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Mimesis und Botschaft bei Flaubert Von JOACHIM KÜPPER 0. Texten, die ein außerhalb ihrer selbst liegendes ‚Reales‘ nachahmen, mimetischen Texten also, kommt im eigentlichen Sinne zunächst keine Botschaft zu. Die ‚Ver- doppelung‘ des Wirklichen hat darstellende und nicht notwendigerweise auch Aussage-Dimension. – Aristoteles sagt zu Beginn seines Texts über die künstle- rische Mimesis, das Nachahmen sei eine anthropologische Konstante. 1 Wie dies im einzelnen gemeint ist, bleibt umstritten, aber man kann sicherlich festhalten, daß auch ein de-pragmatisiertes Artefakt nicht seine Berechtigung verliert, wenn es in Nachahmung aufgeht; die in der hier anvisierten Zeit emergierende Praxis der Photographie ist in dieser Hinsicht nur ein besonders schlagendes Beispiel. In der Regel aber ‚füllen‘ die Autoren literarischer Texte, die einem mimetischen Programm folgen, die damit zunächst entstehende Leerstelle und antworten auf die Frage nach dem Sinn und Zweck des ganzen Unterfangens, indem sie eine Erzählinstanz konstruieren, die kommentiert, was sie berichtet. So etwa hält es Balzac. Verzichtet ein Erzähler darauf, dem Erzählten eine Deutung beizulegen, wie Flaubert, bleibt die Frage nach der Botschaft fürs erste in Suspens, 2 und das heißt auch: Man kann sie, soweit man dies will, im Prozeß der Rezeption un- gestellt lassen. So sieht etwa die älteste, aber bis heute virulente der drei maßgeblichen Schulen der Flaubert-Philologie, die ‚realistische‘ Lektüre, den Belang der Texte damit gesichert, daß sie perfekte Nachahmung jener Wirklichkeit seien, auf die sie unverkennbar Bezug nehmen. 3 1 Poetik 1448b. 2 Und sie beantwortet sich wieder, um diesen kühnen Dreisprung durch die neuere Literar- historie zu vollenden, in den non-auktorialen Texten des Modernismus, deren Faktur auf die Bloßlegung ihrer A-Mimetizität berechnet ist und die deshalb nicht als darstellend aufgefaßt werden können, sondern notwendigerweise als zeichenhaft, als bedeutungs- tragend gelesen werden müssen. – Roland Barthes hat in seinem berühmten Aufsatz „L’Effet de réel“ argumentiert (in Communications 11 (1968), S. 84–89), der mimetische Effekt, den fiktionale Texte zu erzeugen vermögen, gründe wesentlich darauf, im Leser zunächst den Eindruck zu erwecken, das Erzählte sei nicht im Hinblick auf eine Aussage oder Botschaft hin ausgewählt oder arrangiert, sondern folge der Logik der Darstellung eines ‚tel quel‘ Gegebenen. 3 Ich bringe einige Belege für diese allerdings vermutlich wenig kontroverse Behauptung in Anm. 17, wo ich die betreffende Schule der Flaubert-Deutung bezogen auf die hier von mir zum Gegenstand gemachte Thematik der Texte charakterisiere. Bereitgestellt von | Staatsbibliothek zu Berlin Preussischer Kulturbesitz Angemeldet | 194.94.133.193 Heruntergeladen am | 11.06.14 17:48

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Flaubert: Joachim Küpper über Mimesis und Botschaft.

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Page 1: Küpper_Mimesis Und Botschaft

Mimesis und Botschaft bei Flaubert

Von JOACHIM KÜPPER

0.

Texten, die ein außerhalb ihrer selbst liegendes ‚Reales‘ nachahmen, mimetischenTexten also, kommt im eigentlichen Sinne zunächst keine Botschaft zu. Die ‚Ver-doppelung‘ des Wirklichen hat darstellende und nicht notwendigerweise auchAussage-Dimension. – Aristoteles sagt zu Beginn seines Texts über die künstle-rische Mimesis, das Nachahmen sei eine anthropologische Konstante.1 Wie dies imeinzelnen gemeint ist, bleibt umstritten, aber man kann sicherlich festhalten, daßauch ein de-pragmatisiertes Artefakt nicht seine Berechtigung verliert, wenn es inNachahmung aufgeht; die in der hier anvisierten Zeit emergierende Praxis derPhotographie ist in dieser Hinsicht nur ein besonders schlagendes Beispiel. In derRegel aber ‚füllen‘ die Autoren literarischer Texte, die einem mimetischen Programm folgen, die damit zunächst entstehende Leerstelle und antworten aufdie Frage nach dem Sinn und Zweck des ganzen Unterfangens, indem sie eineErzählinstanz konstruieren, die kommentiert, was sie berichtet. So etwa hält esBalzac. Verzichtet ein Erzähler darauf, dem Erzählten eine Deutung beizulegen,wie Flaubert, bleibt die Frage nach der Botschaft fürs erste in Suspens,2 und dasheißt auch: Man kann sie, soweit man dies will, im Prozeß der Rezeption un-gestellt lassen.

So sieht etwa die älteste, aber bis heute virulente der drei maßgeblichen Schulender Flaubert-Philologie, die ‚realistische‘ Lektüre, den Belang der Texte damitgesichert, daß sie perfekte Nachahmung jener Wirklichkeit seien, auf die sieunverkennbar Bezug nehmen.3

1 Poetik 1448b.2 Und sie beantwortet sich wieder, um diesen kühnen Dreisprung durch die neuere Literar-

historie zu vollenden, in den non-auktorialen Texten des Modernismus, deren Faktur aufdie Bloßlegung ihrer A-Mimetizität berechnet ist und die deshalb nicht als darstellendaufgefaßt werden können, sondern notwendigerweise als zeichenhaft, als bedeutungs-tragend gelesen werden müssen. – Roland Barthes hat in seinem berühmten Aufsatz„L’Effet de réel“ argumentiert (in Communications 11 (1968), S. 84–89), der mimetischeEffekt, den fiktionale Texte zu erzeugen vermögen, gründe wesentlich darauf, im Leserzunächst den Eindruck zu erwecken, das Erzählte sei nicht im Hinblick auf eine Aussageoder Botschaft hin ausgewählt oder arrangiert, sondern folge der Logik der Darstellungeines ‚tel quel‘ Gegebenen.

3 Ich bringe einige Belege für diese allerdings vermutlich wenig kontroverse Behauptung inAnm. 17, wo ich die betreffende Schule der Flaubert-Deutung bezogen auf die hier vonmir zum Gegenstand gemachte Thematik der Texte charakterisiere.

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Die zweite, von Proust begründete Schule, die subjektivierende Lektüre, situiertdie Frage nach der Botschaft auf einer sehr allgemeinen, (im Kantschen Sinne)transzendentalen Ebene. In den Bahnen der auf die eigenen Texte bezogenen Poetik ihres Begründers behauptet sie, das zu Lesende sei das von der je zentralenFigur Wahrgenommene. Die Relevanz des solchermaßen zur Sprache Kommen-den gilt ihr mit der Affichierung der subjektiven Perspektive selbst garantiert,insofern damit der Mythos einer objektiv existierenden Wirklichkeit in Fragegestellt, ja zurückgewiesen sei.

Die dritte, mit dem Beginn der Postmoderne einsetzende, die ‚ironisierende‘Deutung scheint die Frage in überaus eleganter Manier lösen zu können. ‚Mime-sis‘ und Botschaft vermöchten aus einer solchen Sicht im Prinzip problemloszusammenkommen, weil Ironie darin besteht, daß ein – eben nur scheinbar – wört-lich Gemeintes eine darüber hinausgehende, anderweitige Botschaft transportiert,und sei diese letztere auch eine ‚negative‘,4 deren Überführung in einen positivenSatz in diesem speziellen Fall, Flaubert, sich mehr oder weniger schwierig ge-stalten mag.

Das Dilemma der ‚realistischen‘ Lektüre wird man heutzutage kaum mehrerläutern müssen. Selbst wenn sie nichts anderes wären als Dokumentierung vonWirklichem im Sinne von Faktischem,5 würde sich die Frage nach der Botschaftunvermeidlich dann stellen, wenn man Flauberts Texte als abgeschlossene Gebildeund damit als sekundäre Struktur betrachtet. Lektüren dieser Observanz sind alsoin einem gewissen Sinne vordergründig; sie ignorieren den Werkcharakter derTexte.6

Die subjektivierende Deutung interpretiert die Texte als Etappen einer Ent-wicklung, deren Ziel die Recherche ist. Wie jede teleologische Sicht muß sie übervieles hinwegsehen, in diesem Fall über die Differenz zwischen Texten, in denenErzähler und zentrale Figur zwei verschiedene Instanzen sind, und Texten, indenen diese Abgrenzung weniger prägnant bzw. spürbar ist. Kritisch gewendet:

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4 S. grundlegend zur Ironie Wolf-Dieter Stempel, „Ironie als Sprechhandlung“, in Wolf-gang Preisendanz/Rainer Warning (Hrsg.), Das Komische, München 1976, S. 205–235;zur Absenz einer unmittelbar gegebenen ‚positiven‘ Bedeutung ironischer Sprechakte s. bes. S. 217.

5 Was sie ja nicht sind; aber wie man aus den Experimenten der bildenden Kunst und dannauch der Literatur des 20. Jahrhunderts weiß und wie es Jan Mukarovsky in seinerAbhandlung „Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten“ (inKapitel aus der Ästhetik, Frankfurt a. M. 1970, S. 7–112) theoretisch reflektiert hat,wechselt auch ein ‚pragmatisches‘ Objekt jeder Art sein semiotisches Profil, sobald es de-pragmatisiert wird. Der Rezipient fragt in diesem Fall sofort nach der ‚Bedeutung‘von etwas, das durch die De-Pragmatisierung keine evidente Funktion mehr hat.

6 Zum literarischen Text als ‚sekundärem modellbildenden System‘ s. Jurij M. Lotman, DieStruktur literarischer Texte, München 1972, S. 61. Mit der obigen Formulierung soll einerein mimetische Lektüre dieser und anderer ähnlicher Texte nicht abqualifiziert werden.Sie hat durchaus ihre Legitimität, aber weist auch ein entscheidendes, eben das genannte,Manko auf.

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Bei Flaubert wäre in jedem einzelnen Fall zu diskutieren, was der Figur zuzuschla-gen ist, was dem Erzähler, und was in dieser Hinsicht nicht zuschreibbar ist.7 Geht

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7 Bei Proust, letztlich bei allen Ich-Romanen, stellt sich die Frage allenfalls im Hinblick aufverschiedene Stadien der bewußtseinsmäßigen Entwicklung ein- und derselben Figur. –Soweit überschaubar hat allein Victor Brombert das für Flaubert prägende Phänomender zweifachen, auktorialen und personalen Dimension der Deskriptionen klar erkannt(„[...] necessitates a double reading“ [The Novels of Flaubert. A Study of Themes andTechniques, Princeton, NJ 1966, hier: S. 81f.]); aber auch bei Brombert dominiert, ab-gesehen von der zitierten kurzen Passage, jene ‚personale‘ Deutung der Deskriptionen beiFlaubert als symbolisch oder metaphorisch, im Sinne von: auf die wahrnehmende Figurund deren Bewußtsein verweisend (vgl. S. 41–52 und S. 61f.), die sich seit Prousts Verein-nahmung Flauberts als Vorläufer seiner eigenen écriture als Gegenthese zu der vonBeginn an existierenden ‚mimetischen‘ Auffassung entwickelt hat („A propos du ‚style‘de Flaubert“, in Contre Sainte-Beuve précédé de Pastiches et mélanges et suivi de Essaiset articles, hrsg. Pierre Clarac und Yves Sandre, Paris 1971, S. 586–600); wichtige Vertreter:Benjamin F. Bart, Flaubert’s Landscape Descriptions, Ann Arbor, Mich. 1956 (Bart sagtandererseits zuweilen auch, daß die Beschreibungen die Perspektive eines Reisenden [„ofa traveller“ (S. 35)] reproduzieren, und kann sich zwischen einer eher ‚romantischen‘ undeiner eher ‚realistischen‘ Deutung der Landschaftsbeschreibungen bei Flaubert nichtrecht entscheiden); Geneviève Bollème, La Leçon de Flaubert, Paris 1964, S. 141–195;Pierre Danger, Sensations et objets dans le roman de Flaubert, Paris 1973, S. 84–117 und S. 327–356; Jacques Neefs, „Descriptions de l’espace et espaces de socialité“, in J. N. etalii, Histoire et langage dans L’Education sentimentale, Paris 1981, S. 111–122; UweDethloff, Das Romanwerk Gustave Flauberts. Die Entwicklung der Personendarstellungvon Novembre bis L’Education sentimentale (1869), München 1976, S. 148–154; auch ichselbst habe die These in einer früheren Veröffentlichung vertreten (Balzac und der Effet deréel. Eine Untersuchung anhand der Textstufen des Colonel Chabert und des Curé de village, Amsterdam 1986, S. 220–234, bes. S. 225–227); in einigen neueren US-amerika-nischen Veröffentlichungen wird die symbolisch-subjektivierende Lektüre der Deskrip-tionen bei Flaubert weitergetrieben bis zur Behauptung, die entsprechenden Passagendekonstruierten das Modell der mimetisch-realistischen Beschreibung (paradigmatisch:James H. Reid, Narration and Description in the French Realist Novel. The Temporality ofLying and Forgetting, Cambridge 1993, S. 64–114). – Abgesehen von dem oben charakte-risierten problematischen Textbefund ist die in den entsprechenden Studien teils impli-zierte, teils vehement beanspruchte Opposition zu einer ,realistischen‘ Lektüre alleinschon logisch in zweierlei Hinsichten schief. Zum ersten verwechselt sie Perspektivismusund A-Mimetismus. Die zwei Gestaltungsprinzipien, Perspektivismus und Mimetismus,können oppositiv angelegt (wie etwa im Quijote), müssen dies allerdings nicht zwangs-läufig sein (so jedoch, paradigmatisch für eine ganze Abteilung der neueren Flaubert-Forschung, die auch in extenso zitiert wird, bei Corrada Biazzo Curry, Description andMeaning in Three Novels by Gustave Flaubert, New York 1997, S. XI [Zitat], S. 3 und passim [„descriptive details […] are available to a possible interpretative recuperation thatcould be mimetic […] or symbolic, in primarily connoting […] the characters’ feelings.“]).Daß sich die exakte Reproduktion der „réalité objective“ und die metaphorische Figura-tion des jeweiligen Seelenzustands des Protagonisten keineswegs ausschließen, zeigt mitBlick auf den zweiten hier behandelten Roman Peter Michael Wetherill, „Paris dans L’Education sentimentale“, in Flaubert, la femme, la ville, hrsg. Marie-Claire Bancquart,

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man über diese Unterscheidungen hinweg, mag sein Œuvre als Dokument desÜbergangs zum artistischen oder auch epistemologischen Paradigma der ‚impres-sion‘ erscheinen. Aber nicht nur die Behauptungen zur Faktur der Texte, sondernauch die sich daran knüpfende Hypostasierung der Botschaft kollabieren ganzund gar, sobald man die analytisch recht simple Unterscheidung nach Ich- und Er-Roman in die Beurteilung einbezieht.

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Paris 1983, S. 123–135 (Zitat: S. 126). Entsprechendes gilt für Madame Bovary. Geht esum die Figuration spezifischer (im Sinne wechselnder) Stimmungen, wählt Flaubert indem einen wie in dem anderen Text keineswegs das Verfahren der Konstruktion phan-tasmagorischer oder gar halluzinatorischer Landschaften (wie Baudelaire in den Fleursdu Mal), sondern das der Fokussierung, im Sinne einer Konzentration auf ‚mimetisch‘gedeckte Details, die aber eine sichtliche semantische Isotopie aufweisen, was wiederum –bei geeigneter Einbettung in die Handlung – ihre metaphorische Decodierung nahelegt(so auch die Beurteilung des Flaubertschen Perspektivismus bei Jean Rousset, Forme et signification. Essais sur les structures littéraires de Corneille à Claudel, Paris 1962,S. 109–133; zu den – bei aller epochalen Nähe – letztlich doch bedeutenden Unter-schieden zwischen dem Profil, das Flaubert dem Verfahren ‚subjektivierte Landschaft‘gegeben hat und demjenigen, das das Syndrom bei Baudelaire annimmt, s. Gerhard Hess,Die Landschaft in Baudelaires Fleurs du mal, Heidelberg 1953, S. 23). Für die Akzeptanzeines so verstandenen Subjektiven als realistisch ist indes ein Moment ganz wesentlich,das nach meinem Überblick Flaubert in beiden Texten strikt respektiert: Emmas ‚subjek-tive‘ Sicht ihrer Welt entspricht im wesentlichen dem, was das (mimetische) Klischee‚Provinz‘ im Bewußtsein der anvisierten Leserschaft besagt, bzw. mit einem Beispiel ausdem anderen Text: Der extrem perspektivische, fragmentierte und verständnislose Blickdes Frédéric auf das Paris der 48er Revolution transportiert dessen eigene a-politischeund passive Befindlichkeit, aber er entspricht zugleich der seit dem berühmten Diktum vonMarx klassisch gewordenen Einordnung der Februar-Revolution als einer ‚Farce‘, einerverunglückten Wiederaufführung des authentischen Dramas von 1789 („Der achtzehnteBrumaire des Louis Bonaparte“, in Marx/Engels, Werke [MEW], Bd. 8, Berlin/DDR1972, S. 115). – Das zweite Hauptargument, mit dem sich die romantisierend-subjekti-vierende Deutung von einer realistischen Lektüre meint abgrenzen zu können, ist dieOpposition von ‚realistischer‘ Darstellung und Konstruiertheit (Rhetorizität): Was einer internen (rhetorischen) Struktur folgt, könne schlechterdings nicht Repräsentation(Mimesis) eines außerhalb des Texts Gegebenen sein. Ohne daß die anti-realistische Flau-bert-Lektüre dies recht eigentlich vermerkt hat, ist dieser Annahme mit der in der post-modernen Theorie der Historiographie geführten, von Hayden White initiierten Diskus-sion die Grundlage entzogen worden: Auch Texte, die wir als Darstellung authentischerWirklichkeit akzeptieren, sind in höchstem Maße nach internen, rhetorischen Prinzipienkonstruiert. Die Identifikation von Rhetorizität und A-Mimetizität, eine doxa aller Studien, die sich mit einer Mischung aus Herablassung und Emphase angelegen sein lassen, die Texte von Flaubert gegen das ‚Mißverständnis‘ einer ‚naiven‘ Realismus-Auf-fassung in Schutz zu nehmen, ist logisch ein klassischer Kurzschluß (auch in dieser Hin-sicht besonders kraß die bereits zitierte Arbeit von Biazzo Curry: „[...] the writer’s [i.e.Flaubert’s] style exhibits the tensions of the transition [...] to the self-referential text thatexpresses only the means of its own fabrication.“ [S. XI]). Für fiktionale Texte entschei-dend ist die Frage des Effekts: Gelingt es diesem oder jenem Text (soweit dies in seineraffichierten Intention liegt), die Darstellung des Wirklichen zu simulieren oder nicht, und

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Die avancierteste Schule der Flaubert-Hermeneutik ist durch eine ungleichprononciertere Erscheinungsform dieses Defizits: ganze Dimensionen des Texts zueskamotieren, gekennzeichnet. Im Fall der ironisierenden Lektüre geht es nichtum die Ausblendung einer Abstraktionsebene (wie etwa der Erzählinstanz undihrer Profilierung), sondern um das Ignorieren weiter Passagen der Texte.8

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wenn ja, mit welchen Verfahren? Die Annahme von A- oder Anti-Mimetismus ist sinn-vollerweise nicht an die Beobachtung von rhetorischer Konstruiertheit zu binden, welchletztere, wie gesagt, immer und überall zu beobachten ist, sondern an deren Bloßlegung.Was in dieser Hinsicht als hinreichend empfunden wird, dies sei konzediert, ist individuellvariabel. Insofern sind hier wie auch im Fall anderweitiger Probleme der Deutung litera-rischer Texte dem Feinsinn keine Grenzen gesetzt. Die Frage, über die die (künftige)Historie der Lektüre dieser Texte befinden wird, ist die, was von den – wie stets sich selbstverstärkenden – diversen Moden der Deutung bleibt und was irgendwann nur noch denStatus eines Indizes für eine allgemeine geistige Befindlichkeit einer jeweiligen, dannhistorisch gewordenen Zeit hat.

8 Christopher Prendergast, der die brillanteste mir bekannte Zusammenfassung dieser Ab-teilung der Flaubert-Hermeneutik geliefert hat, verweist neben aller berechtigten Hervor-hebung der Meriten auch auf deren Grenzen: Zentrale Passagen und Komponenten derFlaubertschen Texte entzögen sich komplett einem ironischen Verständnis und aucheinem Verständnis im Sinne von Ironisierung der Ironie, d. h. seien ‚wörtlich‘ aufzufassen(„literal reading“). Prendergast bringt als Beispiel aus Madame Bovary den Erzähler-kommentar zu Emmas naivem und zu Rodolphes zynischem Rekurs auf den trivial-romantischen Liebesdiskurs („[...] la dissemblance des sentiments sous la parité desexpressions [...] comme si la plénitude de l’âme ne débordait pas quelquefois par les méta-phores les plus vides, puisque personne, jamais, ne peut donner l’exacte mesure de sesbesoins, ni de ses conceptions, ni de ses douleurs, et que la parole humaine est comme unchaudron fêlé où nous battons les mélodies à faire danser les ours, quand on voudraitattendrir les étoiles.“ [S. 196; Hervorhebung bei Prendergast]); aus der Education senti-mentale zitiert er die Beschreibung des Verhaltens der Nationalgardisten gegenüber deneingesperrten Aktivisten der gescheiterten 48er Revolution („Quand les prisonniers s’approchaient d’un soupirail, les gardes nationaux qui étaient de faction [...] fourraientdes coups de baïonnette, au hasard, dans le tas.“ [S. 339]). Prendergast erwägt, dieseschwerlich bestreitbare Präsenz des nicht-ironisch Intendierten bei Flaubert unter Ver-weis auf des Autors eigene Position der Unentrinnbarkeit der ‚bêtise‘ mit der ironischenLektüre zu versöhnen, verwirft allerdings den Gedanken zugunsten der Forderung, überdas Verhältnis des Flaubertschen Diskurses zu Repräsentation und Mimesis müsse weiterhin nachgedacht werden (The Order of Mimesis. Balzac, Stendhal, Nerval, Flaubert,Cambridge 1986, S. 180–211; Zitate: S. 201 und S. 207). – Zu den Beschreibungen vonTopographien (Yonville, Rouen, La Vaubyessard) im speziellen s. den Beitrag von GrahamFalconer auf dem Kolloquium in Cérisy-La-Salle, welches die apostrophierte doxa deraktuellen Flaubert-Forschung gewissermaßen instituiert hat. Falconer beginnt damit,dieser neuen Orthodoxie die Reverenz zu erweisen („[...] le geste référentiel joue un rôleminime dans la production de ce signifié global que l’on appelle ordinairement ,l’universde Madame Bovary‘.“), nimmt sodann die Beschreibungen der Handlungsorte von dieserEinschätzung aus und beendet seinen Beitrag mit der auf den Text als Ganzes bezogenenFormel „Sérieusement lézardé, l’édifice de la littérature représentative reste encore debout.“Er begrenzt dieses Fazit auf Madame Bovary, sieht die Education sentimentale um einige

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In Ansehung dieser Sachlage soll die Fragestellung von Mimesis und Botschaftbei Flaubert neu diskutiert werden. Dabei soll als Gegenstand ein Aspekt derTexte gewählt werden, der zu den praedilecta der mimetischen Lektüren zählt, dervon der subjektivierenden Lektüre zwar nicht ignoriert, aber nur der bereits knappcharakterisierten undifferenzierten Analyse unterzogen wird, und der zu den vonder ironisierenden Deutung stillschweigend übergangenen gehört.

Gemeint sind die topographischen Passagen. Die betreffenden Abschnitte stellen den ‚harten‘ mimetischen Kern der Texte dar, insofern sie die Handlung anexistierenden Plätzen und in einer konkreten Zeit situieren. Ob sich dort also so etwas wie eine Botschaft ausmachen läßt oder ob Mimesis und Botschaft beiFlaubert auseinanderfallen (dies ja die implizite Annahme, in der sich alle dreiSchulen der Flaubert-Deutung treffen), sollte sich an diesem Stratum der Textebesonders gut beobachten lassen. – Im Mittelpunkt der folgenden Argumentationwird der erste längere Text des Autors stehen, Madame Bovary, kontrastiv wird

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entscheidende Schritte weiter vorangeschritten auf dem Weg hin zu einer a-mimetischenLiteratur und urteilt, Flaubert habe dieses Ziel schließlich mit Bouvard et Pécuchet er-reicht („Création et conservation du sens dans Madame Bovary“, in La production du senschez Flaubert, hrsg. Claudine Gothot-Mersch, Paris 1975, S. 395–429; Zitate: S. 406 undS. 416). Ob nun diese teleologische Konstruktion sinnvoll ist oder nicht, sei hier nicht diskutiert, ich erlaube mir, Madame Bovary und die Education sentimentale zunächst alsin sich abgeschlossene Gebilde mit einer je eigenen Bedeutung zu lesen. – Der Vergleichder oben im Anschluß zitierten Beschreibungen der Provinz mit einer weiter unten zitier-ten Deskription anderer Art, und zwar der von Emmas auf Paris bezogenen Wunsch-phantasien (S. 190f.), erlaubt es, die Linien, die meine von der ‚ironisierenden‘ Lektüretrennen, deutlich zu markieren: Im letzteren Fall geht es in der Tat um zitierte Diskurse,von denen sich der Erzähler ironisch distanziert (um sich möglicherweise sekundär wiederdamit zu solidarisieren). Ganz anders in den oben nachzulesenden Landschaftsporträts:Die Semantisierung der Orte als Topoi des ennui ist zwar zunächst an das Bewußtsein derFigur gebunden; aber der implizite Erzähler desolidarisiert sich nicht von dieser Sicht.Emma ist kein ‚Opfer‘ eines klischierten Diskurses über die Provinz als Ort der Ereignis-losigkeit. Sie unterliegt einer tatsächlichen, d. h. vom impliziten Erzähler als tatsächlichfigurierten Ereignislosigkeit und Gleichförmigkeit des Lebens. Ob es nun dies oder ihreLektüren oder beides oder gar ihre conditio als Mensch ist, was ihr Unglück bedingt, istdabei ganz einerlei. – Wenn die von Prendergast, Falconer und meiner Wenigkeit erho-bene Behauptung einer nicht unerheblichen Präsenz nicht-ironischer Komponenten nichtvöllig abwegig ist, hat dies Konsequenzen für die Beurteilung der Ironizität des Texts alsganzem. Besteht ein Text durchgängig aus ironisch zitiertem Diskurs (ich denke etwa anBorges’ Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius), ist unbestritten die Botschaft, der Sinn,die Bedeutung des Texts auf der Ebene der Ironie und nirgendwo sonst anzusiedeln; rhe-torisches Verfahren wird dann zur Botschaft, wenn es im Text kein Anderweitiges gibt,dem es als Verfahren dienstbar gemacht wäre. Inkorporiert ein Text neben dem Ironi-schen auch Nicht-Ironisches, dann ist Ironie nichts anderes als was sie herkömmlich ist,disponibles Verfahren, d. h. Form des Sagens, welche – wie jede Redeform – vielfältigstenund unterschiedlichsten Arten von Aussagen dienstbar gemacht sein kann. Die konkreteIndienstnahme ist in diesem Fall immer mit Blick auf das nicht-ironisch Gesagte zu be-urteilen.

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sodann die Education sentimentale herangezogen. Es soll dabei zunächst um nichtmehr gehen als zu zeigen, wie die Provinz – der dominante Handlungsort des erst-genannten Texts – in den beiden Werken modelliert ist, mit welchen Verfahren undIntentionen. Alle weitergehenden Fragen sollen im Anschluß an die Erhebung desTextbefunds diskutiert werden.

1.

Da ‚la province‘ kein Phantasma, sondern ein Konzept darstellt, das für die Welt-und Wirklichkeitsorientierung des Landes von einigem Belang ist, in dem MadameBovary und die Education sentimentale entstanden sind, kann man sich zu demGegenstand schlechterdings nicht äußern, ohne in Erinnerung zu rufen, wie dasbetreffende Konzept im Bewußtsein der primär anvisierten Leserschaft profiliertist. – Es dürfte selbst in einer Zeit der Relativierung aller Gewißheiten über das,was als Realität angesehen werden kann, also in der heutigen Zeit, nicht allzukühn sein anzusetzen, daß im kulturellen Bewußtsein Frankreichs ‚Provinz‘ alsOppositionsterm zu Paris als Kapitale verzeichnet ist, und zwar seit dem Zeit-punkt, zu dem sich schrittweise ein Zentralstaat herauszubilden begann, also etwaseit dem 17. Jahrhundert, vollends und bis heute ungebrochen mit dem jakobini-schen Egalitarismus, dessen Durchsetzung an die Existenz eines und nur einesMachtzentrums gebunden ist. Seit dem siècle de Louis XIV und spätestens seit1789 ist Paris in Frankreich der Ort, an dem sich die Macht, das Geld, die Kulturund die Wissenschaft konzentrieren. Dementsprechend ist die Opposition in derForm semantisiert, daß Paris der positiv, die Provinz der negativ vorgezeichneteTerm ist: Die Kapitale erscheint als auratischer Ort, die Provinz als Raum reiz-loser Mittelmäßigkeit. – Es entspricht der Struktur axiologischer Schemata, daßsubdominant auch eine inverse Semantisierung existiert, die in diesem Fall ihrenUrsprung in denjenigen Diskursen hat, welche man zivilisationskritisch oder auchmoralistisch nennen könnte. Gilt die Annahme, daß Zivilisiertheit erkauft wirddurch moralische Korruption, bedeutet dies, daß zivilisationsferne oder retardierteOrte re-positiviert werden. Aus dieser Sicht ist die Provinz der Raum des Vertrautenund Ursprünglichen, des Heimatlichen und Natürlichen, des Moralischen undAuthentischen.9

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9 In der weiteren historischen Umgebung des hier diskutierten Autors wäre sicherlichRousseau die primäre Referenzinstanz. Aber die Wurzeln dieses diskursiven Substrats reichen weit zurück, letztlich bis zum Beginn unserer Überlieferung. Der Bau der erstenStadt ist bekanntlich mittelbare Folge des Sündenfalls. – Der Metropolen-Diskurs wiederum ist, wie ich unten noch ein wenig näher darlege, ein wesentliches Register desModerne-Projekts: durch Steigerung von Zivilisiertheit, Künstlichkeit und Naturferne die Mängel der (gefallenen) Natur zu kompensieren. – Es sei unterstrichen, daß ich mitmeinen obigen Bemerkungen versuche, die lebensweltlich herrschenden Klischees zu fassen; schon was ich am Beginn dieser Anmerkung zu Rousseau sage, bedürfte der Diffe-renzierung. Um so mehr gilt dies für diejenigen literarischen Texte über die KonstellationProvinz – Paris, die sich in unmittelbarer zeitlicher Vorläuferschaft zu Flaubert situieren

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Auf den ersten Blick mag es scheinen, daß Flaubert sich in seinen Texten striktin den Bahnen dieses hier ansatzweise skizzierten Diskurses bewegt.10 MadameBovary trägt den Untertitel ‚Mœurs de province‘.11 Insinuiert ist damit, das mäßigglückliche Leben der Figuren,12 die den Text tragen, sei wesentlich davon geprägt,daß es sich in einem bestimmten Raum abspielt,13 und eben einem solchen – ‚province‘ –, der unabhängig von dem Roman existiert und im Bewußtsein derprospektiven Leserschaft in einer ganz bestimmten Weise semantisiert ist. In derEducation sentimentale, in der beide Orte auf der Handlungsebene eine Rolle spielen, scheint die Opposition eher in der beschriebenen subdominanten Varianteeingesetzt. In jenem Text wird Paris immer mehr zu einem Ort des ennui, die Provinz erscheint als ein Raum der Beschaulichkeit, dessen Verfaßtheit ungeachtetder auch dort sich notwendigerweise einstellenden Frustrationen einen letztlichnoch serenen Blick auf das Leben und dessen Wechselfälle zuläßt.14

Wenn man die Kategorien der Semiotik für einen Moment beiseite läßt undsich die Frage stellt, inwieweit es Flaubert gelingt, die Illusion zu erzeugen,15 dievon ihm entworfenen Topographien, d. h. die in den Texten stilisierte Normandiebzw. die Champagne, seien identisch mit den tatsächlichen Orten bzw. Provinzen,

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und auf die er mit seinen zwei bedeutendsten Roman repliziert, die Texte von Balzac. Inder Comédie humaine ist die Metropole ungeachtet ihrer Aura zugleich der Ort der tiefstenmoralischen Korruption. Insofern könnte man von einer Fusionierung der beiden obenapostrophierten extra-literarischen Klischees sprechen. Aber die Dinge komplizieren sichdarüber hinaus, wenn man bedenkt, daß die Provinz bei Balzac zwar zunächst der Ortdes Moralischen ist, die Dynamik der Narration indes die Zersetzung dieser moralischenIdylle durch den Druck der Modernität modelliert (Illusions perdues; Eugénie Grandet).

10 Die maßgebliche Untersuchung zu diesem Diskurs ist Karlheinz Stierles monumentalesBuch Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt, München–Wien 1993.Obwohl sich Stierle, wie schon der Titel ausweist, auf den Term ‚Paris‘ konzentriert, istdie Provinz als notwendig mitgegebener Oppositionsterm der ex negativo stets kopräsenteGegenstand der Erörterung. Zu dem Stereotyp Provinz – Paris, und zwar in beiden obenumrissenen Besetzungen, s. auch die prägnanten Ausführungen von Michel Condé,„Représentations sociales et littéraires de Paris à l’époque romantique“, in Romantisme.Revue du dix-neuvième siècle, 83 (1994), S. 49–58.

11 Alle Zitate aus Madame Bovary folgen der Ausgabe von Claudine Gothot-Mersch, Paris:Garnier 1971. Die Herausgeberin nennt den Untertitel in ihrer „Introduction“ (S. XIII),nimmt ihn aber auf dem Frontispiz der Ausgabe nicht auf.

12 ‚Mœurs‘ deriviert ja bekanntlich von ‚mores‘, Lebensart, Verhaltensformen.13 „[…] le thème de la province et d’un certain type d’existence qu’elle engendre“ seien der

Gegenstand des Texts, so resümiert die Herausgeberin diese vom Titel suggerierte Dimen-sion („Introduction“, S. XX).

14 Man denke an die letzte Szene des Texts, die Erinnerung der beiden alternden Männer,Frédéric Moreau und Charles Deslauriers, an den Besuch in einer maison publique, densie als Heranwachsende wagten, den Anlauf also zu einer sexuellen Initiation, welchezwar scheitert, jedoch: „,C’est là ce que nous avons eu de meilleur!‘ dit Frédéric. – ‚Oui,peut-être bien? c’est là ce que nous avons eu de meilleur!‘ dit Deslauriers.“ (S. 428; derText wird zitiert nach der Ausgabe von Peter Michael Wetherill, Paris: Garnier 1984).

15 Zu Flauberts Bekenntnissen zu einer illusionierenden Ästhetik s. unten, S. 205ff.

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die diese Namen tragen, würde niemand zögern, dem Autor höchste Meisterschaftzu attestieren: Kaum ein literarischer Raum erscheint, im übrigen auch noch heutigen Lesern, als so ‚real‘ wie die Champagne und vielleicht mehr noch dieNormandie von Flaubert.16 Es ist bekannt, daß der Genauigkeitsfanatiker sich fürdie bäuerlich-ländliche Terminologie, die Namen von Pflanzen und Gerätschaften,d. h. für Dinge, die ihm von seinem Lebenskontext her fremd waren, nicht wenigeraufwendig dokumentiert hat als für seine literarische Kontrafaktur des antikenKarthago, und man weiß schließlich, daß das von ihm gezeichnete Bild verbürgtist durch persönliche Erfahrung. Wenig also spräche dagegen, das Thema ‚Flau-bert und die Provinz‘ mit der Feststellung abgehandelt zu sehen, bei diesem Komplex handele es sich um ein Musterbeispiel von Literatur als Mimesis desFaktischen – man wird in der Forschung kaum eine Stimme finden, die die ent-sprechende Auffassung explizit bestritte.17

Joachim Küpper188

16 Gothot-Mersch, die hier ohne Zweifel die communis opinio reproduziert, attestiert der„description de la province“ in dem Text einen „caractère de réalité exceptionnel“(„Introduction“, S. XX).

17 In unvermittelter Direktheit begegnet die Auffassung in all den Darstellungen, die icheinleitend mit der Formel der ‚realistischen Lektüre‘ charakterisiert habe; dort werden in der Regel die realen Orte und Landschaften, die dem bei Flaubert Porträtierten entsprächen, exakt identifiziert (vgl. Gilles Henry, Promenades littéraires en Normandie,Condé-sur-Noireau 1995; zu Yonville s. etwa S. 151f.; s. weiterhin die Flaubert gewid-meten Beiträge in Flaubert et Maupassant. Ecrivains normands, hrsg. vom Institut de littérature française und vom Centre d’art, esthétique et littérature de l’université deRouen, Paris 1981; s. auch Bernard Boulard, „Paysages normands dans l’œuvre de Flaubertet Maupassant“, in Etudes normandes 37, 3 (1998), S. 71–84; André Guérin, La vie quotidienne en Normandie au temps de Madame Bovary, Paris 1975; Antoine YoussefNaaman, Les débuts de Gustave Flaubert et sa technique de la description, Paris 1962, bes.S. 401ff.). – Zur Kritik an dieser auch von den Autoritäten der älteren Flaubert-Forschung, etwa Jean Pommier, vertretenen Position s. Claudine Gothot, „Un faux problème: L’Identification d’Yonville-l’Abbaye dans Madame Bovary“, in Revue d’histoirelittéraire de la France 62, 2 (1962), S. 229–240 (alle erforderlichen weiteren Nachweise zurTradition der These ebd.). Gothot demonstriert, daß der Handlungsort von MadameBovary ein imaginäres compositum mixtum einer Reihe kleinerer Ortschaften in der Nor-mandie ist und daß Flaubert die Topographie en détail den logischen Erfordernissen dervon ihm zugrunde gelegten Handlung angepaßt hat. Allerdings überzieht Gothot ihre imPrinzip vernünftige These, wenn sie abschließend mit Emphase statuiert: „[...] Yonville[...] est avant tout, comme le reste du roman, la libre création d’un écrivain.“ (S. 240).‚Frei‘ ist diese ‚Schöpfung‘ gerade nicht. Die Konstruktion des Fiktiven ist auf genau denEffekt berechnet, dem die von Gothot zu Recht kritisierte ältere Forschung anheimfiel:die Illusion eines ‚tatsächlichen‘ Marktfleckens nicht weit von Rouen zu erzeugen. – Thema-tisch einschlägige, aber ungedruckte Dissertationen werden bei meinem notwendigerweiseunvollständigen Versuch, die Forschung zu diskutieren, nicht berücksichtigt (A. J. Mount,A Study of the Role of External Description in the French Novel, with Particular Referenceto the Works of Balzac and Flaubert, diss. phil. University of Hull 1964/1965; JohannesD. Sczyrba, Illusionsbildung bei Landschaftsbeschreibungen in Goethes Wahlverwandt-schaften und Flauberts Madame Bovary, diss. phil. University of Colorado/Boulder, 1994;

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Unter diesen Auspizien wäre es kühn, wollte man sich daran versuchen, dasGegenteil zu behaupten. Ohne Zweifel ist die Provinz bei Flaubert ein Exempelder Techniken literarischer Illusionierung, ohne Zweifel partizipiert die Semanti-sierung an dem einleitend skizzierten Diskurs über die Kapitale und die Provinz.Aber die Provinz in den Texten geht nicht in dieser Referenz auf, mehr noch, es seibehauptet, daß sie erst dann ihren Stellenwert gewinnt, wenn man ihre über dasExtra-Literarische hinausreichende Dimension wahrnimmt.

Zunächst aber seien einige kurze Passagen aus Madame Bovary zitiert, in denendie Meisterschaft von Flauberts illusionierendem Schreiben zutage tritt: „La platecampagne s’étalait à perte de vue, et les bouquets d’arbres autour des fermes faisaient, à intervalles éloignés, des taches d’un violet noir sur cette grande surfacegrise, qui se perdait à l’horizon dans le ton morne du ciel.“ (S. 14) „Par les barreaux de la tonnelle et au delà tout alentour, on voyait la rivière dans la prairie,où elle dessinait sur l’herbe des sinuosités vagabondes. La vapeur du soir passaitentre les peupliers sans feuilles, estompant leurs contours d’une teinte violette,plus pâle et plus transparente qu’une gaze subtile arrêtée sur leurs branchages. Auloin, des bestiaux marchaient; on n’entendait ni leurs pas, ni leurs mugissements;et la cloche, sonnant toujours, continuait dans les airs sa lamentation pacifique.“(S. 113) „Emma fermait à demi les paupières pour reconnaître sa maison, et jamaisce pauvre village où elle vivait ne lui avait semblé si petit.“ (S. 162)

In diesen Passus vereint sich das Porträt der Spezifik des betreffenden länd-lichen Raums (das diffuse Licht, die Endlosigkeit der Landschaft, die schwachenFarbvaleurs) mit einer Isotopie der Immobilität und Enge, in der alle Reize derSinneswahrnehmung (d. h., was letztlich dasjenige fundiert, was wir ‚Erleben‘ nennen) sich dadurch nivelliert sehen, daß sie entweder Iterationen des Immer-gleichen sind, so das Glockengeläut, oder aber von dem end- und konturlosenRaum wie verschluckt scheinen, so das Getrampel und das Blöken der Tiere. Mitden wertenden Qualifikationen aus Sicht Emmas – ‚pauvre‘, ‚petit‘ – wird dieSemantisierung dieser Immobilität und Reizlosigkeit hergestellt. Die Deskriptionverdichtet sich zum Bild einer, man möchte fast sagen typisch provinziellen, lasten-den und dumpfen Atmosphäre. Die Freudlosigkeit des Lebens erscheint auf dieseWeise als direkter Ausfluß der Bedingungen des Orts, an dem es sich abspielt.18

Genau dies ist die Basis von Emmas Selbstreflexion, und es sei daran erinnert,daß die entsprechende Annahme – die Abhängigkeit des Lebensgefühls von demOrt, an dem sich dieses Leben ereignet – die abstrakte Basis des einleitend skizziertenParis-Provinz-Diskurses darstellt, also des extra-literarischen Referenzrahmens,auf den der Text verweist und mit dem prima vista übereinzustimmen er einen

Mimesis und Botschaft bei Flaubert 189

Marjorie M. Warmkessel, Sites of Revelation: Landscape in the Nineteenth-Century Britishand French Realist Novel, diss. phil. Rutgers, New Brunswick 1997).

18 In dieser Abhandlung wird aus Gründen der Ökonomie nur auf die Provinz als ‚materieller‘Raum abgehoben. Unmittelbarer und deshalb weniger kommentarbedürftig ist der Konnexvon Provinz als sozialem Raum und der oben skizzierten Semantisierung. Auf dieserEbene dürfte die ‚typisch provinzielle‘ Dumpfheit am deutlichsten im Kapitel überEmmas Hochzeit (I, 4) sowie im Kapitel über die comices agricoles (II, 8) hervortreten.

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Gutteil seiner illusionierenden Wirkung verdanken dürfte. Das Subjektiv-Personale,das Erzählerisch-Auktoriale und das Mimetisch-Referentielle stimmen also, wasdiese ganz wesentliche Fundierungsebene der histoire angeht, überein.

Emmas Sicht ihrer eigenen Existenz findet ihren Ausdruck in Sätzen wie denfolgenden: „[…] sa vie était froide comme un grenier dont la lucarne est au nord,et l’ennui, araignée silencieuse, filait sa toile dans l’ombre à tous les coins de soncœur.“ (S. 46)19 „Elles [la série des mêmes journées] allaient donc maintenant sesuivre ainsi à la file, toujours pareilles, innombrables, et n’apportant rien! […] Puiselle remontait, fermait la porte, étalait les charbons, et, défaillant à la chaleur dufoyer, sentait l’ennui plus lourd qui retombait sur elle.“ (S. 65f.) – Der Erzählerbeglaubigt diese Beurteilung seitens der Figur mit zwei Bemerkungen von schnei-dendem Lakonismus: „Il n’y a plus ensuite rien à voir dans Yonville“ (S. 74), soschließt die kurze Beschreibung des Marktfleckens zu Beginn der deuxième partiedes Texts,20 und die Formulierung gewinnt ihre ganze Schärfe mit dem wenige Zeilen danach zu lesenden: „Depuis les événements que l’on va raconter, rien, eneffet, n’a changé à Yonville.“ (S. 75). – Paradigmatisch treten hier die zwei wesent-lichen Topoi des charakterisierten Diskurses hervor: Die Provinz ist ein Ort, andem es nichts Bemerkenswertes zu sehen gibt und an dem sich nichts ändert, undsie ist auf diese Weise ein Raum, in dem das Leben an sich selbst erstickt, wo sichalle Illusionen totlaufen („[…] des existences qu’elle [la médiocrité provinciale]étouffait, des illusions qui s’y perdaient.“ [S. 142]).

Die Stadt hingegen, „avec le bruit des rues, le bourdonnement des théâtres etles clartés du bal“ ist der Ort der „existences où le cœur se dilate, où les senss’épanouissent.“ (S. 46), und insbesondere Paris als Stadt schlechthin wird Emmazum Topos der Möglichkeit eines permanenten Glücks: „Comment était ce Paris?Quel nom démesuré! Elle se le répétait à demi-voix, pour se faire plaisir […] Paris,plus vague que l’Océan, miroitait donc aux yeux d’Emma dans une atmosphèrevermeille. […] Le monde des ambassadeurs marchait sur des parquets luisants,

Joachim Küpper190

19 Es wird schwer auszumachen sein, ob Flaubert oder Baudelaire das Bild vom ‚ennui‘ alseiner ‚araignée‘ kreiert hat (zu Baudelaire s. „LXXVIII. Spleen“, bes. V. 2 und V. 9–12).Das Baudelaire-Gedicht wurde in den Fleurs du mal, d. h. 1857, erstveröffentlicht, die(Feuilleton-)Erstveröffentlichung von Madame Bovary datiert von 1856. Aber es ist gutmöglich, daß beide Autoren aus einer gemeinsamen dritten Quelle schöpfen. Zu weitgetrieben dürfte also der Gedanke sein, die obige Bemerkung sei, in Form einer intertex-tuellen Anspielung, ein diskreter Verweis darauf, daß Emmas Gedanke vom ennui alseiner wesentlich an die Provinz gebundenen Befindlichkeit zu kurz greift, obwohl dies aufder Linie dessen läge, was der Text als Ganzes sagt.

20 Es wird schon anhand der Seitenzahlen auffallen, daß die soeben gegebenen Zitate derSicht von Emma sich noch auf das Tostes-Kapitel ihrer Existenz beziehen; wenn ich obensage, daß die vom Erzähler gegebene Einleitung des Yonville-Kapitels diese EinschätzungEmmas bestätige, so nehme ich damit vorweg, was ich weiter unten belege, was aberjedem Leser bekannt ist: In Emmas subjektiver Befindlichkeit ändert sich durch denWechsel von Tostes nach Yonville nichts (mutatis mutandis ist diese Anm. auch auf denersten, auf S. 189 gebrachten Zitate-Block zu beziehen).

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dans des salons lambrissés de miroirs, autour de tables ovales couvertes d’un tapisde velours à crépines d’or. […] Venait ensuite la société des duchesses [etc.] […]Dans les cabinets de restaurant, où l’on soupe après minuit, riait, à la clarté desbougies, la foule bigarrée des gens de lettres et des actrices. Ils étaient, ceux-là,prodigues comme des rois, pleins d’ambitions idéales et de délires fantastiques.C’était une existence au-dessus des autres, entre ciel et terre, dans les orages, quel-que chose de sublime.“ (S. 59f.) „Souvent lorsqu’ils parlaient ensemble de Paris,elle finissait par murmurer: ,Ah! que nous serions bien là pour vivre!‘“ (S. 275) –Auf diese Weise fällt für Emma das von ihr nicht erfahrene, sondern nur imagi-nierte Paris mit jener vollends faktizen, nur aus Klischees synthetisierten „citésplendide“ zusammen („avec des dômes, des ponts, des navires, des forêts decitronniers et des cathédrales de marbre blanc“ [S. 201]), in die sie sich auf demHöhepunkt ihrer Affäre mit Rodolphe zu flüchten gedenkt. Der Grund für diesenWunsch, der dazu führt, daß sie ihr prekäres, gleichwohl reales Liebesglück mitRodolphe riskiert und schließlich verliert,21 ist kein anderer als der in ihremBewußtsein fest eingeschriebene Konnex von Existenz und Ort: „Ne fallait-il pas àl’amour“, so fährt der Text in einer auf Emmas Gedanken bezogenen erlebtenRede22 fort, „comme aux plantes indiennes, des terrains préparés, une températureparticulière?“ (S. 61) „Il lui semblait que certains lieux sur la terre devaient pro-duire du bonheur […]“ (S. 42).

Emma bleibt nicht dabei stehen, von einem Ort des besseren Lebens zu träumen.23 Sie ratifiziert die Annahme, daß Topos und Glück einander bedingen,und sie tut dies im Zuge der Gesamthandlung zweimal, so daß sich vom effektivenResultat Rückschlüsse dafür ergeben sollten, was das Verdikt des implizitenErzählers über die entsprechende Annahme betrifft. Sie läßt ihren Mann so langespüren, daß sie in Tostes, dem ersten Wohnsitz des jungen Paares, unglücklich ist,bis dieser den Wechsel an einen anderen, größeren Ort ins Auge faßt, Yonville-

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21 Die Affäre hätte sich unter den Augen des nichtsahnenden Ehemannes letztlich endlosfortsetzen lassen, aber eben im banal-provinziellen Milieu.

22 Die erlebte Rede übernimmt von der direkten Rede die Wortstellung, von der indirektenRede die Verwendung der dritten Person für das Subjekt des Sprechens sowie das Tempus(s. Günter Steinberg, Erlebte Rede. Ihre Eigenart und ihre Formen in neuerer deutscher,französischer und englischer Erzählliteratur, Göppingen 1971, Roy Pascal, The DualVoice. Free Indirect Speech and its Functioning in the 19th Century European Novel,Manchester 1977 und Dorrit Cohn, Transparent Minds. Narrative Modes for PresentingConsciousness in Fiction, Princeton, NJ 1978, S. 99–140; zu einer die übliche literatur-wissenschaftliche Begriffsverwendung an Genauigkeit um einiges überbietenden Charak-terisierung s. die Beschreibung des Phänomens aus linguistischer Sicht bei Gisa Rauh,„Über die deiktische Funktion des epischen Präteritum. Die Reintegration einer schein-baren Sonderform in ihren theoretischen Kontext“, in Indogermanische Forschungen 87(1982), S. 22–55 und Indogermanische Forschungen 88 (1983), S. 33–53; s. weiterhin G. R.,„Tempus und Erzähltheorie“, in Werner Hüllen/Rainer Schulze [Hrsg.], Tempus, Zeit undText, Heidelberg 1985, S. 63–81 sowie G. R., Linguistische Beschreibung deiktischer Kom-plexität in narrativen Texten, Tübingen 1978, bes. S. 283–295).

23 Der Erzähler nennt Emma im Lektüre-Kapitel einen ‚esprit positif‘ (S. 41).

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l’Abbaye.24 Wenn nach der erfolgten Übersiedelung Emmas Erwartungen charak-terisiert werden, tritt die soeben benannte Grundannahme nochmals deutlich her-vor: „Elle ne croyait pas que les choses pussent se représenter les mêmes à des pla-ces différentes, et, puisque la portion vécue avait été mauvaise, sans doute ce quirestait à consommer serait meilleur.“ (S. 88).

Die Notorietät des Texts erlaubt es, jenen Teil der histoire zu überspringen, dervon den ersten Monaten in Yonville handelt, und sogleich den Satz zu zitieren, mitdem der Erzähler aus einer Perspektive, die in der Art des discours indirect librezugleich ihm wie auch Emma zuzurechnen ist, den Bericht über diese erwartungs-volle Phase beschließt: „Alors les mauvais jours de Tostes recommencèrent.“ (S. 128). Dieser Satz ist nun noch nicht einschlägig für das hier ins Auge gefaßteProblem Provinz – Kapitale, aber er kann als erstes Urteil über die dem entspre-chenden Diskurs zugrunde liegende Annahme gesehen werden, Glück und Un-glück seien an jeweilige Lebensorte gebunden, oder, abstrakter: der Ort bedingedie Qualität der Existenz.

Wie die Antwort des Romans auf die Frage nach der Relevanz des Ortes aus-sieht, wird vollends in derjenigen Episode deutlich, in der es Emma gelingt, ausihrer provinziellen Existenz auszubrechen und nach Rouen zu fliehen. DiesesRouen ist als Ort des Liebesglücks, der Eleganz sowie des gesellschaftlichen undkulturellen Lebens für Emma eine Art Paris, das sich für sie von der ihr nur ausBüchern bekannten tatsächlichen Kapitale nicht unterscheidet. Dies wird demLeser, bevor es dann auch Explizität gewinnt, einleitend vermittels eines inter-textuellen Verweises signalisiert. Wenn Emma von der ‚Hirondelle‘ aus, der öffent-lichen Kutsche, die sie von Yonville nach Rouen transportiert, die nahende Stadtwahrnimmt, „vu d’en haut“ (S. 268), so hat die sich entfaltende Perspektive25 eine

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24 „Comme elle se plaignait de Tostes continuellement, Charles imagina que la cause de sa maladie était sans doute dans quelque influence locale, et, s’arrêtant à cette idée, ilsongea sérieusement à aller s’établir ailleurs.“ (S. 69); hinzuzufügen wäre allerdings, daßCharles, gemäß seinem Beruf und Charakter, die besagte ,influence locale‘ nicht auf derpsychologischen Ebene (als Ort eines wenig intensiven Lebens) ansiedeln dürfte, vielmehrdaran denkt, daß in Tostes ungünstige materielle Einflüsse herrschen (Klima, ‚Elektrizi-tät‘, etc.).

25 Zum Unterschied der Beschreibung von Yonville und von Rouen s. Pierre Larthomas,„Yonville et Rouen: deux descriptions de Flaubert“, in Mélanges de littérature du Moyenâge au XXe siècle offerts à Jeanne Lods, Paris 1978, Bd. 2, S. 834–844. Larthomas betont,daß die Beschreibung von Yonville den anonymen Blick eines Reiseführers nachbilde,während im Fall von Rouen das subjektive Sehen der Figur Emma herausgestellt werde.Dem stehe gegenüber, daß die Anmutung von Yonville symbolisch auf Emmas Gemütslagebei der Ankunft verweise und auf ihr künftiges Leben in dem Marktflecken vorausdeute,wohingegen die Subjektivität der (technischen) Perspektive im Fall der Beschreibung vonRouen durch die Essenz der Beschreibung, die Charakterisierung des Wahrgenommenenals ‚typische‘ Großstadt, ausbalanciert werde. Zur doppelten Perspektivierung derRouen-Beschreibung (im oben eingeführten Sinne) s. auch Jean Maurice, „Descriptionsde Rouen au XIXe siècle: ‚réalisme‘ et ‚illusionisme‘“, in Etudes normandes 39, 2 (1990),S. 121–129; Maurice vertritt im Unterschied zu Larthomas, daß letztlich die subjektivie-

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vom Autor/Erzähler vermutlich bewußt gesetzte Affinität zu der berühmtenBeschreibung des unten im Tal der Seine liegenden Paris durch die Augen Rastig-nacs, nachdem dieser auf der Höhe des Père-Lachaise Goriot, den Titelhelden vonBalzacs bekanntestem Roman, beerdigt hat26: „[...] le fleuve arrondissait sa courbeau pied des collines vertes, et les îles, de forme oblongue, semblaient sur l’eau degrands poissons noirs arrêtés. Les cheminées des usines poussaient d’immensespanaches bruns qui s’envolaient par le bout. On entendait le ronflement des fonde-ries avec le carillon clair des églises qui se dressaient dans la brume. Les arbres desboulevards, sans feuilles, faisaient des broussailles violettes au milieu des maisons,et les toits, tout reluisants de pluie, miroitaient inégalement, selon la hauteur desquartiers.“ (S. 268) – Der suggerierte Eindruck wird vom Erzähler auf den folgen-den Nenner gebracht: „Quelque chose de vertigineux se dégageait pour elle de cesexistences amassées.“ (ebd.). Die Einzelnen zählen nicht mehr als solche, sie sindzu einem Kollektiv geworden (‚ces existences amassées‘), und die Zusammen-ballung ist von einer Quantität, die jenen Schwindel bewirkt, der nach der Theoriedes Erhabenen von Gegenständen ausgelöst wird, deren Dimension die Kapazi-täten unserer normalen Sinneswahrnehmung übersteigt. Genau dies ist ja Groß-stadt, Metropole: eine menschliche Siedlung, die ihr Faszinosum daraus gewinnt,daß ihre Größe jenseits dessen liegt, was wir mit unserem stammesgeschichtlichfixierten Bewußtsein noch als Einheit und Ganzheit wahrnehmen können. DieMetropole ist auratisch, insofern sie die faktische Existenz eines ‚infini‘ simuliert,das fürs Diesseits nicht vorgesehen ist. Und die in diesem transgressiven Anspruchenthaltene moralische Zwieschlächtigkeit, die die Essenz von Balzacs bzw. Rastig-nacs Paris-Porträt ausmacht, ist denn auch der Gipfel der Beschreibung dieserMetropole: „[...] et la vieille cité normande s’étalait à ses yeux comme une capitale

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rende, auf Emma als Wahrnehmungsträger bezogene Perspektive das dominierendeMoment sei. Dies sei in dem Sinne konzediert, daß die Feststellung von Dominanzenimmer in gewissem Maße eine Frage der Deutung seitens des jeweiligen Lesers ist; wichtigfür mein Argument ist v. a., daß auch aus der Perspektive von Maurice kein Zweifeldaran besteht, daß die zitierte Passage zunächst ein illusionierendes Porträt eines existie-renden und allgemein bekannten Ortes, eben des Rouen jener Zeit, darstellt. – Mieke Balhat in ihrer Analyse der Rouen-Beschreibung die von mir schon oben anhand der Provinz-Porträts herausgearbeitete Struktur der Topos-Deskriptionen mit folgendem Satz gefaßt:„On peut donc, dès maintenant, établir un rapport entre la vision réaliste et le personnaged’Emma: d’une part, la description correspond à ses désirs, à ses illusions, d’autre part,elle correspond à la réalité de son existence symbolisée par la réalité de Rouen.“ („Fonc-tion de la description romanesque: la description de Rouen dans Madame Bovary“, inRevue des langues vivantes/Tijdschrift voor levende talen 40, 2 (1974), S. 132–149, hier: S. 137).

26 „Rastignac, resté seul, fit quelques pas vers le haut du cimetière et vit Paris tortueuse-ment couché le long des deux rives de la Seine, où commençaient à briller les lumières.Ses yeux s’attachèrent presque avidement entre la colonne de la place Vendôme et ledôme des Invalides, là où vivait ce beau monde dans lequel il avait voulu pénétrer. Illança sur cette ruche bourdonnant [sic] un regard qui semblait par avance en pomper lemiel, et dit ces mots grandioses: – A nous deux maintenant!“ (zitiert nach der Ausgabevon Pierre-Georges Castex [Bibliothèque de la Pléiade], Paris 1976, S. 290).

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démesurée, comme une Babylone où elle entrait.“ (S. 269) Hier ist mit dem Quali-fikativ ‚capitale‘ das von Emma wahrgenommene Rouen explizit in die Funktioneingerückt, für die ansonsten der Name ‚Paris‘ steht.27 Vor allem aber ist mit demStichwort ‚Babel‘ der Grundmythos der großen Stadt aufgerufen, als Theater desVersuchs, den Himmel auf die Erde zu holen, die Gegebenheiten der menschlichenExistenz grundlegend zu ändern, und sei es um den Preis des Chaos, sowie, in derneutestamentlich-apokalyptischen Variante der Namens-Metapher,28 als Ort derZügellosigkeit und der moralischen Depravation. Dementsprechend sagt dennauch Léon zu Beginn der berühmten Kutschfahrt, bei der ihre Affäre beginnt, alsEmma noch zögert: „,Cela se fait à Paris!‘ Et cette parole, comme un irrésistibleargument, la détermina.“ (S. 249).

Die Beziehung des Paares, deren Darstellung die folgenden Kapitel gewidmetsind, ist nach Art der Liebe in einer Metropole modelliert. So heißt es einleitendzu einer der Begegnungen der beiden Liebenden: „Les bruits de la ville insensible-ment s’éloignaient, le roulement des charrettes, le tumulte des voix, le jappementdes chiens sur le pont des navires. Elle dénouait son chapeau et ils abordaient àleur île.“ (S. 261f.) Das Motiv, sich von den anderen zurückzuziehen, ist hier nicht – wie in der Provinz – die Angst vor dem Entdecktwerden. Es ist der Wunschnach Ruhe und Privatheit in Abgrenzung vom lärmigen und chaotischen Treibender Stadt, die erst Anonymität garantiert und insofern Freiheit schafft, aber umden Preis, Gegenpol zu jenem amoenen Liebesgarten zu sein, in dem sich nachalter Tradition das Glück der Begegnung ereignet.

In der ersten Zeit erscheint Rouen Emma tatsächlich als der Ort, in dem sichdas Glück realisiert. Sie erlebt dort jene ekstatischen und langandauernden Liebes-begegnungen, von denen sie auf dem Land immer nur geträumt hatte und die ihrin den flüchtigen Rendezvous mit Rodolphe versagt geblieben waren. Auch dieErfahrung des ‚beau monde‘ wird man nicht als bedeutungslos abtun können;29

die Oper als die mondänste aller Kunstformen gibt es tatsächlich nur in denMetropolen, und wer wollte sagen, es sei einerlei, ob man ein Leben führt, dasdurch den Kontakt mit dem Schönen der Kunst bereichert wird oder ob diesdurch den Ort der Existenz ausgeschlossen ist?

Aber das entscheidende Moment ist, daß es nicht bei diesem Glück bleibt. DieEssenz der Rouen-Episode besteht darin, daß sich die Opposition Provinz alsTopos des ennui vs. Kapitale als Topos des Glücks zersetzt. „Ils en vinrent“, soheißt es, nachdem das Liebesglück einige Zeit gedauert hatte, „à parler plus sou-vent de choses indifférentes à leur amour; et, dans les lettres qu’Emma lui

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27 Dementsprechend wird Emma für Léon in dieser Umgebung dann auch effektiv zu einerDame aus der Metropole: „D’ailleurs, n’était-ce pas une femme du monde […]?“ (S. 271;Hervorhebung im Original). – Zur Funktion von Rouen s. Bal, „Fonction de la descrip-tion romanesque“, S. 142 („Rouen […] représente, non seulement pour Emma, mais pourtous les personnages du roman, la grande vie, […] leur Paris.“).

28 Vgl. Gen XI, 1–9; das in Apoc 17 und 18 vorausgesagte Strafgericht über die ‚große HureBabylon‘ wird bereits angekündigt in Is 13 und 14 sowie in Jer 50 und 51.

29 S. deuxième partie, chap. XV.

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envoyait, il était question de fleurs, de vers, de la lune et des étoiles, ressourcesnaïves d’une passion affaiblie, qui essayait de s’aviver à tous les secours extérieurs.Elle se promettait continuellement, pour son prochain voyage, une félicité pro-fonde; puis elle s’avouait ne rien sentir d’extraordinaire.“ (S. 288) Den Gipfelpunktdieser semantischen Linie bildet der brutale Satz „Emma retrouvait dans l’adultèretoutes les platitudes du mariage.“ (S. 296); man beachte, daß hier zur Charakteri-sierung von Emmas subjektiver Bilanzierung dessen, was ihr einst als ‚passion‘,‚rêve‘ und ‚bonheur‘ erschienen war, ein Terminus gewählt wurde (‚platitude‘), derin wörtlicher Bedeutung zunächst seinen Platz in dem Diskurs über die Provinz alsOrt des reizlosen Immergleichen hat.30

So könnte man sagen, daß zwar Provinz und Kapitale in diesem Text alsdistinkte und oppositive Räume modelliert sind, diese Opposition allerdings indem Maße subvertiert wird, wie sich die Kapitale von einem phantasmatischen zueinem realen Ort wandelt. Die ‚realen‘ Existenz-Orte der Heldin, sei dies nunTostes, Yonville oder Rouen, sind in dem Maße und so lange positiv besetzte Orte,wie sie Orte imaginierten, gewünschten Existierens sind. Wandelt sich derWunsch-Ort zum realen Ort, kollabiert diese Semantisierung. Der Grund dafür ist,daß – nach der Analyse dieses Romans – die basale Annahme des Metropolen-Mythos und auch des Provinz-Paris-Diskurses, der Konnex von Ort und Qualitätdes Erlebens, eine Illusion darstellt. Die wahre Abhängigkeitsbeziehung bringt derErzähler auf den Nenner, wenn er zu Emmas Bewußtsein bemerkt: „Plus les choses, d’ailleurs, étaient voisines, plus sa pensée s’en détournait. Tout ce qui l’entourait immédiatement [...] lui semblait une exception dans le monde, un hasard particulier où elle se trouvait prise, tandis qu’au delà s’étendait à perte devue l’immense pays des félicités et des passions.“ (S. 60)

Es sind zwei im grundsätzlichen oppositive anthropologische Konzepte, die aufdiese Weise gegeneinander ausgespielt werden. Das eine, in Emmas Denken sowieextra-literarisch in dem Provinz-Paris-Diskurs kristallisierte, begreift Leben und

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30 S. dazu paradigmatisch das bereits gebrachte Zitat „La plate campagne s’étalait à pertede vue […]“ (S. 189). – Die Erfahrung von Emma wird dadurch auf die Ebene des All-gemeinen gehoben, daß sie in fast wörtlicher Übereinstimmung auch einem anderen ‚Liebenden‘ aus dem Figureninventar des Texts zugeschrieben wird, Rodolphe. Wenn dieser beschließt, die Affäre mit Emma zu beenden, heißt es zu seinen Motiven: „Il s’étaittant de fois entendu dire ces choses, qu’elles n’avaient pour lui rien d’original. Emma ressemblait à toutes les maîtresses; et le charme de la nouveauté, peu à peu tombantcomme un vêtement, laissait voir à nu l’éternelle monotonie de la passion, qui a toujoursles mêmes formes et le même langage.“ (S. 196). – Ich gehe weiter unten (Pkt. 3) ein wenigausführlicher auf einen möglichen Einwand ein, den man gegen die oben vorgetrageneAnalyse von Emmas Rouen-Erfahrung erheben könnte: was sich als reizlos erweise, seinicht der Ort, sondern das Erlebnis, konkret, der Ehebruch. Hier möge es genügen zusagen, daß der Ort – Rouen – die unabdingbare Ermöglichungsstruktur des Erlebnissesabgibt und daß unabhängig vom hier ins Auge gefaßten Text die axiologische Taxierungvon Orten grundsätzlich nach Maßgabe der dort möglichen, statthabenden oder statt-gehabten Erlebnisse erfolgt.

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Erleben als Funktion äußerer Bedingungen; man könnte es als ‚materialistisch‘oder auch ‚progreßtheoretisch‘ qualifizieren. Es ist dieses, von Flauberts Textenals illusionär denunzierte Konzept, das dem gesamten Bemühen, welches man dasModerne-Projekt nennt, die Legitimation schafft. Denn nur wenn die Änderungender Bedingungen die Existenz realiter ändern und zwar bessern, kann der immenseAufwand der Weltveränderung, ja, Neuschöpfung, welcher das Programm derModerne konstituiert und in der Metropole seinen Kristallisationsort hat, bean-spruchen, Sinn zu haben. Dagegen setzt Flaubert die Behauptung, unser Erlebenwerde von einer Dialektik des Begehrens gesteuert, die das Abwesende zumGewünschten stilisiert. Gelingt die Appropriation, verliert es damit seine Qualitätals Positives und Begehrtes. Dies wiederum bedingt, daß alle Objekte für uns weniger in ihrer jeweiligen Konkretion als in ihrer Qualität als Ab- oder Anwesendevon Belang sind.

Die Weiterungen dieses anthropologischen Konzepts für die in Flauberts Texten modellierte Welt sind zentral. So figuriert etwa das hier ins Auge gefaßteStratum von Welt, die Provinz, zwar zunächst, wie in dem extra-literarischen Refe-renzdiskurs, die tatsächliche Provinz, aber sodann auch mehr und anderes als nurdies. Provinz bei Flaubert ist eine Chiffre, für die auf dieser sekundären Ebene dieBedeutung ‚Realität‘ einzusetzen wäre.31 Alle realen Existenz-Orte der jeweiligenProtagonisten sind Plätze des ennui, alle phantasmatischen Orte sind Plätze desGlücks. Die Opposition Provinz – Kapitale wird überlagert durch die Oppositionvon Realem und Phantasmatischem. Der Mythos, es gebe Orte, an denen es einintensiveres, freieres, glücklicheres Leben geben könne als an anderen, und damitauch der Mythos von der Machbarkeit des Glücks wird dekonstruiert zugunstender Auffassung, die Essenz des Realen sei Unglück und das Glück immer nur einPhantasma der Imagination.

2.

In gleichsam inverser Perspektivierung wird diese Botschaft in der Education senti-mentale vermittelt. Wie schon der Titel ausweist, ist das Basis-Schema dieses Textsdie französische Version dessen, was man im Deutschen ‚Bildungsroman‘ nennt.Die Variante ist dadurch gekennzeichnet, daß ‚Bildung‘ nicht als eine wesentlichinnerliche, subjektive verstanden wird, sie vielmehr gebunden ist an die Kapitaleals Ort der Sozialität und damit als demjenigen Punkt, an dem sie einzig ihrenGipfel erreichen kann, was dann der Fall ist, wenn sich sozialer Erfolg und dieEinsicht in dessen Bedingungen miteinander verbinden. Das entsprechende Refe-

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31 So tendenziell auch Hans-Martin Gauger, Der vollkommene Roman: Madame Bovary,München 1983 („Die Provinz Flauberts ist nicht die Frankreichs; sie ist die des Men-schen, wie übrigens auch das Wort bourgeois für ihn kaum anderes ist als ein Synonymfür Mensch.“ [S. 29]); unabhängig von der Frage der descriptio und mit Blick auf denText als ganzen, s. auch Eric Gans, Madame Bovary: The End of Romance, Boston 1989,passim, bes. markant S. 8.

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renz-Schema wird bei Flaubert explizit aufgerufen: „,Rappelle-toi Rastignac dansla Comédie humaine‘“, so Deslauriers gleich zu Beginn, als Frédéric ihm erzählt,daß ein Nachbar als Verwalter der Liegenschaften von M. Dambreuse fungiere,„,le banquier qui demeure rue d’Anjou‘.“ „,Tu devrais prier ce vieux de t’intro-duire chez les Dambreuse […]‘“.32 Aber das Zitat dient allererst der Aktualisie-rung der Differenz. Zwar macht in der Tat auch Frédéric Moreau der Gattin desgenannten Bankiers den Hof, und nicht anders als Eugène de Rastignac wird aucher recht rasch erhört. Während jenen allerdings die Affäre auf den Gipfel dessozialen Erfolgs führt, um den Preis freilich der moralischen Integrität,33 endetFrédérics Liaison mit Mme Dambreuse in sang- und klanglosem désenchantement,auf der Ebene der Gefühle, aber auch auf der der gesellschaftlichen Interessen.34

Nach Paris gekommen war er indes aus eben den Motiven heraus, aus denendie Familie Rastignac den einzigen Sohn in die Kapitale geschickt hatte: um zuarrivieren und ein Leben zu führen, wie dies in der Provinz prinzipiell nicht mög-lich ist, eine Existenz im Glanz des großen Erfolgs. Und für beide jungen Männerverband sich diese Erwartung der Familien mit den altersgemäßen Hoffnungenauf eine andere Art von Glück, auf Liebeserfüllung an der Seite einer Frau bzw.von Frauen, wie es sie in dieser Schönheit, Kultiviertheit oder Attraktivität nur inder Kapitale geben kann. „Puis ils (re)viendraient à Paris, ils travailleraient ensemble,ne se quitteraient pas; – et, comme délassement à leurs travaux, ils auraient desamours de princesses dans des boudoirs de satin, ou de fulgurantes orgies avec descourtisanes illustres.“ (S. 14), so die Phantasien von Frédéric und Deslauriers,wenn sie als Heranwachsende in der heimatlichen Provinz von ihrem künftigenLeben träumen; und in der nüchternen Sprache des Erwachsenen liest sich der inFrédérics Bewußtsein nicht weniger als in dem Emmas fest verankerte Konnex vonKapitale und ‚wirklichem‘ Leben wie folgt: „Paris! car, dans ses idées [deFrédéric], l’art, la science et l’amour […] dépendaient exclusivement de la capi-tale.“ (S. 91).35

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32 S. 17f.; die Parallele wird von Deslauriers im Sinne dessen, was ich oben im Anschlußumreiße, in aller Detailliertheit durchgeführt: „,[…] rien n’est utile comme de fréquenterune maison riche! Puisque tu as un habit noir et des gants blancs, profites-en! Il faut quetu ailles dans ce monde-là! […] Un homme à millions, pense donc! Arrange-toi pour lui plaire, et à sa femme aussi. Deviens son amant! […] Mais je te dis là des choses classiques, il me semble?’“ (im unmittelbaren Anschluß der oben zitierte Hinweis aufRastignac).

33 Rastignac heiratet die Tochter seiner Geliebten und betreibt mit der immensen Mitgifteine politische Karriere, die ihn schließlich bis ins Amt des Premierministers befördernwird.

34 Frédéric verpaßt aus den banalsten Gründen das Angebot des Ehemannes, ihn an einererfolgsträchtigen Spekulation zu beteiligen, der Fusionierung aller französischen Grubenzur „Union générale des Houilles françaises“ (vgl. S. 190ff.).

35 Gleichlautend S. 105: „[…] savourant ce bon air de Paris qui semble contenir des effluvesamoureux et des émanations intellectuelles.“ (Kommentar zu Frédérics Gestimmtheit beider Rückkehr in die Kapitale, nachdem er seinen Onkel beerbt hat, d. h., nach einer langen Zeit der aus finanziellen Gründen unumgänglichen Existenz in der Provinz).

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Im Unterschied zu Emma wird es Frédéric in der Tat zuteil, in der Kapitale dieganze Spannbreite dessen zu erleben, was bis auf den heutigen Tag als Inbegriffmetropolitaner Existenz gilt: die Welt der hohen Bildung und die der Kunst, dieVergnügungen der großen Bälle, den Rausch der freien Liebe, die Orgien im Milieudes demi-monde, die Empfänge der Reichen, die Debatten in den politischenClubs, ja, selbst ein so singuläres und per definitionem nur am Ort der Machtmögliches Ereignis wie das der Revolution. Zunächst hat für Frédéric diesesmetropolitane Leben tatsächlich all jene Attribute der Fülle, der Intensität und dernur im Modus des Künstlichen, d. h. des Städtischen herstellbaren Hybridisierungaller Sinnesreize, von denen Emma immer nur träumen konnte36: „Jamais Paris nelui avait semblé si beau. Il n’apercevait, dans l’avenir, qu’une interminable séried’années toutes pleines d’amour.“ (S. 87), so der Kommentar zu seinen erstenMonaten in der Kapitale. Aber schon auf mittlere und erst recht längere Sichterweisen sich die genannten Erlebnisse als wechselnde Erscheinungsformen desImmergleichen einer Existenz, deren Grundmuster Eintönigkeit und Reizlosigkeitsind. Dies tritt plakativ zutage, wenn Frédéric voller Erwartung Zugang findet zu„cette chose vague, miroitante et indéfinissable qu’on appelle le monde“. Das Ver-dikt, das er am Ende des Abends über die Gesellschaft aus Großbankiers, Adligenund Berühmtheiten anderweitiger Art sowie ihre Gemahlinnen fällt, konzentriertsich in einem einzigen Satz, der die Gespräche betrifft, denen Frédéric mehrzugehört hatte als an ihnen teilzunehmen: „[…] ils [des hommes versés dans la vie, un ancien ministre, le curé d’une grande paroisse, deux ou trois hauts fonc-tionnaires du gouvernement] s’en tenaient aux lieux communs les plus rebattus.“(S. 130f.) Dementsprechend heißt es, wenn Frédérics Leben auf einen allgemeinenNenner gebracht wird: „Ainsi les jours s’écoulaient, dans la répétition des mêmesennuis et des habitudes contractées.“ (S. 25), und einige Kapitel weiter: „Alorscommencèrent trois mois d’ennui.“ (S. 64)

Die Nivellierung der Opposition Provinz – Paris ist hier also in der Weisemodelliert, daß die Semantisierung der Provinz als Ort des ennui eher voraus-gesetzt denn erzählerisch gestaltet wird37 und sich die Aufmerksamkeit des erzäh-

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36 Die größte Nähe des von Frédéric erfahrenen zu dem von Emma phantasmagorisch er-träumten Paris (s. o., S. 190) dürfte in dem Kapitel zu finden sein, das Frédérics Besucheines ‚bal public‘ in der ‚Alhambra‘ gewidmet ist (S. 70ff.). Dieser Ort eines modernenMassenvergnügens bringt schon im Namen zum Ausdruck, daß der Reiz des Erlebensdort durch Künstlichkeit hergestellt wird, durch die Konzentrierung von Objekten, die inder nicht-künstlichen, nicht-metropolitanen Welt nimmer an einem Ort zusammen-kommen können („[…] il y avait des Anglais, des Russes, des gens de l’Amérique du Sud,trois Orientaux en tarbouch.“ [S. 70; entsprechend zur Dekoration des Orts (ebd.); ähn-lich zu einer großen ‚réception‘ im Haus Dambreuse (S. 160)]).

37 Die relativierende Partikel soll darauf hinweisen, daß die Aussage als relativ aufzufassenist; natürlich kommt in der Education sentimentale auch das Motiv der Provinz als Ortdes ennui zur Sprache. So heißt es etwa zu der in Kap. I, 1 beschriebenen Schiffsreise desjungen Frédéric von Paris ins heimatliche Nogent-sur-Seine: „[…] et l’ennui, vaguementrépandu, semblait alanguir la marche du bateau et rendre l’aspect des voyageurs plus insignifiant encore.“ (S. 5) Man vergleiche des weiteren die Porträtierung von Nogent-

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lerischen Fokus darauf konzentriert, nun auch die Kapitale als Ort des ermüden-den Immergleichen vorzuführen. Der Grund für diese Entwertung des zunächstals reizvoll Wahrgenommenen ist bei Frédéric kein anderer als im Fall von Emma.Es genügt ein Zitat, um diese Kontinuität zu verdeutlichen: „Alors Frédéric se rappela les jours déjà loin où il enviait l’inexprimable bonheur de se trouver dansune de ces voitures, à côté d’une de ces femmes. Il le possédait, ce bonheur-là, etn’en était pas plus joyeux.“ (S. 210)38

Die Bewegung wird dadurch auf einen Gipfel geführt, daß sich die im Rahmendes Provinz-Paris-Diskurses verbleibende zweite Möglichkeit, die Positivierung derProvinz als Raum des Authentischen, gleichermaßen konterkariert sieht. Domi-

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sur-Seine (S. 16), die von den semantischen Merkmalen her recht exakt dem zitierten Porträt von Yonville entspricht; gleiches gilt für die Beschreibung der Landschaft (s. etwaS. 92f.); zur Provinz als sozialem Topos, als Ort von Enge, Mißgunst, Bigotterie undKleinlichkeit vgl. beispielhaft die Beschreibung des Empfangs zu Ehren von Frédéric imelterlichen Haus am Ende der Reise, welche Gegenstand des Kapitels I, 1 ist (S. 11f.).

38 Analog in dem Moment, als er im Anschluß an das prekäre, auf beiden Seiten vonAspekten der Inszenierung belastete Idyll von Fontainebleau mit Rosanette einen veri-tablen Hausstand begründet, in dem sich sogar Nachwuchs ankündigt. Schon nach einerkurzen Zeit des quasi-familialen Glücks heißt es zu Frédérics Gefühlen: „Il rêvait uneautre vie, qui serait plus amusante et plus noble. Un pareil idéal le rendait indulgent pourl’hôtel Dambreuse.“ (S. 365). In der Tat macht er sodann Mme Dambreuse in aller Formden Hof (s. S. 366). Fast unmittelbar nachdem er Erfolg gehabt hat, befällt ihn die „dés-illusion“ (S. 376). Auch in diesem Text wird, wie in jenem (s. meine Bemerkungen zuRodolphe [Anm. 30]), die Struktur dadurch einer idiosynkratischen Deutung enthoben,daß sie gleichermaßen für andere zentrale Figuren explizit gemacht ist. Solange sie derVerehrung Frédérics für ihre Person sicher sein konnte, war dieser für Mme Arnoux keinObjekt des Begehrens. Sie begegnet ihm kühl und abweisend, über das Maß hinaus, dasihr Selbstbild als bürgerlich-wohlanständige Ehefrau erfordern würde. Dann allerdingsreist er ab, und man berichtet ihr, daß er einen Monat später Mlle Roque (Louise) heiraten werde, was in der Tat zeitweilig Frédérics Plänen entspricht. „,Il va se marier !est-ce possible !‘ Et un tremblement nerveux la saisit. ,Pourquoi cela? Est-ce que je l’aime?‘ Puis tout à coup: ‚Mais oui, je l’aime! … je l’aime!‘“ (S. 248) Man vergleicheweiterhin S. 373: In dem Moment, als Frédéric sich der Liaison mit Rosanette schon fastentzogen hat, entdeckt diese, für die Frédéric bis dahin weitgehend nur eine Geldquelleunter vielen war und die ihn eher respektlos behandelt hatte, ihre Gefühle für ihn: „,[…]mais je ne t’ai jamais trouvé si beau! Comme tu es beau!‘ Dans un transport de sa tendresse, elle se jura intérieurement de ne plus appartenir à d’autres, quoi qu’il advînt,quand elle devrait crever de misère!“ – Ich spare aus meiner Erörterung aus, daß es in derEducation sentimentale noch eine zweite causa des ennui gibt, welche wesentlich an dieExistenzbedingungen der Kapitale, besser, an die Existenzform der ‚modernité‘ selbstgebunden ist: das Desinteresse am je einzelnen Objekt, das aus der Überfülle der poten-tiell verfügbaren Wunschobjekte erwächst. Diese Struktur kommt am deutlichsten zumAusdruck im abrupten Pendeln von Frédérics sentimentalen und erotischen Wünschenzwischen Mme Arnoux, Rosanette und Mme Dambreuse sowie einer Vielzahl weitererFrauen, denen er bei den Abendeinladungen in der Kapitale oder bei anderen Anlässenflüchtig begegnet (vgl. S. 128f.; S. 132; S. 146; S. 208f.; S. 352f.).

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nant ist in der Education sentimentale zwar die Unterminierung des Konnexes vonKapitale und Glück bzw. Intensität. Aber wenn Frédéric in den Sommerferien indie heimatliche Provinz zurückkehrt und dann in Bilanzierung seiner im Sandeverlaufenen Pariser Versuche sich darauf einläßt, ein beschauliches Glück zubegründen, kommen die Dinge nicht zustande, und letztlich aus den gleichenGründen wie dort: Gegenüber Louise, einer jungen Frau, die ihn schon als kleinesMädchen schwärmerisch verehrt hatte, die ihn ehelichen möchte und die zudemschwerreich ist, verhält er sich in genau dem Moment indifferent, als er sich sichersein kann, daß sie ihn aufrichtig liebt („Pour la première fois de sa vie, Frédéric sesentait aimé.“ [S. 251]) und die Heirat zwischen den beiden Familien schon alsausgemacht gilt.39

3.

Man könnte die hier beschriebene Struktur mit Blick auf beide angesehenen Texteals De-Semantisierung der Topographien bezeichnen. Die Spezifika, die ‚semanticfeatures‘ der Topoi werden en détail präsentiert, jedoch in der Absicht, durch denVerlauf der Narration ihre Irrelevanz zu demonstrieren. Ihren Höhepunkt findetdiese Bewegung in der Education sentimentale, und zwar in der berühmten Ellipse,mit der das Schlußkapitel einsetzt und mit der einige Jahrzehnte der Existenz desHelden, in denen er auf der Suche nach dem Glück die gesamte dem damaligenTouristen verfügbare Welt bereist hat, auf den Nenner weniger, lapidarer Sätzegebracht werden: „Il voyagea. Il connut la mélancolie des paquebots, les froidsréveils sous la tente, l’étourdissement des paysages et des ruines, l’amertume dessympathies interrompues. Il revint.“ (S. 420). In dieser Passage kristallisiert sichgewissermaßen, was schon an den bis dorthin zu lesenden Kapiteln deutlich wurdeund was den Text mit Madame Bovary verbindet: Es gibt keine Orte des Glücksauf dieser Erde, es gibt nur Orte des je nach ‚Temperament‘ (wie Flaubert sagt)mehr oder weniger dramatisch erlebten Unglücks.

Es ist hier nicht die Gelegenheit, in extenso zu entwickeln, was in dem Gesag-ten bereits impliziert ist und bei einer näheren Analyse vor allem der Educationsentimentale vollends deutlich würde: Die De-Semantisierung der Topographienist Erscheinungsform einer umfassenderen Struktur, die man die De-Semantisie-

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39 „[…] Mlle Louise l’aimait si fort, qu’il ne pouvait rester plus longtemps sans se déclarer.Il avait besoin de réfléchir, il jugerait mieux les choses dans l’éloignement. Pour motiverson voyage, Frédéric inventa une histoire; et il partit, en disant à tout le monde et croyantlui-même qu’il reviendrait bientôt.“ (S. 254). Wie der letzte Teil-Satz impliziert, kehrtFrédéric keineswegs alsbald zurück, und er läßt Louise ohne Erklärung. Geraume Zeitspäter heißt es, als ihn, wie so oft, der „dégoût de Paris“ befällt und er sich auf Heimat-besuch begibt: „Le souvenir de Louise lui revint. ‚Elle m’aimait, celle-là! J’ai eu tort dene pas saisir ce bonheur … Bah! n’y pensons plus!‘“ (S. 417). Als er in Nogent ankommt,sieht er, wie die frischvermählte Louise am Arm ihres Ehemannes Deslauriers aus derDorfkirche kommt. Jahrzehnte danach erfährt er, daß Louise diesen später verlassen hatund mit einem Sänger durchgebrannt ist.

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rung aller ‚Realien‘ bei Flaubert nennen könnte.40 Die Struktur folgt einer Be-wegung, die man als ein Konterkarieren basaler, in unserem kulturellen Bewußt-sein als grundlegend verzeichneter Oppositionen fassen könnte, jedoch immerzugunsten desjenigen Terms, der in der usuellen Codierung die Position des Ge-wohnten, Reizlosen, Unveränderlichen und Uninteressanten besetzt. Wie hier ge-zeigt wurde, gilt dies für die Opposition Provinz – Kapitale, es gilt, wie ansatzweiseauch bereits demonstriert wurde, für die Opposition von zweckrationaler, bürger-licher Ehe und ehebrecherischer Leidenschaftsliebe, für die von der Liebe zu einerDame von Welt und zu einer Kurtisane, es gilt weiterhin für die von politischerStabilität und Revolution,41 von geistloser mediocritas und intellektueller Bohème,ja selbst für die Opposition von ‚niederer‘ und platonisierender Liebe, welch letzteredurch die Tugendhaftigkeit der Geliebten und bedingt durch die Umstände ‚rein‘geblieben war, und von der am Ende, wie im Fall der authentischen Affären, auchnicht mehr bleibt als Desinteresse und Verlegenheit.42

„Avez-vous jamais cru à l’existence des choses? Est-ce que tout n’est pas uneillusion? Il n’y a de vrai que les ,rapports‘, c’est-à-dire la façon dont nous perce-vons les objets.“43 Dieses vielzitierte, selten interpretierte Diktum Flaubertsscheint, was soeben erläutert wurde, mit den Worten des Autors auszudrücken:Die eigentliche Wirklichkeit ist nicht die Welt als solche, sondern die Welt, so, wiewir sie wahrnehmen. Und diese Wahrnehmung wiederum steht im Zeichen ebenjener Dialektik des Begehrens, die der Erzähler von Madame Bovary in der zitierten

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40 Zu dieser Struktur in der Education sentimentale s. auch S. CV–CIX der „Préface“ desHerausgebers der zitierten Ausgabe.

41 Ich beschäftige mich in diesem Aufsatz nicht mit Flauberts Modellierung der Revolutionvon 1848 und gebe als rudimentäre Untermauerung meiner Behauptung, der im Kontextder einschlägigen Forschung nichts Originelles innewohnt, neben dem Verweis auf denfast schon melodramatisch inszenierten Wechsel des Revolutionärs Sénécal ins Lager derReaktion (S. 418f.) und dem Zitat des Erzählerkommentars S. 339 („[…] et le bonnet decoton ne se montra pas moins hideux que le bonnet rouge.“) nur den Hinweis auf dieextrem ironische, wenn nicht sarkastische Darstellung des Verhaltens des Ex-Revolu-tionärs Deslauriers nach dem Scheitern des Aufstands. Dieser bietet M. Dambreuse seineDienste als Jurist an und macht sich anheischig, dessen Pläne zur Gründung eines natio-nalen Kohle-Monopolunternehmens, die auf Schwierigkeiten stoßen, mit folgendemArgument durchzufechten: „D’ailleurs, on pouvait donner à l’entreprise une couleurdémocratique: empêcher les réunions houillères était un attentat contre le principe mêmed’association.“ (S. 374).

42 „Frédéric soupçonna Mme Arnoux d’être venue pour s’offrir […] il sentait quelque chosed’inexprimable, une répulsion, et comme l’effroi d’un inceste. Une autre crainte l’arrêta,celle d’en avoir dégoût plus tard. D’ailleurs, quel embarras ce serait! – et tout à la fois parprudence et pour ne pas dégrader son idéal, il tourna sur ses talons et se mit à faire unecigarette.“ Die beiden reden noch ein wenig miteinander, sie verabschiedet sich, fürimmer, läßt ihm eine Locke ihres ergrauten Haars, „‚Gardez-les! adieu!‘“, Frédéric bleibtstumm, sieht durchs Fenster, wie sie eine Droschke besteigt, „Et ce fut tout.“ (S. 423f.)

43 Brief vom 15. 8.1878, Correspondance. Nouvelle édition augmentée, 9 Bde. und 4 Supple-ment-Bde., Paris: Conard, 1926–1954, hier: Bd. 8, S. 135.

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Passage auf den Nenner gebracht hat: Nur das Nicht-Anwesende, das Nicht-Ver-fügbare wird als reizvoll wahrgenommen.44

Anschließend an diese generalisierende Behauptung, die hier nur in Form einerThese präsentiert werden kann, sei auf das Problem der Mimesis bei Flaubertzurückgekommen, und es sei beleuchtet in Erläuterung des oben eher beiläufigeingeführten Terminus, die Provinz bei Flaubert sei aufzufassen als eine Chiffre.‚Chiffre‘ – dieser Begriff meint ein Zeichen, das außer einer primären, transparen-ten und trivialen noch eine sekundäre, mit ‚Sinn‘ investierte Bedeutung hat. Einchiffrierter Text ist kein Sammelsurium unentwirrbarer Linien, er besteht auscodifizierten Zeichen, nur verweisen diese Zeichen nicht auf die Botschaft, die derText auch, besser: vorrangig transportieren soll. Diese Botschaft erschließt sich,wenn man für die primär erkennbaren Zeichen eine andere Bedeutung einsetzt alsdie im Normalcode vorgesehene. Und das Erschließen der kryptischen Bedeutungerfolgt vermittels eben jener Analyse von Rekurrenzen und Oppositionen, mitderen Hilfe die Linguistik fremde Sprachen entschlüsselt und die hier, mutatismutandis, angewendet wurde.

Warum rekurriere ich nicht auf den Begriff der Metapher, den des Symbolsoder auch den der Allegorie, allesamt wohleingeführte Termini, um zumal für denBereich literarischer Texte eine Re-Semantisierung von Wörtern zu bezeichnen,die eine anderweitige eigentliche Bedeutung haben? Was die Metapher betrifft,fehlt es hier an dem Bruch des primären Kontexts, durch den sich die Präsenzeiner zweiten, uneigentlichen Bedeutung signalisiert. Dies ist ein ganz entscheiden-des Moment in der semantischen Gesamtökonomie: Flauberts Texte gehen, wennman dies will, in einer Lektüre auf, die dort, wo ‚Provinz‘ steht, nichts andereserkennt als Provinz in der usuellen Bedeutung eines ländlichen, von sozialer Engeund dumpfer Mittelmäßigkeit geprägten Raums, und diese Rezeptibilität auf einerelementaren mimetischen Ebene ist wesentliches Moment ihrer Wirkung. Auch dieAllegorie, deren Definition in der klassischen Rhetorik zunächst die einer ‚ausge-sponnenen Metapher‘ ist (metaphora continuata), wäre, um erkannt zu werden,auf einen Bruch des (weiteren) Kontexts verwiesen, ansonsten verschmölze sie mitdem Symbol, von dem sie seit der Goethezeit auf der Grundlage der Oppositionvon Eindeutigkeit und Allusivität abgegrenzt wird.45 Damit ist auch bereits gesagt,warum ich im hier diskutierten Fall nicht auf den Symbol-Begriff zurückgreifen

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44 S. o., S. 195f.45 S. dazu Goethes Essay „Über die Gegenstände der bildenden Kunst“ (Sämtliche Werke

nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, hrsg. von Karl Richter u. a., 20 Bde.,München 1985–1998, Bd. 4, 2, S. 121–124, bes. S. 124). Wichtiger noch für den hier an-visierten Zusammenhang ist der berühmte Passus aus den „Maximen und Reflexionen“,in dem Goethe seine Dichtung von der Schillers abgrenzt: „Es ist ein großer Unterschied,ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht, oder im Besondern das Allgemeineschaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempeldes Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie; sie spricht einBesonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken, oder darauf hinzuweisen.“ (SämtlicheWerke, Bd. 17, S. 766f. [Hecker Nr. 279])

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möchte: Das von Flauberts Provinz sekundär Gemeinte ist von maximaler Präzi-sion, und es ist diese Präzision des Gesagten, was den Texten des Autors die post-romantische Schärfe verleiht.46

Das Dilemma, die beschriebene Struktur mit dieser oder jener Form uneigent-licher Rede zu fassen, liegt aber vor allem darin begründet, daß es sich nicht umUneigentlichkeit im strikten Sinne handelt, nicht um die Substitution einer eigent-lichen durch eine figurative Bedeutung, sondern um ein Phänomen der Doppel-codierung: Die Provinz (und analog alle anderen oben kurz aufgeführten Mit-glieder des Paradigmas) bezeichnet zunächst die ‚mimetisch‘ verstandene Provinz(sowie auf dieser Ebene, metaphorice, die subjektive Befindlichkeit des jeweiligenWahrnehmungsträgers47), zugleich aber die zeit- und ortlose conditio des Realen.

In der Gleichgewichtigkeit des Mimetischen und des Subjektiven zum einen, indem wesentlich Transsubjektiven des Mit-Signifizierten zum anderen liegt dennauch der Unterschied der Flaubertschen Landschaften zu den romantischenLandschaften, mit denen die ‚personale‘, subjektivierende Lektüre sie vorschnellineins setzt. Zwar ist auch bei Chateaubriand die Möglichkeit einer mimetischenLektüre bewahrt; nur postmoderner Systemzwang wird etwa in René eine a-mime-tisch intendierte Konterkarierung von Referentialität entdecken können. Aber dieRelevanz dieser Ebene ist eine andere als bei Flaubert.48 Im deskriptiven Verfahrendes außergewöhnlichen, ja, extremen Landschaftstableaus, in dem auf der Hand-lungsebene angesiedelten Verfahren des Suchens, im wörtlichen Sinne von: Auf-

Mimesis und Botschaft bei Flaubert 203

46 Ich wüßte nicht zu sagen, ob ich mich mit meiner Verwendung des Chiffre-Konzepts aufdie berühmte Formel berufen könnte, mit der Adorno seine Kunstauffassung gegen die‚simplen‘ mimetischen Ästhetiken von Aristoteles bis Lukács distinkt zu machen ver-sucht hat: Die „Konstellation“ der Zeichen im Kunstwerk sei nicht das „Abbild“ desRealen, vielmehr die „Chiffrenschrift des geschichtlichen Wesens der Realität“ (Ästheti-sche Theorie, hrsg. Gretel Adorno/Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1970, S. 425). Daßein totalisierendes Konzept wie das des ‚geschichtlichen Wesens der Realität‘ aus heutigerSicht noch Bestand haben könnte, würde ich in Zweifel ziehen, und auch, appliziert mandie These auf Flaubert, daß das Leben, unter welchen Bedingungen auch immer, tatsäch-lich nur Unglück sei. Wir können, so denke ich, das von Flaubert mit einiger InsistenzModellierte durchaus – vermutlich dann gegen die Absichten des Autors – als eine vonmehreren Varianten der Konzeptualisierung dessen auffassen, worin denn menschlichesLeben seine Essenz habe.

47 Zu den Gründen für die hier gegebene relativ geringe Spürbarkeit des im Prinzip immerdeutlich wahrnehmbaren Abstands von Mimesis und Metapher s. u., Anm. 50.

48 Wichtig ist mir, daß die Relation Chateaubriand–Flaubert, was diesen Punkt betrifft,nicht oppositiv ist, vielmehr das Profil einer graduellen Verschiebung der Relevanzen undDominanzen hat; insofern ist die von mir oben kritisierte romantisierend-subjektive Flaubert-Lektüre nicht abwegig schlechthin, genau so wenig, wie dies eine mimetisierendeChateaubriand-Lektüre wäre; aber ich versuche mit dem oben und weiter vorne Gesagtenzu verdeutlichen, daß es sich im einen und im anderen Fall um Lektüren handelt, die (wieetwa Prousts Flaubert-Lektüre) ihre jeweiligen internen Plausibilitäten haben mögen, dasje Spezifische der Texte indes verfehlen.

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suchens der jeweiligen Szenarios49 durch den Helden, exteriorisiert sich der funk-tionale Unterschied. Das Interesse an den Landschaften als quasi-realen Räumentritt zurück zugunsten der Frage ihres symbolischen Belangs für die Auslotungeiner ‚abgründigen‘, sich selbst und dem Erzähler letztlich nicht fixierbaren, nichtsagbaren Psyche.50

Letztlich sind mit dem soeben Gesagten auch die Unterschiede des hier Ent-wickelten zu einer Lektüre im Zeichen von Ironie oder von deren sekundärer Iro-nisierung markiert. Nicht anders als Metapher und Symbol ist die Ironie eineForm uneigentlicher Rede; sie ist dies allerdings in weitaus grundsätzlicherer Artund Weise. ‚Symbolisch‘ codierte Texte lassen à la limite eine Deutung in den Bahnen jener Art von Doppelcodierung zu, wie ich sie hier für Flaubert beschreibe.Konsequent auf dem Verfahren der Ironie gründende Texte erlauben kein wört-liches Verständnis des primär Gesagten, es sei denn in Form des Mißverständnisses.

Beide den kritisierten Schulen der Flaubert-Deutung zugrunde liegende Figurenhaben gemein, die Struktur des sprachlichen Zeichens – ein materieller Träger, einarbiträr damit verbundenes Bedeutendes – zu verdoppeln; insofern kann man,wenn man dies will, alle Texte, die auf Metapher (einschließlich Allegorie und

Joachim Küpper204

49 Ich begnüge mich hier mit dem in dieser Hinsicht am meisten einschlägigen Zitat, welcheszudem eine Bloßlegung der auf das Subjekt bezogenen Funktionalisierung enthält,möchte aber betonen, daß Entsprechendes auch für die ,normannischen‘ Landschaftendes Texts gilt (keiner Erwähnung bedarf dies für die in jenen Zeiten noch zur Domänedes vollends Exotischen zählende nordamerikanische Prairie): Es sind durchweg außer-gewöhnliche Landschaften bzw. Landschaftselemente, die beschrieben werden, die speku-läre, metaphorische Funktion wird angedeutet oder explizit gemacht, und sie wird quasi-realistisch motiviert durch den Verweis darauf, daß der Held die entsprechendenLandschaften aufsucht, weil es ihm ein unerklärliches, gleichwohl unwiderstehliches inneres Bedürfnis ist, sie aufzusuchen („,Un jour‘“, so berichtet René, „‚j’étais monté ausommet de l’Etna, volcan qui brûle au milieu d’une île. Je vis le soleil se lever dans l’immensité de l’horizon au-dessous de moi, la Sicile resserrée comme un point à mespieds, et la mer déroulée au loin dans les espaces. Dans cette vue perpendiculaire dutableau, les fleuves ne me semblaient plus que des lignes géographiques tracées sur unecarte; mais tandis que d’un côté mon œil apercevait ces objets, de l’autre il plongeait dansle cratère de L’Etna, dont je découvrais les entrailles brûlantes, entre les bouffées d’unenoire vapeur. Un jeune homme plein de passions, assis sur la bouche d’un volcan, et pleurant sur les mortels dont à peine il voyait à ses pieds les demeures, n’est sans doute, ôvieillards, qu’un objet digne de votre pitié; mais quoi que vous puissiez penser de René, cetableau vous offre l’image de son caractère et de son existence: c’est ainsi que toute ma viej’ai eu devant les yeux une création à la fois immense et imperceptible, et un abîme ouvertà mes côtés.‘“ [René, in Œuvres romanesques et voyages, hrsg. Maurice Regard, Bd. 1,Paris 1969, S. 111–146, hier: S. 124 f.]).

50 Der wesentliche intrafiktionale Fluchtpunkt dieser im Vergleich zur Romantik verschobe-nen relativen Gewichtung ist natürlich die Modellierung des Helden. Das Referentielleund das Subjektive können bei Flaubert deshalb zusammenkommen, weil Emma keineromantische (Ausnahme-)Heldin ist, sondern eine durchschnittliche Figur, deren Außer-gewöhnlichkeit nur auf der Ebene ihrer eigenen Phantasmen existiert; gleiches gilt fürFrédéric.

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Symbol) oder Ironie gründen, als Texte der Bloßlegung der Verfaßtheit von Sprache überhaupt und damit – wenn man schließlich auch dies noch unbedingtwill – als ‚autoreferentiell‘ begreifen.

Die Struktur der Doppelcodierung unterscheidet sich von der geläufigen Figu-ralität oder Rhetorizität dadurch, daß neben dem ‚eigentlich‘ Gemeinten auch das Gesagte eine eigene, kohärente und im Prinzip sich selbst genügende Bedeu-tungsdimension hat. Das Risiko des Verfahrens ist die Nicht-Realisierung desGemeinten im Prozeß der Rezeption, das Verharren in einer Lektüre der Texte alsDokument,51 das Verkennen des Unterschieds zwischen historiographischer undliterarischer Mimesis, so wie ihn Aristoteles beschrieben hat. Aber der Ertragbesteht in mehr als in der Kehrseite dieses Risikos, der Entbindung des Texts vonder Unverbindlichkeit des puren Fiktiven. Er besteht allererst darin, das ‚takathólon‘52 des literarischen Texts aus der Beliebigkeit des Rezeptionellen (desRhetorischen) zu lösen und zu einer strukturellen Kategorie des Texts selbst zumachen. Auch Flauberts Texte partizipieren an dem völlig ‚freien‘ Allgemeinen alseiner rein rezeptionellen Kategorie, das jedem Text zuwächst, sobald wir ihn alsliterarischen ansehen. Aber sie weisen daneben – möglicherweise: darüber hinaus –eine Dimension des Allgemeinen aus, die sie durch ihre eigene Faktur erst her-stellen und die als solche der ungebrochenen rezeptionellen Disponibilität ent-zogen ist; vielleicht ist es nicht ohne Grund, daß sich die eine der hier kritisiertenRichtungen der Flaubert-Deutung gar nicht auf die beschriebene Ebene der Texteeinläßt53 und die andere darauf verzichtet, sich zum Verhältnis von ‚impression‘,Mimesis und Botschaft zu äußern.

4.

„[...] ce que je voudrais faire, c’est un livre sur rien, un livre sans attache extérieure[…], un livre qui n’aurait presque pas de sujet ou du moins où le sujet serait presque invisible, si cela se peut. Les œuvres les plus belles sont celles où il y a lemoins de matière […]“54 – ungeachtet der Notorietät des Diktums und seiner Ubiquität in der Forschungsliteratur bleibt die genaue Bedeutung dessen, wasFlaubert hier sagt, in der Regel ohne Erläuterung, eventuell auch deshalb, weildiese zentrale poetologische Formel nicht ohne weiteres mit den Werken selbst inÜbereinstimmung zu bringen ist. Am allerwenigsten wird man Madame Bovary,einen Text, in dem es um zweifachen Ehebruch im bürgerlichen Milieu geht – zu

Mimesis und Botschaft bei Flaubert 205

51 Wie meine skizzenhafte Forschungsrevue ausweist, ist dies bis heute ein reales Risiko vonauch quantitativ beträchtlicher Erheblichkeit (s. bes. Anm. 17).

52 Im Sinne von Poetik 1451b.53 Mit den oben genannten Ausnahmen (Anm. 8), für die natürlich die Ironie-Annahme

jede Berechtigung hat.54 16.1.1852, in Correspondance, hrsg. Jean Bruneau (Bibliothèque de la Pléiade), 4 Bde.,

Paris 1973–1998, Bd. 2, S. 31 (alle Zitate der Briefe Flauberts folgen dieser Ausgabe,soweit nicht ausdrücklich anders vermerkt; die Ausgabe ist noch nicht komplett; deshalbwird fallweise die ältere Conard-Ausgabe herangezogen).

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damaligen Zeiten eine Ungeheuerlichkeit, mit der sich Flaubert einen Prozeß ein-handelte – und der mit einem hochdramatischen Selbstmord endet, sogleich aufden Nenner eines Buchs ohne Sujet bringen können. Aber möglicherweise gewinntdie berühmte Formel etwas Erhellendes, wenn man sie nicht auf die Ebene dereffektiven Handlung, sondern der subjektiven Sicht bezieht, die die Figuren imHinblicken auf ihr Leben entwickeln und mit der sich der Erzähler identifiziert.Der Alltag in der Provinz und die Ausflüge in die Metropole, der Ehebruch unddie Ehe, all dies nivelliert sich letztlich auf einem Niveau, das man, um zu demChiffre-Begriff zurückzukommen, das Null-Niveau55 des Reizes oder des Erlebensnennen könnte. Die Bewegung der Texte besteht darin, Orte und Begebenheitenvon maximaler mimetischer Eindringlichkeit zu kreieren – die Illusion wirklichenErlebens in meisterlicher Vollendung zu vermitteln –, diese Orte und Begeben-heiten dann jedoch zu de-semantisieren, oder, wie Flaubert selbst dies ausdrückt,zu ‚de-materialisieren‘,56 in dem Sinne, die Relevanz und Pertinenz ihrer Spezifik,damit aber auch ihrer mimetischen Valeur, zu konterkarieren.

Akzeptiert man diese These, würde sich ein dann nur noch scheinbarer ekla-tanter Widerspruch lösen, der sich durch die theoretischen Äußerungen desAutors zieht: seine nachhaltigen Bekenntnisse zur Darstellung des Wirklichen (‚la réalité‘) einerseits,57 die fast haßerfüllten Stellungnahmen gegen ‚le réalisme‘andererseits.58 Der letztere Terminus ist im Gebrauch jener Zeit wesentlich enger

Joachim Küpper206

55 ‚Cifra‘ ist ja etymologisch zunächst der (arabische) Name für die dem Okzident einst un-bekannte ‚Null‘; aber man darf hier wie anderweit aus der Etymologie kein Argumentmachen. Der heutige Chiffre-Begriff als solcher impliziert keineswegs diese Null-Dimen-sion; die bei Flaubert zu beobachtende konkrete Füllung dessen, was ich hier ‚Chiffre‘nenne, läuft auf eine solche Null-Dimension hinaus.

56 „[…] affranchi de la matérialité“ (s. den Nachweis des Zitats, unten, Anm. 70).57 „Croyez-vous donc que cette ignoble réalité, dont la reproduction vous dégoûte, ne me

fasse tout autant qu’à vous sauter le cœur? Si vous me connaissiez davantage, vous sauriez que j’ai la vie ordinaire en exécration. Je m’en suis toujours, personnellement,écarté autant que j’ai pu. – Mais esthétiquement j’ai voulu, cette fois et rien que cette fois,la pratiquer à fond. Aussi ai-je pris la chose d’une manière héroïque, j’entends minutieuse,en acceptant tout, en disant tout, en peignant tout (expression ambitieuse).“ (2.10.1856;Correspondance, Bd. 2, S. 635f.; das bezogene Projekt ist Madame Bovary.) Einschlägigzur Frage des wirklichkeitsdarstellenden Anspruchs sind weiterhin die zahlreichen Bekenntnisse Flauberts zu einem szientifischen Anspruch seiner Texte, die sich über seine gesamte Schaffensperiode verteilen (Briefe vom 24. 4.1852, Bd. 2, S. 76; 31. 3.1853,Bd. 2, S. 295; 18. 3.1857, Bd. 2, S. 691; 15.12.1866, Bd. 3, S. 579; 10. 8.1868, Bd. 3,S. 786). – Zu Flauberts poetologischem Programm s. Vf., Ästhetik der Wirklichkeits-darstellung und Evolution des Romans von der französischen Spätaufklärung bis zu Robbe-Grillet, S. 101–126 sowie, auf einer noch breiteren Materialgrundlage, Roderich Biller-mann, „Flauberts Stil-Reflexionen in seiner Korrespondenz (mit einem Exkurs zumVerhältnis Balzac–Flaubert)“, in Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 109(1999), S. 25–54.

58 S. etwa die vielzitierte Äußerung Flauberts, er habe Madame Bovary „en haine du réalisme“geschrieben (30.10.1856, Correspondance, Bd. 2, S. 643). Seine ,exécration‘ des „réalis-

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aufgefaßt als in der poetologischen Metasprache des 20. Jahrhunderts. Er meintnicht ein Konzept illusionierenden Schreibens als solches, sondern referiert aufeine damalige, heute weitgehend vergessene Gruppe von Dichtern, an ihrer SpitzeChampfleury, bei denen Flaubert kritisiert, daß ihre Texte in der quasi-photo-graphischen Nachbildung des partikulären Gegebenen aufgingen.59

Auch für Flaubert ist die Herstellung der „illusion“ diejenige Absicht, zu der ersich mit Nachdruck bekennt,60 aber sie ist ihm nur der Ausgangspunkt, um zujenem von ihm gemeinten eigentlichen Wirklichen (‚le réel‘) vorzudringen, daszwar nicht jenseits des Partikulären liegt, jedoch erst in der abstrahierenden, vomKünstler zu leistenden Modellierung zur Anschauung kommen kann: „[...] leroman […] doit procéder par généralités et être plus logique que le hasard des choses“.61 „[...] une œuvre n’a d’importance qu’en vertu de son éternité, […] pluselle représentera l’humanité de tous les temps, plus elle sera belle.“62

‚Faire vrai‘, dieser Fixpunkt der Flaubertschen Poetik,63 hebt auf das die Bana-litäten des Wahrnehmbaren überschreitende Allgemeine ab, das zu erfassen Merk-mal des großen Kunstwerks ist. Den Gegenpol zum kontingent Stofflichen, wel-ches Flaubert in der Regel mit dem Terminus ‚sujet‘, oft auch ‚matérialité‘benennt, markiert dasjenige, was in Flauberts Poetologie ‚le style‘ heißt, eineKategorie, der er in einem anderen, vielzitierten und gleichfalls selten interpretier-ten Zitat zugesprochen hat, sie sei eine „manière absolue de voir les choses“,64 undin eben dieser Zurichtung „la splendeur du Vrai“.65

Es ist bekannt, daß Flaubert an seinen Texten gefeilt hat wie kaum ein zweiterProsa-Autor der Literaturgeschichte, daß er in fast verzweifelter Manier alle Asso-

Mimesis und Botschaft bei Flaubert 207

me“ bekräftigt Flaubert auch noch zwanzig Jahre später in einem Brief an George Sand(6. 2.1876, Correspondance, Conard, Bd. 7, S. 285).

59 Der Name der Gruppe deriviert von einer Zeitschrift gleichen Titels, die nur sechsmal,zwischen Dezember 1856 und April 1857, erschien; zur Geschichte des Begriffs und derbetreffenden Literatengruppe s. Helmut Pfeiffer, Roman und historischer Kontext. Struk-turen und Funktionen des französischen Romans um 1857, München 1984, S. 100–139und S. 201–229. – Zur Varianz des mit dem Begriff Gemeinten s. die berühmte Abhand-lung von Roman Jakobson, „Über den Realismus in der Kunst“ (1921), in: Jurij Striedter(Hrsg.), Texte der russischen Formalisten, Bd. 1: Texte zur allgemeinen Literaturtheorieund zur Theorie der Prosa, München 1969, S. 372–391; wenn sich Flaubert des Terminusin seinen poetologischen Äußerungen bedient, so ist das von ihm Anvisierte noch engerals die dort mit „C“ bezeichnete Bedeutung („die Summe charakteristischer Merkmaleeiner bestimmten Kunstrichtung des 19. Jahrhunderts“ [S. 375]).

60 „La première qualité de l’Art et son but est l’illusion.“ (16. 9.1853, Correspondance, Bd. 2,S. 433 ; Hervorhebung im Original).

61 9.1.1867, Correspondance, Bd. 3, S. 587.62 14. 6.1867, Correspondance, Bd. 3, S. 655.63 S. etwa 14. 6.1867, Correspondance, Bd. 3, S. 655.64 „[…] il n’y a ni beaux ni vilains sujets et […] on pourrait presque établir comme axiome,

en se posant au point de vue de l’Art pur, qu’il n’y en a aucun, le style étant à lui tout seulune manière absolue de voir les choses.“ (16.1.1852, Correspondance, Bd. 2, S. 31)

65 18. 3.1857, Correspondance, Bd. 2, S. 691.

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nanzen und Alliterationen zu tilgen versucht hat, der Rhythmisierung seiner Sätzehöchste Aufmerksamkeit gewidmet hat, so daß es fast scheinen mag – und so liestman es letztlich überall –, es sei dem Autor um eine proto-ästhetizistische Ver-tilgung des Sujets durch eine Wortkunst gegangen, deren Ziel die Nihilierung derRelevanz des Gesagten zugunsten der perfekten Form des Sagens wäre. Dagegensei hier gesetzt, daß Stil und Form für Flaubert nicht Ziel, sondern Instrumentari-um sind.66 Dies wird vielleicht am meisten in der soeben zitierten Formel deutlich,wenn man bereit ist, sie genau anzusehen und nicht vorschnell darauf reduziert,ein Bekenntnis zum Primat der Form zu sein: Der von Flaubert gemeinte Stil isteine Art und Weise („manière“), d. h. ein Mittel, um die Dinge zu erfassen (‚voirles choses‘), weshalb denn auch Kategorien der Adäquanz, „précision“ und„justesse“, Merkmale der ‚Perfektion‘ des Ausdrucks sind.67

Flaubert steht mit diesem Verständnis in einer von ihm selbst eingestandenenKontinuität zum Begriff des objektiven ‚Styls‘ bei Goethe.68 Für beide ist ‚Styl‘/

Joachim Küpper208

66 ‚Stil‘, ‚Form‘ und ‚Schönheit‘, so Flaubert am 18. 3.1857, sind keine eigenständigenKategorien, sie sind ‚Resultate‘ dessen, was der Autor „la conception même“ nennt, unddiese wiederum sei (soweit sie gelungen ist) „la splendeur du Vrai“ (Correspondance, Bd. 2,S. 691). – Zum unauflöslichen Konnex von ‚Mimesis‘ und ‚Ästhetik‘ als Spezifik vonFlauberts Poetik s. Jacques Neefs, „L’illusion du sujet“, in Voix de l’écrivain. Mélangesofferts à Guy Sagnes, Toulouse 1996, S. 129–137.

67 25. 6.1853, Correspondance, Bd. 2, S. 362.68 Diesen Konnex herausgearbeitet und auf diese Weise die Erhellung des von Flaubert mit

‚le style‘ Gemeinten vorangetrieben zu haben, ist das Verdienst der Abhandlung vonNorbert Christian Wolf, „Ästhetische Objektivität: Goethes und Flauberts Konzept desStils“, in Poetica 34 (2002), S. 125–169 (zu Flaubert als „passionierter Leser der Goethe-schen Werke“ s. S. 149ff.). Wolf entwickelt zunächst Goethes Konzept des objektiven‚Styls‘, so, wie dieser es in dem 1789 erschienenen Aufsatz „Einfache Nachahmung derNatur, Manier, Styl“ (in Sämtliche Werke, Bd. 3. 2, S. 186–191) sowie in der 1798 erschie-nenen Übersetzung und Kommentierung eines berühmten Diderot-Texts dargelegt hat(„Diderots Versuch über die Malerei“; in Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 517–565). Goethedifferenziert in der ersteren Abhandlung die im Titel genannten drei Varianten künstleri-scher Modellierung. Die ‚einfache Naturnachahmung‘, von der er sich absetzt, meint inetwa, was Flaubert in seinen späteren Polemiken mit dem Terminus ‚le réalisme‘ faßt, einSchreiben, das in der Nachbildung des Faktischen aufgeht und dem Goethe für die Dich-tung älterer Epochen die Berechtigung durchaus nicht abspricht. ‚Manier‘ ist bei Goetheder Name für die dann auch bei Flaubert zurückgewiesene romantisch-subjektive Model-lierung, der es wesentlich an ‚allgemeinem‘ Belang mangele. ‚Styl‘ meint bei Goethe, ganzwie bei Flaubert, jenes Verfahren, das am Konkreten das ‚Objektive‘ zur Anschauungbringt (eine Erkenntnis des „Wesen[s] der Dinge“ [Sämtliche Werke, Bd. 3. 2, S. 188]), dasimmer ein „allgemeine[s]“ ist (Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 557), das auf diese Weise schonden „Griechen“ vertraut war und in dessen Verfolgung sich konsequenterweise „allegroße[n] Künstler einander in ihren besten Werken [nähern]“ (Bd. 7, S. 558), wo „derKunst der Gegenstand gleichgültig wird, sie rein absolut, der Gegenstand nur der Trägerist“ und sie die „höchste Höhe“ erreicht (Gespräch mit Sulpiz Boisserée, 15. 9.1815 [Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang. AufGrund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn v. Biedermann ergänzt

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‚style‘ der Name für jene Art der Modellierung, die in der Lage ist, am kontingentSingulären das von dieser Dimension abgelöste (‚absolu‘) und insofern überzeit-liche Sein der Dinge (in ihrer „généralité“69, „affranchis(sement) de la matérialité“70)zur Anschauung zu bringen.71 Der einem solchen Stil angemessene Modus ist jeneindifferente, ‚impassible‘ Attitüde, wie sie der Schöpfer selbst („Dieu“) beim Blickauf sein Geschaffenes einnimmt und die mit Desinteresse oder emotionaler Kältezu verwechseln irreführend ist.72

5.

Wenn aus Sicht des hier Entwickelten ein Fazit mit Blick auf die generelle Fragezu ziehen wäre, die eingangs aufgeworfen wurde, würde der Befund also lauten, daß Flaubert ohne Zweifel Mimetiker und in diesem Sinne ‚Realist‘ ist –

Mimesis und Botschaft bei Flaubert 209

und herausgegeben von Wolfgang Herwig, 5 Bde., Zürich–Stuttgart 1965–1984, Bd. 2,S. 1086–1088]). Es gilt in Bilanzierung von Wolfs Studie also festzuhalten, daß ‚le style‘bei Flaubert vermutlich nicht, wie bislang stets unausgesprochen vorausgesetzt, eineKategorie der Formulierung, sondern eine Kategorie der Modellierung bezeichnet. – Esliegt nahe, daß dieses Stilkonzept in post-Kantischer Zeit auf Reserven stieß und stoßenmußte, die bis zum Vorwurf erkenntnistheoretischer Naivität gehen (dazu im einzelnenWolf, S. 129, mit Anmerkungen). Mutatis mutandis trifft gleiches zu auf Flaubert, denman seitens seiner ‚anti-realistischen‘ Interpreten immer wieder glaubt, mit Verweis aufdessen gegen ‚le réalisme‘ gerichteten Invektiven gegen den Vorwurf des ‚Objektivismus‘in Schutz nehmen zu müssen. Indes wird man es der Literatur zugestehen müssen, auchPositionen beziehen zu dürfen, die sich aus Sicht der zeitgenössischen Philosophie als‚naiv‘ ausmachen mögen. Ob diese Positionen dann tatsächlich naive sind oder ob sienicht eher auf Defizite herrschender philosophischer Paradigmen verweisen, entscheidetsich im Prozeß der Rezeption.

69 12. 6.1862, Correspondance, Bd. 3, S. 221 f.70 16.1.1852, Correspondance, Bd. 2, S. 31.71 Legion sind in Flauberts Selbstzeugnissen die Absagen an die Darstellung des Kontin-

genten und der Anspruch des Zur-Anschauung-Bringens des Allgemeinen („Je me suistoujours efforcé d’aller dans l’âme des choses, et de m’arrêter aux généralités les plusgrandes, et je me suis détourné, exprès, de l’Accidentel et du dramatique.“ [Dezember1875, Correspondance, Bd. 4, S. 1000]). Die Fähigkeit, eine ‚Sache‘ („une chose“) darzu-stellen, wie diese ist („comme elle est“), besteht für Flaubert wesentlich darin, darzustellen,„comme elle est toujours, en elle-même, dans sa généralité, et dégagée de tous ses contingents éphémères.“ (6. 7.1852, Correspondance, Bd. 2, S. 127f.; Hervorhebung imOriginal).

72 Immer wieder betont Flaubert, daß es ein Merkmal des von ihm gemeinten ‚Stils‘ ist, sichaller Gefühlsäußerungen zu enthalten, nicht jedoch, weil er (als Mensch) ein gefühllosesWesen sei (der Vaterschaft, so sagt er, habe er sich verweigert, weil er fühle, daß er „troppaternel“ gewesen wäre), sondern weil alles Gefühlige der von ihm reklamierten quasi-göttlichen Perspektive auf die Welt entgegenstehe (22. 4.1854, Correspondance, Bd. 2,S. 557, Hervorhebung im Original; der berühmte Vergleich der Präsenz des Autors in seinem Text mit Gott im Verhältnis zu seiner Welt und die sich daraus ableitende Anfor-derung einer „impassibilité […] infinie“ in einem Brief vom 9.12.1852, Correspondance,Bd. 2, S. 204).

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und er dies bleiben wird, solange seine Leser die von ihm modellierten konkretenSujets über das Leben seiner Figuren in der Provinz und in der Kapitale illusionie-rend wahrnehmen, d. h., das Dargestellte als eine zwar vergangene, gleichwohl fak-tische Version ihrer eigenen Welt akzeptieren.73 Aber er ist mehr als dies, vor allemaufgrund der dezidierten Botschaft, die die Texte inszenieren. Und solange undsoweit Flauberts negative Anthropologie: die Kondition unserer Existenz sei Stasis und das Glück nur ein Phantasma der Imagination, ihren Geltungsanspruchbehält, wird er zu Recht als Klassiker angesehen werden.74

Es ist hier sicherlich nicht der Ort, die Relation zwischen Klassik als norma-tiver bzw. Epochenkategorie und dem von Gadamer gemeinten Klassischen alseiner Kategorie der Wirkung zu diskutieren. Es soll dabei bleiben zu sagen, daßdas Letztere vom Ersteren kategorial, vermutlich aber nicht in gleichem Maße inder faktischen Realisierung geschieden ist. Was überzeitlich wirkt, ist gewiß nichtimmer gemäß einer im engen Sinne verstandenen Harmonie-Prämisse ‚gemacht‘,aber es verhält sich auch nicht völlig kontingent zu Dingen wie Ebenmaß und Aus-gewogenheit.75 Bei Flaubert ist die beschriebene Paradigmatik 76 das wesentliche

Joachim Küpper210

73 Zum wesentlichen Gebundensein aller Attributionen von ‚Realismus‘ an das Wirklich-keitsverständnis der je gegebenen Epochen s. Hans Blumenberg, „Wirklichkeitsbegriffund Möglichkeit des Romans“, in Nachahmung und Illusion, hrsg. Hans Robert Jauss,München 1964, S. 9–27.

74 Zur Auffassung des Klassischen als eines Moments überzeitlicher, aber nicht notwen-digerweise zeitlich unbegrenzter Wirkmächtigkeit eines Texts s. Hans-Georg Gadamer,Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 41975(11960), bes. S. 269–275. Es liegt von diesem Verständnis her nahe, daß ein Text, der –und sei es in vordergründiger Lektüre – in der Nachahmung eines außerhalb seiner selbstsich situierenden Realen aufgeht, kein klassischer Text sein oder werden kann; die Be-dingung überzeitlicher Wirkung ist die Dichotomie von Gesagtem und dem damit Bedeu-teten. Wäre Hekuba nur eine Frau aus dem Vorderasien des 7. Jahrhunderts, wäre sie unsin der Tat Hekuba. – Deutlich das Bekenntnis zu einem so verstandenen Klassischen imBrief vom 14. 6.1867 (Correspondance, Bd. 3, S. 655): „En effet une œuvre n’a d’impor-tance qu’en vertu de son éternité, c’est-à-dire que plus elle représentera l’humanité detous les temps, plus elle sera belle.“ S. auch das folgende Bekenntnis zu einem überzeit-lichen Ideal des Gut-Gemacht-Seins: „Un bon vers de Boileau est un bon vers d’Hugo.La perfection a partout le même caractère, qui est la précision, la justesse.“ (25. 6.1853,Correspondance, Bd. 2, S. 362).

75 Ein weiterer Aspekt, den ich hier nicht eigens ausbreite, ist, daß Klassizität einem relativjungen Text nur dann zuwachsen kann, wenn er von seinen Positionen her in einer Liniesteht, die in der betreffenden kulturellen Gemeinschaft (hier: des Okzidents) eine langeund allseits anerkannte Tradition hat. Dies ist bei einem Flaubert, so, wie ich ihn lese,ohne Zweifel der Fall; im engeren Sinne wäre der Autor ein Moralist und im weiterenSinne ein Stoiker der Moderne.

76 Mit energischen Worten hat Rainer Warning jüngst noch einmal die Urheberschaft derThese von der Paradigmatik als wesentlichem Verfahren Flaubertschen Erzählens rekla-miert („Der Chronotopos Paris bei den Realisten“, in Andreas Kablitz/Wulf Oester-reicher/R. W. [Hrsg.], Zeit und Text. Philosophische, kulturanthropologische, literarhisto-rische und linguistische Beiträge, München 2003, S. 269–310, hier: S. 294–306, bes. S. 294

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Verfahren, auf der Ebene des Formalen wie auf der der Botschaft solches Eben-maß herzustellen. Die Gefahr, der sich dieser Diskurs aussetzt, ist die jeder klassi-schen Rede: In der Gültigkeit des Sagens sich letztlich einer Position zu nähern,die nur noch schwach definiert, im Sinne von: via oppositionis von anderen Posi-tionen abgegrenzt ist. Das Risiko des Klassischen ist gewiß nicht Banalität, aber

Mimesis und Botschaft bei Flaubert 211

mit Anm. 56). Aus der Zuspitzung, mit der Warning seine seit Jahrzehnten immer wiedervorgetragene These dort formuliert, wird deutlich, inwiefern sie sich von dem von mirArgumentierten unterscheidet (was nicht heißt, daß ich Warnings Profilierung der Thesebestreiten wollte, sie ist grundvernünftig): „Die Struktur des ersten Zusammentreffenswiederholt sich über den ganzen Roman bis hin zum letzten Wiedersehen, Mme Arnoux’unverhofftem Besuch bei Frédéric, über ein gutes Jahrzehnt später. […] Die syntagmati-sche Progression der Geschichte wird paradigmatisiert.“ (S. 294) Das von Warninggemeinte Paradigma manifestiert sich also auf der Textoberfläche, das von mir gemeinteParadigma ist auf einer Abstraktionsebene des Texts angesiedelt. Von dieser unterschied-lichen Perspektivierung her ergeben sich weitere und dann grundsätzlichere Unterschiedein Warnings und meiner Sicht Flauberts. Trotz vorsichtiger Distanznahme zu denbekannten dekonstruktivistischen Flaubert-Lektüren (S. 305f.) weist Warning die Denk-möglichkeit, die Texte seien sinnvollerweise zu lesen nach dem Modell der Bereitstellungeines „Sinnangebots“ (S. 306), deutlich zurück und äußert sich konsequenterweise auchnachhaltig kritisch zu den Möglichkeiten, Flaubert aus einer ‚klassizistischen‘ Sicht ange-messen zu fassen (S. 307). Für Warning ist Flaubert mit dieser letztlich als Serialität auf-zufassenden Paradigmatik der Muster-Autor des Modernismus; für mich ist er es, ausden hier dargelegten Gründen, nicht. – Warning verfolgt mit seinem Verständnis vonParadigmatisierung bei Flaubert einen Zugriff, den – es steht zu vermuten in wechsel-seitiger Unabhängigkeit voneinander – auch Mieke Bal in dem oben zitierten, bereits1974 gedruckten Aufsatz (Anm. 25) zum Tragen bringt (vgl. u. a. die Tabelle bei Bal,S. 142 und die Tabelle bei Warning, S. 301). Bal erkennt die paradigmatische Dimensionder Topographien in Madame Bovary, aber auch sie faßt das Paradigma auf der Ebeneder rein materiellen Beschreibung der Orte (vgl. die inventarisierende Schematisierungder Beschreibung von Rouen, Yonville, La Vaubyessard und der Cité splendide), und sietreibt ihre Beobachtung – theoretisch höchst konsequent – bis zu dem Punkt, in derRouen-Beschreibung eine mise en abyme des Texts sehen zu wollen („La description deRouen contient donc en germe l’histoire entière – avec son dénouement –, et elle constitueune mise en abyme concentrante.“ [S. 148]). Ohne theoretisch reflektierte Korrelierungmit dem auf den Text bezogenen procedere bringt Bal allerdings auch punktuell denGedanken einer sekundären Semantisierung des Paradigmas ins Spiel („[…] le signifié‚ennui‘ les sous-tend tous [i. e. „les lieux décrits“]“ [S. 143]). – Daß die von Flaubert unterallergrößten Mühen betriebene Perfektionierung seines Stils wenig, wenn nicht nichts miteinem dritten Verständnis von Paradigmatik gemein hat, wie Roman Jakobson es als dasSpezifikum der Poetizität lyrischer Texte beschrieben hat, der Paradigmatisierung desSyntagmas der Signifikanten, belegt in extenso die genetische Studie von Eric Le Calvez,Flaubert topographe. Essai de poétique génétique, Amsterdam – Atlanta, GA 1997; zurDokumentierung von Flauberts Bemühen um die Eliminierung aller lautlichen ‚répéti-tions‘ s. S. 133–153 (für die hier erörterte Frage nach der Figuration und Funktion derHandlungsorte ist die Untersuchung nicht einschlägig, entgegen dem, was der Titel suggeriert).

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Indifferenz als Konsequenz einer Botschaft, die immer und überall zutrifft. DieSicht des Klassikers ist wie die des Gottes. Das Absolute (‚absolu[e]‘) ist zugleichdas Nichts (‚rien‘).77

Berlin, im November 2003

Joachim Küpper212

77 S. oben, S. 205, mit Anm. 54, das komplette Zitat der berühmten poetologischen Formeldes Autors, die – nota bene – semantisch das Profil eines Optativs hat. – Mit dem Rekursauf Gadamer setzt sich mein Fazit von denjenigen Positionen ab, die in den Bahnen desvom Autor Postulierten dem Werk eine anthropologisch oder gar metaphysisch verstan-dene Jederzeitlichkeit zusprechen, wie sie – stellvertretend für viele – Didier Philippot ver-tritt („[…] la description chez Flaubert est […] à l’opposé de l’éloquence muette et vainede la Rhétorique; si elle fait rêver, c’est parce qu’elle est le langage vrai, le langage sansmots des choses infinies.“ [„La description dans Madame Bovary: Une esthétique de ,l’infini diminutif ‘“, in L’Information littéraire 49, 2 (1997), S. 41–46, hier: S. 46]). Fürmich ist der klassische Anspruch von Flauberts Werk zunächst ein in diesem Werk selbstinszenierter Anspruch, über dessen Einlösung diejenigen befinden, die einem Text Wirk-mächtigkeit und also Klassizität zuzusprechen in der Lage sind, die Rezipienten. Manwird sagen dürfen, daß Flaubert aus einer solchen Sicht bis auf den heutigen Tag ein Klassiker ist; aber es wäre kühn zu postulieren, daß er dies (immer) bleiben wird.Flauberts Texte sind keine Wahrheitstexte, sie figurieren den Anspruch, Wahrheitstextezu sein.

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