichen Resten von Bekleidung; dann legen ihn weiße Arme auf den glitschi-gen Holzrost des Duschraums, mitten in einen Wald von Beinen.Diese Beine tappen und trippeln und trampeln; diese schrecklichen Fersen und Waden, diese ausgedörr-ten Gliedmaßen erinnern tatsächlich an verdorrte Äste, an verkümmerte, durch eine Krankheit entschälteZweige. Der Junge fürchtet um seine Wunden, schützt seine Wunden vor diesen blind herumstapfendenFüßen – doch das ahnen wir nur, denn wir sehen seinen Körper nicht, folgen nur der Richtung seinesBlicks, gewahren also allein die Dinge und Geschehnisse innerhalb dieser Blickrichtung.Jetzt taucht über dem Dickicht von Beinen ein Duschkopf auf. Auf einmal werden wir neugierig auf die-sen Duschkopf. Als würde uns etwas wieder in den Sinn kommen, erhält dieser Duschkopf in unserenAugen plötzlich eine über Leben und Tod entscheidende Bedeutung. Er wird immer größer, wächst, oderwas zum Teufel geschieht mit ihm. Ein schreckenerregendes Etwas. Jetzt beginnt er zu zischen. Entsetztmöchten wir uns in eine Ecke drücken, doch der Wald von Beinen hält uns gefangen. Der Duschkopfbeginnt zu dampfen. Und dann beginnt daraus rasend, unbändig und erleichternd Wasser herniederzu-prasseln.«

3.6.2. Zweite Szene: Schicksallosigkeit – Schicksal oder Freiheit

Vergleicht Auszug a) und b)

Die zweite Szene behandelt einen Dialog zwischen dem Jungen und den früheren Nachbarn in Budapest. Hierbeigeht es um die Kernfrage der Geschichte, in der »Schicksal« und »Freiheit« aufeinandertreffen: Schicksallosigkeit.

Was vorher geschah:Das Lager Buchenwald ist von amerikanischen Soldaten befreit worden. Der Junge gelangt zurück in seineHeimatstadt Budapest, wo er als erstes nach seiner Familie sucht, jedoch nur die alten Nachbarn findet, die ihn aus-zufragen beginnen nach dem Schrecklichen, was er ihrer Meinung nach erlebt hat. Dabei haben die Alten eine eige-ne Sicht der Dinge, die der Junge nicht nachvollziehen will. »Greuel« erlebt zu haben, kann er ihnen nicht bestäti-gen, und er will auch nichts »vergessen«, was unmittelbar sein eigenes Erleben war. Der Junge erläutert, dass sichalles nach und nach ereignet habe. »Gleich das Gas oder noch einmal davongekommen.« Das war eine Frage vonMinuten. Die Dinge »kamen« nicht einfach, sondern man ging ihnen Schritt für Schritt entgegen.

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a) Auszug aus: »Roman eines Schicksallosen, S. 282 ff,

»Jede Minute hat begonnen, hat gedauert und ist zu Ende gegangen, bevor die nächste begann. ... Jede dieser Minuten hätte eigentlich auch etwas Neues bringen können. ... , schließlich hätte während einerjeden etwas anderes geschehen können als das, was zufällig geschah, in Auschwitz ebenso wie etwa,nehmen wir einmal an, hier zu Hause, als wir meinen Vater verabschiedet haben.

Auf diesen letzten Satz hin ist der alte Steiner irgendwie in Bewegung geraten. »Aber was hättenwir denn tun können?!« fragte er mit einer halb zornigen, halb klagenden Miene. Ich sagte: nichts, natür-lich; oder - so fügte ich hinzu – irgend etwas, was genauso unvernünftig gewesen wäre, wie daß wir nichtsgetan haben, natürlich, wie immer natürlich. »Aber es geht ja gar nicht darum«, versuchte ich weiter, esihnen zu erklären. »Also worum denn eigentlich?« fragten sie, nun schon etwas die Geduld verlierend,und ich erwiderte, wobei ich fühlte, wie ich selbst immer wütender wurde: »Um die Schritte.« Jeder hatseine Schritte gemacht, solange er konnte: auch ich, und das nicht nur in der Kolonne in Birkenau,sondern schon hier zu Hause. Ich habe sie mit meinem Vater gemacht, mit meiner Mutter, mit Annamariaund auch – vielleicht die schwersten – mit der älteren Schwester. Jetzt könnte ich ihr sagen, was es bedeu-tet, »Jude« zu sein: nichts, für mich nichts und ursprünglich nichts, solange die Schritte nicht einsetzen.Nichts von alldem ist wahr, es gibt kein anderes Blut, ... da ist mir plötzlich der Ausdruck des Journalisteneingefallen: es gibt bloß die gegebenen Umstände und in ihnen neue Gegebenheiten. Auch ich habe eingegebenes Schicksal durchlebt. ... Ich und kein anderer hat meine Schritte gemacht, und ich behaupte, mitAnstand. ... Ob sie denn wollten, daß ... alle meine vorangegangenen Schritte ihren ganzen Sinn verlören?Warum dieser plötzliche Gesinnungswandel, ..., dieser Unwille einzusehen: wenn es ein Schicksal gibt,dann ist die Freiheit nicht möglich: wenn es aber – so fuhr ich fort, selbst immer überraschter, immererhitzter – die Freiheit gibt, dann gibt es kein Schicksal, das heißt also, ..., wir selbst sind das Schicksal –dahinter war ich plötzlich gekommen, und zwar in diesem Augenblick mit einer solchen Klarheit wie bisher noch nie.«»Auch sie (die alten Männer) hatten ihre Schritte gemacht. Auch sie hatten im voraus alles gewußt, ...,auch sie hatten sich von Vater verabschiedet, als sei es schon sein Begräbnis, und später waren sie sichbloß darüber in die Haare geraten, ob ich mit der Vorortbahn oder besser mit der Straßenbahn nachAuschwitz fahren sollte ... da aber ist nicht nur Herr Steiner, sondern auch der alte Fleischmann aufge-sprungen. ... «Was?« fuhr dieser mich an, mit hochrotem Gesicht, sich mit der Faust auf die Brust schlagend: »Am Ende sind wir noch die Schuldigen, wir, die Opfer?«, und ich versuchte ihm zu erklären:es gehe nicht um Schuld, sondern nur darum, daß man etwas einsehen müsse, schlicht und einfach, alleindem Verstand zuliebe, des Anstands wegen, sozusagen. Man könne mir ... doch nicht alles nehmen; esgehe nicht, daß mir weder vergönnt sein sollte, Sieger, noch, Verlierer zu sein, weder Ursache nochWirkung, weder zu irren noch recht zu behalten; ich könne, so flehte ich beinahe schon: ich könne diedumme Bitternis nicht herunterschlucken, einfach nur unschuldig sein zu sollen. Doch freilich, ich merk-te, sie wollten gar nichts einsehen, und so bin ich dann, Sack und Mütze nehmend, gegangen, begleitetvon ein paar wirren Worten, Bewegungen, und einigen unvollendeten Gebärden und in der Schwebe bleibenden Sätzen.«

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b) »Schritt für Schritt«, Drehbuch, S. 180 ff

»Der Junge beginnt zu essen. Er macht es sich in dem Sessel bequem. Streicht über das weinrote Polster:»Erinnern Sie sich noch, wie ich das letzte Mal hier gesessen habe?« fragt er plötzlich. »Als Sie darübergestritten haben, ob ich besser mit dem Bus oder der Vorortbahn nach Auschwitz fahren sollte«, lacht erauf.Stille.»Wir konnten nicht wissen, mein Sohn«, sagt der alte Steiner schließlich, »daß dich dein Weg von hiergeradewegs in die Hölle des Lagers führt.«»Das Lager ist keine Hölle«, sagt der Junge still.»Was denn dann?« fragt Herr Steiner. »Ich kann es mir nur als Hölle vorstellen.«»Ich wieder kann mir die Hölle nicht vorstellen«, sagt der Junge.»Ich verstehe nicht worüber Sie sich streiten«, bemerkt der alte Fleischmann. »Wo ist da der Unterschied?«»Der Unterschied ist, daß es die Hölle nicht gibt, Lager aber gibt es«, sagt der Junge.»Hat es gegeben«, wirft Frau Fleischmann rasch ein. »Das ist zum Glück vorbei. Und auch du bist wiederzu Hause«, sie streichelt dem Jungen über den Kopf. »Jetzt solltest du besser an deine Zukunft denken,mein liebes Kind.«»An meine Zukunft?« fragt der Junge verwundert.»Vor allem«, sagt der alte Fleischmann, während er seine Hand auf den Arm des Jungen legt, »mußt dudie Greuel vergessen.«»Warum?« fragt der Junge betroffen.»Damit du leben kannst«, sagt Steiner.»Frei leben«, nickt der alte Fleischmann.»Mit einer solchen Last kann man kein neues Leben beginnen«, bekräftigt der alte Steiner.»Und mein altes Leben? fragt der Junge. »Was soll ich damit machen? Auch das war mein Leben ...«»Das ist vorbei«, sagt der alte Fleischmann entschieden.»Damals hatte man uns ein anderes Schicksal bestimmt ...«»Aber ich habe dieses Schicksal akzeptiert«, beharrt der Junge.»Wir haben es alle akzeptiert«, sagt der alte Fleischmann.»Wir hatten keine andere Wahl«, setzt Herr Steiner hinzu.»Aber jetzt sind wir frei«, sagt der alte Fleischmann.»Wir waren auch damals frei«, protestierte der Junge.»Und es war immer genug Zeit. Im Zollhaus haben wir einen ganzen Tag zugebracht. In Auschwitz warte-ten wir mindestens eine halbe Stunde, ehe wir vor dem Arzt ankamen. Immer hätte das, was geschehenist, auch anders geschehen können, in Auschwitz ebenso wie daheim, zum Beispiel, als wir von meinemVater Abschied genommen haben ...«Herr Steiner macht eine nervöse Bewegung: Er ist von der Bemerkung des Jungen peinlich berührt.»Aber was hätten wir denn tun können!« ruft er aus.»Genug«, sagt Frau Fleischmann da sanft, aber entschieden. »Darüber zerbrecht auch jetzt nicht mehr dieKöpfe. Du bist doch auch müde, Gyurka. Du hast einen langen Weg hinter dir, einen sehr langen Weg. Dumußt ausruhen. Und dann wartet doch auch deine Mutter auf dich. Wie glücklich wird sie sein! Laufschnell nach Hause, mach ihr diese Freude ...«Während Frau Fleischmann spricht, stellen sie den Jungen regelrecht auf die Beine und drängen ihn sanftzum Ausgang. Sie küssen ihn, verabschieden sich von ihm. Der Junge setzt seine Mütze auf und nimmt seinen Sack.«

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Vorschläge für die Bearbeitung im Unterricht

A Welche Unterschiede gibt es in der Darstellung der dramatischen Situation je nach der ästhetischen Darstellungsweise (Roman, Drehbuch)?

B Mit welchen Stil-Mitteln wird die Szene herausgearbeitet?C Haben die Szenen in Roman und Drehbuch den gleichen Stellenwert innerhalb des jeweiligen Werkes?D Gibt es zwischen dem Drehbuch und der Realisierung im Film Unterschiede in der Bedeutung?

Quellen:

»Roman eines Schicksallosen«, Rowohlt, 18. Auflage 2004»Schritt für Schritt«, Drehbuch, edition suhrkamp, 1. Aufl. 2002

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4. Essay von Imre Kertész: Wem gehört Auschwitz?

Zu Roberto Benignis Film »Das Leben ist schön«

Die Überlebenden müssen sich damit abfinden: Auschwitz entgleitet ihren mit dem Alter immer schwächer werden-den Händen. Aber wem wird es gehören? Keine Frage: der nächsten Generation und dann den darauf folgenden –natürlich solange sie Anspruch darauf erheben.

Es ist etwas erschütternd Zweideutiges in der Eifersucht, mit der die Überlebenden auf dem alleinigen geistigenEigentumsrecht am Holocaust bestehen. Als wäre ihnen ein einzigartiges, großes Geheimnis zugefallen. Als bewahrten sie einen unerhörten Schatz vor dem Verfall und – ganz besonders – vor mutwilliger Beschädigung. Ihnvor dem Verfall zu bewahren liegt einzig bei ihnen, der Kraft ihrer Erinnerung; doch wie sollen sie der Beschädigung,also der Aneignung durch andere, begegnen, wie der Verfälschung, den Manipulationen aller Art, und wie vor allemdem mächtigsten Gegner, der Vergänglichkeit? Ängstliche Blicke kleben an jeder Zeile von Büchern über den Holocaust, an jedem Zentimeter Film, der denHolocaust erwähnt: Ist die Darstellung glaubwürdig, die Geschichte exakt, haben wir wirklich das gesagt, es soempfunden, stand der Kübel tatsächlich dort, in genau dieser Ecke der Baracke, waren der Hunger, der Zählappell,die Selektion wirklich so und so weiter ... Doch was ist diese Versessenheit auf die peinlichen – und peinigenden –Details, statt dass wir diese schnellstens zu vergessen versuchen? Es scheint, dass mit dem Abklingen der lebendigen Empfindung das unvorstellbare Leid und die Trauer in der Qualität eines Wertes in einem weiterleben,an dem man nicht nur stärker als an allem anderen festhält, sondern den man auch allgemein anerkannt und angenommen wissen will.

Und hier steckt die Zweideutigkeit, von der ich eingangs sprach. Denn dafür, dass der Holocaust mit der Zeit tatsächlich Teil des europäischen – zumindest des westeuropäischen – öffentlichen Bewusstseins wurde, war derPreis zu entrichten, den Öffentlichkeit zwangsläufig fordert. Es kam sogleich zu einer Stilisierung des Holocaust,die heute schon fast unerträgliche Ausmaße annimmt. Ist doch schon das Wort »Holocaust« eine Stilisierung, eine

gezierte Abstraktion der deutlich brutaler klingenden Wörter »Vernichtungslager« oder »Endlösung«. Es mussvielleicht auch nicht verwundern, dass, während immer mehr über den Holocaust geredet wird, seine Realität – derAlltag der Menschenvernichtung – dem Bereich des Vorstellbaren zunehmend entgleitet. Ich selbst sah michgezwungen, in mein »Galeerentagebuch« zu schreiben: »Das Konzentrationslager ist ausschließlich in Form vonLiteratur vorstellbar, als Realität nicht. (Auch nicht – und sogar dann am wenigsten –, wenn wir es erleben.)«

Der Zwang zum Überleben gewöhnt uns daran, die mörderische Wirklichkeit, in der wir uns behaupten müssen, solange wie möglich zu verfälschen, während der Zwang zum Erinnern uns verführt, eine Art Genugtuung in unsereErinnerung zu schmuggeln, den Balsam des Selbstmitleids, die Selbstglorifizierung des Opfers.Und solange wir uns den lauwarmen Wellen später Solidarität (oder des Anscheins von Solidarität) überlassen, las-sen wir die wirkliche und keineswegs bedenkenlos gestellte Frage, die hinter den Phrasen der offiziellen Trauerredenherauszuhören wäre, an unserem Ohr vorbeigehen: Wie soll sich die Welt von Auschwitz, von der Last des Holocaustbefreien?

Ich glaube nicht, dass diese Frage ausschließlich aus unlauteren Motiven gestellt werden kann. Es ist eher einenatürliche Sehnsucht, auch die Überlebenden ersehnen ja nichts anderes. Allerdings haben mich die Jahrzehntegelehrt, dass der einzig gangbare Weg der Befreiung durch das Erinnern führt. Doch es gibt verschiedene Weisendes Erinnerns.

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Der Künstler hofft darauf, dass er über die genaue Beschreibung, die ihn noch einmal die tödlichen Pfade entlangführt, schließlich zur edelsten Form der Befreiung gelangt, zur Katharsis, an der er vielleicht auch noch seinen Leserteilhaben lassen kann. Doch wie viele solcher Werke sind in den letzten Jahrzehnten entstanden?

An beiden Händen könnte ich die Schriftsteller abzählen, die aus der Erfahrung des Holocaust wirklich großeLiteratur von Weltgeltung hervorgebracht haben. Ein Paul Celan, ein Tadeusz Borowski, ein Primo Levi, ein JeanAméry, eine Ruth Klüger, ein Claude Lanzmann oder ein Miklós Radnóti begegnet uns überaus selten.

Viel häufiger geschieht es, dass man den Holocaust seinen Verwahrern entwendet und billige Warenartikel aus ihmherstellt. Oder dass man ihn institutionalisiert, ein moralisch-politisches Ritual um ihn errichtet und einen – oft falschen – Sprachgebrauch konstituiert; Wörter werden der Öffentlichkeit aufgenötigt und lösen beim Hörer oderLeser fast automatisch den Holocaust-Reflex aus: auf jede mögliche und unmögliche Weise wird der Holocaust denMenschen entfremdet. Der Überlebende wird belehrt, wie er über das denken muss, was er erlebt hat, völlig unabhängig davon, ob und wie sehr dieses Denken mit seinen wirklichen Erlebnissen übereinstimmt; der authenti-sche Zeuge ist schon bald nur im Weg, man muss ihn beiseite schieben wie ein Hindernis, und am Ende bestätigensich die Worte Amérys: »Als die wirklich Unbelehrbaren, Unversöhnlichen, als die geschichtsfeindlichen Reaktionäreim genauen Wortverstande werden wir dastehen, die Opfer, und als Betriebspanne wird schließlich erscheinen,dass immerhin manche von uns überlebten.«

Ein Holocaust-Konformismus entwickelte sich, ein Holocaust-Sentimentalismus, ein Holocaust-Kanon, ein Holocaust-Tabusystem und die dazugehörige zeremonielle Sprachwelt; Holocaust-Produkte für den Holocaust-Konsumentenwurden entwickelt. Die Auschwitz-Lüge entwickelte sich.Doch es entstand auch die Figur des Auschwitz-Schwindlers. Inzwischen kennen wir einen mit Literatur- undMenschenrechtspreisen überhäuften Holocaust-Guru, der aus erster Hand von seinen im VernichtungslagerMajdanek gesammelten unbeschreiblichen Erlebnissen berichtete, die ihm als drei- oder vierjährigem Kind dortwiderfahren seien, bis man feststellte, dass er zwischen 1941 und 1945 – wenn nicht im Kinderwagen oder zumZwecke eines gesundheitlichen Spaziergangs – keinen Fuß vor die Tür seines bürgerlichen Schweizer Zuhausesgesetzt hat.Inzwischen leben wir inmitten von dinosaurierhaftem Spielberg-Kitsch und dem absurden Stimmengewirr aus derunfruchtbaren Diskussion um das Berliner Holocaust-Mahnmal; und man wird sehen, es kommt die Zeit, da dieBerliner und natürlich die dorthin verschlagenen Fremden (mir erscheinen vor allem die Gruppen beflissenerjapanischer Touristen vor meinen Augen) in peripatetische Betrachtungen versunken und umbraust vom BerlinerVerkehrslärm in dem mit Kinderspielplatz ausgestatteten Holocaust-Park spazieren gehen, während ihnen Spielbergs48239 Interviewpartner ihre eigene, individuelle Leidensgeschichte in die Ohren flüstern – oder brüllen? (Denke ichdarüber nach, was es auf diesem Holocaust-Spielplatz, der nach einer vor Monaten in der FAZ vorgeschlagenenDeutung ein Geschenk der ermordeten jüdischen Kinder an ihre unbekannten Berliner Kameraden wäre, für Spielegeben mag, dann kommt mir, ich kann nichts dafür, offensichtlich infolge meines in Auschwitz verdorbenenAssoziationshaushalts, sofort die Boger-Schaukel in den Sinn, dieses im Frankfurter Auschwitz-Prozess bekanntgewordene Gerät, auf das sein Konstrukteur, der erfindungsreiche SS-Unterscharführer Boger, seine Opfer spielerisch mit dem Kopf nach unten anschnallte, um ihre derart ausgelieferten Hinterteile zum Spielzeug seinessadistischen Wahns zu machen.)

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Ja, der Überlebende sieht ohnmächtig zu, wie man ihn um seine einzige Habe bringt: um die authentischenErlebnisse.Ich weiß, viele stimmen mir nicht zu, wenn ich Spielbergs Film »Schindlers Liste« Kitsch nenne. Man sagt, Spielberghabe der Sache einen großen Dienst erwiesen, da sein Film Millionen in die Kinos lockte, darunter viele von denen,die dem Thema Holocaust sonst uninteressiert gegenüberstanden. Das mag stimmen. Doch warum soll ich als Überlebender des Holocaust und im Besitz weiterer Erfahrungen des Terrors mich darüber freuen, dass immer mehrMenschen diese Erfahrungen auf der Leinwand sehen – und zwar verfälscht? Es ist offenbar, dass der Amerikaner Spielberg, der übrigens in der Zeit noch nicht auf der Welt war, keine Ahnunghat – und haben kann – von der authentischen Realität eines nazistischen Konzentrationslagers; warum quält er sich dann aber damit ab, diese ihm unbekannte Welt so auf die Leinwand zu bringen, dass sie in jedem Detailauthentisch erscheine?

Die wichtigste Botschaft seines Schwarzweißfilmes sehe ich in der am Ende des Films in Farbe erscheinendenMenschenmenge; ich halte aber jede Darstellung für Kitsch, die nicht die weitreichenden ethischen Konsequenzenvon Auschwitz impliziert und derzufolge der mit Großbuchstaben geschriebene MENSCH – und mit ihm das Idealdes Humanen – heil und unbeschädigt aus Auschwitz hervorgeht. Wenn es so wäre, würden wir heute nicht mehrüber den Holocaust reden, oder höchstens so wie von einer fernen historischen Erinnerung, wie, sagen wir, von derSchlacht bei El-Alamein.Für Kitsch halte ich auch jede Darstellung, die unfähig – oder nicht willens – ist zu verstehen, welcher organischeZusammenhang zwischen unserer in der Zivilisation wie im Privaten deformierten Lebensweise und der Möglichkeitdes Holocaust besteht; die also den Holocaust ein für allemal als etwas der menschlichen Natur Fremdes festmacht,ihn aus dem Erfahrungsbereich des Menschen hinauszudrängen versucht. Doch für Kitsch halte ich auch, wennAuschwitz zu einer Angelegenheit bloß zwischen Deutschen und Juden, zu etwas wie einer fatalen Unverträglichkeitzweier Kollektive degradiert wird; wenn man von der politischen und psychologischen Anatomie der modernenTotalitarismen absieht; wenn man Auschwitz nicht als Welterfahrung auffasst, sondern auf die unmittelbarBetroffenen beschränkt.Darüber hinaus halte ich natürlich alles für Kitsch, was Kitsch ist.

Vielleicht habe ich noch nicht erwähnt, dass ich hier von Anfang an über einen Film rede, über Roberto Benignis»Das Leben ist schön«. In Budapest, wo ich diese Zeilen schreibe, wurde der Film (noch?) nicht gezeigt.Und falls er später gezeigt werden sollte, wird er sicher nicht die Diskussionen auslösen, die er, wie ich höre, inWesteuropa hervorgerufen hat; hier wird anders über den Holocaust geschwiegen, anders über ihn gesprochen(wenn sich denn über ihn zu sprechen nicht vermeiden lässt) als in Westeuropa. Hier gilt der Holocaust seit demEnde des Zweiten Weltkrieges durchgängig, bis zum heutigen Tag, als ein sozusagen »heikles«, durch Schutzwälleaus Tabus und Euphemismen vor dem »brutalen« Wahrheitsfindungsprozess geschützten Thema.

So habe ich den Film mit, man kann sagen, unschuldigem Blick angesehen (von einer Kassette). Da ich die Vorwürfenicht kenne und die kritischen Texte nicht gelesen habe, kann ich mir ehrlich gesagt nicht gut vorstellen, was an diesem Film so umstritten sein soll. Ich glaube, da lässt sich wieder ein Chor von Holocaust-Puritanern, Holocaust-Dogmatikern, Holocaust-Usurpatoren hören: »Kann man, darf man so über Auschwitz reden?«Aber was heißt, genauer betrachtet, dieses so? Nun so, humorvoll, mit den Mitteln der Komödie – würden diejenigen wohl sagen, die den Film mit denScheuklappen der Ideologie gesehen (genauer: nicht gesehen) und nicht ein Wort, nicht eine Szene daraus verstanden haben.

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Vor allem ist ihnen entgangen, dass Benignis Idee nicht komisch, sondern tragisch ist. Zweifellos entfaltet sich dieIdee, wie auch die Hauptfigur des Guido, nur sehr langsam. In den ersten zwanzig, dreißig Minuten des Films fühlenwir uns zwischen die Kulissen irgendeiner altmodischen Burleske versetzt.Erst später verseht man, wie organisch sich diese unmöglich scheinende Einführung in die Dramaturgie des Films –und des Lebens – einfügt.Während man die Slapstickeinlagen des Haupthelden nach und nach als unerträglich empfindet, tritt hinter derMaske des Clowns langsam der Zauberer hervor. Er erhebt seinen Stab, und von nun an ist jedes Wort, jederZentimeter Film durchgeistigt.In dem der Videokassette beigegebenen Informationsheft lese ich, dass die Macher des Films große Sorgfalt auf dieAlltagswelt des Lagers, auf die Authentizität der Gegenstände, der Requisiten usw. verwendet hätten.

Zum Glück ist ihnen das nicht gelungen. Die Authentizität steckt zwar in den Details, aber nicht unbedingt dengegenständlichen. Das Tor des Lagers im Film ähnelt der Haupteinfahrt des realen Lagers Birkenau ungefähr so, wiedas Kriegsschiff in Fellinis »Schiff der Träume« dem realen Flaggschiff eines österreichisch-ungarischen Admiralsgleicht. Hier geht es um etwas ganz anderes: Der Geist, die Seele dieses Films sind authentisch, dieser Film berührtuns mit der Kraft des ältesten Zaubers, des Märchens.

Auf dem Papier sieht dieses Märchen auf den ersten Blick ziemlich unbeholfen aus. Guido lügt seinem vierjährigenSohn Giosuè vor, Auschwitz sei nur ein Spiel; es werde nach Punkten bewertet, wie man die Schwierigkeiten über-steht, und der Sieger werde einen »echten Panzer« gewinnen.Aber hat diese Erfindung nicht eine ganz wesentliche Entsprechung in er erlebten Wirklichkeit? Man roch denGestank des verbrannten Fleisches und wollte doch nicht glauben, dass das alles wahr sein könnte. Lieber suchteman Überlegungen, die zum Überleben verlockten, und ein »echter Panzer« ist für ein Kind genau solch einverführerisches Versprechen.

Es gibt im Film eine Szene, von der wahrscheinlich noch viel die Rede sein wird.Ich denke an den Moment, in dem der Held des Films, Guido, die Rolle des Dolmetschers übernimmt und denBarackenbewohnern, vor allem aber natürlich seinem Sohn, die einweisenden Befehle eines SS-Mannes übersetzt,mit denen dieser den Häftlingen die Lagerordnung bekannt gibt. Diese Szene fasst Inhalte, die in rationaler Sprachenicht zu beschreiben wären, und sagt dabei alles über die Absurdität dieser grauenhaften Welt und die sich diesem Wahnsinn entgegenstellenden, in ihrer Seelenkraft dennoch ungebrochenen Menschen aus.

Nirgends gibt es Gigantomanie, quälende oder sentimentale Detailversessenheit, demonstrative rote Pfeile auf grauem Grund.Alles ist so klar, einfach und unmittelbar zu Herzen gehend, dass einem die Tränen in die Augen steigen.Die Dramaturgie des Films funktioniert mit der einfachen Genauigkeit guter Tragödien. Guido muss sterben, und ermuss genau in dem Moment und so sterben, in dem und wie er stirbt. Vor seinem Tod – und hier wissen wir bereits,wie schön und kostbar ihm das Leben ist – vollführt er noch ein paar chaplinsche Faxen, um dem aus seinemVersteck hervorlugenden Jungen Glauben und Kraft zu geben. Es spricht für den sicheren Geschmack des Films,seinen fehlerlosen Stil, dass wir das Sterben nicht mehr sehen; aber die kurz aufkrachende Salve aus derMaschinenpistole hat wieder eine dramaturgische Funktion, sie enthält eine wichtige und niederschmetterndeBotschaft.

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Endlich sieht der Junge den Preis des »Spiels« heranrollen: den »echten Panzer«. Doch da wird die Geschichteschon von Trauer über das verdorbene Spiel beherrscht.

Dieses Spiel – verstehen wir – heißt woanders Zivilisation, Menschlichkeit, Freiheit, alles, was der Mensch je alsWert ansah. Und als der Junge in den Armen der wiedergefundenen Mutter ausruft: »Wir haben gewonnen!«, dakommt dieses Wort, durch die Kraft dieses Augenblicks, einem schmerzvollen Trauerpoem gleich.Benigni, der Schöpfer dieses Films, wurde – wie ich lese – 1952 geboren. Er ist Vertreter einer neuen Generation,die mit dem Gespenst von Auschwitz ringt und die den Mut und die Kraft hat, ihren Anspruch auf dieses traurigeErbe anzumelden.

(1998)Deutsch von Christian Polzin

Vorschläge für die Bearbeitung im Unterricht

A Fasst kurz Kertész’ Argumente gegen Spielbergs Film und für Benignis Werk zusammen!B Kann euch Kertész’ Argumentation überzeugen? (Zieht am besten eine Szene heran!)C Setzt Kertész’ Argumentation und die ästhetische Konzeption, die seinen »Roman eines Schicksallosen«

prägt, in Beziehung! Vergleicht auch Kapitel 3.5.

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5. Literaturhinweise

Aristoteles: Poetik. Stuttgart 1994Beicken, Peter: Wie interpretiert man einen Film? Literaturwissen für Schüler. Stuttgart 2004Celan, Paul: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe. Frankfurt am Main 2003Editionen für den Literaturunterricht Hrsg. von Steinbach, DietrichFeuchert, Sascha: Ruth Klüger weiter leben . Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 2004Field, Syd: Drehbuchschreiben für Fernsehen und Film. 6. Aufl., München 1996Gelfert, Hans-Dieter: Wie interpretiert man einen Roman? Literaturwissen für Schule und Studium. Stuttgart 2002Kertész, Imre: Die exilierte Sprache. Essays und Reden. 1. Aufl., Frankfurt am Main 2004Kertész, Imre: Eine Gedankenlänge Stille, während das Erschießungskommando neu lädt. Essays. Reinbek beiHamburg 1999Kertész, Imre: Roman eines Schicksallosen. Reinbek bei Hamburg 2004Kertész, Imre: Schritt für Schritt. Drehbuch zum Roman eines Schicksallosen. 1.Aufl., Frankfurt am Main 2002Kinder, Hermann/Hilgemann, Werner: dtv-Atlas Weltgeschichte. 25. Aufl., München 2000Lämmert, Eberhard: Bauformen des Erzählens. Stuttgart 1955 u. 1967Literaturverfilmungen. Interpretationen. Hrsg. von Bohnenkamp, Anne. Stuttgart 2005Ludwig, Hans-Werner: Hrsg. Arbeitsbuch Romananalyse. Tübingen 1982Monaco, James: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Medien.3. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2001Paech, Joachim: Literatur und Film. Stuttgart 1988rororo Filmlexikon, Hrsg. von Liz-Anne Bawden. 6 Bde. Reinbek bei Hamburg 1983Rother, Rainer: Sachlexikon Film. Reinbek bei Hamburg 1986Seeßlen, Georg: Der Asphalt-Dschungel. Geschichte und Mythologie des Gangster-Films, Reinbek bei Hamburg 1980Silbermann, Alphons/Schaff, M. u. a. : Filmanalyse. Grundlagen, Didaktik. München 1980Töteberg, Michael: Fritz Lang. Reinbek b. Hamburg 1985Töteberg, Michael: Hrsg. Szenenwechsel. Momentaufnahmen des jungen deutschen Films. Reinbek bei Hamburg1999Vogler, Christopher: Die Odyssee des Drehbuchschreibens. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1998www.erinnern-online.dewww.his-online.de (Hamburger Institut für Sozialforschung)www.holocaust-education.de (Lernen aus der Geschichte – Projekte ...)www.shoa.dewww.weltchronik.dewww.deutsche-chronik.dewww.geschichte.2me.netwww.mdr.de/kultur/musik

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6. Kino- und Fernsehfilme

Ausgewählte Kino- und Fernsehfilme zum Thema das »Dritte Reich«, Nationalsozialismus und Judenverfolgung:

Charlie Chaplin Der große Diktator – Charlie Chaplin als Adolf Hitler 1940Bernhard Wicki Die Brücke 1959Joachim Fest Adolf Hitler – Versuch eines Portraits 1969Frank Beyer Jakob der Lügner 1974Peter Zadek Eiszeit – Helmut Qualtinger als A. Hitler 1975Volker Schlöndorff Die Blechtrommel 1979István Szabó Mephisto 1980Rainer W. Fassbinder Lili Marleen 1980Michael Verhoeven Die weiße Rose 1982Agnieszka Holland Hitlerjunge Salomon 1990Ridley Scott Thelma und Louise 1991Steven Spielberg Schindlers Liste 1993Claude Lanzmann Shoah 1995Roberto Benigni Das Leben ist schön 1997István Szabó Der Fall Furtwängler 2001Joseph Vilsmaier Leo und Claire 2001Roman Polanski Der Pianist 2002Marceline Loridan Ivens Birkenau und Rosenfeld 2003Margarethe von Trotta Rosenstraße 2003Andrea Morgenthaler Joseph Goebbels 2004Jo Baier Stauffenberg 2004Oliver Hirschbiegel Der Untergang 2004Marc Rothemund Sophie Scholl. Die letzten Tage 2004Dennis Gansel Napola 2004Hans-Chr. Blumenberg Die letzte Schlacht 2005

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7. Das Buchenwaldlied

Buchenwaldlied

Wenn der Tag erwacht, eh’ die Sonne lacht,die Kolonnen zieh’n zu den Tages Müh'nhinein in den grauenden Morgen.Und der Wald ist schwarz und der Himmel rot,und wir tragen im Brotsack ein Stückchen Brotund im Herzen, im Herzen die Sorgen.

O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen,weil du mein Schicksal bist.Wer dich verließ, der kann es erst ermessen,wie wundervoll die Freiheit ist!O Buchenwald, wir jammern nicht und klagen,und was auch unser Schicksal sei,wir wollen trotzdem ja zum Leben sagen,denn einmal kommt der Tag: Dann sind wir frei!

Und das Blut ist heiß und das Mädel fern,und der Wind singt leis’, und ich hab’ sie so gern,wenn treu sie, ja, treu sie nur bliebe!Und die Steine sind hart, aber fest unser Tritt,und wir tragen die Picken und Spaten mitund im Herzen, im Herzen die Liebe.

O Buchenwald, ...

Und die Nacht ist kurz, und der Tag ist so lang,doch ein Lied erklingt, das die Heimat sang:wir lassen den Mut uns nicht rauben!Halte Schritt, Kamerad, und verlier nicht den Mut,denn wir tragen den Willen zum Leben im Blutund im Herzen, im Herzen den Glauben.

O Buchenwald, ...

Text: Fritz Löhner-Beda, Melodie: Hermann Leopoldi

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Die Geschichte des Buchenwaldieds

In den nationalsozialistischen Konzentrationslagern wurden vor allem Marschlieder gesungen, manche Lager, z. B.Dachau und Sachsenhausen, hatten ein Lagerlied. In Buchenwald mussten die Häftlinge für die SS einige wenige volks-tümliche Lieder singen, die unermüdlich wiederholt wurden. Besonders liebte die SS »Steht ein Dörflein mitten imWalde«, ein Lied nach dem Gedicht »So einer war auch er!« von Arno Holz, das lange Zeit zum Appellablauf gehörte.

Im Dezember 1938 forderte Schutzhaftlagerführer Arthur Rödl die Häftlinge auf, ein Lagerlied für Buchenwald zuschreiben. Die beiden österreichischen Häftlinge Fritz Löhner-Beda und Hermann Leopoldi – beide erfahren im Erfindeneingängiger Texte und Melodien – schufen in kürzester Zeit das dreistrophige Buchenwaldlied. Dass sie Juden waren,wurde vertuscht. Schutzhaftlagerführer Rödl war zufrieden, ein Lied zu haben, er ließ es mit Nachdruck einüben undbeim Appell und anderen Gelegenheiten singen. Als Marschlied spielte es die Lagerkapelle zum Ein- und Auszug derArbeitskolonnen.Wie lange das Buchenwaldlied in dieser Form gesungen wurde, ist nicht genau belegt. Ein Kommandanturbefehl vom22. August 1939 nennt es neben dem Esterwegener Lagerlied und dem Judenlied als im Lager erlaubt. Etwa ab 1942,als der Anteil deutschsprachiger Häftlinge immer mehr abnahm, gehörte es nicht mehr zum offiziellen Programm.Umso mehr Bedeutung erlangte es aber für einzelne Häftlingsgruppen, die es zu ihrer Selbstvergewisserung immerwieder sangen. Besonders der letzte Vers des Refrains »... denn einmal kommt der Tag: Dann sind wir frei!« gab ihnendie Vision eines Lebens in Freiheit, für die es sich lohnt, allen Mut und alle Kraft einzusetzen.

Löhner-Beda wurde 1942 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet, Leopoldi starb 1959 in seiner GeburtsstadtWien.Bis heute wird das Buchenwaldlied von ehemaligen Häftlingen in Erinnerung an die Lagerzeit gesungen; es ist festerBestandteil der Gedenkfeiern zum Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald.

Quelle: www.mdr.de/kultur/musik

Vorschlag für die Bearbeitung im Unterricht

Diskutiert die Beweggründe, die heute noch ehemalige Häftlinge veranlassen, dieses Lied zu singen,welches sie im Konzentrationslager für die SS singen mußten.

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8. Paul Celan Todesfuge

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abendswir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachtswir trinken und trinkenwir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht engEin Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibtder schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar

Margareteer schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er

pfeift seine Rüden herbeier pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erdeer befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachtswir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abendswir trinken und trinkenEin Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibtder schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar

MargareteDein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da

liegt man nicht eng

Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielter greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blaustecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachtswir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abendswir trinken und trinkenein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margaretedein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen

Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschlander ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luftdann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachtswir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschlandwir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinkender Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blauer trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genauein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margareteer hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Lufter spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister

aus Deutschland

dein goldenes Haar Margaretedein aschenes Haar Sulamith

Ein Film von Lajos Koltai