mechanik 2

179
Institute of Applied Mechanics Institut für Baumechanik Manuskript zur Vorlesung Mechanik B2 – Festigkeitslehre (SS 2007) Univ.-Prof. Dr.-Ing. Martin Schanz Technische Universität Graz Institut für Baumechanik Technikerstraße 4 8010 Graz

Upload: raissakis

Post on 03-Jan-2016

522 views

Category:

Documents


10 download

TRANSCRIPT

Page 1: Mechanik 2

Institute ofApplied MechanicsInstitut für Baumechanik

Manuskript zur Vorlesung

Mechanik B2 – Festigkeitslehre

(SS 2007)

Univ.-Prof. Dr.-Ing. Martin SchanzTechnische Universität Graz

Institut für BaumechanikTechnikerstraße 4

8010 Graz

Page 2: Mechanik 2
Page 3: Mechanik 2

VORWORT

Dieses Skript zur Vorlesung Mechanik B2 - Festigkeitslehre richtet sich an Studentinnen undStudenten der Studienrichtung Bauingenieurwissenschaften. Es soll als Begleitung zur Vorle-sung dienen, und ist nicht als Ersatz für ein Lehrbuch gedacht. Die Vorlesung und auch diedazugehörige Übung sind ohne weitere Literatur zu verstehen. Allerdings ist es für ein ver-tieftes Verständnis zu empfehlen, weiterführende Bücher zum Thema vorlesendbegleitend zustudieren. Eine Auswahl von Lehrbüchern ist im Literaturverzeichnis zu finden.

Die Vorlesung orientiert sich im Wesentlichen an den Lehrbüchern Technische Mechanik 2 [7],Festigkeitslehre [5] und Festigkeitslehre: Ein Lehr- und Arbeitsbuch [8]. Im Detail ist sie derVorlesung Technische Mechanik II von Professor Wauer gehalten an der Universität Karlsruhe(TH) im Sommersemester 1985 nachempfunden.

Das vorliegende Skript ist nach der Vorlesung im SS 2006 korrigiert und mit einem Index ver-sehen worden. Weiterhin ist das Kapitel zur Torsion umgeschrieben worden. Es sind hoffentlichdie meisten Fehler beseitigt. Da es jedoch nicht auszuschließen ist, dass etwas übersehen wurde,möchte ich die Studenten bitten Tippfehler oder Unklarheiten mir mitzuteilen.

Graz, im Frühjahr 2007 Martin Schanz

Page 4: Mechanik 2
Page 5: Mechanik 2

INHALTSVERZEICHNIS

1 Mathematische Grundlagen 3

1.1 Indexnotation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

1.2 Tensoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

1.3 Tensoroperationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

2 Spannungen, Gleichgewicht und Verformungen 9

2.1 Spannungstensor und Spannungsvektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

2.1.1 Spannungsvektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

2.1.2 Spannungstensor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

2.2 Bilanzgleichung eines verformbaren Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

2.2.1 Kräftegleichgewicht am verformbaren Körper . . . . . . . . . . . . . . 12

2.2.2 Momentengleichgewicht am verformbaren Körper . . . . . . . . . . . 13

2.3 Eigenschaften des Spannungstensors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

2.3.1 Zusammenhang Spannungsvektor und -tensor: Cauchy’sche Formel . . 14

2.3.2 Hauptspannungen und Invarianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

2.3.3 Hydrostatischer und deviatorischer Anteil des Spannungstensors . . . . 17

2.4 Ebener Spannungszustand (ESZ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

2.4.1 Anschauliche Koordinatentransformation . . . . . . . . . . . . . . . . 19

2.4.2 Hauptspannungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

2.4.3 Mohr’scher Kreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

2.4.4 Gleichgewicht im ESZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

i

Page 6: Mechanik 2

2.5 Verformungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

2.5.1 Verzerrungstensor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

2.5.2 Deviatorischer und hydrostatischer Verzerrungszustand . . . . . . . . . 26

2.5.3 Starrkörperrotation und Kompatibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

2.5.4 Ebener Verzerrungszustand (EVZ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

3 Werkstoffmodelle 31

3.1 Eindimensionale Betrachtung, Versuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

3.1.1 Spannungs-Dehnungs-Diagramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

3.1.2 Querkontraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

3.1.3 Schubmodul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

3.2 Dreidimensionale Betrachtung: Verallgemeinertes Hooke’sche Gesetz . . . . . 34

3.2.1 Isotropes Materialverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

3.2.2 Anisotropes Verhalten: Zwei Spezialfälle . . . . . . . . . . . . . . . . 38

3.2.3 Temperaturdehnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

3.3 Zweidimensionale Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

3.4 Zusammenfassung der grundlegenden Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . 41

4 Normalspannung in Stäben 45

4.1 Vorbemerkung zu Stäben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

4.2 Zug oder Druck in Stäben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

5 Balkenbiegung 55

5.1 Reine (gerade) Biegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

5.2 Flächenmomente 2. Grades . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

5.2.1 Parallelverschiebung der Bezugsachsen: Satz von Steiner . . . . . . . 62

ii

Page 7: Mechanik 2

5.2.2 Drehung des Bezugssystems: Hauptträgheitsmomente . . . . . . . . . 64

5.3 Biegelinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

5.3.1 Grundlegende Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

5.3.2 Differentialgleichung der Biegelinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

5.3.3 Balken mit mehreren Feldern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

5.3.4 Superposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

5.4 Schiefe Biegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

5.5 Schubspannung im Biegebalken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

5.5.1 Schub im Vollquerschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

5.5.2 Schub in dünnwandigen offenen Querschnitten . . . . . . . . . . . . . 92

5.5.3 Schubmittelpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

6 Torsion gerader Stäbe 99

6.1 Reine Torsion nach Saint-Venant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

6.2 Die kreiszylindrische Welle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

6.3 Dünnwandige geschlossene Profile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

6.4 Dünnwandige offene Profile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

7 Überlagerung von Belastungsfällen – Vergleichsspannungen 121

7.1 Überlagerung von Belastungsfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

7.1.1 Längskraft und Biegemoment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

7.1.2 Schub und Biegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

7.2 Vergleichsspannungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

7.2.1 Fließkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

7.2.2 Bruchhypothese - Normalspannungshypothese . . . . . . . . . . . . . 129

iii

Page 8: Mechanik 2

8 Energie-Methoden in der Elastostatik 131

8.1 Das Arbeitsprinzip für einen ideal elastischen Körper . . . . . . . . . . . . . . 131

8.2 Formänderungsenergie eines Systems aus Hooke’schem Werkstoff . . . . . . . 133

8.2.1 Formänderungsenergie des Zugstabes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

8.2.2 Formänderungsenergie des Torsionsstabes . . . . . . . . . . . . . . . . 135

8.2.3 Formänderungsenergie des Biegebalkens . . . . . . . . . . . . . . . . 136

8.3 Die Sätze von Maxwell und Betti: Einflusszahlen . . . . . . . . . . . . . . . . 140

8.4 Nachgiebigkeits- und Steifigkeitsmatrix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

8.5 Sätze von Castigliano . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

8.6 Statisch unbestimmte Systeme: Satz von Menabrea . . . . . . . . . . . . . . . 148

8.6.1 Geometrische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

8.6.2 Energetische Methode: Satz von Menabrea . . . . . . . . . . . . . . . 150

9 Stabilitätsprobleme 155

9.1 Knicken eines Druckstabes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

9.1.1 Euler’scher Knickstab: Fall II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

9.1.2 Kritische Lasten für Stäbe mit beliebigen Randbedingungen . . . . . . 159

9.2 Eulerhyperbel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

Literaturverzeichnis 167

Index 169

iv

Page 9: Mechanik 2

ZIELSETZUNG

Die Festigkeitslehre liefert die Grundlagen für die Bemessung von Bauteilen. Wesentliche Vor-aussetzung dafür sind die Kenntnisse aus der Statik zur Berechnung von äußeren und inne-ren Kraftsystemen. Weiterhin ist die Baustoffkunde zur Beschreibung des phänomologischenWerkstoffverhaltens wichtig. Das Ziel ist die (Vorab)-Berechnung der nötigen Abmessungenmit Rücksicht auf Sicherheit und Wirtschaftlichkeit.

Sicherheit:

1. bzgl. Beanspruchung: Bauteil darfnicht brechen

2. bzgl. Verformung: Bauteil darf sichnur in vorgegebenen Grenzen (proble-mabhängig!) verformen

Wirtschaftlichkeit:

1. Bauteil darf nicht stärker als notwen-dig dimensioniert werden, um Kostenzu sparen

2. Es dürfen nicht teurere Materialieneingesetzt werden als nötig

Dieses Ziel kann erreicht werden durch

• die Gestaltung der Form des Bauteils und

• die Wahl des geeigneten Werkstoffs.

Kann von einem elastischen Materialverhalten fester Körper ausgegangen werden, d.h. alle Ver-formungen sind reversibel, und weiterhin der zu betrachtende Körper als elastisches Kontinuum(fest, kein Fluid) beschrieben werden, dann kann das mechanische Verhalten mit der Elastizi-tätstheorie beschrieben werden. Diese ist ein Teilgebiet der Kontinuumsmechanik. In der Ela-stizitätstheorie werden Spannungen und Verformungen in festen Körpern auf Grund von außeneinwirkenden Lasten berechnet. Dies muss im Allgemeinen im dreidimensionalen (3-d) Raumgeschehen. Unter gewissen Umständen kann eine Idealisierung durchgeführt werden, die es er-laubt die Dimensionen auf zwei (2-d) zu reduzieren. In technischen Anwendungen ist es häufigsogar möglich bestimmte Strukturen mit weiteren Vereinfachungen zu betrachten.

Dies sind:

• Stabtragwerke: Fachwerke, Ein- und Mehrfeldträger, Rahmen und Bögen

• Flächentragwerke: Scheiben (siehe 2-d), Platten und Schalen

Ein spezielles Problem stellen schlanke (dünne) Bauteile unter Druckbelastung dar, da diesedann Beulen oder Knicken können. Abschließend sei angemerkt, dass hier nur die Elastostatik

1

Page 10: Mechanik 2

2

betrachtet wird, es werden also Trägheitswirkungen vernachlässigt. Dies bedeutet die Kräftemüssen langsam aufgebracht werden.

Page 11: Mechanik 2

1 MATHEMATISCHE GRUNDLAGEN

Zur Schreibvereinfachung wird in der Kontinuumsmechanik das räumliche x, y, z-Koordinaten-system durch ein x1,x2,x3-Koordinatensystem ersetzt. Dies ermöglicht unter anderem die Ein-führung einer Indexschreibweise. Im Folgenden werden nur rechtwinkelige (kartesische) Koor-dinatensysteme benutzt. Daher ist es unnötig ko- und kontravariante Basen einzuführen. DieseEinschränkung liegt allem Folgenden zu Grunde.

1.1 Indexnotation

Mit der orthonormierten Basis e1,e2,e3 die in Indexnotation kurz als ei, i = 1,2,3 geschriebenwird, kann ein beliebiger Vektor in der Form

v = vi ei (1.1)

geschrieben werden. Der Index i (i ∈ N) nimmt im 3-dimensionalen Raum die Werte 1,2,3 undim 2-dimensionalen Raum die Werte 1, 2 an.

Wichtig:

In obiger Formel und im folgenden wird die Einstein’sche Summationskonvention benutzt.D.h. :Tritt ein Index in einem Term zweimal auf, so wird über ihn summiert, z.B.

vi · ei∧=

3

∑i=1

vi · ei = v1 · e1 + v2 · e2 + v3 · e3 ,

aber keine Summation bei ai +bi!

Den Index, über den summiert wird, nennt man „stummen Index“. Er ist durch jeden anderen(doppelt auftretenden) Index austauschbar, z.B.

vi · ei = v j · e j oder Ai j ·b j = Aik ·bk . (1.2)

Das Skalarprodukt zweier Vektoren v und w kann damit kurz geschrieben werden

v ·w = viwi. (1.3)

3

Page 12: Mechanik 2

4 1 Mathematische Grundlagen

Die Definition einer orthonormierten Basis lautet damit

ei · e j = δi j =

{1 für i = j0 für i 6= j,

(1.4)

wobei δi j das so-genannte Kroneckersymbol ist. Der Übergang von einem rechtwinkeligen kar-tesischen Koordinatensystem mit der orthonormierten Basis ei und dem Ursprung O auf einrechtwinkeliges kartesisches Koordinatensystem e′i und dem Ursprung O′ setzt sich aus einerTranslation der Koordinatenachsen von O nach O′ und einer anschließenden Rotation bei fest-gehaltenem Ursprung zusammen. Da sich die kartesischen Koordinaten eines Vektors bei einerTranslation der Koordinatenachsen nicht ändern, wird hier nur die Wirkung einer Rotation die-ser Achsen (und damit der Basisvektoren) angegeben.

Ein jeder Basisvektor e′j kann als Linearkombination der Basisvektoren ei angegeben werden

e′j = cosα j′i ei. (1.5)

Dabei ist α j′i der Winkel zwischen e′j und ei. Stellt man nun einen beliebigen Vektor in beidenKoordinatensystemen dar

v = vi ei = v′i e′i (1.6)

kann mit obiger Gleichung der Zusammenhang

v = vi ei = v′j cosα j′i ei (1.7)

gezeigt werden. In Matrizenschreibweise gilt damitv1

v2

v3

=

cosα1′1 cosα2′1 cosα3′1

cosα1′2 cosα2′2 cosα3′2

cosα1′3 cosα2′3 cosα3′3

·

v′1v′2v′3

(1.8)

v = QT ·v′

QT ist die transponierte Matrix zu Q.

Auf Grund der analogen Beziehung zwischen ei und e′j (also „andere Reihenfolge“) ist

v′ = Q v. (1.9)

Damit gilt Q−1 = QT , d.h. die Matrix Q ist eine orthogonale Matrix.

1.2 Tensoren

Physikalische Größen können nicht koordinatensystemabhängig sein. Dies ist sofort an skalarenGrößen, wie z.B. der Länge zu erkennen. Aber auch Vektoren wie z.B. die Geschwindigkeit sind

Page 13: Mechanik 2

1.2 Tensoren 5

eindeutig durch Richtung und Betrag gekennzeichnet. Nur die Darstellung, also die Ziffern,können in unterschiedlichen Koordinatensystemen unterschiedlich sein, z.B.

x1

x′2

x2

v

x′1

v =

1

1

x1,x2

=

√2

0

x′1,x

′2

.

Im letzten Kapitel wurde gezeigt, wie die Umrechnung zwischen den Komponenten eines Vek-tors gemacht wird. Die physikalische Größe ist aber immer gleich!

Größen, die diesem Grundsatz entsprechen, werden Tensoren genannt.

• Ein Skalar ist ein Tensor 0-ter Stufe,

• ein Vektor ist ein Tensor 1-ter Stufe,

• und eine Matrix mit obiger Eigenschaft ein Tensor 2-ter Stufe.

Tensoren 2-ter Stufe können als dyadisches Produkt (Tensorprodukt) zweier Vektoren definiertwerden, d.h.

T = a⊗b = (aiei)⊗ (b je j) = aib j · ei⊗ e j

= Ti j · ei⊗ e j .(1.10)

Dabei bezeichnet Ti j = aib j die Komponenten des Tensors T und ⊗ das dyadische Produktzweier Vektoren, z.B. für die Vektoren e1 und e2 berechnet es sich nach

e1⊗ e2 = e1 · eT2 =

1

0

0

· [0 1 0] =

0 1 0

0 0 0

0 0 0

. (1.11)

Das dyadische Produkt ist nicht kommutativ, d.h. a⊗b 6= b⊗a. Der Tensor T hat durch ei und e jzwei Richtungsinformationen und ist vom Koordinatensystem unabhängig. Seine KomponentenTi j hingegen haben in jedem Koordinatensystem eine andere Größe (Zahl). Tensoren könnenals lineare Abbildung (Operatoren) einer linearen Vektorfunktion definiert werden. Es gilt

w = T ·v = (a⊗b) ·v (1.12)

wobei(a⊗b) ·v = (b ·v)a (1.13)

Page 14: Mechanik 2

6 1 Mathematische Grundlagen

definiert ist. D.h. der Vektor w hat die Richtung von a. In Indexnotation lautet die lineare Ab-bildung

wi = Ti j v j (1.14)

hergeleitet aus

w = Ti j (ei⊗ e j) · vk ek = Ti j · vk ·(ei⊗ e j

)· ek = Ti j vk ·δ jk · ei = Ti jv jei . (1.15)

Bei Verwendung rechtwinkeliger kartesischer Koordinaten, d.h. normierte und unveränderteBasisvektoren, schreibt man häufig anstelle von viei oder Ti j(ei⊗ e j) nur die Komponenten vioder Ti j. Dies gilt nicht bei krummlinigen veränderlichen Koordinaten!

Im vorigen Abschnitt wurde gezeigt, dass sich die Komponenten eines Tenors 1. Stufe (Vektor)in einem gedrehten Koordinatensystem durch die Abbildung

v′ = Q v→ v = QT v′ oder v′i = Qi j v j → v j = Qi j v′i

berechnen lassen. Dabei sind die Qi j die Komponenten der Drehmatrix Q, die die Richtungsco-sinus zwischen den jeweiligen Einheitsvektoren beinhaltet. Die oben definierte lineare Abbil-dung gilt auch in den beiden Koordinatensystemen eines Tensors, d.h.

w′i =Qi j ·w j = Qi j ·Tjk · vk = Qi j ·Tjk ·Qlk · v′l T ′il = Qi j ·Tjk ·Qlk

T′ = Q ·T ·QT .

(1.16)

Ähnlich können auch Transformationsgesetze für Tensoren höherer Stufe definiert werden. Eswird für jeden Index, der ja eine Richtung darstellt, eine Transformationsmatrix benötigt. Zu-sammenfassend kann folgende Tabelle erstellt werden:

Stufe des Tensors Anzahl Komponenten Transformationsgesetz

0 30 = 1 c′ = c

1 31 = 3 v′i = Qikvk

2 32 = 9 T ′i j = QikQ jlTkl

3 33 = 27 A′i jk = QilQ jmQknAlmn

4 34 = 81 C′i jkl = QimQ jnQkpQlqCmnpq

Obige Tabelle gilt allgemein, wobei in 2-d die Anzahl durch Potenzen von 2i berechnet werden.

1.3 Tensoroperationen

Hier sollen nun einige Rechenregeln für Tensoren angegeben werden, die im Folgenden nötigsind. Dazu werden die Größen

Page 15: Mechanik 2

1.3 Tensoroperationen 7

c Skalar (Tensor 0. Stufe)

u,v,w Vektoren (Tensor 1. Stufe)

A,P,S,T Tensor 2. Stufe(3)G Tensor 3. Stufe(4)D Tensor 4. Stufe

eingeführt.

Das tensorielle Produkt (oder auch äußeres Produkt genannt) ist eine Verallgemeinerung desdyadischen Produktes. Das Ergebnis ist jeweils ein Tensor der Stufe, die sich aus der Additionbeider ursprünglichen Stufen berechnet

u⊗v = S uiv j = Si j (1.17a)

S⊗w =(3)G Si jwk = Gi jk (1.17b)

S⊗T =(4)D Si jTkl = Di jkl . (1.17c)

Die gegenteilige Operation ist die Reduktion der Stufe der beteiligten Tensoren, die so-genannteKontraktion oder inneres Produkt zweier Tensoren. Dabei werden die Stufen (Indices) reduziert,was mit einer Summation über diesen berechnet wird. Innere Produkte sind

u ·v = c uivi = c (1.18a)S ·w = v Si jw j = vi (1.18b)S ·T = P SikTk j = Pi j (1.18c)

(4)D ·v =

(3)G Di jklvl = Gi jk . (1.18d)

Entsprechend gibt es auch eine doppelte Kontraktion, bei der über zwei Indices summiert wird

S : T = c Si jTi j = c (1.19a)(4)D : S = A Di jklSkl = Ai j . (1.19b)

Ein Tensor, der nur auf der Hauptdiagonalen mit 1 und ansonsten mit Nullen belegt ist, heißtEinheitstensor (2. Stufe) und wird mit 1 bezeichnet. Die Spur (engl. Trace) eines Tensors ist

trT = 1 : T trT = δi jTi j = Tii . (1.20)

Ist ein Tensor von der Ortskoordinate x abhängig, dann nennt man diesen ein Tensorfeld T(x).Die Ableitung dieses Feldes nach der Koordinate x entspricht in einem rechtwinkeligen kar-tesischen Koordinatensystem der Ableitung der Komponenten. Im einfachsten Fall ist dies einskalares Feld Φ (x) mit der Ableitung

∂ Φ

∂xi= Φi oder gradΦ =

∂Φ

∂xi· ei . (1.21)

Page 16: Mechanik 2

8 1 Mathematische Grundlagen

Demnach ist grad Φ ein Vektor. Der Operator „grad“ heißt Gradient und erhöht die Stufe desTensors um eins, d.h.

gradv =∂vi

∂x j· ei⊗ e j = vi, j · ei⊗ e j . (1.22)

Die Notation ( ),i bedeutet die partielle Ableitung nach xi

( ),i =∂

∂xi. (1.23)

Der Gradient stellt die Änderung des Feldes dar, und zeigt in die Richtung des stärksten Abstie-ges des Feldes.

Die umgekehrte Operation des Gradienten ist die Divergenz eines Feldes

divv =∂vi

∂x j· ei · e j = vi, j · ei · e j︸ ︷︷ ︸

δi j

= vi,i . (1.24)

D.h. die Divergenz eines Vektors (Tensor 1. Stufe) ist ein Skalar (Tensor 0. Stufe). Die Diver-genz reduziert damit die Stufe des Tensors. Für einen Tensor 2. Stufe gilt

divT = Ti j, j ei . (1.25)

Page 17: Mechanik 2

2 SPANNUNGEN, GLEICHGEWICHT UND VERFORMUNGEN

2.1 Spannungstensor und Spannungsvektor

Im Folgenden wird ein verformbarer zusammenhängender Körper betrachtet, der als Kontinu-um bezeichnet wird. In diesem Modell kann in jedem Punkt des Körpers ein anderer Span-nungszustand bestehen, d.h. es muss jeder Punkt einzeln betrachtet werden.

2.1.1 Spannungsvektor

Ein durch äußere Kräfte belasteter Körper wird durch einen gedanklichen Schnitt in zwei Teilegeteilt (siehe Bild 2.1). In einem Teil der Schnittfläche ∆A wirkt dann die Schnittkraft ∆F, wel-

∆F

∆A

n

∆N

∆F

∆T

Bild 2.1: Schnittprinzip im elastischen Kontinuum

che in ihre Normalkomponente ∆N und ihre Tangentialkomponente ∆T zerlegt wird. Definiertman dann

Spannung =Kraft

Flächeerhält man den Spannungsvektor

t(n) = lim∆A→0

∆F∆A

(2.1)

Der Index n kennzeichnet die Orientierung des Flächenelements, auf das t(n) wirkt. Sie ist durchden Normalvektor n gegeben. Der Grenzübergang ∆A→ 0 wurde durchgeführt, da ja im Konti-

9

Page 18: Mechanik 2

10 2 Spannungen, Gleichgewicht und Verformungen

nuum jeder Punkt seinen eigenen Spannungszustand besitzt. Den zwei Komponenten der Kraft∆F entsprechen zwei verschiedene Typen von Spannungen

• Normalspannung

σσσ = lim∆A→0

∆N∆A

(2.2)

die in Richtung der Flächennormalen zeigt. Ein positiver (negativer) Wert kennzeichneteine Zug(Druck-)spannung.

• Schubspannung (Tangentialspannung)

τττ = lim∆A→0

∆T∆A

(2.3)

die in der Schnittebene liegt. Ein Vorzeichen kann nur mit einer Konvention zugeordnetwerden (siehe Abschnitt 2.1.2)

Anmerkung:

In obiger Betrachtung wurden keine Momente mit einbezogen, da in der klassischen Kon-tinuumsmechanik der Punkt keine Rotationsfreiheitsgrade besitzt. Es gibt jedoch erweiterteTheorien, die so-genannten polaren Kontinua oder Cosserat-Kontinua.

2.1.2 Spannungstensor

Um den Spannungzustand an einem Punkt im Kontinuum zu beschreiben, genügt ein Span-nungsvektor nicht. Es kann gezeigt werden, dass drei zueinander senkrecht stehende Span-nungsvektoren den Spannungszustand komplett beschreiben. Um dies zu veranschaulichen wirdein Einheitsquader betrachtet, dessen Flächennormalen den drei Achsen eines kartesischen Ko-ordinatensystems entsprechen (siehe Bild 2.2). Der Spannungszustand entspricht den drei Span-

x1 x2

x3

t(3)

t(1) t(2)

Bild 2.2: Einheitsquader mit den zugehörigen Spannungsvektoren

Page 19: Mechanik 2

2.2 Bilanzgleichung eines verformbaren Körpers 11

nungsvektoren auf den Oberflächen. Diese sind die Resultierenden der Normal- und Schubspan-nung an den jeweiligen Flächen. Jeder Spannungsvektor t(i) hat drei Komponenten

t(i) = σi1 · e1 +σi2 · e2 +σi3 · e3 = σi j e j . (2.4)

Das ergibt zusammen 9 Komponenten σi j die im Spannungstensor

σσσ =

σ11 σ12 σ13

σ21 σ22 σ23

σ31 σ32 σ33

= σi j ei⊗ e j (2.5)

zusammengefasst werden. Die Zusammenstellung der Komponenten σi j in einer Matrix mussein Tensor sein, da die physikalische Größe Spannung unabhängig vom Koordinatensystem ist.Dieser Tensor wird auch Cauchy’scher Spannungstensor genannt. Lässt man das Volumendes Einheitsquaders gegen Null gehen, so beschreibt σσσ den Spannungszustand an jedem Punktim Kontinuum eindeutig.

Es wird folgende Konvention für den Spannungstensor eingeführt

• Der erste Index bezieht sich auf die Orientierung der Bezugsfläche ei auf der t(i) angreift

• Der zweite Index gibt die Richtung an, in die die Spannung wirkt

• σii (keine Summation) ist positiv/negativ bei Zug/Druck und heißt Normalspannung.

σi j (i 6= j) ist positiv, wenn die Flächennormale ei und die Richtung der Spannung e jbeide in positive oder beide in negative Richtungen zeigen. Diese Komponenten heißenSchubspannung.

2.2 Bilanzgleichung eines verformbaren Körpers

In der Statik starrer Körper wurde das Kräftegleichgewicht und das Momentengleichgewicht,also ∑Fi = 0 und ∑Mi = 0, als Axiom postuliert. Ist der Körper nun verformbar, so müssenähnliche Axiome gefordert werden, die das Kräftegleichgewicht und das Momentengleichge-wicht als Spezialfall enthalten. Bei einem verformbaren Körper werden

• die Impulsbilanz und

• die Drehimpulsbilanz

als Axiom formuliert. Hier soll jedoch eine anschauliche Herleitung der entsprechenden Glei-chungen aus einer Kräftebilanz und der Momentenbilanz aufgezeigt werden.

Page 20: Mechanik 2

12 2 Spannungen, Gleichgewicht und Verformungen

2.2.1 Kräftegleichgewicht am verformbaren Körper

Es wird ein infinitesimales Volumenelement ∆V = ∆x1 ∆x2 ∆x3 eines verformbaren Körpers (si-he Bild 2.3) betrachtet. In ihm greift die Volumenkraft f[ N

m3 ] an. Die jeweiligen Flächennormalen

x1 x2

x3t(2) (x2)

t(1) (x1 +∆x1)

t(3) (x3)

t(2) (x2 +∆x2)

t(1) (x1)

t(3) (x3 +∆x3)

f

Bild 2.3: Spannungsvektor am infinitesimales Volumenelement

zeigen in die Richtung eines kartesischen Koordinatensystems. An jeder Schnittfläche wird deraus dem Freischnitt resultierende Spannungsvektor t(i) angebracht. Die „hinteren“ Kanten desVolumenelements haben jeweils die Koordinaten xi und die „vorderen“ xi + ∆xi. Die Verände-rung des Spannungszustandes von der „hinteren“ zur „vorderen“ Seite des Volumenelementskann mit einer Taylor-Reihe dargestellt werden

t(k)(xi +∆xi) = t(k)(xi)+∂t(k)(xi)

∂xi∆xi + ... (keine Summation) . (2.6)

Es wird vorausgesetzt, dass der Spannungsvektor stetig differenzierbar ist. Glieder höherer Ord-nung können vernachlässigt werden, da sie beim nachfolgenden Grenzübergang ∆V → 0 her-ausfallen würden. Um nun eine Kräftebilanz durchzuführen, werden die Spannungsvektorenmit der Fläche multipliziert, auf der sie angreifen, z.B.

t(1)(x1 + ∆x1) ∆x2 ∆x3− t(1)(x1) ∆x2 ∆x3 =∂t(1)(x1)

∂x1∆x1 ∆x2 ∆x3 . (2.7)

in (2.7) werden die Spannungsvektoren für die Flächen mit der Flächennormale in die x1-Richtung addiert. Analoge Gleichungen in x2- und x3-Richtung sind durchzuführen. Damit kanndie Gesamtresultierende, welche ja den Nullvektor ergibt, gebildet werden

∂t(1)

∂x1∆x1 ∆x2 ∆x3 +

∂t(2)

∂x2∆x2 ∆x1 ∆x3 +

∂t(3)

∂x3∆x3 ∆x1 ∆x2 + f · ∆x1 ∆x2 ∆x3 = 0 . (2.8)

Page 21: Mechanik 2

2.2 Bilanzgleichung eines verformbaren Körpers 13

Da das Volumen zwar klein ist, aber nicht verschwindet, kann durch ∆x1 ∆x2 ∆x3 dividiertwerden

∂t(1)

∂x1+

∂t(2)

∂x2+

∂t(3)

∂x3+ f = 0 . (2.9)

Ersetzt man nun die Spannungsvektoren durch die Komponenten des Spannungstensors, erhältman drei Gleichungen

∂σ11

∂x1+

∂σ21

∂x2+

∂σ31

∂x3+ f1 = 0 (2.10a)

∂σ12

∂x1+

∂σ22

∂x2+

∂σ32

∂x3+ f2 = 0 (2.10b)

∂σ13

∂x1+

∂σ23

∂x2+

∂σ33

∂x3+ f3 = 0 (2.10c)

oder kurz geschrieben

σ ji, j + fi = 0 divσσσ+ f = 0 . (2.11)

Dies sind die Gleichgewichtsbedingen (auch Cauchy’sche Gleichungen genannt) für einenverformbaren Körper. Reduziert man gedanklich das Volumenelement auf einen Punkt, so er-kennt man, dass dieses Gleichgewicht sich an jedem Punkt im Körper ändert und damit anjedem einzeln Punkt erfüllt sein muss.

2.2.2 Momentengleichgewicht am verformbaren Körper

In das Momentengleichgewicht am Volumenelement gehen nur Schubspannungen ein, da dieNormalspannungen kein Moment verursachen. Für die x2-x3-Ebene ist dies beispielhaft in Bild 2.4dargestellt.

σ23 (x2)

σ32 (x3 +∆x3)

σ32 (x3)

σ23 (x2 +∆x2)

Bild 2.4: Tangentialspannungen am infinitesimalen Volumenelement (x2-x3-Ebene)

Nimmt man den Schwerpunkt des Rechteckes als Momentenbezugspunkt, so kann das Momen-

Page 22: Mechanik 2

14 2 Spannungen, Gleichgewicht und Verformungen

tengleichgwicht formuliert werden

−σ32( x3) ∆x1 ∆x2∆x3

2−σ32(x3 + ∆x3) ∆x1dx2

∆x3

2

+σ23(x2) ∆x1 ∆x3∆x2

2+σ23(x2 + ∆x2) ∆x1 ∆x3

∆x2

2= 0 .

(2.12)

Die Volumenkraft greift im Schwerpunkt an, und hat somit kein Moment. Dividiert man durch∆x1 ∆x2 ∆x3 und führt einen Grenzübergang ∆x3 → 0, ∆x2 → 0 (die Fläche schrumpft aufeinen Punkt), dann erhält man

σ32 = σ23 . (2.13)

Analoge Betrachtungen in der x1-x3- und der x1-x2- Ebene ergeben

σi j = σ ji σσσ = σσσT , (2.14)

d.h. der Cauchy’sche Spannungstensor muss symmetrisch sein. Er hat also nur 6 unabhängigeKomponenten. Man nennt diesen Zusammenhang auch den Satz der zugeordneten Schubspan-nungen.

2.3 Eigenschaften des Spannungstensors

Der dreidimensionale Spannungstensor beschreibt den Spannungszustand an einem bestimm-ten Punkt im Körper vollständig. Dass er ein Tensor ist, kann gezeigt werden. Dies bedeutet,dass die physikalische Größe Spannung unabhängig vom Koordinatensystem, aber die Darstel-lung („also die Zahlen“) spezifisch für jedes Koordinatensystem ist. Um den Spannungstensorin unterschiedliche Koordinatensystemen darstellen zu können, werden die Formeln aus derTensoralgebra (siehe Abschnitt 1.2) benutzt. Bezeichnet ( )′das neue kartesische Koordinaten-system so gilt

σσσ′ = Q ·σσσ ·QT

σ′il = qi j σ jk qlk (2.15)

mit den Richtungscosinus zwischen den x j- und x′i- Achsen

qi j = cos(] x′i,x j) .

Dies spiegelt die Tatsache wieder, dass der Spannungstensor nicht nur von der Richtung derKoordinatenachse, sondern auch von der Orientierung der Flächennormalen abhängt.

2.3.1 Zusammenhang Spannungsvektor und -tensor: Cauchy’sche Formel

Möchte man eine Spannungs/Kraftrandbedingung formulieren, so benutzt man dazu den Span-nungsvektor. Für die Beschreibung des Spannungszustands ist jedoch nur der Spannungstensor

Page 23: Mechanik 2

2.3 Eigenschaften des Spannungstensors 15

x1

x2

x3

t(n)

t(3)

t(2)

n f

t(1)

Bild 2.5: Tetraederförmiges Volumenelement mit Schnittfläche n und den dazugehörigen Span-nungsvektoren

ausreichend. Der Zusammenhang zwischen beiden kann an einen infinitesimalen tetraederför-migen Volumenelement hergeleitet werden (siehe Bild 2.5). Die schräg im Koordinatensystemliegende Oberfläche wird durch ihre Flächennormale n gekennzeichnet. Weiterhin wirken aufallen Flächen die entsprechenden Spannungsvektoren t(i) und t(n). Dazu kann noch eine Volu-menkraft f auftreten. Um die Spannungen in Kräfte umzurechnen benötigt man die Flächen aufdenen sie wirken. Dies sind ∆An (schräg liegende Flächen) und ∆Ai (die zu den Koordinaten-achsen senkrecht stehenden Flächen). Die Fläche ∆An kann auf die Achse mit

∆Ai = ∆An cos(]n,ei) = ∆Ann · ei = ∆Anni (2.16)

projiziert werden. Das Volumen des Tetraeders ist ∆V = 13 ·h ·∆An. Damit ist das Kräftegleich-

gewicht

t(n)∆An + t(i)∆Ai + f

13

h∆An = 0 →(

t(n)− t(i)ni + f13

h)

∆An = 0 . (2.17)

Für die Umformung in Gleichung (2.17) wurde beachtet, dass die Flächennormalen auf denrückseitigen Dreiecken jeweils in Richtung der negativen Einheitsvektoren zeigen. Führt manden Grenzübergang h→ 0 (also Verkleinerung des Tetraeders auf einen Punkt) durch, so erhältman die Cauchy’sche Formel

t(n) = t(i) ·ni = t(1) ·n1 + t(2) ·n2 + t(3) ·n3 . (2.18)

Einsetzen der Komponenten des Spannungstensors (2.4) ergibt

t(n)i = σ ji ·n j . (2.19)

Mit der Symmetrie des Spannungstensors kann die Cauchy’sche Formel auch als

t(n)i = σi j ·n j t(n) = σσσ ·n (2.20)

Page 24: Mechanik 2

16 2 Spannungen, Gleichgewicht und Verformungen

geschrieben werden.

Damit können nun auch zwei spezielle Komponenten des Spannungstensors berechnet werden.Mit dem Normalvektor n und den beiden Tangentenvektoren s(1) und s(2) erhält man

• die Normalkomponenten

s(2)

t(n)

s(1)

σnn = t(n) ·n= σi j ·n j · ei ·nk · ek

= σi j ·n j ·nk ·δik

= σi j ·n j ·ni

(2.21)

• und die Tangentialkomponente (gilt jeweils für s(1) und s(2))

σns = t(n) · s = σi j ·n j · si . (2.22)

2.3.2 Hauptspannungen und Invarianten

Bei Drehung des Koordinatensystems verändern sich die Einträge im Spannungstensor. Das be-deutet die Spannungen sind in unterschiedlichen Richtungen unterschiedlich groß. Von großerBedeutung sind die Richtungen, für welche die Normalspannungen Extremwerte annehmen,und die Größe dieser Extrema. Man bezeichnet diese Extremwerte als Hauptnormalspannun-gen und ihre Wirkungsrichtung als (Normal)spannungshauptrichtung. Es lässt sich zeigen,dass die Spannungshauptebenen und nur diese, schubspannungsfrei sind. Es sind also Ebenengesucht, in denen der Spannungsvektor in Richtung der Normalen zeigt, d.h. es gilt

t(n)i = σ ni t(n) = σ n . (2.23)

In einer beliebigen Ebene gilt hingegen ti = σi j n j. Also muss die Gleichung

σi j n j−σ ni = 0 (2.24)

erfüllt sein. Mit Hilfe von ni = δi j ·n j erkennt man, dass dies ein Eigenwertproblem(σi j−σ ·δi j

)ni = 0 (2.25)

ist. Da σσσ reell und symmetrisch ist, ist aus der Mathematik bekannt, dass σσσ drei reelle Eigenwer-te besitzt und die dazugehörigen Richtungen n aufeinander senkrecht stehen. Um das Problemeindeutig lösen zu können wird als Zusatzbedingung

nin j = δi j (2.26)

Page 25: Mechanik 2

2.3 Eigenschaften des Spannungstensors 17

verlangt, d.h. die Eigenrichtungen sind orthonormal. Die drei Eigenwerte bestimmen sich ausder charakteristischen Gleichung

|σi j−σ δi j|= 0 → σ3− I1 ·σ2 + I2 ·σ− I3 = 0 (2.27)

mit den drei Invarianten Ii als Koeffizienten

I1 = σii = tr σσσ (2.28a)

I2 =12(σii ·σ j j−σi j ·σi j) (2.28b)

I3 = |σi j|= detσσσ . (2.28c)

Invarianten bedeutet hier, gleichbleibende Größe bei einer Drehung des Koordinatensystems.Einige haben eine physikalische Bedeutung. Die reellen Lösungen der charakteristischen Glei-chung sind

σ(1) ≥ σ

(2) ≥ σ(3) (2.29)

und werden üblicherweise geordnet (manchmal auch σ(1) ≤ σ(2) ≤ σ(3)). Setzt man die dreiHauptspannung nacheinander in das ursprüngliche Eigenwertproblem ein, so können mit derZusatzbedingung (2.26) die dazugehörigen Spannungshauptrichtungen n(1), n(2) und n(3) be-rechnet werden. Die Richtungen n(1), n(2) und n(3) bilden ein Hauptachsensystem. Die Dar-stellung der Invarianten in Hauptspannungen ist

I1 = σ(1) +σ

(2) +σ(3) (2.30a)

I2 = σ(1)

σ(2) +σ

(2)σ

(3) +σ(3)

σ(1) (2.30b)

I3 = σ(1)

σ(2)

σ(3) . (2.30c)

Anmerkung:

Es können auch Hauptschubspannungen berechnet werden, also ein Koordinatensystemwird gesucht in dem die Schubspannungen maximal werden. Diese sind

τ(1) = |σ

(2)−σ(3)

2|, τ

(2) = |σ(3)−σ(1)

2| τ

(3) = |σ(1)−σ(2)

2|. (2.31)

Die Normalen der Wirkungsebene der Hauptschubspannungen schließen mit den Normal-spannungshauptachsen einen 45◦ oder 135◦ Winkel und mit der dritten Hauptnormalspan-nungsachse einen rechten Winkel ein. Die Ebenen, in denen die Schubspannungen maximalsind, sind im Allgemeinen nicht frei von Normalspannungen.

2.3.3 Hydrostatischer und deviatorischer Anteil des Spannungstensors

Wird ein Körper von allen Seiten gleichförmig unter Druck gesetzt, tritt im Inneren ein schub-spannungsfreier Zustand auf, der durch den Spannungstensor

σσσH =−p ·1 = σ

m ·1 σm =

13· (σ11 +σ22 +σ33) (2.32)

Page 26: Mechanik 2

18 2 Spannungen, Gleichgewicht und Verformungen

beschrieben wird. Diesen Zustand nennt man hydrostatischen Spannungszustand (es tretenkeine Schubspannungen treten auf). Solche Zustände existieren in flüssigen oder gasförmigenStoffen. Allgemein kann man jeden Spannungstensor entsprechend

σi j =σkk

3·δi j︸ ︷︷ ︸

hydrostatischerAnteil

+ sDi j︸︷︷︸

deviatorischerAnteil

(2.33)

zerlegen, mit der mittleren Normalspannung σm = σkk3 und sD

i j dem deviatorischen Spannungs-tensor. Dieser ist entsprechend durch

sDi j =

σ11−σm σ12 σ13

σ12 σ22−σm σ23

σ13 σ23 σ33−σm

(2.34)

definiert. Dessen erste Invariante ID1 = sD

kk ist gleich Null. Die Normalspannungen im Deviatorsind im Normalfall ungleich Null.

Anmerkung:

In der Plastizität spielt der Spannungsdeviator eine große Rolle, da vor allen bei metallischenWerkstoffen der hydrostatische Anteil keinen Einfluss auf das Eintreten von plastischer Ver-formung hat.

2.4 Ebener Spannungszustand (ESZ)

Ein technisch sehr wichtiger Sonderfall ist gegeben durch

σ33 = 0, σ31 = σ32 = 0. (2.35)

Dieser wird ebener Spannungszustand genannt. Der Spannungstensor reduziert sich auf vierEinträge

σσσ =

σ11 σ12

σ21 σ22

. (2.36)

Dieser Spezialfall liegt in guter Näherung in ebenen Flächentragwerken wie einer Scheibe vor.Die Dicke t der Scheibe muss sehr viel kleiner sein als die Länge der Seiten der Scheibe unddas Tragwerk darf nur in seiner Ebene belastet sein (siehe Bild 2.6). Wegen der geringen Dickekann angenommen werden, dass die Spannungen σ11, σ12 und σ22 konstant über die Dickesind. Es gelten alle für den 3-dimensionalen (allgemeinen) Fall gemachten Aussagen natürlichweiter. Es können jedoch die Koordinatentransformationen und damit auch Hauptspannungensehr anschaulich (ohne Tensorkalkül) dargestellt werden.

Page 27: Mechanik 2

2.4 Ebener Spannungszustand (ESZ) 19

x1

x2x3

F

tF =

F1

F2

0

. (2.37)

Bild 2.6: Ebener Spannungszustand

2.4.1 Anschauliche Koordinatentransformation

Betrachtet man zwei gegeneinander gedrehte Koordinatensysteme, xi und x′i, so können die all-gemein hergeleiteten Transformationsformeln, über eine Betrachtung an einen infinitesimalenDreieck veranschaulicht werden (siehe Bild 2.7).

x1

x2

x′1

x′2

ϕ

σ22σ21

σ12

σ11 σ′11σ′12

∆A2

∆A1

ϕ ∆x′2∆A

Bild 2.7: Koordinatentransformation in 2-d

Der Winkel ϕ wird mathematisch positiv, also entgegen dem Uhrzeigersinn positiv gezählt.Die Angriffsfläche von σ′11 ist ∆A = ∆x′2t. Entsprechend Bild 2.7 gilt für die Beiden anderenAngriffsflächen ∆A2 = ∆Acosϕ und ∆A1 = ∆Asinϕ. Damit können Kräftebilanzen in x′1- undx′2-Richtung ausgewertet werden

σ′11∆A− (σ11∆Acosϕ)cosϕ− (σ12∆Acosϕ)sinϕ

− (σ22∆Asinϕ)sinϕ− (σ12∆Asinϕ)cosϕ = 0 (2.38a)σ′12∆A+(σ11∆Acosϕ)sinϕ− (σ12∆Acosϕ)cosϕ

− (σ22∆Asinϕ)cosϕ+(σ12∆Asinϕ)sinϕ = 0 . (2.38b)

In den Gleichungen (2.38) und der Skizze in Bild 2.7 wurde die Symmetrie des Spannungs-tensors σ12 = σ21 schon eingesetzt. Über eine Betrachtung an einem gedrehten Dreieck, oderdurch simples Ersetzen von ϕ = ϕ + π

2 in der ersten Gleichung erhält man die noch fehlendeGleichung (

σ′22−σ11 sin2

ϕ−σ22 cos2ϕ+2σ12 cosϕsinϕ

)∆A = 0 . (2.39)

Page 28: Mechanik 2

20 2 Spannungen, Gleichgewicht und Verformungen

Beachtet man nun noch die trigonometrischen Umformungen

cos2ϕ =

12(1+ cos2ϕ) 2sinϕ · cosϕ = sin2ϕ

sin2ϕ =

12(1− cos2ϕ) cos2

ϕ− sin2ϕ = cos2ϕ ,

(2.40)

so erhält man die Transformationsformeln

σ′11 =

12(σ11 +σ22)+

12(σ11−σ22)cos2ϕ+σ12 sin2ϕ (2.41a)

σ′22 =

12(σ11 +σ22)−

12(σ11−σ22)cos2ϕ−σ12 sin2ϕ (2.41b)

σ′12 = − 1

2(σ11−σ22)sin2ϕ+σ12 cos2ϕ (2.41c)

Anmerkung:

1. Diese Formel zur Berechnung von Spannungen in gedrehten Koordinatensystemenwurde im vorigen Kapitel allgemein als

σσσ′ = Q σσσ QT mit Q =

cosϕ sinϕ

−sinϕ cosϕ

(2.42)

dargestellt.

2. Die Invarianten reduzieren sich im ESZ auf zwei,

I1 = σ11 +σ22 I2 = σ11σ22−σ212 , (2.43)

die mit den Transformationsformeln leicht durch Nachrechnen gezeigt werden können.

3. Die Zerlegung in deviatorischen und hydrostatischen Anteil geht analog zu 3-d.

2.4.2 Hauptspannungen

Wie Hauptspannungen im Allgemeinen berechnet werden, wurde im vorherigen Kapitel darge-stellt. Da im Spezialfall ESZ jedoch die explizite Transformationsformeln vorliegen, bietet essich an einfach die Bedingungen

∂σ′11∂ϕ

= 0 und∂σ′22∂ϕ

= 0 (2.44)

auszuwerten. Beide führen auf die gleiche Bedingung, deren Lösung

tan2ϕ∗ =

2σ12

σ11−σ22(2.45)

Page 29: Mechanik 2

2.4 Ebener Spannungszustand (ESZ) 21

ist. Die Tangensfunktion ist mit π periodisch. Daher hat diese Gleichung unendlich viele Lö-sungen. Physikalisch sinnvolle Lösungen sind die zwei Hauptrichtungen ϕ∗ und ϕ∗+ π

2 für0≤ ϕ∗ ≤ π

2 . Diese sind orthogonal zueinander. Einsetzen dieses Winkels in obige Transforma-tionsformel liefert die Hauptspannungen

σ(1,2) =

σ11 +σ22

√(σ11−σ22

2

)2

+σ212 , (2.46)

wobei durch die Vereinbarung σ(1) ≥ σ(2) die Zuordnung der Vorzeichen vor der Wurzel ein-deutig ist. Welcher Winkel, entweder ϕ∗ oder ϕ∗+ π

2 , zu σ(1) oder σ(2) zuzuordnen ist, mussdurch Einsetzen im konkreten Fall getestet werden. Die Hauptschubspannungen werden analogüber

∂σ′12∂ϕ

= 0 (2.47)

bestimmt. Dies ergibt

tan2ϕ∗∗ =−σ11−σ22

2σ12. (2.48)

Es ergeben sich ebenfalls wieder zwei Winkel. Wegen tan2ϕ∗ =−1/ tan2ϕ∗∗ stehen die Rich-tungen 2ϕ∗ und 2ϕ∗∗ aufeinander senkrecht. Dies bestätigt das Ergebnis aus 3-d, dass dieHauptschubspannungsrichtung einen Winkel von 45◦ mit der Hauptnormalspannungsrichtungeinschließt. Die Hauptschubspannungen sind

τmax = σmax12 =±

√(σ11−σ22

2

)2

+σ212 =±1

2(σ(1)−σ

(2)). (2.49)

Auch hier sind die zu ϕ∗∗ gehörenden Normalspannungen normalerweise ungleich Null.

2.4.3 Mohr’scher Kreis

Die Transformationsformeln des Spannungstensors können graphisch dargestellt werden. Ord-net man diese Gleichungen für σ′11 und σ′12 entsprechend an

σ′11−

12(σ11 +σ22) =

12(σ11−σ22)cos2ϕ+σ12 sin2ϕ

σ′12 =−1

2(σ11−σ22)sin2ϕ+σ12 cos2ϕ ,

so kann man durch Quadrieren und Addieren den Winkel ϕ eliminieren. Dies ergibt

[σ′11−12

(σ11 +σ22)︸ ︷︷ ︸σM

]2 +σ′212 =

(σ11−σ22

2

)2

+σ212︸ ︷︷ ︸

r2

. (2.50)

Page 30: Mechanik 2

22 2 Spannungen, Gleichgewicht und Verformungen

Mit den Abkürzungen σM = 12(σ11 +σ22) und r2 = (σ11−σ22

2 )2 +σ212 erkennt man die Kreisglei-

chung(σnn−σM)2 +σ

2ns = r2 (2.51)

in der σnn,σns-Ebene. σnn und σns sind hier Platzhalter für Normalspannung und Schubspan-nung. Alle Spannungszustände (σnn,σns) liegen auf einem Kreis mit dem Mittelpunkt (σM,0)und dem Radius r. Dieser Spannungskreis ist nach O. MOHR benannt. Die Mittelspannung σMist die Hälfte der ersten Invariante des Spannungstensors und durch Umformen von

r2 =14[(σ11 +σ22)2−4(σ11 ·σ22−σ

212)] (2.52)

erkennt man, dass auch der Radius eine Kombination der ersten und zweiten Invariante ist.Damit muss jede Darstellung des ein und desselben Spannungszustandes auf dem Kreis zufinden sein. Für einen unbekannten Spannungszustand

σσσ =

σ11 σ12

σ12 σ22

(2.53)

kann der Kreis skizziert werden (siehe Bild 2.8). Dazu trägt man in einem σnn,σns-Koordinatensystemdie Normalspannungen auf der σnn-Achse ein. Dann trägt man σ12 mit „richtigen“ Vorzeichen

σns

σnnσ′22 σ22 σM

σ11 σ′11

σ12

σ′122ϕ

σ12

Bild 2.8: Mohr’scher Kreis

(also für σ12 > 0 nach oben) über σ11 auf. Mit entsprechend „falschen“ Vorzeichen wird σ12auch über σ22 aufgetragen. Verbindet man beide Punkte, so ist der Schnittpunkt dieser Liniemit der σnn-Achse der Mittelpunkt (σM,0) des Mohr’schen Kreises. Der Abstand (σM,0) und(σ11,σ12) ist der Radius. Damit kann der Kreis gezeichnet werden.

Da alle Spannungszustände von σσσ auf diesem Kreis liegen, kann der Spannungstensor in jedemzum ursprünglichen Koordinatensystem gedrehten System abgelesen werden. Dreht man z.B.

Page 31: Mechanik 2

2.4 Ebener Spannungszustand (ESZ) 23

um den positiven Winkel ϕ (entgegen dem Uhrzeigersinn), so muss im Mohr’schen Kreis umden zweifachen Winkel negativ gedreht werden. Die Schnittpunkte des gedrehten Durchmes-sers mit der Kreislinie ergeben dann die Punkte (σ′11,σ

′12) und (σ′22,−σ′12).

Daher Vorsicht!: Im Mohr’schen Kreis ist der doppelte Winkel und dieser mit geänderten Vor-zeichen zu benutzen.

Die Hauptnormalspannungen sind direkt als Schnittpunkt des Kreises mit der σnn-Achse abzu-lesen (ebenso der Drehwinkel ϕ∗ dabei). Die Hauptschubspannungen sind senkrecht über derMittelspannung abzulesen. Daran erkennt man auch, dass die Hauptschubspannungsrichtungum 45◦ zur Hauptnormalspannungsrichtung orientiert ist.

Drei Sonderfälle sollen noch betrachtet werden:

σns

σnn

σ22 σ11 = σ0

σmax12

1. Einachsiger Zug:

σ11 = σ0 > 0, σ22 = σ12 = 0

Da σ12 = 0 ist, ist σ11 und σ22 automatischdie Hauptspannung. Die Hauptschubspannungist τmax = σmax

12 = σ11/2

σns

τ0

σnn

τ0

2. Reiner Schub:

σ11 = σ22 = 0, σ12 = τ0

σM = 0 und die Hauptnormalspannungen sind:σ(1) = τ0, σ(2) =−τ0

σns

σ0 σnn

3. Hydrostatischer Spannungszustand:

σ11 = σ22 = σ0, σ12 = 0

Der Mohr’sche Kreis entartet zum Punkt. DieNormalspannungen haben für alle Schnittrich-tungen den gleichen Wert. Es treten keineSchubspannungen auf.

Page 32: Mechanik 2

24 2 Spannungen, Gleichgewicht und Verformungen

Anmerkung:

Es ist auch möglich im allgemeinen 3-d Fall einen Mohr’schen Kreis zu zeichnen. Dort sindes jedoch dann drei ineinander gefügte Kreise.

2.4.4 Gleichgewicht im ESZ

Die Gleichgewichtsbedingungen aus Kapitel 2.2.1 ändern sich im ESZ natürlich nicht. DasMomentengleichgewicht resultiert ebenfalls in die Symmetrie des Spannungstensors und in derKräftebilanz sind nun nur noch zwei Gleichungen

∂σ11

∂x1+

∂σ12

∂x2+ f1 =0

∂σ12

∂x1+

∂σ22

∂x2+ f2 =0

→ σi j, j + fi = 0 , mit i = 1,2 (2.54)

zu berechnen.

2.5 Verformungen

Zur Beschreibung der Verformung eines elastischen Körpers bietet es sich an, eine Referenz-(Ausgangs)-Konfiguration und eine verformte Konfiguration festzulegen. Es bietet sich weiter-hin an als Referenzkonfiguration diejenige zu benutzen, die den ursprünglichen spannungsfreienund damit unverformten Körper beschreibt. Die Lage eines Punktes in der verformten Konfigu-ration kann dann durch

r(x) = r0(x)+u(x) (2.55)

beschrieben werden, wobei r0 die Lage in der unverformten Konfiguration darstellt und u dieVerschiebung (siehe Bild 2.9). Die Verformung des Körpers sollte daher mit dem Verschie-

x1

x2

x3 r0

Pu P′

r

Bild 2.9: Darstellung der Verformung und Verschiebung

bungsvektor u beschreibbar sein. Dieser wird sich zusammensetzen aus einer Starrkörperver-schiebung und der tatsächlichen Verformung des Körpers. Die Starrkörperverschiebung setzt

Page 33: Mechanik 2

2.5 Verformungen 25

sich zusammen aus einer Translation und einer Rotation. Die Verformung wird man intuitivals Verhältnis der neuen Größe bezogen auf die Ausgangsgröße definieren. Im Folgenden wirdvorausgesetzt, dass alle Verformungen klein sind und somit eine lineare Theorie genügt.

2.5.1 Verzerrungstensor

Es wird im Folgenden die Taylor-Reihe einer Funktion von mehreren Varianten, den drei Koor-dinaten, benötigt

u(x1 +dx1,x2 +dx2,x3 +dx3) =u(x1,x2,x3)+∂u(x1,x2,x3)

∂x1·dx1

+∂u(x1,x2,x3)

∂x2·dx2 +

∂u(x1,x2,x3)∂x3

·dx3 + . . .

(2.56)

Zur Herleitung der Verformung wird eine Betrachtung in der x1-x2 Ebene herangezogen und eineinfaches Rechteck mit den Abmessungen dx1 und dx2 betrachtet (siehe Bild 2.10).

u1

u2

α

β

u2 + ∂u2∂x2

dx2

u1 + ∂u1∂x2

dx2

u1 + ∂u1∂x1

dx1

u2 + ∂u2∂x1

dx1

Bild 2.10: Geometrische Darstellung der Verformung

Durch die Geometrie und Lage des Rechtecks im Koordinatensystem vereinfachen sich dieTaylor-Reihen jeweils. Damit kann die Dehnung in x1-Richtung definiert werden (lineare Ap-proximation)

ε11 =u1 + ∂u1

∂x1·dx1−u1

dx1=

∂u1

∂x1(2.57)

als Verlängerung in die x1-Richtung bezogen auf die Ausgangslänge dx1. Analog dazu sindDehnungen in die beiden anderen Koordinatenrichtungen zu finden

ε22 =∂u2

∂x2ε33 =

∂u3

∂x3. (2.58)

Page 34: Mechanik 2

26 2 Spannungen, Gleichgewicht und Verformungen

Es fehlen nun noch die Winkeländerungen des ursprünglich Rechten Winkels. Diese ist dieSumme der Winkel α+β, die jeweils über den Tangens bestimmt werden können

tanα≈α≈u2 + ∂u2

∂x1·dx1−u2

dx1=

∂u2

∂x1(2.59)

tanβ≈β≈u1 + ∂u1

∂x2·dx2−u1

dx2=

∂u1

∂x2. (2.60)

Die Annahme kleiner Verformungen erlaubt die Approximation des Tangens durch den Winkel.Damit kann eine Scherung (Gleitung) als

γ12 = α+β =∂u2

∂x1+

∂u1

∂x2(2.61)

formuliert werden. Diese in weiten Bereichen des Ingenieurwesen benutzte Größe (dort alsγxy bezeichnet) eignet sich in der Kontinuumsmechanik nicht. Definiert man die Schubverfor-mung ε12 als die halbe Scherung 1

2γ12, dann ergeben sich

ε12 =12· (∂u2

∂x1+

∂u1

∂x2) (2.62a)

ε13 =12· (∂u3

∂x1+

∂u1

∂x3) (2.62b)

ε23 =12· (∂u3

∂x2+

∂u2

∂x3) . (2.62c)

Mit dieser Definition erhält man den linearen Verzerrungstensor

εεε =

ε11 ε12 ε13

ε12 ε22 ε23

ε13 ε23 ε33

mit εi j =12(ui, j +u j,i) , (2.63)

der symmetrisch ist. Benützt man die Scherung γi j zur Beschreibung des Verformungszustan-des, so hat man keine Tensoreigenschaften. Daher wird hier im folgenden nur εεε benutzt.

Aufgrund der Tensoreigenschaft können genau wie beim Spannugstensor ein Hauptverzer-rungszustand (also keine Schubverformung) gefunden werden. Die Rotation des Koordinaten-systems ist ebenso zu berücksichtigen mit

εεε′ = Q ·εεε ·QT . (2.64)

2.5.2 Deviatorischer und hydrostatischer Verzerrungszustand

Weiterhin kann analog zum Spannungstensor der Verzerrungstensor in einen kugelsymmetri-schen Anteil

εεεH =

13

ε1 , mit ε = εii = ε11 + ε22 + ε33, (2.65)

Page 35: Mechanik 2

2.5 Verformungen 27

den hydrostatischen Anteil, und in einen deviatorischen Anteil

eD = εεε−εεεH , mit eD

i j = εi j−13

εδi j (2.66)

zerlegt werden. Die Größe ε ist die Volumendehnung.

Betrachtet man einen Quader V mit den Abmessungen a×b× c in die Richtung der x1, x2 undx3-Achse, die auch Hauptverzerrungsachsen sind, so können diese nach

ε(1) =

∆aa

(2.67a)

ε(2) =

∆bb

(2.67b)

ε(3) =

∆cc

(2.67c)

a

bc

definiert werden. Die Volumenänderung berechnet sich damit zu

V +∆V = (a+∆a) · (b+∆b) · (c+∆c) = abc · (1+∆aa

+∆bb

+∆cc

)+O · (∆2)

≈V +(ε(1) + ε(2) + ε

(3))V .

(2.68)

Bezieht man die Volumenänderung ∆V auf das Ausgangsvolumen V so erhält man

∆VV

= ε(1) + ε

(2) + ε(3) = εii = ε . (2.69)

Die Größe εii heißt Dilatation. Sie entspricht der ersten Invarianten des Verzerrungstensors undist damit aus jedem beliebigen Verzerrungszustand berechenbar.

Damit beschreibt der hydrostatische Anteil des Verzerrungstensors eine reine Volumenände-rung ohne Gestaltänderung. Die Gestaltänderung (ohne Volumenänderung) wird durch den De-viator des Verzerrungstensors beschrieben. Dass der Deviator keine Volumenänderung beinhal-tet kann mit der Dilatation des Deviators gezeigt werden

eDii = (ε11−

13

ε)+(ε22−13

ε)+(ε33−13

ε) = ε11 + ε22 + ε33− ε!= 0. (2.70)

2.5.3 Starrkörperrotation und Kompatibilität

Aus der Definition der Verzerrung εi j = 12(ui, j + u j,i) ist eine physikalische Deutung der Ver-

formung als Änderung der Verschiebung im Ort zu erkennen. Formuliert man dies mit der

Page 36: Mechanik 2

28 2 Spannungen, Gleichgewicht und Verformungen

Tensoranalysis als Gradient der Verschiebung gradu, ergibt dies einen Tensor, der in seinensymmetrischen und antimetrischen Anteil zerlegt werden kann

gradu = ui, j ei⊗ e j ui, j =12(ui, j +u j,i)︸ ︷︷ ︸

εi j

+12(ui, j−u j,i)︸ ︷︷ ︸

ωi j

. (2.71)

Daraus erkennt man, dass nur der symmetrische Anteil dem Verzerrungstensor entspricht. Derantimetrische Anteil ωi j beschreibt die Starrkörperrotation.

Aus der obigen Darstellung ist zu sehen, dass bei gegebenem Verschiebungsfeld u(x) sowohlder Verzerrungstensor als auch die Starrkörperrotation berechenbar ist. Möchte man jedoch auseinem bekannten Verzerrungstensor die Verschiebung berechnen, so stehen den sechs Verzer-rungskomponenten drei Verschiebungskomponenten gegenüber. Es müssen also noch zusätz-liche Bedingungen gefordert werden, damit die Zuordnung eindeutig wird. Es wird gefordert,dass das Verschiebungsfeld kontinuierlich ist, also keine „Klaffungen“ im Kontinuum auftreten.Um diese Bedingung zu erfüllen werden Identitäten mit den Komponenten des Verzerrungsten-sors formuliert, die nach einigen Umformungen auf folgende sechs Gleichungen führen

ε11,22 + ε22,11−2ε12,12 = 0 (2.72a)ε22,33 + ε33,22−2ε23,23 = 0 (2.72b)ε33,11 + ε11,33−2ε31,31 = 0 (2.72c)

ε12,13 + ε13,12− ε23,11− ε11,23 = 0 (2.72d)ε23,21 + ε21,23− ε31,22− ε22,31 = 0 (2.72e)ε31,32 + ε32,31− ε12,33− ε33,12 = 0 . (2.72f)

Diese sechs Gleichungen sind nicht voneinander unabhängig. Werden sie erfüllt, so ist eineeindeutige Zuordnung vom Verzerrungstensor zum Verschiebungsfeld möglich.

2.5.4 Ebener Verzerrungszustand (EVZ)

Analog zum ebenen Spannungszustand, kann ein Verzerrungszustand existieren, bei dem danneine ebene Beschreibung möglich ist. Gelten die Bedingungen

u3 = 0 ,∂u1

∂x3=

∂u2

∂x3= 0 , (2.73)

d.h. die Verschiebungen hängen nur von den Koordinaten x1 und x2 ab, dann erhält man

ε33 = ε31 = ε32 = 0 . (2.74)

In diesem Fall spricht man von einem ebenen Verzerrungszustand (EVZ) mit dem Verzerrungs-tensor

εεε =

ε11 ε12

ε12 ε22

. (2.75)

Page 37: Mechanik 2

2.5 Verformungen 29

Typische Beispiele dafür sind Bauteile bei denen eine Längenabmessung sehr viel größer ist, alsdie beiden anderen, z.B. ein Erddamm. Es sollte auch keine Belastung in x3-Richtung gegebensein. Dann sind auch die Gleichgewichtsgleichungen identisch zu denen im ESZ.

Den 2-dimensionalen Verzerrungstensor kann man wie den 2-dimensionalen Spannungstensortransformieren (siehe Kapitel 2.4.1). Der Mohr’sche Kreis ist genauso anwendbar. Die Formelfür die Hauptverzerrungen lauten

ε(1,2) =

ε11 + ε22

√(ε11− ε22

2

)2

+ ε212 . (2.76)

Alle anderen Gleichungen sind analog zum ESZ.

Anmerkung:

Im Normalfall bewirkt ein ebener Spannungszustand nicht einen ebenen Verzerrungszu-stand und umgekehrt.

Page 38: Mechanik 2

30 2 Spannungen, Gleichgewicht und Verformungen

Page 39: Mechanik 2

3 WERKSTOFFMODELLE

Im Kapitel über Spannungen wurden die Kräfte über Gleichgewichtsbeziehungen mit den Span-nungen verknüpft. Im Kapitel über Verzerrungen wurden die geometrischen Größen, Verschie-bung und Verformung über die Kinematik verknüpft. Bei all diesen Betrachtungen spielte dasMaterial (oder Werkstoff) des Körpers keine Rolle.

Daher gelten alle bisher hergeleiteten Betrachtungen für alle klassischen Kontinua, seien esfeste Körper, Flüssigkeiten oder Gase. Hier soll nun der Zusammenhang zwischen Spannun-gen und Verformungen hergestellt werden, welcher durch die Eigenschaften des Werkstoffsbestimmt wird. Es werden Werkstoffmodelle (auch Materialgesetz genannt) benötigt. Aus derVielzahl von Modellen wird hier ein Modell für einen Festkörper vorgestellt. Es wird das ein-fachst mögliche lineare Modell der Elastizität präsentiert, das trotz seiner Einfachheit bei sehrvielen praktischen Problemstellungen angewandt wird. Im weiteren wird auch vorausgesetzt,dass die Temperaturen keinen Einfluss auf das Materialverhalten haben (Ausnahme siehe Ab-schnitt 3.2.3).

Das gesuchte Materialgesetz, hier ein Elastizitätsgesetz, ist von der Form

σσσ = σσσ(εεε) σi j = σi j(εkl) . (3.1)

Die Starrkörperrotation ωi j gehen nicht in das Materialgesetz ein, da sie ja keine Längen-oder Winkeländerung bewirken. Die Abhängigkeit σi j(εkl) der Spannungskomponenten vonden Verzerrungskomponenten ist grundsätzlich experimentell zu ermitteln (z.B. Zugversuch,siehe unten). Ein Material, das sich an allen materiellen Punkten eines Körpers gleich verhält,bezeichnet man als homogen, andernfalls als inhomogen. Sind die Eigenschaften eines Materi-als richtungsunabhängig, so nennt man das Material isotrop. Bei einer Richtungsabhängigkeitder Eigenschaften bezeichnet man es als anisotrop. Offensichtlich anisotrope Eigenschaftenliegen zum Beispiel meist bei faserverstärkten Materialien, z.B. Stahlbeton, vor.

3.1 Eindimensionale Betrachtung, Versuche

Als erster Versuch wird der Zugversuch betrachtet. Dazu wird ein Probekörper dessen Län-genabmessung wesentlich größer sind als die Querschnittsabmessung auf Zug belastet. In hin-reichender Entfernung von der Krafteinleitungsstelle und der Einspannung stellt sich ein eindi-mensionaler Spannungszustand ein. Die Grundlage für diese Behauptung ist das Prinzip vonSaint-Vernant, das folgende allgemeine Aussage macht:

31

Page 40: Mechanik 2

32 3 Werkstoffmodelle

Greifen in einem bestimmten Bereich eines elastischen Körpers zwei verschiedene,aber äquivalente Kräftegruppen an - einmal die eine und einmal die andere-, dannsind die Unterschiede der in beiden Fällen verursachten Spannungs- und Verzer-rungszustände umso kleiner, je weiter man sich von diesem Bereich entfernt, andem die Belastung stattfindet.

3.1.1 Spannungs-Dehnungs-Diagramm

Betrachtet man nun den Zusammenhang zwischen aufgebrachter Kraft F und der Verlängerung∆l, dann wird das Ergebnis für jede Probe mit anderer Länge oder Querschnittsabmessung an-ders sein. Bildet man hingegen aus F die Spannung σ durch Division mit der Querschnittsflächeund aus ∆` die Verzerrung ε durch Normierung auf die Ausgangslänge `, so kann ein für dasMaterial charakteristisches Spannungs-Dehnungs-Diagramm (σ-ε-Diagramm) angegeben wer-den.

σ

σF

σP

σB

ε

elastischer Bereich

Fließen

Verfestigung

Bruch

wahre Spannung

Bild 3.1: Prinzipieller Verlauf eines σ-ε-Diagramms für duktile Materialien

In Bild 3.1 ist ein mögliches Diagramm für duktile Materialien dargestellt, das häufig vorkom-menden Effekte beinhaltet. Es ist zu Beginn ein linearer Bereich zu erkennen in welchem derZusammenhang

σ = E · ε (3.2)

gilt. Dies ist das Hooke’sche Gesetz und beschreibt den elastischen Bereich. Die Proportiona-litätskonstante E heißt Elastizitätsmodul (oder kurz E- Modul). Die Einheit dieser Material-konstante ist N

m2 und beträgt für einen gewöhnlichen Stahl z.B. E = 2,1 · 1012 Nm2 = 210GPa.

Weitere Materialdaten sind z.B. in [6, 2] zu finden.

Page 41: Mechanik 2

3.1 Eindimensionale Betrachtung, Versuche 33

Der elastische Bereich wird dadurch charakterisiert, dass bei einer Entlastung keine bleibendeVerformung zurückbleibt. Am Punkt σp, der Proportionalitätsgrenze, beginnt ein nichtlinearerBereich, bei dem trotzdem bei Entlastung keine bleibende Dehnung messbar ist. Danach trittFließen ein. Dieser Bereich ist dadurch charakterisiert, dass sich die Verzerrung bei gleich-bleibender Spannung erhöht. Die Grenze zwischen elastischem Bereich und Fließen ist schwerzu messen und bei manchen Materialien fast nicht vorhanden. Daher wird üblicherweise dieSpannung σF als Fließgrenze bestimmt, bei welcher eine bleibende Dehnung von ε = 0,2% zumessen ist.

Nach dem Fließen tritt ein Bereich auf der Verfestigung genannt wird. Wird in diesem Bereichentlastet und abermals belastet, so steigt die Fließgrenze σF an. Schlussendlich wird bei derSpannung σB, der Bruchfestigkeit, die Probe zu Bruch gehen. Allerdings ist in diesem Bereichnicht mehr die tatsächliche Spannung im Diagramm angetragen, da sich die Probe gegen Endeder Belastung einschnürt. Daher muss um auf die wahre Spannung zu kommen die Zugkraft aufden eingeschnürten Zustand bezogen werden. Dies ist die gestrichelte Kurve im Diagramm.

Die gerade gemachte Aussagen gelten nur für duktile Materialien. Ein einfacher Baustahl zeigtschon nicht mehr alle oben beschriebenen Effekte. Ein sprödes Material wie Beton hingegen,zeigt fast nur noch einen elastischen Bereich, kein Fließen und nur einen kurzen Verfestigungs-bereich bevor der Bruch an der Bruchfestigkeit σB eintritt (siehe Bild 3.2).

σ

σF

σP

σB

ε

elastischer Bereich

Fließen

VerfestigungBruch

Bild 3.2: Prinzipieller Verlauf eines σ-ε-Diagramms für spröde Materialien

Bei Druckbelastung ist im Prinzip ein am Ursprung gespiegeltes Diagramm zu zeichnen. Abergerade spröde Materialien haben eine sehr viel größere Druckfestigkeit als Zugfestigkeit. ZäheMaterialien hingegen verhalten sich unter Druck häufig wie unter Zug, jedoch werden sie kaumbrechen.

Page 42: Mechanik 2

34 3 Werkstoffmodelle

Anmerkung:

Auf eine Besonderheit von Beton ist noch hinzuweisen. Beton verhält sich gerade im Druck-bereich fast nur nicht-linear. Der lineare Bereich ist nur sehr klein. Allerdings kann manlinear rechnen, wenn als E-Modul der Sekantenmodul benutzt wird.

3.1.2 Querkontraktion

Genaue Messungen bei Zugversuchen zeigen, dass schon im elastischen Bereich der Stabdurch-messer abnimmt, wenn die Längsspannung positiv ist, und dass er zunimmt, wenn sie negativist. Das bedeutet, der einachsige Spannungszustand (σ11 6= 0, σ22 = σ33 = 0) verursacht einendreiachsigen Verzerrungszustand. Dieser lineare Zusammenhang kann mit der dimensionslosenKonstante ν beschrieben werden

ε22 = ε33 =−ν · ε11 . (3.3)

Die Konstante ν, deren Größe sich aus Versuchen ergibt, heißt Querdehnzahl oder Querkon-traktion oder auch Poisson’sche Querkontraktionszahl genannt. Viele Materialien liegen imBereich 0,2 < ν < 0,3. Eine obere Grenze, die gerade nicht mehr möglich ist, ist ν = 0,5. Setztman ε22 = ε33 =−ν · ε11 in die Volumendehnung (2.69) ein erhält man

ε = εii = ε11(1−2 ·ν) . (3.4)

Für den Grenzwert ν = 0,5 ist die Volumendehnung Null. Solch ein Grenzfall bezeichnet manals inkompressiebel. Gummi ist ein Material, das diesem sehr nahe kommt.

3.1.3 Schubmodul

Um das Verhalten des Materials unter Schub zu beurteilen wird ein Torsionsversuch durchge-führt. Dieser wird häufig mit einer dünnwandigen Zylinderprobe gemacht. Es wird das aufge-brachte Torsionsmoment und der Verdrehwinkel gemessen. Bezieht man das Moment auf dieFläche und den Verdrehwinkel auf das Verhältnis Ausgangslänge zu Durchmesser, so erhältman ebenfalls ein Spannungs-Dehnungs-Diagramm, der Schubspannung τ und der Scherung γ.In seinem linearen Bereich kann die Beziehung

τ = G · γ (3.5)

mit dem Schubmodul G angegeben werden.

3.2 Dreidimensionale Betrachtung: Verallgemeinertes Hooke’sche Gesetz

Im vorherigen Abschnitt war durch die eindimensionale Betrachtung der Spannungs- und Ver-zerrungstensor in Form einer skalaren Größe darstellbar, und damit das Stoffgesetz eine einfa-

Page 43: Mechanik 2

3.2 Dreidimensionale Betrachtung: Verallgemeinertes Hooke’sche Gesetz 35

che Gleichung. Im Dreidimensionalen hingegen müssen die Spannungstensoren mit den Ver-zerrungstensoren verknüpft werden. Im allgemeinen Hooke’schen Gesetz tritt an die Stelle des

Elastizitätsmodul E der so-genannte Elastizitätstensor (Materialtensor)(4)C vierter Stufe mit

den Komponenten Ci jkl und das verallgemeinerte Hooke’sche Gesetz lautet

σσσ =(4)C : εεε σi j = Ci jkl · εkl . (3.6)

Die insgesamt 34 = 81 Komponenten Ci jkl sind nicht sämtlich unabhängig voneinander, sondernes gelten gewisse Symmetriebedingungen bezüglich Indexvertauschungen. So ist die Symme-trie des Spannungstensors (σi j = σ ji) und die des Verzerrungstensors (εkl = εlk) auf den Elasti-zitätstensor übertragbar und es gilt

Ci jkl = C jikl und Ci jkl = Ci jlk . (3.7)

Damit verbleiben nur noch 36 voneinander unabhängige Konstanten Ci jkl . Bei einem elastischenKörper ist es sinnvoll zu fordern, dass ein elastisches Potential U , (oder auch Formänderungs(Verzerrungs)-energiedichte genannt) existiert und die Beziehung

σi j =∂U∂εi j

(3.8)

gilt. Differenziert man das allgemeine Hooke’sche Gesetz nach εkl , so erhält man

Ci jkl =∂σi j

∂εkl=

∂U∂εkl ·∂εi j

. (3.9)

Da die Reihenfolge der partiellen Ableitungen vertauschbar ist, muss Ci jkl , noch die Symmetrie

Ci jkl = Ckli j (3.10)

aufweisen. Damit reduziert sich die Anzahl der maximal möglichen unabhängigen Konstantenauf 21. Dies entspricht einem anisotropen Material ohne jegliche ausgezeichneten Richtungen.Man kann das Hooke’sche Gesetz auch nach den Verzerrungen auflösen. Dann gilt mit der so-

genannten Nachgiebigkeitstensor(4)S bzw. Si jkl

εεε =(4)S : σσσ εi j = Si jklσkl mit

(4)S =

(4)C−1

. (3.11)

Der Nachgiebigkeitstensor hat die gleichen Symmetrieeigenschaften wie der Elastizitätstensor

Si jkl = S jikl = Si jlk = Skli j , (3.12)

und damit auch maximal 21 unabhängige Komponenten.

Page 44: Mechanik 2

36 3 Werkstoffmodelle

3.2.1 Isotropes Materialverhalten

Sehr viele technisch wichtige Materialien können im linear-elastischen Bereich isotrop model-liert werden, d.h. sie haben in allen Richtungen das gleiche Werkstoffverhalten. Dementspre-

chend muss der Elastizitätstensor(4)C ein isotroper Tensor sein.

Isotrope Tensoren sind dadurch gekennzeichnet, dass sich ihre Komponenten bei einer beliebi-gen Drehung des zugrundegelegten kartesischen Koordinatensystems nicht ändern. Es lässt sich

zeigen, dass isotrope Tensoren 4. Stufe, wie der Elastizitätstensor(4)C , durch folgende Darstel-

lung gegeben sindCi jkl = λ ·δi jδkl +µ(δikδ jl +δilδ jk) . (3.13)

Dabei wurde schon berücksichtigt, dass Ci jkl die oben formulierten Symmetrieeigenschaftenbesitzt. Die Faktoren λ und µ sind Konstanten, die so-genannten Lamé’schen Konstanten.Damit geht das Hooke’sche Gesetz über in

σi j = λ ·δi jδklεkl +µ(δikδ jl +δilδ jk)εkl

= λ · εkkδi j +2µεi j .(3.14)

Mitunter ist es zweckmäßig, das Elastizitätsgesetz in einen reinen Volumendehnungsanteil undeinen reinen Gestaltänderungsanteil zu zerlegen. Mit den Zerlegungen (2.33) und (2.66) desSpannungs- und Verzerrungstensor in den hydrostatischen und deviatorischen Anteil erhält man

σkk

3δi j + sD

i j =λεkkδi j +2µ(

εkk

3δi j + eD

i j

)=(

λ+23

µ)

εkkδi j +2µeDi j .

(3.15)

Identifiziert man nun jeweils die hydrostatischen und deviatorischen Anteile und führt noch denKompressionsmodul

K = λ+23

µ (3.16)

ein, so erhält man das isotrope Hooke’sche Gesetz in der Form

σkk = 3Kεkk (3.17)si j = 2µei j = 2Gei j . (3.18)

Die erste Teilbeziehung (3.17) beschreibt das Materialverhalten bei einer reinen Volumenän-derung und die zweite Teilbeziehung (3.18) davon unabhängig das Materialverhalten bei einerreinen Gestaltänderung. Die Zuordnung, dass µ dem Schubmodul entspricht, ist aus dem Torsi-onsversuch (reiner Schub) ableitbar, wenn der Zusammenhang zwischen Gleitung und Schub-verzerrung γi j = 2εi j beachtet wird. Aus den obigen Beziehungen ist auch zu erkennen, dass einisotropes elastisches Material die gleichen Hauptspannungs- und Hauptverzerrungsrichtungenbesitzt, da der Schub entkoppelt von den Normalspannungen ist.

Page 45: Mechanik 2

3.2 Dreidimensionale Betrachtung: Verallgemeinertes Hooke’sche Gesetz 37

Die Darstellung des Hooke’schen Gesetz mit den Nachgiebigkeiten lautet

εi j =− λ

2µ(3λ+2µ)σkkδi j +

12µ

σi j . (3.19)

Speziell anhand des Beispiels einachsiger Zug mit der Spannung σ11 lässt sich der Zusammen-hang der Lame’schen Konstanten mit dem technisch gebräuchlichen E-Modul und der Quer-kontraktionszahl gewinnen

ε11 =− λ

2µ(3λ+2µ)σ11 +

12µ

σ11 =λ+µ

µ(3λ+2µ)σ11 =

1E

σ11

ε22 =− λ

2µ(3λ+2µ)σ11 =− ν

Eσ11 .

(3.20)

Aus diesen Beziehungen lassen sich die Zusammenhänge

E =µ(3λ+2µ)

λ+µν =

λ

2(λ+µ)(3.21)

identifizieren. Die umgekehrte Beziehung und der Zusammenhang K zu E und ν ist in Tabelle3.1 zu finden.

λ,µ K,G G,ν E,ν E,G

λ λ K− 23

G2Gν

1−2ν

νE(1+ν)(1−2ν)

G(E−2G)3G−E

G µ G GE

2(1+ν)G

K λ+23

µ K2G(1+ν)3(1−2ν)

E3(1−2ν)

EG3(3G−E)

Eµ(3λ+2µ)

λ+µ9KG

3K +G2G(1+ν) E E

νλ

2(λ+µ)3K−2G6K +2G

ν νE

2G−1

Tabelle 3.1: Beziehungen zwischen elastischen Werkstoffparameter

Mit den Ingenieurkonstanten lautet das Hooke’sche Gesetz

εi j =− ν

Eσkkδi j +

1+ν

Eσi j . (3.22)

Das vorne erwähnte elastische Potential U muss positiv definit sein. Dies führt auf die Bedin-gungen

K =E

3(1−2ν)> 0 G =

E2(1+ν)

> 0 , (3.23)

Page 46: Mechanik 2

38 3 Werkstoffmodelle

die dann zur Konsequenz haben, dass gilt

E > 0 −1≤ ν <12

. (3.24)

Die Bedingung K,G > 0 kann auch anschaulich gedeutet werden. Betrachtet man das Hoo-ke’sche Gesetz in der Zerlegung in hydrostatischen und deviatorischen Zustand, so bedeutetdies, dass eine positive Spannung, also z.B. Zug, eine positive Verzerrung, also z.B. Verlänge-rung zur Folge hat.

3.2.2 Anisotropes Verhalten: Zwei Spezialfälle

Weicht man von der bisher benutzten Tensorschreibweise ab, so kann eine für dieses Kapitelangenehmere Darstellung gefunden werden. Sammelt man alle unabhängigen sechs Spannungs-und Verzerrungskomponenten jeweils in einen Vektor, dann kann das allgemeine Hooke’scheGesetz in der Form

σ11

σ22

σ33

σ12

σ13

σ23

=

C11 C12 C13 C14 C15 C16

C22 C23 C24 C25 C26

C33 C34 C35 C36

C44 C45 C46

sym C55 C56

C66

·

ε11

ε22

ε33

2ε12

2ε13

2ε23

(3.25)

geschrieben werden. Dies nennt man Voigt’sche Schreibweise. Aber diese ist mit Vorsichtzu benutzen, da zum einen die Koordinatentransformation in dieser Schreibweise nicht mehrdurchführbar ist, da diese Größen keine Tensoren sind. Zum anderen ist die Reihenfolge dergemischten Glieder σi j und εi j (i 6= j) in der Literatur nicht einheitlich

In dieser Schreibweise erkennt man sofort die 21 unabhängigen Materialkonstanten. Es gibtjedoch sehr selten Materialien, die keinerlei Symmetrien besitzen. Eine Symmetrieebene be-deutet, dass man das benutzte Koordinatensystem an dieser Ebene spiegeln kann, und der Ela-

stizitätstensor(4)C sich nicht ändert.

Ein Spezialfall ist so-genanntes orthotropes Materialverhalten. Bei solchen Materialien gibtes drei aufeinander senkrecht stehende Symmetrieebenen. Dies erfordert, dass einige Material-

Page 47: Mechanik 2

3.2 Dreidimensionale Betrachtung: Verallgemeinertes Hooke’sche Gesetz 39

konstanten zu Null verschwinden. Das Hooke’sche Gesetz hat dann die Gestalt

σ11

σ22

σ33

σ12

σ13

σ23

=

C11 C12 C13 0 0 0

C22 C23 0 0 0

C33 0 0 0

C44 0 0

sym C55 0

C66

·

ε11

ε22

ε33

2ε12

2ε13

2ε23

. (3.26)

Ein orthotropes Material hat dementsprechend 9 unabhängige Elastizitätskonstanten. TypischeBeispiele sind Holz oder faserverstärkte Kunststoffe mit Fasern in die entsprechenden Richtun-gen.

Verhält sich ein orthotropes Material invariant gegenüber einer beliebigen Drehung um eineAchse, so spricht man von transversal isotropem Material. Man kann zeigen, dass dann fol-gende vier Beziehungen zwischen den elastischen Konstanten gelten

C22 = C11 C23 = C13 C55 = C44 C66 =12(C11−C12) . (3.27)

Damit verbleiben nur noch 9− 4 = 5 unabhängige Elastizitätskonstanten. Solch ein Verhaltenfindet man häufig bei Böden. Ihr Materialverhalten in Ebenen normal zur Richtung der Schwer-kraft ist häufig näherungsweise isotrop, aber infolge der Auflast das darüberliegenden Bodensunterscheidet es sich jedoch vom Materialverhalten in Richtung der Schwerkraft.

Der vorher behandelte Spezialfall von isotropem Materialverhalten, erfordert zusätzlich zurtransversalen Isotropie die Bedingungen

C13 = C12 C33 = C11 C44 =12(C11−C12) . (3.28)

Damit verbleiben nur noch die zwei Materialkonstanten C11 und C12 und das Hooke’sche Gesetzin Voigt’scher Schreibweise ist

σ11

σ22

σ33

σ12

σ13

σ23

=

C11 C12 C12 0 0 0

C11 C12 0 0 0

C11 0 0 012(C11−C12) 0 0

sym 12(C11−C12) 0

12(C11−C12)

·

ε11

ε22

ε33

2ε12

2ε13

2ε23

(3.29)

mit

C11 =E(1−ν)

(1+ν)(1−2ν)C12 =

(1+ν)(1−2ν).

Page 48: Mechanik 2

40 3 Werkstoffmodelle

3.2.3 Temperaturdehnung

Es ist bekannt, dass Materialien im allgemeinen unter einer Temperaturänderung von einer Aus-gangstemperatur T0 zu einer aktuellen Temperatur T Temperaturverzerrungen εT

i j erfahren. Inerster Näherung erweisen sich die Temperaturverzerrungen εT

i j als proportional zur Temperatur-änderung ∆T = T −T0

εTi j = α

Ti j ·∆T . (3.30)

Dabei ist αTi j der lineare Temperaturausdehnungskoeffizient welcher ein symmetrischer Tensor

2. Stufe ist. Im anisotropen Fall können die Koeffizienten durchaus richtungsabhängig sein. ImSpezialfall der Isotropie vereinfacht sich die Beziehung zu

εTi j = α

Tδi j ∆T (3.31)

mit dem isotropen linearen Temperaturausdehnungskoeffizienten αT . Dann treten bei einerTemperaturänderung ∆T nur Dehnungen auf, die in alle Richtungen gleich groß sind, und eskommt zu keiner Gestaltänderung.

Kommen zu den thermischen Verzerrungen noch die mechanischen hinzu, so können aufgrundder linearen Theorie, beide überlagert werden

εi j = Si jkl σkl +αTi j ∆T . (3.32)

Im isotropen Fall gilt

εi j =1+ν

Eσi j−

ν

Eδi jσkk +α

Tδi j∆T (3.33)

oder nach den Spannungen aufgelöst

σi j = λεkkδi j +2µεi j−βT

δi j ∆T (3.34)

mit βT = 3KαT .

Anmerkung:

Bei der Ermittlung der Temperaturänderung als Funktion des Ortes und der Zeit darf dervon der Verformung des Körpers herrührende Anteil im Allgemeinen vernachlässigt wer-den. Diese Vernachlässigung führt zur Entkoppelung des thermischen und mechanischenProblems. Das Temperaturfeld kann in diesem Fall vor der Festigkeitsberechnung durch Lö-sung der Wärmeleitungsgleichung bestimmt werden. Für die Festigkeitsberechnung stellt∆T dann eine bekannte Funktion des Ortes und der Zeit da.

3.3 Zweidimensionale Betrachtung

Für die zweidimensionalen Sonderfälle, ebener Spannungszustand und ebener Verzerrungszu-stand, gilt das Hooke’sche Gesetz in seiner allgemeinen Form ebenfalls. Allerdings erkennt

Page 49: Mechanik 2

3.4 Zusammenfassung der grundlegenden Gleichungen 41

man, dass ein ebener Spannungszustand im Allgemeinen keinen ebenen Verzerrungszustandzur Folge hat.

Im ebenen Spannungszustand gilt σ33 = σ13 = σ23 = 0 und das Hooke’sche Gesetz lautet

εi j =− ν

Eσkkδi j +

12G

σi j . (3.35)

Betrachtet man die Komponenten in der dritten Ebenen, so erhält man

ε33 =− ν

E(σ11 +σ22) ε13 = ε23 = 0 . (3.36)

Im ebenen Verzerrungszustand gilt entsprechend ε33 = ε31 = ε23 = 0 und das Hooke’scheGesetz lautet

σi j =Eν

(1+ν)(1−2ν)εkkδi j +2Gεi j . (3.37)

Auch hier sind die Komponenten in der dritten Ebene

σ33 =Eν

(1+ν)(1−2ν)(ε11 + ε22) σ12 = σ23 = 0 . (3.38)

3.4 Zusammenfassung der grundlegenden Gleichungen

Zum Abschluss dieses Kapitels, mit dem nun alle kontinuummechanischen Grundlagen ge-legt sind, sollen alle wesentlichen Gleichungen zusammenfassend wiederholt werden. Dies ge-schieht zum einen in Indexnotation und zum anderen sollen für den Spezialfall eines isotropenKörpers die Gleichung auch in der im Ingenieurwesen üblicheren Schreibweise in einem x,y,z-Koordinatensystem angegeben werden.

Schreibweise in der Kontinuumsmechanik

Zur Ermittlung

• der 3 Verschiebungskomponenten,

• der 6 Verzerrungskomponenten und

• der 6 Spannungskomponenten

für einen beliebigen Punkt eines elastischen Körpers, also von 15 Unbekannten, stehen 15 Feld-gleichungen zur Verfügung. Dabei handelt es sich um 6 kinematische, 3 kinetische und 6 kon-stitutive Beziehungen. Bei Gültigkeit der Voraussetzungen der linearen Elastizitätstheorie sinddas

Page 50: Mechanik 2

42 3 Werkstoffmodelle

• die linearen kinematischen Beziehungen

εi j =12(ui, j +u j,i)

• die kinetischen Beziehungen (Gleichgewicht)

σi j, j + fi = 0

• und das lineare Elastizitätsgesetz, verallgemeinertes Hooke’sche Gesetz

σi j = Ci jkl[εkl−αTkl ·∆T ] .

Setzt man nun die kinematischen Beziehungen in das Hooke’sche Gesetz ein und dieses wie-derum in das Gleichgewicht (kinetische Beziehung), so erhält man die Lamé-Navier’schenBewegungsgleichungen

µ ·ui, j j +(λ+µ)u j,i j− (3λ+2µ)αT∆T,i + fi = 0 . (3.39)

Dabei wurde ein isotroper Körper angenommen. Unter Beachtung von Randbedingungen (z.B.Einspannungen oder Lasten) kann diese Differentialgleichung prinzipiell gelöst werden. Für be-liebige Geometrien ist dies jedoch nur mit numerischen Verfahren wie z.B. der Finiten ElementMethode (FEM) oder der Randelementmethode (BEM) möglich. Für spezielle Strukturelemen-te, wie z.B. Stäbe, sind auch einfache Lösungen möglich.

Ingenieurdarstellung

Die folgende Darstellung der grundlegenden Gleichungen und Begriffe bezieht sich auf einkartesisches x,y,z-Koordinatensystem. In solch einem Koordinatensystem wird der Spannungs-und Verzerrungstensor in der Form

σσσ =

σx τxy τxz

τxy σy τyz

τxz τyz σz

εεε =

εx

12γxy

12γxz

12γxy εy

12γyz

12γxz

12γyz εz

(3.40)

angegeben. In (3.40) bezeichnet σx,σy und σz die drei Normalspannungen und τxy,τxz,τyz diedrei Schubspannungen. Im Verzerrungstensor sind analog dazu εx,εy und εz die drei Normalver-zerrungen und γxy,γxz,γyz die drei Scherungen. Werden in εεε die Faktoren 1

2 vor den Scherungenweggelassen, so verliert εεε die Tensoreigenschaften. In der Darstellung (3.40) hingegen sind allehergeleiteten Eigenschaften gültig, wenn überall die Schubverformung durch die halbe Sche-rung, z.B. ε12→ 1

2γxy, ersetzt wird.

Unter der Voraussetzung eines isotropen linear elastischen Materialverhalten gelten die folgen-den Gleichungen

Page 51: Mechanik 2

3.4 Zusammenfassung der grundlegenden Gleichungen 43

• die linearen kinematischen Beziehungen

εx =∂u∂x

εy =∂v∂y

εz =∂w∂z

γxy =∂u∂y

+∂v∂x

γxz =∂u∂z

+∂w∂x

γyz =∂v∂z

+∂w∂y

(3.41)

mit den Verschiebungsvektorkomponenten u,v und w in die drei Koordinatenrichtungenx,y und z.

• die kinetischen Beziehungen (Gleichgewicht)

∂σx

∂x+

∂τxy

∂y+

∂τxz

∂z+ fx = 0

∂τxy

∂x+

∂σy

∂y+

∂τyz

∂z+ fy = 0

∂τxz

∂x+

∂τyz

∂y+

∂σz

∂z+ fz = 0

(3.42)

• und das lineare Elastizitätsgesetz, verallgemeinertes Hooke’sche Gesetz

εx =1E

[σx−ν(σy +σz)]+αT

∆T

εy =1E

[σy−ν(σx +σz)]+αT

∆T

εz =1E

[σz−ν(σy +σx)]+αT

∆T

γxy =1G

τxy γxz =1G

τxz γyz =1G

τyz

(3.43)

Es können natürlich auch in dieser Darstellung die Lamé-Navier’schen Bewegungsgleichungenhergeleitet und angeschrieben werden.

Page 52: Mechanik 2

44 3 Werkstoffmodelle

Page 53: Mechanik 2

4 NORMALSPANNUNG IN STÄBEN

In der Statik starrer Körper werden die Kraft- und Momentenverläufe von Stäben und Balkenberechnet. Hier wurden bisher nur beliebige dreidimensionale Körper und deren Spannungenbehandelt. Daher soll in diesem und den folgenden Kapitel nun die Spannungen in solch spezi-ellen Bauteilen wie Stab und Balken berechnet werden und daraus die Verformung derselben.

4.1 Vorbemerkung zu Stäben

Stäbe oder Balken zeichnen sich durch eine Längenabmessung aus die deutlich größer ist alsdie beiden anderen Raumabmessungen. Üblicherweise wird ein x,y,z-Koordinatensystem be-nutzt und die entsprechenden Verformungen in Richtung dieser Achsen werden mit u,v und wbezeichnet (siehe Bild 4.1). Die x-Achse des Koordinatensystem entspricht der Längsachse unddie y- und z-Achse wählt man so, dass sie mit den so-genannten Hauptachsen des Querschnitts(Definition folgt in Kapitel 5.2.2) zusammenfallen.

Im folgenden soll auch die lineare Elastizitätstheorie gelten, d.h. es wird vorausgesetzt:

1. Die Verschiebungen aller Körperpunkte sowie die Verzerrungen und Dehnungen allerKörperelemente bleiben so klein, dass alle auf den Körper einwirkende Kräfte am un-verformten Körper angesetzt werden und die Verzerrungen superponiert werden können(geometrische Linearität)

2. Das Stoffgesetz ist linear (physikalische Linearität)

3. Der Werkstoff ist homogen und isotrop und es kann deshalb (mit 2.) das Hooke’scheGesetz angewendet werden

Weiterhin werden (vor allen beim Biegebalken (siehe Kapitel 5)) noch die folgenden Annah-men/Vereinfachungen getroffen:

1. Die Verbindung der Flächenschwerpunkte aller Stabquerschnitte bildet eine Gerade. Die-se Gerade heißt Stabachse

2. Die größte Querschnittsabmessung des Stabes ist klein im Verhältnis zur Stablänge

45

Page 54: Mechanik 2

46 4 Normalspannung in Stäben

3. Alle Schnittflächen parallel zur Stabachse sind spannungsfrei (Diese Annahme wird nurbei reiner Biegung und dem Zugstab gemacht).

Damit kann nun der Zusammenhang zwischen den Spannungen und den Schnittkräften herge-stellt werden. Aus der Definition der Spannung als Kraft pro Fläche ist die prinzipielle Zuord-nung klar. In einen Schnitt treten durch die oben gemachten Annahmen nur die Spannungen

σ11 = σx σ12 = τxy σ13 = τxz (4.1)

auf. Die restlichen Komponenten des Spannungstensors werden als verschwindend klein ange-nommen, d.h. es gilt

σ22 = σ33 = σ23 = 0 . (4.2)

Dies führt dann auf den Spannungstensor

σσσ =

σx τxy τxz

τxy 0 0

τxz 0 0

(4.3)

und mit dem Hooke’schen Gesetz auf den Verzerrungstensor

εεε =

εx εxy εxz

εxy −ν 0

εxz 0 −ν

=1E

σx (1+ν)τxy (1+ν)τxz

(1+ν)τxy −νσx 0

(1+ν)τxz 0 −νσx

. (4.4)

Betrachtet man Bild 4.1 so können die Zusammenhänge der Schnittgrößen (Spannungsresul-

Stabachse

My

Qy

y

Mz

Qz

z

x N MT

Bild 4.1: Schnittkräfte im Stab

tanten) mit den Spannungen abgelesen werden

N =ZA

σx dA Qy =ZA

τxy dA Qz =ZA

τxz dA (4.5)

My =ZA

z σx dA Mz =−ZA

y σx dA MT =ZA

(−z τxy + y τxz) dA . (4.6)

Page 55: Mechanik 2

4.2 Zug oder Druck in Stäben 47

Es kann gezeigt werden, dass das Torsionsmoment auf den Schubmittelpunkt bezogen werdenmuss, d.h. z und y in MT sind die Hebelarme zum Schubmittelpunkt, der im folgenden nochdefiniert wird (siehe Kapitel 5.5.3).

Zusätzlich zu den drei Annahmen, die bisher gemacht wurden, wird noch eine kinematischeHypothese eingeführt. Dies ist die Bernoulli’sche Hypothese oder die Hypothese vom Eben-bleiben der Querschnitte:

Die Querschnitte bleiben eben und senkrecht zur Stabachse.

Streng genommen gelten diese Annahmen nur bei reiner Biegung. Dieser Sonderfall liegt dannvor, wenn in jeder Querschnittsfläche eines statisch beanspruchten Stabes mit unbelasteter Man-telfäche und konstanten Querschnitt nur ein Biegemoment übertragen wird. Bei Biegung mitQuerkraft stellt die Annahme vom Ebenbleiben der Querschnitte in der Regel eine brauchbareNäherung dar.

4.2 Zug oder Druck in Stäben

Es wird ein Stab mit stetig veränderlichen Querschnitt A(x) betrachtet der durch zwei Kräfte F1und F2 und eine Streckenlast n(x) belastet wird (siehe Bild 4.2). Um nun die Verlängerung des

F1

z

x

n(x) F2

Bild 4.2: Zugstab belastet durch F1,F2 und die Streckenlast n(x)

Stabes u(x) zu berechnen wird ein Kräftegleichgewicht, eine kinematische Beziehung und dasStoffgesetz benötigt.

Da der Querschnitt A(x) veränderlich ist, kann das Gleichgewicht nur am differentiellen Ele-ment dx aufgestellt werden (siehe Bild 4.3). Dies ergibt die Gleichgewichtsbedingung

dNdx

+n(x) = 0 . (4.7)

Page 56: Mechanik 2

48 4 Normalspannung in Stäben

N N +dNn(x)

dx

N +dN +n(x)dx−N = 0

Bild 4.3: Kräftegleichgewicht am differentiellen Stabelement

Im Spezialfall einer verschwindenden Streckenlast n(x) = 0 ist die Normalkraft konstant. Be-trachtet man den Spannungszustand in diesen Stab, so erkennt man auf Grund fehlender Quer-kräfte, dass keine Schubspannungen existieren. Damit reduziert sich der Spannungstensor aufσx. Eingesetzt in das Hooke’sche Gesetz (3.33) erhält man

εx =σx

E+α

T∆T . (4.8)

Allgemein würde gelten εx = εx(x,y,z). Da aber gefordert wird, dass die Querschnitte ebenbleiben, kann nur gelten

εx = εx(x) σx = σx(x) . (4.9)

Die zweite Folgerung ergibt sich aus dem Hooke’schen Gesetz. Damit ist auch der Zusammen-hang Normalkraft und Spannung sehr einfach

N(x) =ZA

σx (x)dA = σx(x)ZA

dA = σx(x)A(x) . (4.10)

Aus dem allgemein dreidimensionalen Verzerrungs-Verschiebungs-Zusammenhang ist die ki-nematische Beziehung

εx =dudx

(4.11)

abzuleiten. Setzt man diese in das eindimensionale Hooke’sche Gesetz (4.8) ein, und beachtetN = σx A, so erhält man

dudx

=N(x)

A(x) E+α

T∆T . (4.12)

Nach Differentiation von (4.12) nach x kann dies wiederum in die Gleichgewichtsbedingung(4.7) eingesetzt werden. Dies resultiert in eine Differentialgleichung 2. Ordnung

ddx

(E A(x)

dudx

)=−n(x)+

ddx

(E A(x) α

T∆T)

(4.13)

zur Berechnung von N (x) (und damit den Spannungen im Stab) und der Verschiebung u(x). ImFalle eines konstanten Querschnitts A, eines konstanten E-Moduls und konstantem ∆T , erhältman den Sonderfall

E Ad2

dx2 u =−n(x) . (4.14)

Page 57: Mechanik 2

4.2 Zug oder Druck in Stäben 49

Das Produkt EA bezeichnet man als Dehnsteifigkeit. Durch Integration dieser Differential-gleichung werden im ersten Schritt die Normalkräfte (und damit die Spannungen) berechnetund danach mit einer zweiten Integration die Verschiebung. Die Integrationskonstanten werdendurch die Randbedingungen (bei einem korrekt gestellten Problem sind immer 2 Randbedin-gungen für die 2 Integrationskonstanten gegeben) bestimmt. Diese Vorgehensweise kann so-wohl auf statisch bestimmte als auch auf unbestimmte Systeme angewandt werden. Alternativdazu kann bei statisch bestimmten Systemen der Normalkraftverlauf aus dem Gleichgewichtbestimmt werden. Dann wird mit dem Stoffgesetz (4.12) die Verzerrung berechnet und darausdurch Integration die Verschiebung. Beide Möglichkeiten führen selbstverständlich auf das glei-che Ergebnis. Lediglich bei statisch unbestimmten Systemen hat die erste Variante Vorteile, dadas Gleichgewicht aufzustellen bei statisch unbestimmten Systeme gewisse Probleme bereitet.

BEISPIEL 4.2.1 : Stab unter Eigengewicht

Es ist ein Stab der Länge ` mit konstanter Querschnittsfläche A gegeben. Der Stab ist oben festeingespannt.

x

` G`

N (x)

G∗ = `−x` G

Freikörperbild:

Lösungsweg 1 (Integration): Da A = konst gilt, lauten die Gleichungen( d

dx = ( )′)

EAu′′ =−G`

EAu′ =−G`· x+C1

EAu =−G`· x

2

2+C1 · x+C2 .

Die Integrationskonstanten werden aus den Randbedingungen bestimmt

u(0) = 0 C2 = 0N(`) = EA u′(`) = 0 C1 = G .

Page 58: Mechanik 2

50 4 Normalspannung in Stäben

Damit ist die Verschiebung

u(x) =G`

2EA

(2

x`− x2

`2

),

und die Normalkraft

N(x) = G(

1− x`

).

Davon interessiert in der Technik jedoch nur die Verlängerung des Stabes

∆` = u(`)−u(o) = u(`) =12

G`

EAund die Spannung

σx(x) =N(x)

A=

GA

(1− x

`

).

Die maximale Spannung tritt (wie erwartet) an der Einspannung auf.

Lösungsweg 2 (über Gleichgewicht): Aus dem Freikörperbild ist sofort ersichtlich

N(x) = G`− x

`

und damit ist die Spannung

σx(x) =N(x)

A=

GA

(1− x

`

).

Mit dem Hooke’schen Gesetz σx = E εx kann die Verlängerung des Stabes aus dem Integralüber die Verzerrung berechnet werden, da gilt

εx =dudx

= ∆` = u(`)−u(0) =`Z

0

dudx

dx =`Z

0

εx dx .

Dies ergibt hier

∆` =`Z

0

NEA

dx =`Z

0

GEA

(1− x

`

)dx =

GEA

[x− x2

2`

]`

0=

G`

2EA.

BEISPIEL 4.2.2 : Statisch unbestimmt gelagerter Stab

Ein beidseitig gelagerter Zugstab wird durch die Kraft F an der Stelle `1 belastet. Der Stab hatdie Dehnsteifigkeit EA und die Länge ` (siehe Bild 4.4(a)). Gefragt sind die Lagerreaktionen.

Page 59: Mechanik 2

4.2 Zug oder Druck in Stäben 51

`

`1

F

x

(a) Problemstellung

RA

RB

F

(b) Freischnitt

Bild 4.4: Statisch unbestimmt gelagerter Zugstab

Lösungsweg über Gleichgewicht: Das Gleichgewicht

F−RA +RB = 0

alleine reicht nicht aus. Es muss eine zusätzliche Bedingung, eine geometrische Bedingung,noch erfüllt werden. Die Längenänderung des Stabes zwischen den Lagern verschwindet. Dahermuss gelten

∆`AC +∆`CB = 0

mit der Verlängerung ∆`AC des oberen Teils und ∆`CB der Verlängerung des unteren Teils. All-gemein gilt für die Verlängerung eines Stabes mit konstanten Querschnitt und ohne Streckenlastn(x)

∆` =`Z

0

εx dx =`Z

0

NEA

dx =N`

EA.

Damit erhält man die geometrische Bedingung zu

RA`1

EA+

RB(`− `1)EA

= 0 RA =−RB`− `1

`1.

Dies ergibt mit dem Gleichgewicht

RA =`− `1

`F RB =−`1

`F .

Page 60: Mechanik 2

52 4 Normalspannung in Stäben

Lösungsweg über Integration: Bei der Integration muss der Stab in zwei Teile unterteilt wer-den, da die Normalkraft an der Krafteinleitungsstelle springt. Im jedem der Teilgebiete erhältman

EAu′′1 = 0 EAu′′2 = 0EAu′1 = C1 EAu′2 = C3

EAu1 = C1 x+C2 EAu2 = C3 x+C4

mit u1 der Verschiebung im Bereich 0 < x < a und u2 im Bereich a < x < `. Die Randbedingunglauten

u1(x = 0) = 0 C2 = 0u2(x = `) = 0 C3` = C4

und es müssen noch die Übergangsbedingungen

u1(x = `1) = u2(x = `1)EA u′1(x = `1) = EA u′2(x = `1)+F

formuliert werden. Damit stehen vier Bedingungen für vier Unbekannte Konstanten C1−C4 zurVerfügung. Nachdem die erste schon ausgewertet ist, bleibt noch

C3 ` = C4

C1 `1 = C3 `1 +C4

C1 = C3 +F .

Daraus sind die Konstanten zu berechnen. Dies ergibt die Verschiebungen

EAu1(x) = F`− `1

`x

EAu2(x) = F`1

`(`− x)

und die Normalkräfte (respektive Spannungen)

N1

A= σ1 = +

FA

`− `1

`N2

A= σ2 =−F

A`1

`.

Mit den Normalkräften sind die Reaktionskräfte aus der anderen Rechnung zu kontrollieren. ♣

Anmerkung:

1. Wann welche Methode, Integration oder Berechnung über das Gleichgewicht, zu be-vorzugen ist kann nicht eindeutig beantwortet werden.

Page 61: Mechanik 2

4.2 Zug oder Druck in Stäben 53

2. Wenn nicht nur ein Stab, sondern ein Fachwerk berechnet werden soll, müssen für je-den Stab die Gleichungen mit entsprechenden Übergangsbedingungen zu den anderenStäben gelöst werden (Sehr aufwändig siehe Baustatik).

3. Für die Bemessung des Stabes muss zum einen verlangt werden, dass gilt

|σmax| ≤ σzul

wobei σzul meistens eine Materialkenngröße wie die Fließspannung σF ist. Zum an-deren muss sichergestellt werden, dass eine maximale Verlängerung des Stabes nichtüberschritten wird.

Page 62: Mechanik 2

54 4 Normalspannung in Stäben

Page 63: Mechanik 2

5 BALKENBIEGUNG

In diesem Abschnitt werden, wie vorher, Stäbe betrachtet, jedoch ist die Belastung eine andere.Im Folgenden soll die Biegung von Stäben, also die Verformung auf Grund einer Last senkrechtzur Balkenachse, berechnet werden. Wie aus der Statik starrer Körper bekannt, werden solcheBauteile Balken genannt. Alle Annahmen aus Kapitel 4.1 gelten auch hier.

Eigentlich produziert die Biegung von Balken einen komplexen dreidimensionalen Verzer-rungszustand. Mit den am Anfang des Kapitels 4.1 gemachten Annahmen kann jedoch eineVereinfachung getroffen werden, die es ermöglicht, eindimensional zu rechnen und trotzdembei praxisrelevanten Fragestellungen eine hinreichend gute Approximation zu liefern.

Wie in Kapitel 4 schon erwähnt wird hier der (akademischen) Sonderfall der reinen Biegungbehandelt, der eine gute Näherung für die meisten (schlanken) Balken unter Biegung darstellt.Wenn man mit den Gleichungen für reine Biegung den allgemeineren Fall der geraden Biegungberechnet, wird im Wesentlichen die Durchbiegung aufgrund von Schub vernachlässigt. Es kannjedoch gezeigt werden, dass die Verformungen auf Grund von Schub/Querkraft sehr viel kleinersind, als die durch Biegung hervorgerufenen.

5.1 Reine (gerade) Biegung

Vorab sind zwei Begriffe zu klären. Von gerader Biegung spricht man, wenn die Lastebe-ne durch die so-genannte Querschnittshauptachse geht (siehe Bild 5.1(a)). Bei symmetrischenQuerschnitten entspricht dies der Symmetrieebene. In diesem Fall erfolgt die Biegung nur inRichtung der Last, d.h. der Balken weicht nicht seitlich aus. Der andere Fall, wenn der Balkenseitlich ausweicht, wird schiefe Biegung genannt (siehe Bild 5.1(b)).

(a) Gerade Biegung (b) Schiefe Biegung

Bild 5.1: Graphische Darstellung von gerader und schiefer Biegung

55

Page 64: Mechanik 2

56 5 Balkenbiegung

F F

xy

z

Bild 5.2: Biegebalken auf zwei Auflager als Beispiel für reine Biegung

Reine Biegung bedeutet, dass nur ein Biegemoment und keine Querkraft wirkt. Exemplarischist in Bild 5.2 ein Balken auf zwei Lagern dargestellt. In diesem Fall tritt reine Biegung auf.Nimmt man an, dass das Koordinatensystem entsprechend Bild 5.2 gewählt wird (was im Fol-genden immer der Fall ist), dann bewirkt ein konstantes Biegemoment My (x) = const wegen

Qz (x) =d

dxMy (x) = 0 (5.1)

reine Biegung. Folglich treten in solch einem Fall keine Schubspannungen auf. Die Verformungwird nur durch das Biegemoment verursacht (Wie oben schon erwähnt kann gezeigt werden,dass die Verformungen auf Grund von Schub/Querkraft sehr viel kleiner sind, als die durchBiegung hervorgerufenen).

Unter all diesen Voraussetzungen (konstanter Querschnitt und konstantes Biegemoment) ver-formt sich der Balken zu einem Kreisbogen (siehe Bild 5.3). Entsprechend der Bernoulli’schen

Stabachseneutrale Faser

ϕρ

z0

Bild 5.3: Verformung bei reiner Biegung: Kreisbogen

Hypothese bleiben die Querschnitte eben und senkrecht zur Stabachse (wie starre Scheiben aufeinem Seil). In Bild 5.3 ist dies mit übertriebener Krümmung dargestellt.

Die Dehnung εx einer Längsfaser des Balkens hängt damit nur von der z-Achse (also seiner Lagerelativ zum Kreismittelpunkt) ab. Mit Faser wird dabei eine materielle Parallele zur Stabachsebezeichnet. Die Fasern an der Oberseite werden kürzer (Druck) und an der Unterseite länger(Zug). Dazwischen gibt es eine Faser an der unbekannten Stelle z0 deren Dehnung Null ist.Diese wird neutrale Faser genannt. Der Krümmungsradius wird mit ρ bezeichnet und beziehtsich auf die neutrale Faser. Damit hat die neutrale Faser die Länge

`0 = ρ ·ϕ . (5.2)

Page 65: Mechanik 2

5.1 Reine (gerade) Biegung 57

Eine beliebige Faser hat hingegen nach der Verformung die Länge

` = (ρ− z0 + z) ·ϕ. (5.3)

Damit kann die Dehnung zu

εx (z) =`− `0

`0=

z− z0

ρ(5.4)

definiert werden.

Das Stoffgesetz für eine einzelne Faser ist das gleiche wie beim Zugstab (Hooke’sches Gesetz)

σx (z) = E · εx (z) . (5.5)

Nun fehlt als dritte Gleichung nur noch die Gleichgewichtsbedingung, die im unverformtenZustand formuliert wird. Der dazu nötige Freischnitt ist in Bild 5.4 dargestellt. Dabei wurde

My

yz

xσx (z)dA

σx (z)dA

Bild 5.4: Freigeschnittenes Balkenelement

am positiven Schnittufer an zwei Stellen die Spannung auf zwei gleich großen Flächenelemen-ten dA eingetragen. Am negativen Schnittufer ist das Biegemoment My (negativ) als einzigevorhandene Schnittgröße eingezeichnet. Offensichtlich sind die Kräftegleichgewichte in y- undz-Richtung und das Momentengleichgewicht um die x-Achse erfüllt. Das Kräftegleichgewichtin x-Richtung ist Z

A

σx (z)dA = 0 (5.6)

und die Momentengleichgewichte um die z- und y-Achse sindZA

y σx (z)dA = 0ZA

z σx (z)dA−My = 0 . (5.7)

Setzt man die Dehnung εx (z) aus (5.4) in das Stoffgesetz (5.5) ein

σx (z) = E · z− z0

ρ(5.8)

und das wiederum in das Kräftegleichgewicht in x-Richtung (5.6), erhält man

Eρ·

ZA

zdA−z0 ·ZA

dA

= 0 . (5.9)

Page 66: Mechanik 2

58 5 Balkenbiegung

In den Annahmen des Kapitels 4.1 wurde festgelegt, dass die Stabachse durch den Flächen-schwerpunkt der einzelnen Querschnitte verläuft. Daher ist das statische Moment

RA zdA = 0.

Daraus ist dann zu erkennen, dassz0 = 0 (5.10)

erfüllt sein muss. Dies bedeutet, dass die neutrale Fasern in der Ebene durch z = 0 liegt. Dieseenthält ebenfalls den Schwerpunkt der Querschnittsfläche.

Damit ist die Normalspannung im Querschnitt bei reiner Biegung

σx (z) =Eρ· z . (5.11)

Eingesetzt in die Momentengleichung um die z- und y-Achse erhält man

ZA

yzdA

︸ ︷︷ ︸Iyz

= 0Eρ

ZA

z2 dA

︸ ︷︷ ︸Iy

−My = 0 . (5.12)

Die beiden Integrale Iyz und Iy sind durch Form und Größe der Querschnittsfläche eindeutig be-stimmt. Es sind Flächenmomente 2. Grades (oder auch Flächenträgheitsmomente genannt),wobei Iy axiales und Iyz biaxiales Flächenmoment genannt wird (zum Vergleich: Das statischeMoment

RA zdA ist ein Flächenmoment 1. Grades).

Mit Hilfe dieser geometrischen Größe kann nun die Krümmung 1ρ

der Biegelinie bestimmtwerden, sie ist

=My

EIy. (5.13)

Die Größe EIy wird Biegesteifigkeit des Balkens genannt und ist nur durch das Material (E-Modul) und die Geometrie des Querschnitts bestimmt. Die entsprechende Größe beim Zug-/Druckstab ist die Dehnsteifigkeit EA.

Damit kann nun die Spannung im Querschnitt angegeben werden mit

σx (z) =My

Iy· z . (5.14)

Die Normalspannung σx (z) ist in Bild 5.5 graphisch dargestellt. Sie ist eine lineare Funktionvon z, wodurch die maximale Spannung immer am Rand auftritt

|σx|max =|My|

Iy· |z|max . (5.15)

Zur Abkürzung wird häufig das (Biege-)Widerstandsmoment

W =Iy

|z|max(5.16)

Page 67: Mechanik 2

5.1 Reine (gerade) Biegung 59

y

z z

xσ(z)

Bild 5.5: Normalspannungsverteilung über den Querschnitt bei reiner Biegung

eingeführt. Damit ist die maximale Spannung

|σx|max =|My|W

. (5.17)

Das Widerstandsmoment ist nur von der Querschnittsform abhängig und ist in Handbüchern fürhäufig benutzte Querschnitte zusammen mit Iy tabelliert (z.B. [2, 6, 4]).

Als letztes muss noch die Momentenbilanz um die z-Achse ausgewertet werden. Es muss gelten

Iyz =ZA

yzdA = 0. (5.18)

Dies ist für jeden symmetrischen Querschnitt erfüllt, da immer ein dA mit positivem und nega-tivem Abstand zu finden ist. In Bild 5.6 ist dies exemplarisch dargestellt. Iyz wird auch Deviati-onsmoment oder Zentrifugalmoment genannt.

z

y

ydA

−ydA

Bild 5.6: Veranschaulichung der Berechnung von Iyz bei symmetrischen Querschnitt

Obige Formeln gelten damit nur für symmetrische Querschnitte, oder für Querschnitte mitIyz = 0. Im nächsten Abschnitt über Flächenmomente 2. Grades wird gezeigt, dass im All-gemeinen Iyz 6= 0 ist, dass es aber bei jeder Querschnittsform möglich ist, das y-z-Achsenkreuzmit Ursprung im Flächenschwerpunkt so in den Querschnitt zu legen, dass Iyz = 0 gilt.

Page 68: Mechanik 2

60 5 Balkenbiegung

5.2 Flächenmomente 2. Grades

Aus der Statik starrer Körper sind die statischen Momente oder Flächenmomente 1.Grades

Sy =ZA

zdA Sz =ZA

ydA (5.19)

bekannt. Geht der Abstand z oder y von der Bezugsachse nun im Produkt oder quadratisch ein,so erhält man die Flächenmomente 2. Grades

Iy =ZA

z2 dA Iz =ZA

y2 dA Iyz =ZA

yzdA. (5.20)

Das Flächenmoment Iz wird bei der Biegung in die y-Richtung benötigt. Später bei der Torsionwird noch ein weiteres Flächenmoment 2.Grades, das polare Flächenträgheitsmoment

Ip =ZA

r2 dA =ZA

(z2 + y2)dA (5.21)

eingeführt, das sich aus der Summe Ip = Iy + Iz ergibt. Die Flächenmomente Iy, Iz und Ip sindimmer positiv und das Deviationsmoment Iyz kann auch negative Werte annehmen. Alle habenals Dimension [m4]. Die Berechnung erfolgt im Prinzip durch Integration. Es sind jedoch sehrviele Profile tabelliert (z.B. [2, 6, 4]).

Anmerkung:

1. Es gibt auch Definitionen der Deviationsmomente mit Iyz =−R

A yzdA.

2. In manchen Fällen ist es zweckmäßig, an Stelle der Flächenträgheitsmomente die zu-geordneten Trägheitsradien zu verwenden. Sie werden definiert durch

iy =

√Iy

Aiz =

√Iz

AiP =

√IP

A(5.22)

und haben die Dimension einer Länge [m]. Aus (5.22) folgt z.B. Iy = i2yA. Demnachkann man iy als denjenigen Abstand von der y-Achse interpretieren, in dem man sichdie Fläche A „konzentriert“ denken muss, damit sie das Trägheitsmoment Iy besitzen.

BEISPIEL 5.2.1 : Flächenträgheitsmoment eines Rechtecks

Es ist ein rechteckiger Querschnitt mit den Abmessungen b× h gegeben. Es sollen die axialenund biaxialen Flächenmomente 2. Grades berechnet werden.

Page 69: Mechanik 2

5.2 Flächenmomente 2. Grades 61

z

y

dzh

b

Iy =ZA

z2 dA =

h/2Z−h/2

z2bdz =bz3

3

∣∣∣ h2

− h2

=bh3

12

Analog ist Iz = hb3

12 zu berechnen. Das polare Flächenmoment ist

IP = Iy + Iz =bh12(h2 +b2) .

Das Deviationsmoment ist aus Symmetriegründen Null, aber dies soll hier kurz gezeigt werden

Iyz =ZA

yzdA =

h2Z

− h2

b2Z

− b2

yzdydz =

h2Z

− h2

zy2

2

∣∣∣ b2

− b2

dz != 0 .

BEISPIEL 5.2.2 : Flächenträgheitsmoment eines Kreisringes

Es ist ein Kreisring mit dem inneren und äußeren Radius ri und ra gegeben. Es sollen die Flä-chenmomente 2. Grades berechnet werden.

z

yrira

Ip =raZ

ri

r2 ·2rπdr =12

π(r4

a− r4i)

Damit ist dann

Iy = Iz =14

π(r4

a− r4i)

Bei rotationssymmetrischen Querschnitten gilt Iyz = 0 und Iy = Iz, da die y-z-Achsen beliebiggedreht werden können, ohne dass sich die Geometrie ändert. Damit ist es sinnvoll, zuerst Ipund dann daraus Iy, Iz zu berechnen, was sich auf Grund von dA = 2rπdr sehr einfach machenlässt. ♣

In der Praxis werden häufig kompliziertere Querschnitte, als die tabellierten benutzt. Allerdingslassen diese sich oft aus einfacheren Geometrien zusammensetzen. Genau wie bei der Bestim-mung des Schwerpunktes können die einzelnen Geometrien zu einer Gesamtgeometrie addiert

Page 70: Mechanik 2

62 5 Balkenbiegung

Iy3

Iy1

Iy2

Iy = Iy1 + Iy2 + Iy3

Bild 5.7: Querschnitt aus drei Rechtecken zusammengesetzt

werden, und damit auch die Flächenmomente (siehe Bild 5.7). Dabei muss jedoch beachtet wer-den, dass dann ein einheitliches Koordinatensystem benützt werden muss. Dieses kann dann fürdie einzelnen Flächenmomente nicht im Schwerpunkt liegen. Daher müssen die Koordinaten-achsen eventuell verschoben werden.

5.2.1 Parallelverschiebung der Bezugsachsen: Satz von Steiner

Bei einer Parallelverschiebung der Achse des Bezugskoordinatensystems werden sich die Flä-chenmomente ändern. Dies soll an einem beliebigen Körper mit den Flächenmomenten Iy, Izund Iyz gezeigt werden (siehe Bild 5.8).

y′ y′s

y

z

S

z′dA z′

z′s

Bild 5.8: Parallelverschiebung des Koordinatensystems

Der Schwerpunkt ist S und das neue Koordinatensystem ist x′,y′ und z′. Damit kann die Positioneines Flächenelements dA durch

y′ = y+ y′s z′ = z+ z′s (5.23)

im x′,y′,z′-Koordinatensystem dargestellt werden. Die Flächenmomente in diesem neuen Ko-

Page 71: Mechanik 2

5.2 Flächenmomente 2. Grades 63

ordinatensystem werden folgendermaßen berechnet

Iy′ =ZA

(z′)2 dA =

ZA

(z+ z′s

)2 dA =ZA

z2 dA+2z′s

ZA

zdA+ z′2s

ZA

dA (5.24a)

Iz′ =ZA

(y′)2 dA =

ZA

(y+ y′s

)2 dA =ZA

y2 dA+2y′s

ZA

ydA+ y′2s

ZA

dA (5.24b)

Iy′z′ =ZA

y′z′ dA =ZA

(y+ y′s

)(z+ z′s

)dA =

=ZA

yzdA+ y′s

ZA

zdA+ z′s

ZA

ydA+ y′sz′s

ZA

dA . (5.24c)

Dabei wurde beachtet, dass der Abstand beider Koordinatensysteme zueinander y′s und z′s kon-stant ist. Beachtet man weiterhin, dass die statischen Momente

RA ydA und

RA zdA um den

Schwerpunkt verschwinden, so erhält man die Formeln

Iy′ = Iy +(z′s)2 A (5.25a)

Iz′ = Iz +(y′s)2 A (5.25b)

Iy′z′ = Iyz + z′sy′s A . (5.25c)

Diese Beziehung zwischen den Flächenmomenten bezogen auf die Schwereachse und den dazuparallel verschobenen werden als Satz von Steiner bezeichnet. Die Steiner-Anteile (z′s)

2A und(z′s)

2A sind immer positiv. Demnach sind bei parallelen Achsen die axialen Flächenmomentebezüglich der Schwereachse am kleinsten. Der Steiner-Anteil y′sz

′sA beim Deviationsmoment

hingegen kann sowohl positiv als auch negativ sein.

Anmerkung:

Sollen die Flächenmomente von zwei beliebigen Koordinatensystemen in Beziehung gesetztwerden, so rechnet man von einem Koordinatensystem zum Schwerpunktsystem und dannweiter zum anderen Koordinatensystem.

BEISPIEL 5.2.3 : Flächenmomente eines Rechtecks für beliebige parallele Achsen

In einem Rechteck mit den Abmessungen b× h sollen die Flächenmomente 2. Grades für dasy′-z′-Koordinatensystem berechnet werden.

z

y

b

h

y′

z′

Iy′ =b h3

12+(

h2

)2

·bh =b h3

3

Iz′ =h b3

12+(

b2

)2

·bh =h b3

3

Iy′z′ = 0+(−h

2

)·(−b

2

)·bh =

b2 h2

4

Page 72: Mechanik 2

64 5 Balkenbiegung

BEISPIEL 5.2.4 : Axiale Flächenmomente eines Doppel-T-Querschnitts

Es sind die axialen Flächenträgheitsmomente um die y-Achse und um die z-Achse für denDoppelt-T-Querschnitt laut Abbildung zu bestimmen. Wie vereinfachen sich die Ergebnisse fürb,h� d, t?

y

z

b2

b2

h2

h2

t

td h+t

2

h+t2

z

S1

S2

S3

y

Der Querschnitt wird in drei Rechtecke zerlegt. Das Flächenmoment 2. Grades von jedemRechteck setzt sich aus dem Flächenmoment um die eigene Schwereachse und dem entspre-chenden Steiner-Glied zusammen. Addiert man alle drei Teile mit den entsprechenden Steiner-Anteilen zusammen, so erhält man

Iy =d h3

12+2

[b t3

12+(

h2

+t2

)2

b t

]

=d h3

12+

b t3

6+

h2 b t2

+ t2 h b+b t3

2=

d h3

12+

2 b t3

3+

h2 b t2

+ t2 h b

Iz =h d3

12+2

t b3

12.

Für b,h� d, t können die Glieder, welche d und t quadratisch oder kubisch enthalten, gegen-über denen, die linear in d und t sind, vernachlässigt werden

Iy ≈d h3

12+

h2 b t2

Iz ≈t b3

6.

Man erkennt, dass die Gurte bei kleinem t nur durch die Steiner-Glieder 2(h

2

)2bt zu Iy beitra-

gen, d.h. die Eigenträgheitsmomente 2 b t3

12 sind dann vernachlässigbar. Bei Iz kann das Eigen-trägheitsmoment des Steges h d3

12 unberücksichtigt bleiben. ♣

5.2.2 Drehung des Bezugssystems: Hauptträgheitsmomente

Werden die Flächenmomente von zwei zueinander gedrehten Koordinatensystemen betrachtet,so kann ein Zusammenhang hergestellt werden, der dem des Spannungstensors äquivalent ist.

Page 73: Mechanik 2

5.2 Flächenmomente 2. Grades 65

Betrachtet man einen beliebigen Körper mit zwei gedrehten Koordinatensystemen x,y,z undx′,y′,z′ wie in Bild 5.9 dargestellt ist, dann sind die Koordinaten über die Beziehung

y

ϕ

x = x′

z′

zy′

Bild 5.9: Zwei zueinander gedrehte Koordinatensysteme mit gleichem Ursprung

y′ = ycosϕ+ zsinϕ z′ =−ysinϕ+ zcosϕ (5.26)

verknüpft. Dies kann in die Definition der Flächenmomente eingesetzt werden

Iy′ =ZA

(z′)2 dA =sin2

ϕ

ZA

y2 dA+ cos2ϕ

ZA

z2 dA−2cosϕsinϕ

ZA

yzdA

Iz′ =ZA

(y′)2 dA =cos2

ϕ

ZA

y2 dA+ sin2ϕ

ZA

z2 dA+2cosϕsinϕ

ZA

yzdA

Iy′z′ =ZA

y′z′ dA =− sinϕcosϕ

ZA

y2 dA+ cosϕsinϕ

ZA

z2 dA

+ cos2ϕ

ZA

yzdA− sin2ϕ

ZA

yzdA .

Mit den Flächenmomenten Iy, Iz und Iyz und den trigonometrischen Umformungen (2.40) ausdem Kapitel 2 erhält man

Iy′ =12

(Iy + Iz)+12

(Iy− Iz)cos2ϕ− Iyz sin2ϕ (5.27a)

Iz′ =12

(Iy + Iz)−12

(Iy− Iz)cos2ϕ+ Iyz sin2ϕ (5.27b)

Iy′z′ = +12

(Iy− Iz)sin2ϕ+ Iyz cos2ϕ . (5.27c)

Durch Einsetzen kann man nachprüfen, dass die beiden Invarianten der Transformation

Iy′+ Iz′ = Iy + Iz = Ip (5.28)

Iy′Iz′− I2y′z′ = IyIz− I2

yz (5.29)

existieren.

Page 74: Mechanik 2

66 5 Balkenbiegung

Die obigen Eigenschaften legen den Verdacht nahe, dass die Matrix der Flächenmomente 2.Gra-des Iy −Iyz

−Iyz Iz

(5.30)

Tensoreigenschaften besitzt. Dieser heißt Trägheitstensor. Die Formeln für die Rotation vonKoordinatensystemen beweisen dies, wenn man die negativen Vorzeichen vor den Deviations-momenten beachtet. Damit ist auch klar, dass es Hauptachsen gibt, bei denen die Deviations-momente verschwinden. Die dazugehörigen Flächenmomente heißen Hauptträgheitsmomen-te oder Flächenhauptmomente 2. Grades und können mit

I(1,2) =Iy + Iz

√(Iy− Iz

2

)2

+ I2yz (5.31)

berechnet werden. Danach ist das Hauptträgheitsmoment mit dem positiven Vorzeichen vor derWurzel ein Maximum und mit dem negativen Vorzeichen ein Minimum. Der Winkel um voneinem beliebigen Koordinatensystem zu einem Hauptachsensystem zu kommen, kann entspre-chend der Tensoreigenschaften durch

tan2ϕ∗ =−

2Iyz

Iy− Iz(5.32)

angegeben werden. Wie oben schon festgestellt wurde, hat ein Koordinatensystem, dessen ei-ne Achse eine Symmetrieachse des Querschnitts ist, verschwindende Deviationsmomente unddaher ist dies ein Hauptachsensystem.

Anmerkung:

Dadurch, dass die oben angegebene Matrix ein Tensor ist, kann natürlich auch für den Träg-heitstensor der Mohr’sche Kreis zur Bestimmung der Flächenmomente im gedrehten Koor-dinatensystemen benutzt werden.

BEISPIEL 5.2.5 : Flächenmomente eines Rechtecks im gedrehten Koordinatensystem

Für ein gedrehtes Koordinatensystem sind die Flächenmomente eines Rechteckes zu bestimmen.Das x,y,z-System ist ein Hauptachsensystem.

z

y

y′

ϕ

z′

Iy′ =bh24[(

h2 +b2)+ (h2−b2)cos2ϕ]

Iz′ =bh24[(

h2 +b2)− (h2−b2)cos2ϕ]

Iy′z′ =bh24(h2−b2)sin2ϕ

Page 75: Mechanik 2

5.3 Biegelinie 67

5.3 Biegelinie

Zu Beginn des Kapitels wurde der Spannungsverlauf im Querschnitt bei reiner Biegung herge-leitet. Weiterhin wurde ein Zusammenhang zwischen der Krümmung und dem Biegemomentangegeben. Hier soll nun die Durchbiegung berechnet werden. Dazu wird vorausgesetzt, dassy und z Hauptachsen des Querschnitts sind. Weiterhin können als äußere Lasten Querkräfte inz-Richtung Qz und Momente um die y-Achse My auftreten.

5.3.1 Grundlegende Gleichungen

Aus der Statik ist der Zusammenhang

dQz (x)dx

=−q(x)dMy (x)

dx= Qz (x) (5.33)

bekannt, mit der Streckenlast q(x). Die Spannungsresultanten der Kräfte wurden zu Beginn desKapitels 4.1 angegeben.

Der Zusammenhang zwischen Verzerrung und Verschiebung wurde in Kapitel 2.5 für einenallgemeinen dreidimensionalen Körper angegeben. Für den Balken unter den Voraussetzungenund mit den Bezeichnungen aus Kapitel 4 gilt1

εx =∂u∂x

εxz =12

(∂w∂x

+∂u∂z

). (5.34)

Darin ist u die Verformung des Balken in Richtung der Balken(Stab)-Achse und w die dazusenkrecht wirkende Durchbiegung (siehe Bild 5.10).

Über das Hooke’sche Gesetz ist der Spannungszustand mit dem Verzerrungszustand verknüpft.Hier gilt dann

σx = E εx τxz = 2Gεxz . (5.35)

Alle anderen Komponenten des Spannungstensors sind auf Grund der Annahme für den Balkenverschwindend klein.

Mit diesen Gleichungen kann noch keine eindeutige Ermittlung der Spannungen und Verschie-bungen erfolgen. Es werden daher noch weitere Annahmen getroffen

a) Die Durchbiegung w ist unabhängig von z

w = w(x) . (5.36)

1Wie die allgemeine Definition εx = ∂u∂x mit εx = z

ρaus dem Kapitel 5.1 im Zusammenhang steht wird im

Folgenden erläutert.

Page 76: Mechanik 2

68 5 Balkenbiegung

z

x

w

u = z ·ψ

ψ

Bild 5.10: Durchbiegung und Verdrehung eines Balkenelements

Damit erfahren alle Punkte des Querschnitts die gleiche Durchbiegung in z-Richtung unddie Balkenhöhe ändert sich bei Biegung nicht (εz = ∂w

∂z = 0, keine Einschnürung).

b) Querschnitte, die vor der Deformation eben waren, bleiben eben. Der Querschnitt erfährtneben der Absenkung w, eine reine Drehung um den kleinen Winkel ψ = ψ(x). Daher istdie Verschiebung in Richtung der Balkenachse (siehe Bild 5.10)

u(x,z) = ψ(x)z . (5.37)

Experimente zeigen, dass die Annahmen a) und b) für schlanke Balken mit konstantem oderschwach veränderlichem Querschnitt hinreichend genau sind. Kennzeichnet man die Ableitungnach x mit d

dx = ()′, dann erhält man

σx = Eψ′z τxz = G

(w′+ψ

). (5.38)

Diese Darstellung kann in die Spannungsresultanten, d.h. in die Normal- und Querkraft unddas Biegemoment, eingesetzt werden. Damit berechnet sich die Normalkraft auf Grund vonBiegung zu

N = Eψ′ZA

zdA = 0 . (5.39)

Da das Koordinatensystem so gewählt wurde, dass die y-Achse eine Schwereachse ist, ver-schwindet das statische Moment Sy =

RA zdA. Dies bestätigt die Voraussetzung einer verschwin-

denden Normalkraft.

Weiterhin ist das Biegemoment

My = EIyψ′ , (5.40)

Page 77: Mechanik 2

5.3 Biegelinie 69

mit dem Flächenmoment 2. Grades Iy =R

A z2 dA. Dies entspricht auch der Anschauung, dassdas Biegemoment proportional zur Änderung des Drehwinkels ψ, also der Krümmung, ist. Diesist das gleiche Ergebnis wie in Kapitel 5.1 für die reine Biegung.

Die Schubspannung τxz ist nach obiger Gleichung über den Querschnitt konstant. Dies resultiertaus den vereinfachenden Annahmen a) und b) und trifft in Wirklichkeit nicht zu. Es wird spätergezeigt, dass die Schubspannung an den Rändern verschwindet (zugeordnete Schubspannun-gen!) und sich über den Querschnitt ändert. Die ungleichförmige Verteilung von τxz wird durchden Schubkorrekturfaktor κ berücksichtigt, und führt zur Querkraft

Qz = κ GA(w′+ψ

). (5.41)

Dies ist das Elastizitätsgesetz für die Querkraft, das besagt, dass der Balken durch die Querkrafteine Schubverzerrung (w′+ψ) erfährt. Die Größe (κ GA = GAS) ist die Schubsteifigkeit, unddabei ist AS = κA die so-genannte Schubfläche.

5.3.2 Differentialgleichung der Biegelinie

Häufig wird angenommen, dass die Schubsteifigkeit sehr groß ist. Für κ GA→∞ folgt dann aus(5.41) bei endlicher Querkraft Qz

w′+ψ = 0 . (5.42)

Dies bedeutet, dass die Neigung der Balkenachse gleich der negativen Verdrehung ist. Dies be-deutet weiterhin, dass Balkenquerschnitte, die vor der Belastung senkrecht auf der Balkenachsestanden, auch nachher senkrecht auf der deformierten Balkenachse stehen. Einen solchen Bal-ken nennt man schubstarr und die folgende Theorie die Balkentheorie nach Euler-Bernoulli.Sie ist für schlanke Balken hinreichend genau, und für reine Biegung (Qz = 0) auch exakt.

Sammelt man nun alle Gleichungen zusammen, so hat man vier Differentialgleichungen ersterOrdnung

Q′z =−q M′y = Qz ψ′ =

My

EIyw′ =−ψ (5.43)

zur Verfügung. Durch eliminieren von ψ erhält man aus den letzten beiden Differentialglei-chungen die Differentialgleichung der Biegelinie

w′′ =−My

EIy. (5.44)

Aus ihr kann bei bekanntem My durch zweimalige Integration die Durchbiegung w(x) - dieBiegelinie - berechnet werden.

Page 78: Mechanik 2

70 5 Balkenbiegung

Beachtet man, dass die Krümmung der Balkenachse durch

=± w′′

(1+w′2)3/2 (5.45)

gegeben ist, so erkennt man den Zusammenhang zu Kapitel 5.1. Für kleine Neigungen (w′)2�1 folgt2

1ρ≈±w′′ . (5.46)

In (5.13) wurde der Zusammenhang zwischen dem Krümmungsradius und dem Biegemomentmit

=My

EIy

angegeben. Daraus ist zu erkennen, dass das negative Vorzeichen in (5.46) zu wählen ist. Damitist die Krümmung des Balkens negativ für positives My und umgekehrt (siehe Bild 5.11).

M > 0 M < 0

z

x

negative Krümmung positive Krümmung

Bild 5.11: Zusammenhang zwischen dem Vorzeichen des Biegemoments und der Krümmung

Bei statisch bestimmten Systemen ist es einfach möglich das Biegemoment My aus den Gleich-gewichtsbedingungen zu bestimmten und daraus dann die Durchbiegung. Bei unbestimmtenSystemen gibt es jedoch Probleme. Verwendet man aber noch die Zusammenhänge (5.43) zwi-schen Streckenlast - Querkraft und Moment, so folgt zunächst

Qz =−(EIyw′′

)′ (5.47)

und mit nochmaligem Differenzieren die Differentialgleichung vierter Ordnung(EIyw′′

)′′ = q (5.48)

welche sich für EIy = const auf

EIywIV = q (5.49)

2In der Baustatik wird die Krümmung mit κ =−w′′ bezeichnet

Page 79: Mechanik 2

5.3 Biegelinie 71

reduziert. Aus (5.49) kann durch viermalige Integration die Durchbiegung bestimmt werden.

Die vier Integrationskonstanten werden aus den Randbedingungen bestimmt. Es wird zwi-schen geometrischen und statischen Randbedingungen unterschieden. Geometrische Rand-bedingungen sind Aussagen über geometrische (kinematische) Größen wie w und w′. Dagegensind statische Randbedingungen Aussagen über Kraft- (oder Momenten-)größen wie Qz undMy. In der Tabelle 5.1 sind einige Beispiele zusammengefasst.

Lager w w′ My Q

gelenkiges Lager0 6= 0 0 6= 0

Parallelführung6= 0 0 6= 0 0

Einspannung0 0 6= 0 6= 0

freies Ende6= 0 6= 0 0 0

Tabelle 5.1: Randbedingungen

BEISPIEL 5.3.1 : Kragträger

Es ist die Durchbiegung eines Kragträgers der Länge ` mit EIy = const und belastet durch dieKraft F gefragt.

x

`

F

Da das System statisch bestimmt ist, kann der Momentenverlauf aus den Gleichgewichtsbedin-gungen bestimmt werden

My =−F (`− x) .

Page 80: Mechanik 2

72 5 Balkenbiegung

Einsetzen und Integrieren ergibt

EIyw′′ = F (`− x)

EIyw′ = F(

`x− x2

2

)+C1

EIyw = F(

`x2

2− x3

6

)+C1x+C2 .

Die geometrische Randbedingung lauten

w′(0) = 0 w(0) = 0 .

Daraus resultieren die Integrationskonstanten

C1 = 0 C2 = 0 .

Dies ergibt die Biegelinie

w(x) =F`3

6EIy

(−x3

`3 +3x2

`2

).

Der größte Neigungswinkel und die größte Durchbiegung (oft als Biegepfeil bezeichnet) tretenan der Lastangriffsstelle x = ` auf

w′max =F`2

2EIywmax =

F`3

3EIy.

BEISPIEL 5.3.2 : Drei Balken unter konstanter Streckenlast

Es werden drei gleiche Balken der Länge ` und konstanter Biegesteifigkeit EIy belastet durcheine konstante Streckenlast q0 bei unterschiedlicher Lagerung untersucht (siehe Bild 5.12a-c).

q0

`

EIy

A

`

AEIy

q0

B A

`

BEIy

q0

z

x

w(x)wmax

w(x) wmaxz

x

w(x)(a) (b) (c)

Bild 5.12: Problemstellung und Biegelinie (gestrichelt) für drei unterschiedlich gelagerte Bal-ken

Page 81: Mechanik 2

5.3 Biegelinie 73

Dabei sind die Balken nach (a) und (b) statisch bestimmt gelagert und der Balken nach (c) iststatisch unbestimmt gelagert. Bei letzterem kann der Momentenverlauf nicht aus den Gleichge-wichtsbedingungen bestimmt werden. Es wird daher in allen drei Fällen von der Differential-gleichung (5.49) ausgegangen.

Mit Einführung des Koordinatensystems (Ursprung immer am linken Lager) und Integrationvon (5.49) ergibt sich zunächst unabhängig von der Lagerung

EIy wIV = q = q0 ,

EIy w′′′ =−Q = q0x+C1 ,

EIy w′′ =−M =12

q0x2 +C1x+C2 ,

EIy w′ =16

q0x3 +12

C1x2 +C2x+C3 ,

EIy w =1

24q0x4 +

16

C1x3 +12

C2x2 +C3x+C4

Die unterschiedlichen Randbedingungen führen jedoch auf unterschiedliche Integrationskon-stanten

(a) w′ (0) = 0 → C3 = 0w(0) = 0 → C4 = 0

Qz (`) = 0 → q0`+C1 = 0→C1 =−q0`

My (`) = 0 → 12

q0`2 +C1`+C2 = 0→C2 =

12

q0`2

(b) My (0) = 0 → C2 = 0

My (`) = 0 → 12

q0`2 +C1` = 0→C1 =−1

2q0`

w(0) = 0 → C4 = 0

w(`) = 0 → 124

q0`4 +

16

C1`3 +C3` = 0→C3 =

124

q0`3

(c) w′ (0) = 0 → C3 = 0w(0) = 0 → C4 = 0

My (`) = 0 → 12

q0`2 +C1`+C2 = 0

w(`) = 0 → 124

q0`4 +

16

C1`3 +

12

C2`2 = 0→C1 =−5

8q0` C2 =

18

q0`2 .

Damit erhält man die in Bild 5.12 dargestellten Biegelinien

(a) w(x) =q0`

4

24EIy

[(x`

)4−4(x

`

)3+6(x

`

)2]

Page 82: Mechanik 2

74 5 Balkenbiegung

(b) w(x) =q0`

4

24EIy

[(x`

)4−2(x

`

)3+(x

`

)](c) w(x) =

q0`4

24EIy

[(x`

)4− 5

2

(x`

)3+

32

(x`

)2]

.

Die größten Durchbiegungen sind im Fall (a)

wmax = w(`) =q0`

4

8EIy

und im Fall (b)

wmax = w(

`

2

)=

5384

q0`4

EIy.

Nach der Ermittlung der Integrationskonstanten liegen nun auch die Verläufe der Neigung w′,des Biegemoments My und der Querkraft Qz fest. So folgen zum Beispiel für den statisch unbe-stimmten Fall (c)

Qz (x) =−q0`

8

[8(x

`

)−5]

My (x) =−q0`2

8

[4(x

`

)2−5(x

`

)+1]

.

Daraus lassen sich die Lagerreaktionen

A = Q(0) =5q0`

8B =−Q(`) =

3q0`

8MA = My (0) =−q0`

2

8

ablesen. Man kann sich zur Probe davon überzeugen, dass hiermit die Gleichgewichtsbedingun-gen

↑∑Fiz : A+B−q0` = 0 ∑MAi : −MA + `B− `

2q0` = 0

erfüllt werden. ♣

5.3.3 Balken mit mehreren Feldern

Häufig lassen sich eine oder mehrere der Kraftgrößen (q,Qz,My) oder der Verformungsgrößen(w′, w) nicht über den gesamten Balken durch jeweils eine einzige Funktion darstellen, oder dieBiegesteifigkeit EIy ist abschnittsweise veränderlich. In solchen Fällen muss der Balken so inFelder unterteilt werden, dass alle Größen jeweils stetig sind. Die Integration der Differential-gleichung der Biegelinie erfolgt dann bereichsweise.

Es soll die Vorgehensweise am statisch bestimmt gelagerten Balken mit konstanter Biegestei-figkeit EIy nach Bild 5.13 demonstriert werden. Der Momentenverlauf ist durch

Page 83: Mechanik 2

5.3 Biegelinie 75

a b`

z

xA BEIy

I II

F

Bild 5.13: Balken mit zwei Felder

My (x) =

F

b`

x für 0≤ x≤ a

Fa`

(`− x) für a≤ x≤ `

gegeben. Einsetzen in (5.44) und Integration in den Feldern I (0≤ x≤ a) und II (a≤ x≤ `)liefert

Bereich I: 0≤ x≤ a Bereich II: a≤ x≤ `

EIyw′′I =−Fb`

x EIyw′′II =−Fa`

(`− x)

EIyw′I =−Fb`

x2

2+C1 EIyw′II = F

a`

(`− x)2

2+C3

EIywI =−Fb`

x3

6+C1x+C2 EIywII =−F

a`

(`− x)3

6−C3 (`− x)+C4 .

Zur Bestimmung der vier Integrationskonstanten stehen zunächst nur die zwei geometrischenRandbedingungen

wI (x = 0) = 0 → C2 = 0wII (x = `) = 0 → C4 = 0

zur Verfügung. Zwei weitere Gleichungen folgen aus den Übergangsbedingungen. An derStelle x = a müssen die Verschiebungen und die Neigungswinkel beider Bereiche übereinstim-men (keine Sprünge in Verschiebung und Neigung)

wI (a) = wII (a) → −Fb`

a3

6+C1a =−F

a`

b3

6−C3b

w′I (a) = w′II (a) → −Fb`

a2

2+C1 = F

a`

b2

2+C3

⇒ C1 =Fab(a+2b)

6`C3 =−Fab(b+2a)

6`.

Page 84: Mechanik 2

76 5 Balkenbiegung

Damit lässt sich die Biegelinie in folgender Form schreiben

w(x) =

Fb`2

6EIy

x`

[1−(b

`

)2−(x

`

)2]

für 0≤ x≤ a

Fa`2

6EIy

(`− x)`

[1−(a

`

)2−(

`−x`

)2]

für a≤ x≤ ` .

Die Absenkung an der Kraftangriffsstelle folgt daraus zu

w(a) =Fa2b2

3EIy `.

Anmerkung:

Der schon bei zwei Feldern beträchtliche Aufwand der bereichsweisen Integration lässt sichreduzieren, wenn man das Klammer-Symbol nach Föppl (Föppl-Symbol) anwendet. Hier-mit können Sprünge im Funktionsverlauf berücksichtigt werden. Weitere Ausführungen da-zu sind in [7] oder in [5] (dort unter der Bezeichnung singuläre Funktionen) zu finden.Hier wird dies nicht weiterverfolgt, da für größere Systeme die Energiemethoden aus derBaustatik zum Zuge kommen. Allerdings wurde für Tabelle 5.2 das Föppl-Symbol benutzt,um die Ergebnisse kompakter schreiben zu können. Daher soll hier angegeben werden, wiedas Föppl-Symbol in Tabelle 5.2 auszuwerten ist. Es gilt

〈x−a〉n =

{0 für x < a(x−a)n für x > a .

(5.50)

Dies ist jedoch nicht die komplette Rechenvorschrift für das Föppl-Symbol.

5.3.4 Superposition

Die Differentialgleichung der Biegelinie (5.44) bzw. (5.49) ist linear. Das bedeutet, dass Lö-sungen für verschiedene Lastfälle superponiert werden können. Wirken zum Beispiel auf denBalken nach Bild 5.14 eine Streckenlast q1 und eine Kraft F2, so lässt sich die Verschiebung w

z

xw

q1 F2

=x

z

w1

q1

+x

z

w2

F2

Bild 5.14: Superposition der zwei Belastungsfälle q1 und F2

durch Superposition der Verschiebung w1 (infolge der Belastung q1) und der Verschiebung w2

Page 85: Mechanik 2

5.3 Biegelinie 77

(infolge der Belastung F2) angeben als w = w1 +w2. Analog gilt für die Neigung w′ = w′1 +w′2,das Moment My = M1y +M2y und die Querkraft Qz = Q1z +Q2z.

In der Tabelle 5.2 sind einige Grundlösungen für statisch bestimmt gelagerte Balken mit kon-stanter Biegesteifigkeit EIy zusammengestellt (weitere Tabellen sind z.B. in [2, 6] zu finden).Mit ihrer Hilfe kann man für viele zusammengesetzte Belastungsfälle die Durchbiegung ein-fach durch Überlagern ermitteln, ohne dass die Differentialgleichung der Biegelinie integriertwerden muss.

Nr. Lastfall Erklärungen: ξ = x` ; α = a

` ; β = b` ; EIy = const; w′ = dw

dx

1l

Fba

A Bx

EIyw′A = F`2

6

(β−β3)

EIyw′B =−F`2

6

(α−α3)

EIyw(x) = F`3

6

[βξ(1−β2−ξ2)+ 〈ξ−α〉3

]EIywmax = F`3

48 für a = b = l2

2l

A Bx

q0

EIyw′A = q0`3

24

EIyw′B =−q0`3

24

EIyw(x) = q0`4

24

(ξ−2ξ3 +ξ4)

EIywmax = 5q0`4

384

3A Bx

q0

a bl

EIyw′A = q0`3

24

(1−β2)2

EIyw′B = q0`3

24

[4(1−β3)−6

(1−β2)+ (1−β2)2

]EIyw(x) = q0`

4

24

[ξ4−〈ξ−α〉4−2

(1−β2)ξ3 +

(1−β2)2

ξ

]

4l

A Bx

q0 EIyw′A = 7q0`3

360

EIyw′B =−q0`3

45

EIyw(x) = q0`4

360

(7ξ−10ξ3 +3ξ5)

5l

A Bx

M0a b

EIyw′A = M0`6

(3β2−1

) [−M0l

6 für b = 0]

EIyw′B = M0`6

(3α2−1

) [M0l

3 für b = 0]

EIyw(x) = M0`2

6

[ξ(3β2−1

)+ξ3−3〈ξ−α〉2

]EIywmax =

√3M0`

2

27 für a = `

Tabelle 5.2: Biegelinien für Standardfälle (〈x〉n siehe (5.50))

Page 86: Mechanik 2

78 5 Balkenbiegung

Nr. Lastfall Erklärungen: ξ = x` ; α = a

` ; β = b` ; EIy = const; w′ = dw

dx

6l

Fba

AB

x

EIyw′A = 0

EIyw′B = Fa2

2

EIyw(x) = F`3

6

[3ξ2α−ξ3 + 〈ξ−α〉3

]EIywmax = F`3

3 für a = `

7lA

Bx

q0

EIyw′A = 0

EIyw′B = q0`3

6

EIyw(x) = q0`4

24

(6ξ2−4ξ3 +ξ4)

EIywmax = q0`4

8

8 ABx

q0

a bl

EIyw′A = 0

EIyw′B = q0`3

6 β(β2−3β+3

)EIyw(x) = q0`

4

24

[〈ξ−α〉4−4βξ3 +6β(2−β)ξ2

]

9lx BA

q0

EIyw′A = 0

EIyw′B = q0`3

24

EIyw(x) = q0`4

120

(10ξ2−10ξ3 +5ξ4−ξ5)

EIywmax = q0`4

30

10lA

Bx

M0a b

EIyw′A = 0

EIyw′B = M0a

EIyw(x) = M0`2

2

(ξ2−〈ξ−α〉2

)EIywmax = M0`

2

2 für a = l

Tabelle 5.2: Biegelinien für Standardfälle (〈x〉n siehe (5.50))

Auch bei statisch unbestimmten Problemen ist die Anwendung der Superposition oft vorteilhaft.Um das Vorgehen zu erläutern, wird der Balken in Bild 5.15 betrachtet. Er ist einfach statischunbestimmt gelagert. Wird das rechte Lager entfernt, so ist der Balken statisch bestimmt. DieVerschiebung w(0) für dieses „Grundsystem“ oder „0“-System infolge der gegebenen äußerenBelastung kann Tabelle 5.2 entnommen werden. Speziell für das rechte Balkenende bei B gilt

w(0)B =

q0`4

8EIy. (5.51)

Page 87: Mechanik 2

5.3 Biegelinie 79

z

xA B

q0

EIy`

=

q0

w(0)

w(0)B

+

„0“-System „1“-System

w(1)w(1)

B

B

Bild 5.15: Superposition zur Lösung statisch unbestimmter Systeme: Lösungsvariante I

Nun wird der Balken im „1“-System nur durch eine noch unbekannte Kraft B an der Stelle, ander das Lager entfernt wurde, belastet. Die unbekannte Kraft entspricht der Lagerkraft in B imursprünglichen System. Für die Verschiebung an der Kraftangriffsstelle kann aus Tabelle 5.2abgelesen werden

w(1)B =− B`3

3EIy. (5.52)

Das ursprüngliche System kann als Überlagerung der Lastfälle aus dem „0“- und dem „1“-System angesehen werden. Da sich an der Stelle B ein Lager befindet, muss die Durchbiegungdort verschwinden, d.h.

wB = w(0)B +w(1)

B = 0 . (5.53)

Einsetzen in diese Kompatibilitätsbedingung liefert

q0`4

8EIy− B`3

3EIy= 0 → B =

38

q0` . (5.54)

Damit liegen die Verläufe der Biegelinie w = w(0) + w(1), der Neigung w′ = w′(0) + w′(1), desMomentes My = M(0)

y +M(1)y und der Querkraft Qz = Q(0)

z +Q(1)z fest. So erhält man zum Bei-

spiel mit M(0)y = −1

2q0 (`− x)2 ,M(1)y = B(`− x) und dem nun bekannten Wert von B für den

Momentenverlauf

My =−12

q0 (`− x)2 +B(`− x) =−q0`2

8

[4(x

`

)2−5(x

`

)+1]

. (5.55)

Insbesondere folgt daraus für das Moment an der Einspannstelle

MA = My (0) =−q0`2

8. (5.56)

Bei statisch unbestimmten Systemen gibt es mehrere Möglichkeiten, ein „0“-System zu wählen.So kann zum Beispiel ein statisch bestimmtes Grundsystem auch dadurch erzeugen, dass dieEinspannung bei A durch eine gelenkige Lagerung ersetzt wird (siehe Bild 5.16).

Page 88: Mechanik 2

80 5 Balkenbiegung

z

xA B

q0

EIy`

=

q0

w′(0)A

w(0)

+

„0“-System „1“-System

w′(1)A

w(1)

MA

Bild 5.16: Superposition zur Lösung statisch unbestimmter Systeme: Lösungsvariante II

Im „1“-System wird dann entsprechend der gelösten Bindung der Balken durch ein MomentMA belastet. Damit die überlagerten Lastfälle dem ursprünglichen System entsprechen, mussdie Neigung am Lager A verschwinden (Einspannung!)

w′A = w′(0)A +w′(1)

A = 0 . (5.57)

Mit den Werten w′(0)A = q0`

3

24EIyund w′1A = MA`

3EIyaus der Tabelle 5.2 folgt für das Moment

MA =−q0`2

8. (5.58)

Der Vergleich mit (5.56) zeigt, dass diese Variante das gleiche Ergebnis liefert, und damitgleichwertig ist. Die Entscheidung wie die „0“- und „1“-Systeme gebildet werden, ist von derAufgabenstellung abhängig.

Wenn der Balken am rechten Ende nicht fest, sondern durch einen elastischen Pendelstab (Dehn-steifigkeit EA, Länge a) gelagert ist (siehe Bild 5.17), so ändert sich an der Vorgehensweise imPrinzip nichts. Durch Lösen der Bindung zum Beispiel bei B erhält man ein „0“-System analog

A Bx

z

EIy

q0

EAa

`

q0

w(0)B

=

„0“-System

S

w(1)B

∆a

„1“-System

S+

Bild 5.17: Superposition für einen Biegebalken gelagert auf einem Dehnstab

zu Bild 5.15. Der Stab ist dabei unbelastet und erfährt keine Längenänderung. Im „1“-Systemsind der Balken und der Stab durch die Stabkraft S entgegengesetzt belastet (actio=reactio).

Page 89: Mechanik 2

5.3 Biegelinie 81

Der Stab erfährt nun eine Verkürzung um ∆a = SaEA . Wegen der Verbindung müssen für das

ursprünglich gegebene System die Verschiebungen von Balken und Stab bei B übereinstimmen

w(0)B +w(1)

B = ∆a . (5.59)

Mit w(0)B = q0`

4

8EIyund w(1)

B =− S`3

3EIyergibt sich daraus

q0`4

8EIy− S`3

3EIy=

SaEA

→ S =38

q0`1

1+ 3EIy aEA `3

. (5.60)

Damit lassen sich die Verformungen (Biegelinie) und die Schnittgrößen eindeutig bestimmen.Im Sonderfall eines dehnstarren Stabes (EA→ ∞) folgt wie beim Balken nach Bild 5.15 dieStabkraft S = 3q0`

8 .

Bei einem einfach statisch unbestimmten System wird das Grund-System durch Lösen einerBindung erzeugt, und es wird ein Hilfssystem benötigt, das entsprechend der gelösten Bindungbelastet ist. Analog müssen bei einem n-fach statisch unbestimmten System n Bindungen gelöstwerden, um ein Grundsystem („0“-System) zu erhalten. Hinzu kommen dann n Hilfssysteme,die durch jeweils eine Kraft oder ein Moment (entsprechend der gelösten Bindung) belastet sind.Die n noch unbekannten Kraftgrößen werden aus n Kompatibilitätsbedingungen bestimmt.

Anmerkung:

Auch bei Rahmen, die ja aus geraden Balken zusammengesetzt sind, kann die Superposi-tion manchmal vorteilhaft angewendet werden. Man untersucht dabei die Deformation dereinzelnen Balken für sich. Man muss bei der Superposition aber darauf achten, wie sich dieDeformationen eines Balkens auf die Verschiebungen der angeschlossenen Balken auswir-ken. Rahmen werden hier nicht sondern in der Baustatik behandelt.

BEISPIEL 5.3.3 : Zweifach statisch unbestimmt gelagerter Balken

Es wird der zweifach statisch unbestimmt gelagerte Balken nach Bild 5.18 betrachtet. Gefragtsind die Lagerkräfte in B und C.

Das „0“-System wird erzeugt durch Entfernen der Lager B und C. Die Hilfssysteme „1“ und „2“werden durch die Kräfte B und C belastet. Beim gegebenen System verschwindet die Durchbie-gung an den Lagern B und C. Demnach lauten die Kompatibilitätsbedingungen

wB = 0 → w(0)B +w(1)

B +w(2)B = 0

wC = 0 → w(0)C +w(1)

C +w(2)C = 0 .

Page 90: Mechanik 2

82 5 Balkenbiegung

Ax

z

B CEIy

`2

`2

q0

= + +

„0“-Systemq0

w(0)B w(0)

C

„1“-System

B

w(1)B w(1)

C

„2“-System

C

w(2)B w(2)

C

Bild 5.18: Zweifach statisch unbestimmt gelagerter Balken mit den einzelnen statisch bestimm-ten Teilsystemen

Mit den Werten

w(0)B =

14q0`4

384 EIyw(1)

B =− 2B`3

48 EIyw(2)

B =− 5C`3

48 EIy

w(0)C =

41q0`4

384 EIyw(1)

C =− 5B`3

48 EIyw(2)

C =− 16C`3

48 EIy

folgen daraus

B =1956

q0` C =1256

q0` .

BEISPIEL 5.3.4 : Superposition zur Berechnung der Durchbiegung

Für den Balken nach Bild 5.19 sind die Lagerreaktionen und die Absenkung an der Stelle D zubestimmen.

F 2F

EIy D

a a a a

A BC

„0“-SystemF 2F

z

x

w′(0)B1 w′(0)

B2w(0)

D

„1“-System

X X

z

xw′(1)

B1w′(1)

B2 w(1)D

Bild 5.19: Problemstellung, „0“-System und „1“-System zur Berechnung der Durchbiegung

Page 91: Mechanik 2

5.4 Schiefe Biegung 83

Das System ist einfach statisch unbestimmt. Um ein einfaches „0“-System zu erzeugen, wirdder Balken am Lager B geschnitten und dort ein Gelenk eingeführt (siehe Bild 5.19). Entspre-chend der gelösten Bindung werden dann die beiden Teilbalken im „1“-System nur durch jeein Schnittmoment X belastet. Im ursprünglichen System befindet sich kein Gelenk, d.h. dieNeigungswinkel am Lager B müssen für das linke und für das rechte Balkenteil gleich sein.Demnach gilt die Kompatibilitätsbedingung

w′B1= w′B2

→ w′(0)B1

+w′(1)B1

= w′(0)B2

+w′(1)B2

.

Die Lagerkräfte (nach oben positiv gezählt) sowie die Absenkung bei D und die Neigungswin-kel bei B lauten für das „0“-System (vgl. Tabelle 5.2)

A(0) =F2

B(0) =F2

+F =32

F C(0) = F

w(0)D =

Fa3

3EIyw′(0)

B1=− Fa2

4EIyw′(0)

B2=

2Fa2

4EIy

und für das „1“-System

A(1) =− X2a

B(1) =X2a

+X2a

=Xa

C(1) =− X2a

w(1)D =− Xa2

4EIyw′(1)

B1=

2Xa3EIy

w′(1)B2

=− 2Xa3EIy

.

Einsetzen in die Kompatibilitätsbedingung liefert das Schnittmoment

− Fa2

4EIy+

2Xa3EIy

=2Fa2

4EIy− 2Xa

3EIy→ X =

916

aF .

Damit ergeben sich für die Lagerreaktionen und für die Absenkung bei D im Ausgangssystem

A = A(0) +A(1) =7

32F B = B(0) +B(1) =

6632

F

C = C(0) +C(1) =2332

F wD = w(0)D +w(1)

D =37Fa3

192EIy.

5.4 Schiefe Biegung

Kommt es bei einem Balken nicht nur zu Durchbiegungen w in z-Richtung, sondern auch zuDurchbiegungen v in y-Richtung, so sprich man von schiefer Biegung oder zwei-achsiger Bie-gung. Sie tritt z.B. auf, wenn ein Träger in z- und in y-Richtung belastet wird, oder bei asymme-trischen Querschnitten (siehe Bild 5.20). Dann wirken in den Querschnitten die beiden Quer-

Page 92: Mechanik 2

84 5 Balkenbiegung

y

q

z

yx

z

F F

q

Bild 5.20: Beispiel für schiefe Biegung

kräfte Qy,Qz und die beiden Biegemomente My,Mz.

Im Folgenden wird angenommen, dass der Balken schubstarr ist. Das Koordinatensystem sollseinen Ursprung im Schwerpunkt haben, aber nicht Hauptachsensystem (im Gegensatz zuBild 5.20) sein. Daher können die Gleichungen für die Biegelinie nicht direkt übertragen wer-den.

Betrachtet man die Skizzen 5.21, die entsprechend der Vorzeichenkonvention angefertigt wur-den, so können daraus die Zusammenhänge

y

z

x

dx

Qz

Myqz My +dMy

Qz +dQz

(a) Seitenansicht

z

y

x

dx

Qy

Mzqy Mz +dMz

Qy +dQy

(b) Draufsicht

Bild 5.21: Prinzipskizze zur Veranschaulichung der Zusammenhänge zwischen Last - Querkraftund Moment

dQz

dx=−qz

dQy

dx=−qy

dMy

dx= Qz

dMz

dx=−Qy

(5.61)

hergeleitet werden.

Wie bei der geraden Biegung soll die Bernoulli’sche Hypothese gelten, und damit auch dieAnnahme, dass die Verschiebungen im Querschnitt konstant sind, d.h. v = v(x) und w = w(x).Da hier eine lineare Theorie zu Grunde gelegt ist, gilt das Superpositionsprinzip und dahermacht es Sinn anzunehmen, dass die Verschiebungen v(x) und w(x) unabhängig voneinandersind und überlagert werden können.

Page 93: Mechanik 2

5.4 Schiefe Biegung 85

Die zwei Drehwinkel ψy und ψz werden mathematisch positiv als Drehung des Querschnitts umdie y- und z-Achse eingeführt. Die Verschiebung u (in Längsrichtung) eines Punktes kann damitdargestellt werden (siehe Bilder 5.22)

y

z

w

xψy

(a) Seitenansicht

y

x

v

z

ψz

(b) Draufsicht

Bild 5.22: Definition der Drehwinkel

u = zψy− yψz. (5.62)

Für kleine Durchbiegungen und damit auch kleine Drehwinkel gilt

ψy =−w′ ψz = v′ , (5.63)

und folglich für die Verschiebung

u =−(w′z+ yv′) . (5.64)

Daraus kann die Dehnung εx berechnet werden

εx =∂u∂x

=−(w′′z+ yv′′

). (5.65)

Einsetzen in das Stoffgesetz liefert die Normalspannung

σx = E · εx =−E(w′′z+ yv′′

). (5.66)

Die Momente können nun als Integrale über die Querschnittsfläche bestimmt werden

My =ZA

zσx dA Mz =−ZA

yσx dA . (5.67)

Das negative Vorzeichen resultiert daraus, dass eine positive Normalspannung (Zugspannung)am positiven Schnittufer ein positives Moment verursachen muss. Einsetzen der Spannung er-gibt

My =−E

w′′ZA

z2 dA+ v′′ZA

zydA

Mz = E

w′′ZA

yzdA+ v′′ZA

y2 dA

. (5.68)

Page 94: Mechanik 2

86 5 Balkenbiegung

Um die weiteren Ableitungen der Durchbiegung zu berechnen, werden die Flächenmomente 2.Grades in (5.68) eingesetzt und umgeformt zu

Ew′′ =1∆

[−MyIz−MzIyz] (5.69a)

Ev′′ =1∆

[MzIy +MyIyz] (5.69b)

mit der Abkürzung ∆ = IyIz− I2yz. Durch zweifache Integration der Gleichungen (5.69a) und

(5.69b) können die Durchbiegungen w und v bestimmt werden.

Zur Berechnung der Normalspannung können diese Ergebnisse benutzt werden. Einsetzen er-gibt

σx =1∆

[(MyIz +MzIyz)z− (MzIy +MyIyz)y] . (5.70)

Die Normalspannung ist damit linear über den Querschnitt verteilt.

Linien gleicher Spannung σx = const im Querschnitt sind die Geraden σx (x,y,z) = σx (x) =const. Auflösen nach z ergibt

z =MzIy +MyIyz

MyIz +MzIyzy+

σx ·∆MyIz +MzIyz

. (5.71)

Eine spezielle Gerade ist besonders interessant, die so-genannte Spannungsnullinie (SNL), diedurch σx = 0 charakterisiert ist. Diese ist durch

z =MzIy +MyIyz

MyIz +MzIyzy (5.72)

gegeben und geht damit immer durch den Ursprung des Koordinatensystems und daher immerdurch den Schwerpunkt. Sie ist aber im Normalfall nicht deckungsgleich zu den Hauptach-sen. Sie fällt auch üblicherweise nicht mit dem resultierenden Biegemomentenvektor zusam-men. Die maximale Spannung tritt an dem Punkt im Querschnitt auf, der den größten Abstand(senkrecht) zur Spannungsnullinie hat. All diese Eigenschaften sind Funktionen von x, d.h. siekönnen sich entlang der Balkenachse verändern.

Anmerkung:

1. Ist das Koordinatensystem ein Hauptachsensystem, so ist Iyz ≡ 0 und die Gleichungenreduzieren sich zu

σx =My

Iyz−Mz

Izy . (5.73)

und

w′′ =−My

EIyv′′ =

Mz

EIz(5.74)

Page 95: Mechanik 2

5.4 Schiefe Biegung 87

2. Es besteht natürlich die Möglichkeit zuerst das Koordinatensystem zu drehen, so dasses ein Hauptachsensystem ist, und dann mit obiger Formel (5.74) zu rechnen.

BEISPIEL 5.4.1 : Kragträger mit dünnwandigem Profil

Ein Kragträger mit dünnwandigem Profil konstanter Wandstärke t (a� t) wird durch eine KraftF in z- Richtung belastet (siehe Bild 5.23). Es sind die Durchbiegungen und die Spannungsnul-linie zu berechnen.

z

x

F

`

F

t

a a

a

aay

z

y

z

Spannungsnullinie

Bild 5.23: Kragträger mit dünnwandigem Profil: Geometrie und Spannungsnullinie

Die Flächenmomente 2. Grades sind gegeben zu

Iy =103

ta3 Iz =83

ta3 Iyz =63

ta3

und aus der Belastung ergeben sich folgende Biegemomente

My =−F (`− x) Mz = 0.

Einsetzen in (5.69a) und (5.69b) mit ∆ = IyIz− I2yz = 44

9 t2a6 ergibt

Ew′′ =−MyIz

∆=

6F11ta3 (`− x)

Ev′′ =MyIyz

∆=− 9F

22ta3 (`− x) .

Eine zweifache Integration unter Beachtung der Randbedingungen w(x = 0) = w′ (x = 0) = 0und v(x = 0) = v′ (x = 0) = 0 liefert die Durchbiegung

w(x) =F`3

11Eta3

[3(x

`

)2−(x

`

)3]

v(x) =− 3F`3

44Eta3

[3(x

`

)2−(x

`

)3]

.

Page 96: Mechanik 2

88 5 Balkenbiegung

Aus der Anschauung ist klar, dass am freien Ende die größten Durchbiegungen auftreten. Diesesind

w(`) =2F`3

11Eta3 v(`) =− 3F`3

22Eta3

und damit die Gesamtverschiebung (Biegepfeil)

f (`) =√

w(`)2 + v(`)2 =5F`3

22EAa3 .

Die Normalspannung kann mit

σx =My

∆[Iz · z− Iyz · y] =−

3F (`− x)22ta3 (4z−3y)

berechnet werden. Die maximalen Normalspannungen treten in der Einspannung auf und dieSpannungsnullinie (5.72) ist

z =34

y .

Diese ist in Bild 5.23 dargestellt. Der Punkt (y = 0, z =−a) ist am weitesten von der Span-nungsnullinie entfernt und damit tritt dort die Maximalspannung

|σmax|= |σ(x = 0,y = 0,z =−a) |= 6F`

11ta2

auf. Der Punkt (y = 0, z = a) ist genau so weit entfernt, und trägt damit den gleichen Span-nungsbetrag. Jedoch tritt dort Druck auf. ♣

5.5 Schubspannung im Biegebalken

Bisher wurden bei der Berechnung von Spannungen im Balken nur Längsspannungen berück-sichtigt. Sie werden durch Biegemomente My (x) und Mz (x) hervorgerufen. Wenn die Biege-momente nicht konstant entlang der Balkenachse sind, dann resultieren daraus auch Querkräf-te Qy (x) und Qz (x). Diese wiederum entsprechen den Schubspannungen im Querschnitt. Inden vorherigen Abschnitten wurde angenommen, dass die Schubspannungen konstant über denQuerschnitt sind. Da dies in der Realität aber nicht zutrifft, wurde ein Schubkorrekturfaktor κeingeführt. Im Rahmen der meistens (auch hier) benutzten Euler-Bernoulli Theorie wird nochweiter vereinfacht und der Balken als schubstarr angenommen. Für die Berechnung von Schub-spannungen stehen folglich weder Betrachtungen über die Geometrie der Verformungen nochdas Hooke’sche Gesetz zur Verfügung. Nur eine Kräftegleichgewichtsbedingung ist formulier-bar, um den Einfluss der Schubspannungen zu berechnen.

Page 97: Mechanik 2

5.5 Schubspannung im Biegebalken 89

5.5.1 Schub im Vollquerschnitt

Im Folgenden wird ein prismatischer (schlanker) Balken mit einem entlang der x-Achse kon-stanten Vollquerschnitt angenommen, bei dem die y- und die z-Achse Hauptachsen sind. WeitereAnnahmen sind

1. Von der Schubspannung τxy und τxz sind nur die Komponenten in Richtung der z-Achsewesentlich.

2. Die Schubspannung ist wie die Normalspannung σx unabhängig von y, d.h. τxz = τxz (x,z).

Beide Annahmen treffen nicht exakt zu. So hat τxz am Rand beliebig geformter Querschnitteimmer die Richtung der Tangente und ist außerdem über y veränderlich. Die mit diesen Annah-men berechnete Schubspannung kann daher nur als „mittlere“ Schubspannung über die Breiteb(z) angesetzt werden.

Zur Berechnung wird ein Balkenelement dx aus dem Balken ausgeschnitten. An einer belie-bigen Stelle z wird ein Teil des Querschnitts mit der Fläche A∗ abgetrennt (siehe Bild 5.24).Im Schnitt tritt die Schubspannung τxz in negative x-Richtung auf, da sie auf der Vorderseite

y

ζ

z b(z)

dx

x

τxz

σx

z

dA

A∗

σ+ ∂σx∂x dx

Bild 5.24: Schnitt durch ein Balkenelement: Gleichgewichtsbetrachtung zur Ermittlung derSchubspannungen

(positives Schnittufer) in die positive z-Richtung zeigt und an der oberen Kante das Prinzip derzugeordneten Schubspannungen gilt. Um nun eine Kräftebilanz aufstellen zu können müssenim Falle der konstanten (� dx) Schubspannungen die Spannungen mit den entsprechenden Flä-chen multipliziert und im Falle der veränderlichen Normalspannungen über die Fläche integriert

Page 98: Mechanik 2

90 5 Balkenbiegung

werden. Dies ergibt das Gleichgewicht

−τxz (x,z)b(z)dx−ZA∗

σx (x,z)dA+ZA∗

(σx (x,z)+

∂σx (x,z)∂x

dx)

dA = 0 (5.75)

oder umgeformt

τxz (x,z)b(z) =ZA∗

∂σx (x,z)∂x

dA . (5.76)

Aus dem vorherigen Kapitel ist bekannt, das gilt (gerade Biegung)

σx (x,ζ) =My (x)

Iyζ

dMy (x)dx

= Qz (x)

mit ζ als Abstand zur y-Achse (siehe Bild 5.24). Damit erhält man

τxz (x,z)b(z) =Qz (x)

Iy

ZA∗

ζdA, (5.77)

da Qz über den Querschnitt konstant ist. Das Integral auf der rechten Seite ist das statischeMoment S∗y , aber nur der Teilfläche A∗ des Querschnitts bezüglich der y-Achse

S∗y (z) =ZA∗

ζdA. (5.78)

Einsetzen in (5.77) resultiert in die Formel für die Schubspannung im Querschnitt

τxz (x,z) =Qz (x)S∗y (z)

Iyb(z). (5.79)

BEISPIEL 5.5.1 : Schubspannung im Rechteckquerschnitt

Gegeben ist ein durch Qz belasteter Rechteckquerschnitt mit den Abmessungen konstante Breiteb und Höhe h (siehe Bild 5.25). Gesucht sind die Schubspannungen.

Die Fläche ist A = b ·h und das Flächenmoment 2. Grades Iy = bh3

12 . Das statische Moment einerTeilfläche von der Koordinate z bis zum Ende ist (siehe Bild 5.25)

S∗y (z) =

h2Z

z

ζ bdζ =b2

ζ2∣∣∣ h

2

z=

bh2

8

(1− 4z2

h2

).

Damit ergibt sich

Page 99: Mechanik 2

5.5 Schubspannung im Biegebalken 91

y

z

b

h2

dA = b dζ

z

x τmaxxz = 3

2QzA

Bild 5.25: Schubspannungen im Rechteckquerschnitt: Geometrie und Spannungsverteilung

τxz (x,z) =Qz (x)

8bh2

bh312b

(1−4

z2

h2

)=

32

Qz (x)A

(1−4

z2

h2

).

Danach ist τxz eine quadratische Parabel über die Höhe. Die maximale Spannung τmaxxz = 3

2QzA

tritt bei z = 0 auf und ist um die Hälfte größer als die mittlere Schubspannung τxz = QzA . Am

oberen und unteren Rand (z =±h2 ) wird die Schubspannung Null. Dies hat seine Ursache darin,

dass der Balken am oberen und unteren Rand nicht in Balkenlängsachse belastet ist. Demnachmüssen sowohl am Rand als auch im dazu senkrechten Querschnitt (direkt an der Kante) dieSchubspannungen verschwinden. ♣

Anmerkung:

1. Wegen γxz = τxzG ist die Winkeländerung in gleicher Weise wie die Schubspannung

über die Querschnittsfläche veränderlich. Das bedeutet, dass ursprünglich ebene Quer-schnitte bei der Deformation des Balkens nicht eben bleiben, sondern sich verwölben.Die Bernoulli’sche Hypothese ist daher nur eine erste Näherung und die Winkelände-rung w′+ ψ eines Balkenelements muss als mittlere Winkelverzerrung angesetzt wer-den.

2. Die Schubspannungen τxz (x,z) sind sowohl im Balkenquerschnitt als auch in demzur z-Achse senkrechtem Schnitt in Balkenlängsrichtung wirksam. Dies wird deut-lich, wenn man zwei glatte Träger übereinander legt und belastet. Bei der Durch-biegung verschieben sich die Träger in der Berührungsfläche gegeneinander (sieheBild 5.26). Verbindet man z.B. durch Kleben die beiden Teile zu einem einzigen Bal-

Bild 5.26: Darstellung der Schubkräfte in einem zweilagigen Balken

ken, so wird die gegenseitige Verschiebung verhindert. Dafür treten in der Verbin-dungsfläche Schubspannungen auf, die vom Kleber übertragen werden müssen (sieheBild 5.26).

Page 100: Mechanik 2

92 5 Balkenbiegung

5.5.2 Schub in dünnwandigen offenen Querschnitten

Die im vorigen Abschnitt hergeleitete Formel zur Berechnung des Schubs im Vollquerschnittunterliegt großen Vereinfachungen, so dass sie nur als grobe Näherung angesehen werden kann.Eine genauere Berechnung ist jedoch sehr viel aufwendiger. Bei dünnwandigen offenen Quer-schnitten treffen die getroffenen Annahmen sehr viel besser zu, so dass dort diese Formel (mitgeringfügigen Modifikationen) sehr gut angewandt werden kann. Es muss auch angemerkt wer-den, dass beim Vollquerschnitt der Schub nur minimal zur Belastung des Balkens beiträgt, imGegensatz zum offenen dünnwandigen Querschnitt.

Wie oben schon erläutert muss wegen der zugeordneten Schubspannungen die Schubspan-nungskoordinate senkrecht zum spannungsfreien Rand (Oberfläche) verschwinden, und daherist nur Schub parallel zum Rand möglich. Beim Vollquerschnitt wurde daraus eine konstanteSchubspannung über den Querschnitt (in y-Richtung) abgeleitet, was eine sehr starke Verein-fachung darstellt. Beim dünnwandigen Profil hingegen ist diese Annahme sehr viel eher ge-rechtfertigt, da sich die Spannungen am Steg nicht sehr stark ändern, d.h. es wird auch hier einMittelwert angenommen.

Dieser ist außer von der Koordinate x von der Stelle im Querschnitt abhängig, an der geradedie Spannung ausgewertet wird (siehe Bild 5.27). Diese Stelle wird durch die Bogenlänge s der

s

y

x

z

τxs(x,s)

σx(x+dx,z)dA

dA = t(s)ds

τxs(x,s) t(s)dx

σx(x,z) dA

dx

Bild 5.27: Dünnwandiger offener Querschnitt: Freischnitt mit allen Kräften in x-Richtung

Wandmittellinie von einem Punkt s = 0 aus angegeben. Dieser Punkt ist üblicherweise ein freiesEnde des Querschnitts. Die Größe

qs = τxs (x,s) t (s) (5.80)

mit der Dicke t (s) des Querschnitts wird als Schubfluss bezeichnet. Er stellt eine in der Quer-schnittsebene x = const wirkende Schubkraft pro Längeneinheit dar. Die selbe Kräftebilanz

Page 101: Mechanik 2

5.5 Schubspannung im Biegebalken 93

am differentiellen Balkenelement dx wie im vorherigen Abschnitt (5.75) ergibt hier (sieheBild 5.27)

τxs (x,s) t (s) =−sZ

0

∂σx (x,s)∂x

t (s)ds . (5.81)

Ein Unterschied ist jedoch anzumerken. Hier wurde nicht über die Fläche A∗ (Teilfläche unter-halb des Schnittes) sondern über die oberhalb der Position s liegenden Fläche integriert. Darausresultiert hier das negative Vorzeichen.

Für die schiefe Biegung in einem Hauptachsensystem ist die Normalspannung (5.73)

σx (x,s) =My (x)

Iyz(s)−Mz (x)

Izy(s) (5.82)

und damit∂σx (x,s)

∂x=

Qz (x)Iy

z(s)+Qy (x)

Izy(s) . (5.83)

Folglich ist die Schubspannung (der Mittelwert) in einem offenen dünnwandigen Querschnitt

τxs (x,s) =−Qz (x)Iy

Sy (s)t (s)

−Qy (x)

Iz

Sz (s)t (s)

(5.84)

mit den statischen Momenten (dA = t (s)ds)

Sy (s) =sZ

0

z(s) t (s)ds Sz (s) =sZ

0

y(s) t (s)ds . (5.85)

Da das Koordinatensystem im Schwerpunkt des Querschnitts liegt, sind die statischen Momentebezogen auf die gesamte Querschnittsfläche identisch Null. Dies kann ausgenutzt werden, umobige statische Momente aus der „Restfläche“ zu berechnen, da gilt

sZ0

z(s) t (s)ds+sEZ

s

z(s) t (s)ds != 0 (5.86a)

sZ0

y(s) t (s)ds+sEZ

s

y(s) t (s)ds != 0 . (5.86b)

Darin ist sE die maximale Bogenlänge, also das Ende des Profils. Bezeichnet man die jeweilszweiten Integrale mit (siehe (5.78))

S∗y (s) =sEZ

s

z(s) t (s)ds S∗z (s) =sEZ

s

y(s) t (s)ds (5.87)

Page 102: Mechanik 2

94 5 Balkenbiegung

dann lautet die Formel für den Schub

τxs (x,s) =Qy (x)

Iz

S∗z (s)t (s)

+Qz (x)

Iy

S∗y (s)t (s)

. (5.88)

Beide Formeln (5.84) und (5.88) sind gleichwertig, und es sollte jeweils die Variante benutztwerden, bei der Sy und Sz oder S∗y und S∗z einfacher zu berechnen sind.

Für den Fall gerader Biegung (Qy (x) = 0) reduziert sich die Formel für den Schub auf

τxs (x,s) =Qz (x)

Iy

S∗y (s)t (s)

, (5.89)

die analog zu der Formel für den Vollquerschnitt (5.79) ist.

Hat man ein Koordinatensystem, das kein Hauptachsensystem ist, so lautet die Darstellung fürden Schub

τxs (x,s) =QyIy−QzIyz

IyIz− I2yz

S∗z (s)t (s)

+QzIz−QyIyz

IyIz− I2yz

S∗y (s)t (s)

. (5.90)

BEISPIEL 5.5.2 : Schubspannung im U-Profil

Es ist ein dünnwandiges U-Profil nach Bild 5.28(a) gegeben. Es soll die Schubspannung infolgeeiner Querkraft Qz bestimmt werden.

a

a

a

t

t

t

xy

z

Qz

(a) Geometrie (a� t)

y

z

s

A

(b) Sy im Flansch

y

z

za− z

(a+z)2

(c) S∗y im Steg

x

z

616

Qt a

616

Qt a

916

Qt a

(d) Schubfluss

Bild 5.28: U-Profil: Geometrie, Teilflächen zur Berechnung der statischen Momente und Schub-spannungsverteilung

Das Flächenträgheitsmoment Iy ergibt sich unter Beachtung von a� t (bei den Flanschen tragennur die Steiner-Glieder bei) zu

Iy ≈t (2a)3

12+2a2 (at) =

83

ta3 .

Page 103: Mechanik 2

5.5 Schubspannung im Biegebalken 95

Das statische Moment der Teilfläche A ist für eine Schnittstelle s im oberen Flansch (Bild 5.28(b))

Sy (s) = (−a)(st) =−ats .

Für eine Schnittstelle z im Steg (Bild 5.28(c)) wird die Formel mit S∗y benutzt

S∗y (z) = a(at)+a+ z

2[(a− z) t] =

t2(3a2− z2) .

Damit folgt die Schubspannung im oberen und entsprechen aus Symmetriegründen auch imunteren Flansch

τxs (x,s) =−3Qz (−ats)8t2a3 =

3Qzs8a2t

→ qs =3Qzs8a2

und im Steg

τxs (x,z) =3Qzt

(3a2− z2)

16t2a3 =3Qz

16ta

(3− z2

a2

)→ qs =

3Qz

16a

(3− z2

a2

).

Die Schubspannungen im oberen Flansch haben den gleichen Betrag wie diejenigen im unterenFlansch. Sie sind jedoch entgegengesetzt gerichtet. Bild 5.28(d) zeigt die Verteilung der Schub-spannungen und den Schubfluss. Die Schubspannung ist in den Flanschen linear und im Stegquadratisch. ♣

5.5.3 Schubmittelpunkt

In den vorherigen Kapiteln wurden die Herleitungen aus den jeweiligen Kräfte- oder Momen-tenbilanzen durchgeführt, wobei allerdings die Momentenbilanz um die x-Achse noch nichtbetrachtet wurde. In diese Bilanz geht das Torsionsmoment als äußere Belastung ein, das bisherzu Null angenommen wurde. Dies soll auch hier gelten. Betrachtet man jedoch das U-Profilunter der Belastung Qz, die im Punkt M angreift, in Bild 5.29 mit dem eingezeichneten Schub-fluss, so erkennt man, dass dieser eigentlich eine Verdrehung des Querschnitts bewirken könnte.Dieser Schubluss ist dem durch die Querkraft erzeugten Moment um die x-Achse äquivalent.Aus der Erfahrung weiß man, dass es Wirkungslinien von Qz gibt, die keine Verdrehung ver-ursachen. Um den oben eingesetzten Schubfluss zu berechnen wurde vorausgesetzt, dass derBalken sich nicht verwindet. Daher kann man die Wirkungslinie durch die Qz gehen muss, da-mit keine Verwindung auftritt, dadurch berechnen, dass das Moment um die x-Achse bezüglicheines willkürlichen Punktes äquivalent zu dem durch den Schubfluss verursachten Moment umden selben Punkt ist.

Für diese Berechnung wird hier der Schwerpunkt als Bezugspunkt gewählt, ohne damit dieAllgemeingültigkeit einzuschränken. Das Moment eines beliebigen Querkraftvektors ist

rSM×Q = (QzyM−QyzM)ez (5.91)

Page 104: Mechanik 2

96 5 Balkenbiegung

y yM

z

xS

t

h

Qz

b

M

Bild 5.29: Schubfluss in einem U-Profil

mit dem Vektor rSM = (xM,yM,0)T vom Schwerpunkt zum Kraftangriffspunkt der Querkraft M.In Bild 5.29 ist der Spezialfall von Qy = 0 dargestellt. Das Moment des Schubflusses bezüglichdes Schwerpunktes muss diesem äquivalent sein, d.h. es gilt

QzyM−QyxM =sEZ

0

t (s)τxs (x,s)r∗ ds . (5.92)

Darin bezeichnet sE die maximale Bogenlänge und r∗ den Abstand einer Position der Laufko-ordinate s zum Schwerpunkt. In einem Hauptachsensystem lautet die Schubspannung

τxs (x,s) =Qy (x)

Iz

S∗z (s)t (s)

+Qz (x)

Iy

S∗y (s)t (s)

, (5.93)

womit nach Koeffizientenvergleich mit (5.92) die Koordinaten des Kraftangriffspunktes M vonQ berechnet werden können, die keine Verdrillung bewirken. Dieser Punkt heißt Schubmittel-punkt und hat die Koordinaten

yM =1Iy

sEZ0

S∗y (s)r∗ ds (5.94a)

zM =−1Iz

sEZ0

S∗z (s)r∗ ds . (5.94b)

Diese Integrale sind je nach Querschnittsform nicht ganz einfach zu berechnen.

Wie aus den obigen Formeln zu erkennen ist, hängt der Schubmittelpunkt nur von der Geometrieab. Dadurch können allgemein gültige Regeln aufgestellt werden.

a) Bei einem einfachen symmetrischen Querschnitten liegt der Schubmittelpunkt auf derSymmetrieachse in einem Abstand zum Schwerpunkt.

Page 105: Mechanik 2

5.5 Schubspannung im Biegebalken 97

b) Bei einem zweifach symmetrischen Querschnitt fallen Schubmittelpunkt und Schwer-punkt zusammen.

c) Bei Winkelprofilen deren Querschnitte aus zwei schmalen Rechtecken bestehen, fällt derSchubmittelpunkt mit dem Schnittpunkt der Mittellinie der beiden Rechtecke zusammen.

Beispiele die diesen allgemeingültigen Regeln entsprechen sind in Bild 5.30 zu finden.

M

SS

MS = M

S = M

M

S

Bild 5.30: Beispiele für Querschnitte mit bekannter Lage des Schubmittelpunkts

BEISPIEL 5.5.3 : Berechnung des Schubmittelpunkts

Für das U-Profil aus Beispiel 5.5.2 soll der Schubmittelpunkt berechnet werden.

y ySyO

M z

xS

t

h

Qz

b

M×O

yS =b2tb2+ht02tb+ht

=b2

2b+h

Iy ≈ 2 b th2

4+

th3

12=

th3

12

(1+

6bh

)

Bild 5.31: U-Profil mit Koordinatensystem im Schwerpunkt und gegebenem Flächenmoment 2.Grades

In Bild 5.31 sind die nötigen Einzelheiten, wie Flächenträgheitsmoment und Lage des Schwer-punkts, zur Berechnung des Schubmittelpunkts nach (5.94) gegeben. In diesem Beispiel gibtes im Prinzip zwei Vorgehensweisen. Einmal kann man die Bilanz aus (5.92) bezüglich desSchwerpunkts auswerten, oder bezüglich des Punktes O auf dem Steg.

Die zweite Variante hat den Vorteil, dass in diesem Fall der Schub im Steg kein Moment besitzt,und daher nicht beachtet werden muss. Weiterhin hat jeder Flansch aus Symmetriegründen den

Page 106: Mechanik 2

98 5 Balkenbiegung

gleichen Einfluss. Die Auswertung ergibt dann

yOM =

2IY

bZ0

(S∗y)Flansch (s)r∗ ds =

2Iy

bZ0

h2

h2

tsds =h2tb2

4Iy=

3b2

h+6b.

In dieser Auswertung muss beachtet werden, dass der Abstand r∗ immer den lotrechten Abstandzur Wirkungslinie der Schubspannung darstellt. Dieser Zusammenhang ist zu erkennen, wennbedacht wird, dass in (5.92) ein Moment berechnet wird. Damit ist klar, dass nur der senkrechteAbstand einbezogen werden darf. Weiterhin ist oben nur der Abstand des Schubmittelpunkts Mvom Bezugspunkt O berechnet worden. Die tatsächliche y-Koordinate ist

yM = yOM + yS .

Bei der alternativen Berechnung bezüglich des Schwerpunkts muss auch der Einfluss des Schubsim Steg beachtet werden. Dies ist

yM =2IY

bZ0

(S∗y (s))Flansch h2

ds+1Iy

hZ0

(S∗y (s))Steg yS ds

=2IY

bZ0

h2

h2

tsds+yS

Iy

hZ0

−h2

tb+ tsZ

0

(z− h

2

)dz

ds

=h2tb2

4Iy+

yS

Iy

h2tb2− t

hZ0

(s2

2− s

2h)

ds

=

h2tb2

4Iy+

yS

Iy

[h2tb

2− t(

h3

6− h3

4

)]=

h2tb2

4Iy+

yS

IyIy = yO

M + yS .

In der Berechnung wurde anstatt (S∗y)Steg der negative Wert von SSteg

y benutzt, da ja beide nach(5.86a) zusammenhängen.

Natürlich führen beide vorgestellte Wege für die Berechnung des Schubmittelpunkts zum glei-chen Resultat. Die z-Koordinate wurde nicht berechnet, da aus Symmetriegründen gilt

zM = 0 .

Page 107: Mechanik 2

6 TORSION GERADER STÄBE

Ein Lastfall für einen Stabes wurde bisher nicht untersucht. Die Belastung des Stabes durchein Moment um die Längsachse, also durch ein Torsionsmoment. Dies bewirkt eine Verdrehungoder Verdrillung.

Im Gegensatz zur Biegung und der Zug/Druckbelastung führt ein variables Torsionsmoment ineinem Stab mit beliebigem Querschnitt auf einen nicht mehr elementar zu berechnenden Zu-stand. Daher wird ähnlich wie bei der reinen Biegung der Fall der reinen Torsion betrachtet.Diese liegt vor, wenn sich der Stab ungehindert verformen kann. Analog zur Situation bei rei-ner Biegung wird bei reiner Torsion in jedem Querschnitt nur ein Torsionsmoment und keineQuerkräfte übertragen. Dieses ist mit den Schubspannungen entsprechend (siehe Kapitel 4.1)

MT =ZA

(−z τxy + y τxz)dA (6.1)

verknüpft. Dabei ist zu beachten, dass in (6.1) die Koordinaten z und y die Abstände zum Schub-mittelpunkt sind. Verschiebt man die Koordinaten des Bezugspunktes, dann ändert sich am Tor-sionsmoment nur dann nichts, wenn keine Querkräfte wirken [5].

Aus der Anschauung ist bekannt, dass die Torsionsbeanspruchung eines Stabes in der Regelauch eine Verschiebungen u der Querschnittspunkte in Richtung der Stabachse bewirkt. Da-durch wird ein ursprünglich ebener Querschnitt zu einer räumlich gekrümmten Fläche verformt.Man spricht von der Verwölbung des Querschnittes. Selbstverständlich treten bei Behinderungdieser Verwölbung, wie es z.B. in einer festen Einspannung der Fall ist, Normalspannungen σxauf. In diesem Fall spricht man von Wölbkrafttorsion. Werden die Verwölbungen nicht be-hindert, z.B. weit genug entfernt von Einspannungen, ist diese Normalspannung σx = 0. DasVerschwinden dieser durch die Torsion hervorgerufenen Normalspannung ist eine der Voraus-setzungen von reiner Torsion.

Die Lösung des Problems der reinen Torsion geht auf SAINT-VENANT zurück, weshalb mandiese auch als Saint-Venant’sche Torsion bezeichnet. Diese wird im folgenden behandelt. DieWölbkrafttorsion wird hier nicht behandelt. Sie ist z.B. in [8] beschrieben.

99

Page 108: Mechanik 2

100 6 Torsion gerader Stäbe

6.1 Reine Torsion nach Saint-Venant

Es wird eine gerade Welle (zylindrischer Stab) der Länge ` mit einem beliebigen Vollquer-schnitt betrachtet. Sie ist durch ein Torsionsmoment MT , also ein Moment um die x-Achsebelastet (siehe Bild 6.1). Es wird angenommen, dass die Verwölbung nicht behindert ist. Dies

x,uy,v

z,w

`

MT

MT

ϕ(x)

Bild 6.1: Reine Torsion einer zylindrischen Welle

setzt voraus, dass das betrachtete Gebiet weit genug von Einspannungen oder ähnlichen Behin-derungen entfernt ist, und dass das Torsionsmoment im Stab konstant ist. Weiterhin wird vonkleinen Verformungen (wie auch schon in den vorherigen Kapiteln) ausgegangen, so dass dieGrundgleichungen der linearen Elastizitätstheorie (siehe Kapitel 3.4) gelten.

Betrachtet man die in Bild 6.1 eingezeichnete strich-punktierte Linie von einem Ende zumanderen, so verdreht sich diese im Allgemeinen zu einer Schraubenlinie. Da jedoch kleine Ver-drehungen vorausgesetzt werden (d.h. ϕ(x)�), bleibt diese Linie eine Gerade. Damit kann derWinkel ϕ(x) an einer beliebigen Stelle x durch die lineare Gleichung

ϕ(x) = ϕ′x (6.2)

dargestellt werden. Dieser Winkel ist der relative Verdrehwinkel zweier Querschnitte im Ab-stand x. Die Verdrehung pro Längeneinheit ϕ′ in (6.2) wird Verwindung oder Verdrillunggenannt und ist bei reiner Torsion konstant entlang der Stabachse.

Zur Berechnung der Schubspannungen im verdrehten Querschnitt müssen zuerst die Verfor-mungen u,v und w eines Punktes bestimmt werden. Die entsprechenden Zusammenhänge derVerformungen v und w mit der Verwindung können Bild 6.2 entnommen werden. Dort ist mitder durchgezogenen Linie der ursprüngliche und mit der strich-punktierten Linie der um ϕ ver-drehte Querschnitt dargestellt. Wird der verdrehte Querschnitt in die y-z-Ebene projiziert (sowie in Bild 6.2), wird er auf Grund der Verwölbung im Allgemeinen eine andere Form als derAusgangsquerschnitt haben. Zur Bestimmung der Verformungen in der Querschnittsebene, wirdexemplarisch der Punkt P betrachtet, der sich nach P′ verformt. Die Koordinaten des Punktes Psind

y = r cosα z = r sinα . (6.3)

Page 109: Mechanik 2

6.1 Reine Torsion nach Saint-Venant 101

ϕ(x)

rϕ(x)

y

zw(x,y,z)

v(x,y,z)

P

P′

τxy

τxz

τxs

Bild 6.2: Verdrehung des Punktes P nach P′ im Querschnitt

Zufolge der Torsionsbeanspruchung dreht sich der Punkt P in den Punkt P′. Die Verschiebungenin der Querschnittsebene sind damit

v(x,y,z) = r cos(α+ϕ(x))− r cosα w(x,y,z) = r sin(α+ϕ(x))− r sinα . (6.4)

Die Summen in den trigonometrischen Funktionen können mit den Additionstheoremen undmit einer Linearisierung bezüglich des Winkels ϕ folgendermaßen umgeformt werden

sin(α+ϕ) = sinαcosϕ+ cosαsinϕ≈ sinα+ϕcosα

cos(α+ϕ) = cosαcosϕ− sinαsinϕ≈ cosα−ϕsinα .(6.5)

Die nächsten Schritte sind das Einsetzen von (6.5) in (6.4) und unter Beachtung des linearenZusammenhangs (6.2) können die Verschiebungen in der Querschnittsfläche durch

v(x,y,z) =−ϕ′xz w(x,y,z) = ϕ

′xy (6.6)

bestimmt werden. Zur Formulierung der Schubspannungen werden die Verzerrungen benötigt.Diese können nach (3.41) mit den Verschiebungen aus (6.6) teilweise berechnet werden. Diesergibt

εy =∂v∂y

= 0 εz =∂w∂z

= 0 εyz =12

(∂v∂z

+∂w∂y

)=

12(−ϕ′x+ϕ

′x)

= 0 . (6.7)

Folglich entstehen bei Torsion in den Stabquerschnitten keine Verzerrungen. Weiterhin folgtaus den verschwindenden Verzerrungen (6.7) und der Bedingung dass keine Normalspannungσx existiert aus dem Hooke’schen Gesetz (3.43)

εx = 0 =∂u∂x

⇒ u = u(y,z) . (6.8)

Page 110: Mechanik 2

102 6 Torsion gerader Stäbe

Dies bedeutet, dass bei reiner Torsion die Verwölbung u unabhängig von der x-Koordinate ist.Somit verwölbt sich jeder Querschnitt gleich. Dies erscheint auch sinnvoll, wenn beachtet wird,dass bei reiner Torsion keine Wölbbehinderung erlaubt ist und das Torsionsmoment konstantist. Damit kann für u folgender Ansatz getroffen werden

u(y,z) = ϕ′ψ(y,z) . (6.9)

Die Funktion ψ(y,z) bezeichnet man als Wölbfunktion. Durch Einsetzen von (6.4) und (6.9)in die Beziehungen für die beiden noch verbleibenden, von Null verschiedenen, Verzerrungs-komponenten εxy und εxz und Eintragen der Ergebnisse in das Hooke’sche Gesetz (3.43) erhältman die Schubspannungen

τxy = 2Gεxy = G(

∂u∂y

+∂v∂x

)= Gϕ

′(

∂ψ

∂y− z)

τxz = 2Gεxz = G(

∂u∂z

+∂w∂x

)= Gϕ

′(

∂ψ

∂z+ y)

.

(6.10)

Einsetzen von σx = 0 zusammen mit den Schubspannungen aus (6.10) in die Gleichung fürdie x-Komponente des Gleichgewichts (3.42) resultiert in eine LAPLACE’sche Differentialglei-chung für die Wölbfunktion

∂2ψ

∂y2 +∂2ψ

∂z2 = ∆ψ = 0 . (6.11)

Um zur Gleichung (6.11) zu kommen wurde noch die Symmetrie des Spannungstensors be-nutzt und beachtet, dass keine Volumenkräfte fx wirken. Das Formelzeichen ∆ ist eine üblicheBezeichnung für den Laplace-Operator.

Zu der Laplace’sche Differentialgleichung gehören noch entsprechende Randbedingungen, diejedoch umständlich zu formulieren sind, da diese meistens für die Spannungen vorliegen, undnicht für die Verschiebung. Daher wird meistens ein anderer Weg beschritten. Es wird eineSpannungsfunktion, die so-genannten PRANDTL’schen Torsionsfunktion φ(y,z), eingeführt.Diese kann folgendermaßen definiert werden

τxy = Gϕ′∂φ

∂zτxz =−Gϕ

′∂φ

∂y. (6.12)

Durch Einsetzen der Schubspannungen aus (6.12) in die x-Komponente des Gleichgewichts(3.42) und unter Beachtung von σx = 0 und fx = 0 kann kontrolliert werden, dass die Funktionenin (6.12) das Gleichgewicht in Stablängsrichtung erfüllen. Werden die Spannungsfunktionenaus (6.12) in die Gleichungen (6.10) eingesetzt, führt dies auf den Zusammenhang

∂φ

∂z=

∂ψ

∂y− z

∂φ

∂y=−∂ψ

∂z− y (6.13)

zwischen der Wölbfunktion ψ und der Spannungsfunktion φ. Partielle Differentiation der erstender beiden Gleichungen aus (6.13) nach z und der zweiten nach y mit anschließender Additionder erhaltenen Ausdrücke liefert

∂2φ

∂y2 +∂2φ

∂z2 = ∆φ =−2 . (6.14)

Page 111: Mechanik 2

6.1 Reine Torsion nach Saint-Venant 103

Die Prandtl’sche Torsionsfunktion genügt damit der POISSON’schen Differentialgleichung.

Zur Lösung dieser Randwertaufgabe für φ müssen noch Randbedingungen vorgegeben wer-den. Da an der Oberfläche des Stabes keine Spannungen wirken, kann die Schubspannung amRand des Querschnitts nur tangential verlaufen. D.h. es können keine radiale Schubspannungenauftreten auf Grund der zugeordneten Schubspannungen an der Staboberfläche. Die Schub-spannung am Rand des Querschnitts ist in Bild 6.2 eingezeichnet und mit τxs bezeichnet. DieseKomponente des Spannungstensors kann in zwei Richtungen τxy und τxz entsprechend Bild 6.2zerlegt werden. Da τxs über den Tangens des von τxy und τxs eingeschlossenen Winkels ver-knüpft ist, gilt der Zusammenhang

τxz

τxy=

dzdy

⇒ τxz dy− τxy dz = 0 . (6.15)

Diese Bedingung gilt nur auf dem Rand und ist die gesuchte Randbedingung für φ. Setzt mandie Definition der Spannungsfunktion φ (6.12) in (6.15) ein, so erhält man die Randbedingung

∂φ

∂ydy+

∂φ

∂zdz = dφ = 0 . (6.16)

Auf dem Rand muss daher φ(y,z) = const. gelten. Da zur Bestimmung der Schubspannungennur die Ableitungen von φ von Bedeutung sind, kann φ beispielsweise gleich Null gesetzt wer-den1.

Bei bekannter Spannungsfunktion φ kann über die Definition (6.12) das Torsionsmoment nach(6.1) angegeben werden

MT =−Gϕ′ZA

(y

∂φ

∂y+ z

∂φ

∂z

)dA =−Gϕ

′ZA

[∂

∂y(yφ)+

∂z(zφ)

]dA+2Gϕ

′ZA

φdA . (6.17)

Die Umformung in (6.17) ist die Anwendung der Produktregel. Für Vollquerschnitte wurdeoben gezeigt, dass die Torsionsfunktion am Rande verschwindet. Das erste Integral in (6.17)kann formal mit dem Gauß’schen Integralsatz auf den Rand transformiert werden. Exemplarischfür das in Bild 6.2 benutzte Koordinatensystem gilt die folgende Umformung

−ZA

[∂

∂y(yφ)+

∂z(zφ)

]dA =−

zmaxZzmin

[yφ]ymax(z)ymin(z)

dz−ymaxZ

ymin

[zφ]zmax(y)zmin(y)

dy = 0 . (6.18)

Dies zeigt, dass dieses Integral verschwindet, wobei für den allgemeinen Nachweis der Gauß’scheIntegralsatz benutzt wird. Damit gilt für Vollquerschnitte längs deren Rand φ = 0 gesetzt wird

MT = Gϕ′ 2

ZA

φdA . (6.19)

1Bei Querschnitten mit mehreren Hohlräumen darf der konstante Wert von φ nur auf einem Rand frei gewähltwerden, also z.B. gleich Null gesetzt werden. Auf den anderen Rändern ergeben sich dann bestimmte konstanteWerte von φ.

Page 112: Mechanik 2

104 6 Torsion gerader Stäbe

Das verbleibende Integral

IT = 2ZA

φdA (6.20)

wird Torsionsträgheitsmoment genannt, und ist wie alle Momente 2. Ordnung eine rein geo-metrische Größe, also nur von der Querschnittsgeometrie abhängig. Somit kann die Verdrillungeines Stabes belastet mit einem konstanten Torsionsmoment mit

ϕ′ =

MT

GIT(6.21)

berechnet werden. Die Größe GIT heißt Torsionssteifigkeit oder Drillsteifigkeit 2. Sie spieltdie selbe Rolle wie EIy bei der Biegung oder EA beim Zug/Druckstab.

Betrachtet man (6.17) so kann das Torsionsträgheitsmoment auch aus

IT =−ZA

(y

∂φ

∂y+ z

∂φ

∂z

)dA =

ZA

(y2 + z2 + y

∂ψ

∂z− z

∂ψ

∂y

)dA = IP +

ZA

(y

∂ψ

∂z− z

∂ψ

∂y

)dA

(6.22)berechnet werden. Für die letzte Umformung wurde der Zusammenhang (6.13) zwischen derWölbfunktion ψ und der Spannungsfunktion φ benutzt. Weiterhin erkennt man den Zusammen-hang zum polaren Flächenmoment 2. Grades IP.

Aus der Lösung φ(y,z) können die Verdrillung ϕ′ und die Schubspannungen berechnet werden.Exakte Lösungen sind nur für den Kreis, die Ellipse, das gleichseitige Dreieck, das Rechteckund einige andere Querschnitte bekannt. In Tabelle 6.1 sind die Torsionsträgheitsmomente füreinige Querschnitte zusammengestellt. Für beliebige Querschnitte muss auf numerische Hilfs-mittel wie Finite- oder Randelementmethode zurückgegriffen werden. Für die Anschauung istdie so-genannte Prandtl’sche Membrananalogie sehr hilfreich [8]. Diese begründet sich darin,dass eine vorgespannte Membran (wie eine Seifenhaut) durch die gleiche mathematische Glei-chung beschrieben wird, wie die Torsionsfunktion.

6.2 Die kreiszylindrische Welle

Für eine kreiszylindrische Welle mit Radius R kann die Torsionsfunktion analytisch angegebenwerden. Es existiert auch eine Herleitung ohne die Einführung einer Torsions- oder Wölbfunk-tion, da (wie noch gezeigt wird) sich eine rotationssymmetrische Welle nicht verwölbt. DieseHerleitung ist in [7] zu finden. Hier soll jedoch der Weg über die Torsionsfunktion präsentiertwerden, um das prinzipielle Vorgehen exemplarisch aufzuzeigen.

Die gesuchten Torsionsfunktionen werden in der Regel „erraten“, und dann wird gezeigt, dasssie alle Bedingungen erfüllt. Die Kreisgleichung y2 +z2 = R2 mit dem Radius R der Welle muss

2In der Baustatik wird die Bezeichnung GID = GIT benutzt

Page 113: Mechanik 2

6.2 Die kreiszylindrische Welle 105

auf dem Querschnittsrand erfüllt sein. Dadurch wird der Ansatz für die Torsionsfunktion

φ(y,z) = C(y2 + z2−R2)= C

(r2−R2) , (6.23)

mit einer noch zu bestimmenden Konstanten C und dem Radius r2 = y2 + z2 gemacht. DieserAnsatz erfüllt die Randbedingung φ(r = R) = 0 auf dem Rand des Kreises. Die Konstante Cwird nun so bestimmt, dass φ auch die Poisson’schen Differentialgleichung (6.14) erfüllt, d.h.

∆φ(y,z) = 4C =−2 ⇒ C =−12

⇒ φ(y,z) =12(R2− r2) . (6.24)

Mit dieser Torsionsfunktion kann nun das Torsionsträgheitsmoment nach (6.20) bestimmt wer-den

IT = 2ZA

φdA =RZ

0

2πZ0

(R2− r2)r dαdr = 2π

[R2 r2

2− r4

4

]R

0=

πR4

2. (6.25)

Damit können über die Definition der Torsionsfunktion (6.12) die Schubspannungen

τxy =−Gϕ′z τxz = Gϕ

′y ⇒ τxs =√

τ2xy + τ2

xz = Gϕ′r =

MT

ITr (6.26)

berechnet werden. τxs bezeichnet darin die tangentiale Schubspannung und die letzte Umfor-mung folgt aus (6.21). In Bild 6.3 ist der Spannungsverlauf schematisch dargestellt. Der größte

τmax

R

Bild 6.3: Verlauf der tangentialen Schubspannungen über den Querschnitt bei Torsion

Wert tritt am Rand r = R auf mit τmax = MTIT

R. In Analogie zur Biegung wird ein Torsionswi-derstandsmoment WT eingeführt

WT =IT

R τmax =

MT

WT. (6.27)

Mit dem Torsionsträgheitsmoment (6.25) kann über (6.21) die Verdrillung ϕ′ berechnet werden.Daraus folgt durch Integration die Endverdrehung ϕ` mit

ϕ` =`Z

0

ϕ′

dx =MT `

GIT. (6.28)

Page 114: Mechanik 2

106 6 Torsion gerader Stäbe

Es verbleibt noch die Verwölbung aus der Wölbfunktion zu berechnen. Nach Gleichung (6.13)ist die Wölbfunktion

∂ψ

∂y=

∂φ

∂z+ z =−z+ z = 0

∂ψ

∂z=−∂φ

∂y− y = y− y = 0 , (6.29)

d.h. die Verwölbung des Querschnittes ψ(y,z) ist konstant. Damit ist nach (6.9) auch die Ver-schiebung aus der Querschnittsebene heraus konstant. Diese Konstante wäre eine translatorischeStarrkörperverschiebung des ganzen Stabes, welche zu Null gesetzt werden kann. Dies ist dierechnerische Bestätigung der Anschauung, dass ein rotationssymmetrischer Querschnitt sichauf Grund der Rotationssymmetrie nicht verwölben kann. Daher kann bei solchen Querschnit-ten auch keine Wölbbehinderung auftreten, und die obigen Formeln gelten auch in der Nähe derEinspannung. Weiterhin zeigt dieses Ergebnis, dass bei wölbfreien Querschnitten nach (6.22)das Torsionsträgheitsmoment IT gleich dem polaren Flächenmoment IP ist.

Ebenfalls rotationsymmetrische Querschnitte sind Kreisringquerschnitte. Für diese können auchanalytische Formeln für IT und WT angegeben werden. Für ein Rohr mit Außenradius Ra undInnenradius Ri gilt

IT =π

2(R4

a−R4i)

WT =π

2R4

a−R4i

Ra. (6.30)

Bei dünnwandigen Kreisringquerschnitten erhält man mit der Wanddicke t = Ra−Ri und demmittleren Radius Rm = Ra+Ri

2

IT ≈ 2 π R3m t WT = 2 π R2

m t . (6.31)

Bei rotationssymmetrischen Querschnitten kann noch eine weitere Annahme der reinen Tor-sion fallen gelassen werden. Das Torsionsmoment kann entlang der Stabachse kontinuierlichveränderlich sein, d.h. es greift längs des Stabes ein verteiltes Torsionsmoment mT (x) an (sieheBild 6.4(a)). Aus dem Momentengleichgewicht an einem Stabelement (siehe Bild 6.4(b)) folgt

x

mT (x)

(a) Verteiltes Moment

mTdx

MT MT +dMT

(b) Momentenbilanz

Bild 6.4: Stab belastet mit einem verteilten Torsionsmoment

die Beziehung

dMT (x)+mT (x)dx = 0 oderdMT (x)

dx= M′T (x) =−mT (x) . (6.32)

Page 115: Mechanik 2

6.2 Die kreiszylindrische Welle 107

Kombiniert man (6.32) mit der Formel für die Verdrehung des Stabes (6.21) erhält man dieDifferentialgleichung 2. Ordnung für die Torsion(

G IT (x)ϕ′ (x))′ =−mT (x) . (6.33)

Weiterhin wurde in (6.33) ein schwach veränderlicher Querschnitt erlaubt, was auf ein von derx-Koordinate abhängiges IT (x) führt. Bei der Integration von (6.33) treten zwei Integrations-konstanten auf, die an die Randbedingungen angepasst werden. Z.B. ist bei einer starren Ein-spannung ϕ = 0 und an einem freien Ende gilt MT = 0. Ein Vergleich der Differentialgleichungmit der Gleichung (4.13) von Zug/Druck (EAu′)′ = −n zeigt die Analogie zwischen Zug undTorsion.

BEISPIEL 6.2.1 : Kreisförmiger eingespannter Stab mit Torsionsmoment

Ein einseitig eingespannter homogener Stab mit kreisförmigem Querschnitt (Radius R) wird anden Stellen B bzw. C durch die Torsionsmomente M0 bzw. M1 belastet (siehe Bild 6.5(a)).

(a) Wie groß muss M1 bei gegebenem M0 gewählt werden, damit der Verdrehwinkel am Stab-ende C Null wird?

(b) Wie groß ist die maximale Schubspannung, und wo tritt sie auf?

xM0 M1

GIT

23` 1

3`

(a) Problemstellung

x

MT

+13M0

−23M0

(b) Resultierendes Torsionsmoment

Bild 6.5: Fest eingespannter Torsionsstab

(a) Im Bereich 0 ≤ x ≤ 13` wirkt das Torsionsmoment M0 + M1, im Bereich 1

3` ≤ x ≤ ` wirktnur noch M1. Der Verdrehwinkel ϕ(x = `) am Ende folgt durch Superposition der Verdrehungenbeider Wellenteile nach (6.28) zu

ϕ(x = `) =M0 +M1

GIT

23`+

M1

GIT

`

3=

`

3GIT(2M0 +3M1) .

Dieser Winkel wird zu Null, wenn die Bedingung

M1 =−23

M0 .

Page 116: Mechanik 2

108 6 Torsion gerader Stäbe

erfüllt ist. In Bild 6.5(b) ist der zugehörige Momentenverlauf aufgetragen.

(b) Die größte Schubspannung tritt in den Querschnitten auf, in denen das größte Torsionsmo-ment wirkt. Nach Bild 6.5(b) erfährt der Stab im Bereich 1

3`≤ x≤ ` seine größte Beanspruchung

|MT |max =23

M0 .

Damit ist mit (6.27) die größte Schubspannung

τmax =|MT |max

WT=

23

M0

WT.

Mit dem Torsionswiderstandsmoment WT = πR3

2 für die Kreiswelle (siehe Tabelle 6.1) erhältman daraus

τmax =43

M0

πR3 .

6.3 Dünnwandige geschlossene Profile

Die Torsion dünnwandiger geschlossener Profile ist in der Praxis durchaus relevant, z.B. für Ka-stenträger im Brückenbau. Die Torsionsfunktion für beliebige Hohlquerschnitte kann zwar nichtexakt angegeben werden, es können aber durch geeignete Annahmen über die Spannungsver-teilung brauchbare Näherungsformeln gefunden werden. Im Folgenden werden diese für ein-zellige Hohlquerschnitte vorgestellt, wobei die Annahme der reinen Torsion auch hier erfülltsein sollen. Im Speziellen bedeutet dies, dass ein konstantes Torsionsmoment MT wirkt und dieAbmessungen des dünnwandigen geschlossenen Profils längs x unverändert bleiben.

Längs des Umfangs wird die Bogenlänge s als Koordinate eingeführt (siehe Bild 6.6). Die

dxdst (s)

τxs MT

s

xProfilmittellinie

Bild 6.6: Stab mit dünnwandigem geschlossenen Profil unter Einwirkung eines Torsionsmo-ment

Page 117: Mechanik 2

6.3 Dünnwandige geschlossene Profile 109

Wandstärke t(s) kann entlang des Umfangs veränderlich sein. Wie schon beim Schub auf Grundvon Querkraft diskutiert, muss die Schubspannung an den Querschnittsrändern tangential ver-laufen. Weiterhin erscheint es sinnvoll anzunehmen, dass die Schubspannung τxs auch am inne-ren Rand des Profils die gleiche Richtung hat und über die Wanddicke konstant ist. Damit zeigtder Schubfluss qs (x,s) = τxs (x,s) t (s) in Richtung der Tangente an die Profilmittellinie. DieseMittellinie ist die Kurve, die in jedem Punkt des Querschnitts die Wanddicke t (s) halbiert.

Es wird nun ein differentielles rechteckiges Element mit den Seitenlängen dx und ds aus demHohlzylinder herausgeschnitten (siehe Bild 6.7 und 6.6). An der Schnittstelle x wirkt der Schub-

dx

ds qs

qs

qs + ∂qs∂s ds

qs + ∂qs∂x dx

Bild 6.7: Differentielles Element zur Gleichgewichtsbetrachtung in x-und s-Richtung

fluss qs und an den benachbarten Schnittstelle x+dx wirkt qs + ∂qs∂x dx. Da in Umfangsrichtung

(s-Richtung) keine Normalspannungen auftreten, liefert das Gleichgewicht in diese Richtung(qs (x,s)+

∂qs (x,s)∂x

dx)

ds−qs (x,s)ds = 0 → ∂qs (x,s)∂x

= 0 . (6.34)

Der Schubfluss ist also längs der x-Richtung konstant. Nimmt man an, dass die Verwölbungdes Querschnitts nicht behindert ist (Torsion ohne Wölbbehinderung), dann treten auch entlangder Stabachse (x-Richtung) keine Normalspannungen auf. Damit lautet das Gleichgewicht inx-Richtung(

qs (x,s)+∂qs (x,s)

∂sds)

dx−qs (x,s)dx = 0 → ∂qs (x,s)∂s

= 0 . (6.35)

Damit ist der Schubfluss qs an jeder Stelle s des Querschnitts gleich groß, d.h. es gilt

qs = τxs (s) t (s) = const. (6.36)

Zu (6.36) muss angemerkt werden, dass zwar qs = const. ist, aber die Dicke t (s) in Umfangs-richtung veränderlich sein kann, und damit auch die Schubspannung. Diese verhält sich umge-kehrt proportional zur Dicke.

Es fehlt nun der Zusammenhang zwischen dem Torsionsmoment und der Schubspannung, re-spektive dem Schubfluss. Das differentielle Torsionsmoment ist

dMT = rOS×qs ds (6.37)

Page 118: Mechanik 2

110 6 Torsion gerader Stäbe

���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������

���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������

r∗r

qs

Am

ds

Bild 6.8: Querschnitt mit Fläche Am

bezogen auf einen Punkt O. Da die Vektoren rso und qs in der y-z-Ebene liegen, entspricht derVektor MT dem Moment um die x-Achse. Der Betrag des Kreuzproduktes ist r ·qs, wobei r densenkrechten Abstand zur Wirkungslinie von qs bezeichnet. In Bild 6.8 ist dies dargestellt, wo-bei der Abstand vom Bezugspunkt zum Angriffspunkt des Schubflusses mit r∗ gekennzeichnetwurde. Das insgesamt durch den Schubfluss übertragene Torsionsmoment ist damit

MT =I

dMT = qs

Ir ds . (6.38)

Das IntegralzeichenH

kennzeichnet ein Umlaufintegral, d.h. es muss von einem beliebigenStartpunkt s = 0 aus, einmal um das Profil herum integriert werden. Im Bild 6.8 ist zu erkennen,dass r ds (= Höhe × Grundlinie) der doppelte Flächeninhalt des Dreiecks (schraffierte Flächein Bild 6.8) r ds = 2dAm ist. Damit ist das UmlaufintegralI

r ds = 2 Am , (6.39)

mit der von der Profilmittellinie eingeschlossenen Fläche Am. Diese ist in Bild 6.8 gelb (grau)hinterlegt. Sie darf nicht mit dem materiellen Querschnitt A =

Ht ds verwechselt werden. Das

Integral (6.39) eingesetzt in (6.38) führt auf das Torsionsmoment

MT = 2 Am qs , (6.40)

woraus die Schubspannung

τxs (s) =MT

2 Am t (s)(6.41)

folgt. Diese Beziehung wird erste Bredt’sche Formel genannt.

Offensichtlich tritt also die größte Schubspannung an der Stelle mit der kleinsten Wanddicketmin auf, d.h. es gilt τmax = MT

2 Am tmin. In Analogie zum vorherigen Abschnitt kann ein Torsions-

widerstandsmoment WT eingeführt werden. Damit ist die maximale Schubspannung infolgeTorsion

τmax =MT

WTmit WT = 2 Am tmin . (6.42)

Page 119: Mechanik 2

6.3 Dünnwandige geschlossene Profile 111

Beim dünnwandigen Kreisrohr mit einem mittleren Radius Rm ist Am = πR2m und damit erhält

man für WT bei konstanter Wandstärke t das gleiche Resultat wie in (6.31).

Im Gegensatz zur Kreiswelle treten bei der Torsion von Hohlquerschnitten Verschiebungen derPunkte im Querschnitt in x-Richtung auf, d.h. der Querschnitt verwölbt sich. Diese Verwölbungsoll sich unbehindert einstellen können (reine Torsion). Die in (6.6) und (6.9) gegebenen Ver-schiebungen gelten auch für dünnwandige Hohlquerschnitte. Es erweist sich jedoch als sinnvolldie Verschiebung im Querschnitt in eine tangentiale, also in s-Richtung zeigende, Verschiebungv umzuformen. Dies ergibt mit r2 = y2 + z2

v(x,y,z) = ϕ′xr u(y,z) = ϕ

′ψ(y,z) . (6.43)

Die Schubverzerrung in tangentiale Richtung ist εxs = 12

(∂v∂x + ∂u

∂s

). Mit dem Hooke’schen Ge-

setz τxs = 2 G εxs gilt damit analog zu (6.10)

τxs = G(

∂v∂x

+∂u∂s

)= Gϕ

′(

r +∂ψ

∂s

). (6.44)

In dieser Gleichung steckt noch die unbekannte Wölbfunktion ψ. Um sie zu eliminieren wird(6.44) einmal über den gesamten Umfang integriertI

τxs ds =Gϕ′(I

r ds+I

∂ψ

∂sds)

=Gϕ′ (2Am +ψ(s = sende)−ψ(s = 0)) .

(6.45)

In (6.45) wurde (6.39) benutzt um das erste Integral auszuwerten. Weiterhin gilt bei einem ge-schlossenen Querschnitt, dass der Anfangspunkt s = 0 und Endpunkt s = sende zusammenfallen,und damit auch die Wölbfunktion gleich ist. Ersetzt man in (6.45) die Schubspannung durch dasTorsionsmoment MT entsprechend (6.41), dann erhält man die zweite Bredt’sche Formel

ϕ′ =

MT

G IT(6.46)

mit dem Torsionsträgheitsmoment

IT =(2 Am)2H ds

t

. (6.47)

Mit (6.46) kann die Verdrillung ϕ′ eines Stabes mit dünnwandigem Hohlquerschnitt in gleicherWeise wie bei der Kreiswelle ermittelt werden, wenn man nur für IT das zugehörige Torsi-onsträgheitsmoment (6.47) einsetzt. Insbesondere berechnet sich die gegenseitige Verdrehungzweier Querschnitte im Abstand ` zu

ϕ` =MT

G IT` . (6.48)

Page 120: Mechanik 2

112 6 Torsion gerader Stäbe

Für den Sonderfall t = const folgt mit dem Profilumfang U =H

ds das Torsionsträgheitsmoment

IT =(2 Am)2 · t

U. (6.49)

Vergleicht man diese Formel für einen Kreisringquerschnitt mit U = 2πRm und Am = πR2m, also

IT =

(2πR2

m)2 t

2πRm= 2πR3

mt (6.50)

mit der Formel (6.31) aus dem Abschnitt zu den kreiszylindrischen Wellen, so erkennt man dieÜbereinstimmung.

Als letzten Schritt kann die Verwölbung und daraus die Verschiebung in Stablängsrichtung be-rechnet werden. Dazu wird Gleichung (6.45) benutzt, aber die Integration verläuft nicht überden gesamten Umfang, sondern nur bis zu dem Punkt s an dem die Verwölbung bestimmt wer-den soll. Mit Einbeziehung des Torsionsmomentes anstatt der Schubspannung ist dies

MT

2Am

sZ0

dst (s)

= Gϕ′

sZ0

r ds+sZ

0

. (6.51)

Führt man die Integration im letzten Integral in (6.51) aus und sortiert um, so erhält man dieVerwölbung

ψ(s) = ψ(s = 0)+MT

2AmGϕ′

sZ0

dst (s)−

sZ0

r ds

= ψ(s = 0)+qs

Gϕ′

sZ0

dst (s)−

sZ0

r ds .

(6.52)

Da die Integrationskonstante von der Wahl des Anfangspunktes s = 0 abhängt, sollte dafür eineStelle mit bekannter Verwölbung gesucht werden. Die Verschiebung in Längsrichtung ist damitnach (6.9)

u(s) = ϕ′ψ(s = 0)+

qs

G

sZ0

dst (s)−ϕ

′sZ

0

r ds . (6.53)

BEISPIEL 6.3.1 : Verdrehung und Verwölbung eines Kastenträgers

Es wird ein dünnwandiger Kastenträger mit rechteckigem Querschnitt nach Bild 6.9 betrachtet.Die Abmessungen sind Breite b, Höhe h und die Breite der Stege ist tb und th. Es soll die Ver-windung ϕ′ und die Verschiebung in Stablängsrichtung u auf Grund eines TorsionsmomentesMT berechnet werden.

Page 121: Mechanik 2

6.3 Dünnwandige geschlossene Profile 113

b

hth

tb

th

tbA B

CD

0s1

s2

Bild 6.9: Kastenträger: Geometrieangaben und Bezeichnung der Integrationsvariablen

Die von der Mittellinie eingeschlossene Fläche ist Am = b ·h. Damit kann nach (6.47) das Tor-sionsträgheitsmoment

IT =(2Am)2H ds

t

=4b2h2

2(

btb

+ hth

)berechnet werden. Dies führt mit der zweiten Bredt’schen Formel (6.46) auf die Verwindung

ϕ′ =

MT

GIT=

MT

2Gb2h2

(btb

+hth

).

Benutzt man anstatt dem Torsionsmoment den Schubfluss

qs =MT

2Am=

MT

2bh

dann lautet die Verwindung

ϕ′ =

2bhqs

2b2h2G

(btb

+hth

)=

qs

Gbh

(btb

+hth

).

Die Berechnung der Verschiebung u erfolgt mit Hilfe der Formel (6.53). Dafür wird ϕ′ in (6.53)eingesetzt, dann die Integration in der Mitte der Seite

____DA (siehe Bild 6.9) begonnen und dort

ψ = 0 aus Symmetriegründen angenommen. Mit dem Bezugspunkt O in der Mitte des Recht-ecks erhält man längs des Steges mit r = b

2 die Verschiebung

u1 =qs

G

s1Z0

ds1

th− qs

Gbh

(btb

+hth

) s1ZO

b2

ds1 =qs

G

[1th− 1

2h

(btb

+hth

)]s1 .

Die Verschiebung verläuft hiernach linear mit s1. Speziell in der Ecke A gilt mit s1 = h2

uA =qs

4G

(hth− b

tb

).

Page 122: Mechanik 2

114 6 Torsion gerader Stäbe

Zur Berechnung der Verschiebung im Untergurt wird die Laufvariable s2 benutzt. In der Eckebei A, d.h. s2 = 0 muss u2 = uA sein. Dies ist die Integrationskonstante ψϕ′ aus Formel (6.53).Damit ist die Verwölbung im Untergurt

___AB

u2 = uA +qs

G

s2Z0

ds2

tb− qs

Gbh

(btb

+hth

) s2Z0

h2

ds2 = uA +qs

G

[1tb− 1

2b

(btb

+hth

)]s2 ,

und speziell in der Ecke B

uB = u2(s2 = b) = uA +qs

2G

[2btb− b

tb− h

th

]=− qs

4G

(hth− b

tb

)=−uA .

Analoge Rechnungen führen auf

uC = uA und uD = uB .

In Bild 6.10 ist die Verschiebung, die zur Verwölbung proportional ist, aufgetragen. Die Ver-

u(s)

uA uB

uC

uD

Bild 6.10: Verwölbung eines Kastenträgers

wölbung verschwindet für hth

= btb

. Bei konstanter Wanddicke tb = th folgt hieraus h = b, d.h.ein dünnwandiger quadratischer Kastenträger verwölbt sich nicht. Ausdrücklich sei darauf hin-gewiesen, dass dies nicht für einen quadratischen Vollquerschnitt gilt. ♣

6.4 Dünnwandige offene Profile

In der Praxis sind häufig T-,L-,U- oder Z-Profile im Einsatz. Diese können aus schmalen Recht-ecken zusammengesetzt werden. Unter der Voraussetzung von reiner Torsion können für Profi-le mit abschnittsweiser konstanter Wandstärke gute Näherungslösungen angegeben werden. ImFolgenden soll nicht die Torsionsfunktion angegeben werden, sondern mit Hilfe der Bredt’schenFormeln eine Lösung gefunden werden. Die Torsionsfunktion ist z.B. in [8] zu finden.

Page 123: Mechanik 2

6.4 Dünnwandige offene Profile 115

t

hy

z

(a) Hohlquerschnitt

dy

τ

Am

y

z

τ0τxs (y)

(b) Schubspannungsverteilung

Bild 6.11: Modellvorstellung zur Berechnung der Torsion in dünnwandigen offenen Quer-schnitten

Ein schmales Rechteck kann gedanklich in einzelne dünnwandige Hohlquerschnitte aufgeteiltwerden, wie dies in Bild 6.11(a) in Grau dargestellt ist. Es kann angenommen werden, dass dieSchubspannung (die in jedem Hohlquerschnitt konstant ist) von der Mitte aus linear mit y biszum Randwert τ anwächst (siehe Bild 6.11(b))

τxs (y) = τ0yt2

. (6.54)

Nun wird auf jeden einzelnen Hohlquerschnitt der Dicke dy die Bredt’sche Formel (6.41) an-gewandt. Als mittlere Fläche Am (y) wird in guter Näherung Am (y) = 2yh angenommen, wobeikleine Abweichungen durch das „Umleiten“ des Schubflusses am oberen und unteren Ende desRechtecks entstehen. Mit dem Schubfluss dqs = τxs (y)dy überträgt daher ein Hohlquerschnittnach (6.40) das Torsionsmoment

dMT = 2Am dqs = 8τ0

thy2 dy . (6.55)

Durch Integration über den ganzen Querschnitt folgt

MT =

t2Z

0

dMT = 8τ0

th

t2Z

0

y2 dy =13

τ0ht2 . (6.56)

Entsprechend der Annahme für die Schubspannung (6.54) tritt die maximale Schubspannungτmax = τ0 am Rand des Rechtecks bei y = t

2 auf. Damit kann in Anlehnung an vorherige Defini-

Page 124: Mechanik 2

116 6 Torsion gerader Stäbe

tionen auch hier ein Torsionswiderstandsmoment WT für schlanke Rechtecke definiert werden

τmax =MT

WTmit WT =

13

ht2 . (6.57)

Das Torsionsträgheitsmoment kann durch eine analoge Rechnung aus (6.47) hergeleitet werdenzu

d IT =4(2yh)2

2 hdy

= 8hy2 dy ⇒ IT =

t2Z

0

d IT =13

ht3 . (6.58)

Die obige Herleitung gilt nur für ein schmales Rechteck. Setzt man nun ein Profil aus n Recht-ecken zusammen, so erhält man in Erweiterung von (6.58)

IT ≈13

n

∑i=1

hit3i , (6.59)

wobei über alle Teilrechtecke mit den Längen hi und den Dicken ti zu summieren ist. Ohne aufdie Herleitung einzugehen, sei ergänzend angemerkt, dass gilt

WT ≈13

n∑

i=1hit3

i

tmax. (6.60)

Die größte Schubspannung tritt damit in dem Teil mit der größten Wanddicke auf. Falls imQuerschnitt Teile mit gekrümmter Mittellinie vorkommen (z.B. Halbkreisprofile), so kann mandiese Flächen näherungsweise als abgewickelte Rechtecke betrachten.

Weitere Torsionsträgheits- und Widerstandsmomente für einfache Querschnitte sind in Tabel-le 6.1 zu finden.

Torsionsträgheits- und Widerstandsmomente für einfache Querschnitte sind in Tabelle 6.1 zufinden.

Querschnitt WT IT Bemerkung

Vollkreis

Rr πR3

2πR4

2größte Schubspannung am Randr = R

Ellipse

ba

πab2

2πa3b3

a2 +b2größte Schubspannung in denEndpunkten der kleinen Achse

Tabelle 6.1: Grundformeln zur Torsion

Page 125: Mechanik 2

6.4 Dünnwandige offene Profile 117

Querschnitt WT IT Bemerkung

Quadrat

a

a 0,208a3 0,141a4 größte Schubspannung amRand, in der Mitte der Seiten

Dickwandiges Kreisrohr

RiRa

α = RiRa

πR3a

2(1−α4) πR4

a2(1−α4) größte Schubspannung am äuße-

ren Rand Ra

dï¿12nnwandige geschlos-

sene Querschnitte

tmin 2Amtmin(2Am)2H ds

t

Am ist die von der Profilmit-tellinie eingeschlossene Fläche.H ds

t ist das Linienintegral längsder Profilmittellinie. Schubflussqs = MT

2Am= const. Größte Schub-

spannung an der Stelle der klein-sten Wanddicke tmin

dï¿12nnwandiges Kreisrohr

t =const

Rm

t2πR2

mt 2πR3mt

schmales Rechteck t� h

h

t

13

ht2 13

ht3

Tabelle 6.1: Grundformeln zur Torsion

Page 126: Mechanik 2

118 6 Torsion gerader Stäbe

Querschnitt WT IT Bemerkung

aus schmalen Rechteckenzusammengesetzte Profile

h1

t1 h2

t2

≈ 13

∑hit3i

tmax≈ 1

3 ∑hit3i

größte Schubspannung imQuerschnittsteil mit der größtenWanddicke tmax

Tabelle 6.1: Grundformeln zur Torsion

BEISPIEL 6.4.1 : Vergleich dünnwandiges geschlitztes und geschlossenes Rohr

Es wird ein dünnwandiges offenes (geschlitztes) und ein dünnwandiges geschlossenes Rohrnach Bild 6.12 betrachtet. Wie unterscheiden sich die maximalen Spannungen und die End-verdrehungen, wenn die beiden Rohre dieselbe Länge haben, aus gleichem Material bestehenund dasselbe Moment übertragen sollen?

t

Rm

(a) Geschlossenes Rohr

t

Rm

(b) Geschlitztes Rohr

Bild 6.12: Dünnwandiges geschlitztes und geschlossenes Rohr: Abmessungen

Im Folgenden wird für das geschlossene Rohr der Index g und für das offene Rohr der Index obenutzt. Aus Tabelle 6.1 kann das Torsionsträgheits- und das Widerstandsmoment mit

ITg = 2πR3mt WTg = 2πR2

mt

abgelesen werden. Für das geschlitzte Rohr müssen die Formeln für offene Querschnitte benutztwerden. Mit der Länge h = 2πRm des zum Rechteck abgewickelten Kreisrings folgt aus (6.57)

Page 127: Mechanik 2

6.4 Dünnwandige offene Profile 119

und (6.58)

ITo =13

t32πRm WTg =13

t22πRm .

Ein Vergleich beider Fälle ergibt für das Verhältnis der maximalen Schubspannungen

τmaxg

τmaxo

=WTo

WTg

=13t22πRm

2πR2mt

=13

tRm

und für das Verhältnis der Endverdrehungen

ϕg

ϕo=

ITo

ITg

=13t32πRm

2πR3mt

=13

(t

Rm

)2

.

Das Ergebnis zeigt, dass die Spannungen beim geschlossenen Profil im Verhältnis tRm

und die

Verdrehungen sogar im Verhältnis(

tRm

)2kleiner sind als beim offenen Profil. Man sollte daher

nach Möglichkeit bei Belastung durch Torsion geschlossene Profile verwenden. ♣

Page 128: Mechanik 2

120 6 Torsion gerader Stäbe

Page 129: Mechanik 2

7 ÜBERLAGERUNG VON BELASTUNGSFÄLLEN –VERGLEICHSSPANNUNGEN

In den vorherigen Kapiteln wurden Bauteile unter ganz speziellen Lastfällen betrachtet. In derRealität treten jedoch meistens Kombinationen dieser Lastfälle auf. Da hier eine lineare Theoriebehandelt wird, bereitet dies keine Schwierigkeiten und es können die Einzelergebnisse einfachsuperponiert werden. Dies wird im Folgenden beispielhaft aufgezeigt.

Es ist offensichtlich, dass diese Superposition auf mehrdimensionale Spannungszustände führt.Um diese beurteilen zu können, respektive Aussagen zu treffen ob das Bauteil hält, müssendie mehrdimensionalen Spannungszustände mit meist eindimensionalen Werkstoffkennwertenverglichen werden. Dazu werden so-genannte Vergleichsspannungen oder Anstrengungshy-pothesen eingeführt.

7.1 Überlagerung von Belastungsfällen

Wie oben schon ausgeführt werden stabförmige Bauteile meistens durch eine Kombination ausLängskraft, Biegung oder Torsion belastet. Die Anwendung des Superpositionsprinzips erlaubteine Bestimmung der jeweiligen Spannungszustände durch Überlagerung der Einzelergebnisse.

7.1.1 Längskraft und Biegemoment

Der Stab in Bild 7.1(a) wird durch eine Längskraft F und durch die Biegemomente My und Mzbelastet. Die Normalspannung F

A infolge der Längskraft überlagert sich mit der Normalspan-nung der schiefen Biegung (5.70). Eine Faser an der Stelle (y,z) unterliegt dabei der Spannung

σx (y,z) =FA

+1

IyIz− I2yz· [(MyIz +MyIyz)z− (MzIy +MyIyz)y] . (7.1)

In einem Hauptachsensystem x′,y′,z′ lautet die Spannung entsprechend

σx′(y′,z′

)=

FA

+M′yIy′

z′−Mz′

Iz′y′ . (7.2)

121

Page 130: Mechanik 2

122 7 Überlagerung von Belastungsfällen – Vergleichsspannungen

xy

zF

My

Mz(a) Allgemeine Last

R

xy

z(b) Belastung durch Resultierende

Bild 7.1: Stab belastet durch eine Zugkraft und schiefe Biegung

Wie bei der schiefen Biegung existiert auch hier eine Spannungsnullinie auf der σx = 0 ist. Siehat die Geradengleichung

z =MzIy +MyIyz

MyIz +MzIyzy−

F(IyIz− I2

yz)

A(MyIz +MzIyz)(7.3)

oder im Hauptachsensystem

z′ =Mz′

My′

Iy′

Iz′y′−

F Iy′

A My′. (7.4)

Man erkennt, dass eine Änderung der Größe F eine Parallelverschiebung der Spannungsnullinieverursacht.

Schneidet die Spannungsnullinie den Querschnitt nicht (d.h. die Spannungsnullinie verläuft au-ßerhalb des Querschnitts oder berührt ihn nur), dann wirken auf den Querschnitt nur Spannun-gen gleichen Vorzeichens. Es gibt dann entweder nur Zug- oder nur Druckspannungen.

Die Belastung durch F,My und Mz kann ersetzt werden durch eine äquivalente Belastung, beider nur eine Kraft der Größe R angreift, diese aber mit einer anderen (auch versetzten) Wir-kungslinie als F (siehe Bild 7.1(b)). D.h. der Kraftangriffspunkt verschiebt sich. Man bezeichnetjenen Bereich des Querschnitts als Kern eines Querschnitts, in dem dieser Kraftangriffspunktder äquivalenten Belastung R liegen muss, damit der Querschnitt nur durch Spannungen glei-chen Vorzeichens beansprucht wird (siehe Bild 7.2). Die Kenntnis des Kerns ist besonders beiBaustoffen, die eine sehr geringe Zugfestigkeit aufweisen wichtig. Dies gilt z.B. für Mauerwerkoder unbewehrten Beton. Die Kenntnis des Kerns ist auch für Fundamentsohlen von großer Be-deutung, da dort überhaupt keine Zugkräfte übertragen werden können. Die Begrenzung derKernfläche stellt den geometrischen Ort aller Kraftangriffspunkte dar, denen Spannungsnullini-en entsprechen, die den Querschnitt zumindest in einem Punkt berühren, nicht aber schneiden.

Page 131: Mechanik 2

7.1 Überlagerung von Belastungsfällen 123

b

hh3

b3

y

z

Bild 7.2: Kernfläche eines Rechteckquerschnitts

7.1.2 Schub und Biegung

In einem Stab mit Vollquerschnitt der durch eine Querkraft Qz belastet wird, treten im Quer-schnitt an der Stelle x Normal- und Schubspannungen auf. Dies resultiert in den Spannungsten-sor

σσσ =

σx 0 τxz

0 0 0

τxz 0 0

(7.5)

mit den Komponenten

σx (x,y) =My

Iyz τxz (x,z) =

Qz S∗yb Iy

.

Anmerkung:

Weitere in der Praxis vorkommende Überlagerungen sind z.B. :

• Biegung und Torsion

• Längskraft und Torsion

Bei der Überlagerung werden häufig weitere Annahmen zu treffen sein, wie z.B. dass bei Tor-sion eine Wölbbehinderung nicht vorliegt.

Page 132: Mechanik 2

124 7 Überlagerung von Belastungsfällen – Vergleichsspannungen

7.2 Vergleichsspannungen

Im Abschnitt 3.1 wurde das Verhalten von Werkstoffen bei einaxialer Zug- bzw. Druckbean-spruchung beschrieben. Dabei wurden unter anderem die Begriffe Fließgrenze σF und Bruch-festigkeit σB erläutert. Der Fließgrenze kommt bei zähen Materialien große Bedeutung zu. DieBruchfestigkeit spielt sowohl bei spröden als auch bei zähen Werkstoffen dann eine entschei-dende Rolle, wenn die Tragfähigkeit einer Konstruktion zu beurteilen ist. Bei der Klassifikationeines Materials als zäh oder spröd sind auch der Temperaturzustand und die Art der Belastungzu berücksichtigen. Einerseits können sich Materialien, die üblicherweise als zäh eingestuftwerden, unter bestimmten Beanspruchungen spröd verhalten. Andererseits können Werkstoffe,die normalerweise als spröd klassifiziert werden, bei bestimmten Beanspruchungen ein hohesMaß an Zähigkeit aufweisen.

Im Gegensatz etwa zur einaxialen Beanspruchung im Messbereich von Probestäben treten invielen Tragkonstruktionen des Bauwesens und Maschinenbaus zumindest in einzelnen Berei-chen zwei- bzw. dreiaxiale Spannungszustände auf. Gegebenenfalls ist somit zu prüfen, ob einsolcher Spannungszustand in einem bestimmten Punkt einer Tragkonstruktion Fließen bzw.Bruch des Materials bewirkt. Dabei ist zu beachten, dass oftmals nur Werkstoffkennwerte auseinaxialen Versuchen zur Verfügung stehen. Deshalb muss man sich mit so-genannten Hypo-thesen der Vergleichsspannungen behelfen. Gemeinsames Merkmal dieser Hypothesen ist derVergleich des mechanischen Zustandes im betreffenden Körperpunkt mit dem mechanischenZustand bei Fließ- bzw. Brucheintritt in einem Probestab, der durch einaxialen Zug oder Druckbeansprucht ist. Zur Durchführung dieses Vergleichs benötigt man eine geeignete mechanischeKenngröße. Sie stellt das Kennzeichen der betreffenden Vergleichsspannung dar. Ein solcherVergleich lässt sich auf den Vergleich einer Spannung σV mit der Fießgrenze σF oder der Bruch-festigkeit σB bei einaxialer Zug- bzw. Druckbeanspruchung zurückführen. Je nachdem, ob σVmit σF oder σB verglichen wird, spricht man von einer Fließ- oder einer Bruchhypothese. DieBemessung des Bauteils erfolgt dann entsprechend

σV ≤ σzul , (7.6)

wobei σzul durch die jeweilige Problemstellung vorgegeben ist.

7.2.1 Fließkriterien

Im Folgenden werden zwei gebräuchliche Fließkriterien angegeben, die mit nur einem Werk-stoffkennwert auskommen.

Fließhypothese nach TRESCA Experimente haben gezeigt, dass bei metallischen Werkstof-fen der Fließeintritt nahezu unabhängig vom hydrostatischen Anteil der Spannungen ist. Fließenwird durch das Gleiten der Metallkristalle längs bestimmter Ebenen hervorgerufen. Das legt die

Page 133: Mechanik 2

7.2 Vergleichsspannungen 125

Annahme nahe, dass für den Fließeintritt in einem Körperpunkt die größte Schubspannung indiesem Punkt maßgebend ist. Diese Annahme bildet die Grundlage der Fließhypothese nachTRESCA. Sie wird deshalb auch als Hypothese der maximalen Schubspannungen bezeich-net.

In Kapitel 2.3.2 werden die Hauptnormalspannungen der Größe nach geordnet, so dass giltσ(1) ≥ σ(2) ≥ σ(3). Damit ist die maximale Schubspannung

τmax =12

(1)−σ(3))

. (7.7)

Kennzeichnend für die Fließhypothese nach TRESCA ist der Vergleich dieses Ausdrucks mitdem Ausdruck für τmax bei einaxialem Zug bzw. Druck bei Eintritt des Fließens. Die dabeiauftretende größte Schubspannung erhält man aus (7.7) für σ(1) = σF und σ(3) = 0 zu

τmax =12

σF . (7.8)

Unter der Voraussetzung, dass der Betrag der Fließgrenze für einaxiale Zugbeanspruchungengleich dem Betrag für einaxiale Druckbeanspruchungen ist, ergibt sich eine mit (7.8) identischeBeziehung für einaxiale Druckbeanspruchung, wenn man in (7.7) σ(1) = 0 und σ(3) = −σFsetzt.

Gleichsetzen der Ausdrücke (7.7) und (7.8) im Sinne des erwähnten Vergleichs führt auf dieFließbedingung nach TRESCA

σ(1)−σ

(3) = σF . (7.9)

Mit σ(1) = σmax und σ(3) = σmin, wobei σmax die größte und σmin die kleinste Hauptnormal-spannung bezeichnet, lässt sich (7.9) zu

σmax−σmin = σF (7.10)

anschreiben. Gleichung (7.10) repräsentiert einen mechanischen Sachverhalt. Als solcher wirder durch die Zuordnung von σmax bzw. σmin zu einer bestimmten Hauptnormalspannungsachseoffensichtlich nicht beeinflusst. Entsprechend der Fließbedingung nach TRESCA tritt Fließenalso dann ein, wenn die Differenz zwischen größter und kleinster Hauptnormalspannung denWert der Fließgrenze bei einaxialer Zugbeanspruchung erreicht. Aus (7.10) folgt die Definitionder Vergleichsspannung σV für die Fließhypothese nach TRESCA zu

σV = σmax−σmin , (7.11)

Es kann gezeigt werden, dass die Addition eines hydrostatischen Spannungszustandes zu demdurch σ(1),σ(2),σ(3) gekennzeichneten Spannungszustand keine Änderung der Hauptschub-spannungen ergibt. Entsprechend der Fließhypothese nach TRESCA hängt demnach der Fließ-eintritt nicht vom hydrostatischen Anteil des Spannungstensors ab.

Page 134: Mechanik 2

126 7 Überlagerung von Belastungsfällen – Vergleichsspannungen

Als Hauptspannungsraum bezeichnet man den durch die Hauptnormalspannungen σ(1),σ(2)

und σ(3) aufgespannten Raum, in dem jeder Punkt einem Spannungszustand entspricht. Derhydrostatische Spannungszustand wird durch die Raumdiagonale gekennzeichnet, und die dazusenkrechten Ebenen sind entsprechend deviatorische Spannungsebenen. Gleichung (7.9) be-schreibt ebenfalls eine Ebene im Hauptspannungsraum (siehe Bild 7.3). Da diese Beziehung

σ(1)

σ(2)

σ(3)

σ(1) = σ

(2) = σ(3)

VON MISES

TRESCA

Bild 7.3: Fließfläche nach TRESCA und VON MISES im Hauptspannungsraum

nicht vom hydrostatischen Anteil des Spannungstensors abhängt, ist diese Ebene zur hydrosta-tischen Ebene parallel. Formuliert man die Fließbedingung nach TRESCA gemäß (7.10) für diefünf verbleibenden Möglichkeiten der Zuordnung von σmax und σmin zu den Hauptnormalspan-nungsachsen 1,2,3, dann erhält man fünf weitere zur hydrostatischen Achse parallele Ebenen.Ihre Schnittlinien sind die Kanten eines regelmäßigen sechsseitigen Prismas, welches in Bild 7.3dargestellt ist. Diese konvexe Fläche stellt die Fließfläche dar. Innerhalb der Fließfläche gele-gene Spannungspunkte (σ(1),σ(2),σ(3)) kennzeichnen elastisches Materialverhalten. Auf dieserFläche gelegene Spannungspunkte repräsentieren Spannungszustände, bei denen der Werkstofffließt. Außerhalb der Fließfläche gelegenen Spannungspunkten entsprechen Spannungszustän-de, die der Werkstoff nicht ertragen kann.

Der Schnitt der Fließfläche mit einer beliebigen deviatorischen Ebene ergibt ein regelmäßigesSechseck (siehe Bild 7.4(a)). Für den Sonderfall eines durch σ(3) = 0 gekennzeichneten ebenenSpannungszustandes erhält man die betreffende Fließkurve als Schnittkurve der Fließfläche mitder σ(1)−σ(2)-Ebene (siehe Bild 7.4(b)). Für σ(1) ≥ σ(2) ≥ σ(3) = 0 gilt mit (7.9) die Bedin-gung σ1 = σF . Das ist die Gleichung einer zur σ(2)-Achse parallelen Geraden. Formuliert mandie Fließbedingung nach TRESCA gemäß (7.10), für die verbleibenden fünf Möglichkeiten derZuordnung von σmax und σmin zu den Hauptnormalspannungsachsen 1,2,3, dann erhält mannach Spezialisierung für σ(3) = 0 fünf weitere Geraden in der σ1−σ2-Ebene. Ihre Schnittpunk-te sind die Eckpunkte der Fließkurve. Sie weist die Form eines regelmäßigen Sechsecks auf(siehe Bild 7.4(a)).

Im Spezialfall eines Stabes sind nur noch die Spannungen σ11 = σx,σ12 = τxy,σ13 = τxz un-

Page 135: Mechanik 2

7.2 Vergleichsspannungen 127

σ(1) σ(2)

σ(3)

σ(3)−σ(2) = σF

σ(1)−σ(2) = σF

σ(1)−σ(3) = σFσ(2)−σ(3) = σF

σ(2)−σ(1) = σF

σ(3)−σ(1) = σF

VON MISES

TRESCA

(a) Deviatorische Ebene

σ(1)

σ(2)

− σF√3

√23 σF

√2 σF

σF√3

−σFσF

σF

−σF

(b) Ebener Spannungszustand

Bild 7.4: Fließhypothese nach TRESCA und nach VON MISES in speziellen Ebenen

gleich Null. Für diesen Fall ergibt sich eine Vergleichsspannung

σV =√

σ2x +4τ2 mit τ =

√τ2

xy + τ2xz . (7.12)

Fließhypothese nach VON MISES Diese Fließhypothese beruht auf der Annahme, dass beimetallischen Werkstoffen der gestaltändernde Anteil der spezifischen Verzerrungsenergie U0(siehe Kapitel 8.2) für den Fließeintritt in einem Punkt des Körpers maßgebend ist. Wie inKapitel 2 gezeigt wurde, kann sowohl der Spannungs- als auch der Verzerrungstensor in einendeviatorischen und einen hydrostatischen Anteil zerlegt werden. Damit lautet die spezifischeVerzerrungsenergie

U0 =1

2 K(σm)2︸ ︷︷ ︸

UV0

+1

4GsD

i j sDi j︸ ︷︷ ︸

UG0

. (7.13)

Der erste der beiden Terme auf der rechten Seite von (7.13) entspricht dem volumenändern-den und der zweite dem gestaltändernden Anteil von U0. Die beiden Anteile werden deshalbals spezifische Volumenänderungsenergie UV

0 oder spezifische Gestaltänderungsenergie UG0 be-

zeichnet. Entsprechend der Hypothese nach VON MISES ist für den Fließeintritt die spezifischeGestaltänderungsenergie

UG0 =

14G

sDi j sD

i j (7.14)

maßgebend.

Page 136: Mechanik 2

128 7 Überlagerung von Belastungsfällen – Vergleichsspannungen

Bei einachsigem Zug erhält man beim Fließen den Spannungszustand σ(1) = σF , σ(2) = σ(3) =0. Für diesen Spannungszustand folgen die deviatorischen Hauptnormalspannungen

s(1) = σ(1)−σ

m = σF −13

σF =23

σF

s(2) = σ(2)−σ

m =−13

σF

s(3) = σ(3)−σ

m =−13

σF .

(7.15)

Damit kann die spezifische Gestaltänderungsenergie für diesen Spezialfall berechnet werden

UG0 =

14G

(s(i) s(i)

)=

14G

23

σ2F =

16G

σ2F . (7.16)

Gleichsetzen der Ausdrücke des dreidimensionalen Spannungszustandes (7.14) und des einach-sigen Zuges (7.16) resultiert in die Fließbedingung nach VON MISES

σF =

√32

sDi j sD

i j . (7.17)

Die Vergleichsspannung erhält man dann mit der Definition des Spannungsdeviators zu

σV =1√2

√(σ11−σ22)

2 +(σ22−σ33)2 +(σ33−σ11)

2 +6(σ2

12 +σ223 +σ2

13)

. (7.18)

Im ebenen Spannungszustand fallen alle Spannungen in die x3-Richtung weg woraus folgt

σV =√

σ211−σ11σ22 +σ2

22 +3σ212 . (7.19)

Die weitere Spezialisierung auf einen Stab führt auf

σV =√

σ2 +3τ2 (7.20)

mit σ = σ11 und τ =√

σ212 +σ2

13.

Ebenso wie beim Fließkriterium nach TRESCA hat auch beim Kriterium nach VON MISES derhydrostatische Anteil des Spannungstensors keinen Einfluss. Geometrisch lässt sich die Fließ-bedingung nach VON MISES als Kreisglieder im Hauptspannungsraum interpretieren. Die Er-zeugenden dieser Fließfläche verlaufen parallel zur hydrostatischen Achse (siehe Bild 7.3). Be-achtet man, dass die Norm eines Tensors

||sD||=√

sDi j sD

i j (7.21)

eine Invariante ist, erkennt man dass das Fließkriterium

σF

√23

=√

sDi j sD

i j = ||sD|| (7.22)

Page 137: Mechanik 2

7.2 Vergleichsspannungen 129

besagt, dass alle auf der Fließfläche gelegenen Spannungspunkte denselben Abstand von derhydrostatischen Achse

√2/3σF aufweisen. Damit ist der Schnitt der Fließfläche mit einer be-

liebigen deviatorischen Fläche ein Kreis (siehe Bild 7.4(a)). Da der hydrostatische Anteil desSpannungstensors keinen Einfluss hat, wird aus dem Kreis ein Kreiszylinder im Hauptspan-nungsraum. Dieser ist dem regelmäßigen Sechseck der Fließhypothese nach TRESCA umschrie-ben.

Für den Sonderfall des ebenen Spannungszustandes σ(3) = 0 erhält man in der σ(1)-σ(2)-Ebeneeine Ellipse (siehe Bild 7.4(b)).

Anmerkung:

1. Beide vorgestellten Fließhypothesen setzen die Isotropie des Werkstoffs bei Eintritt desFließens und gleiche Beträge der Fließgrenze für einaxialen Zug oder Druck voraus.

2. Die Schubspannungshypothese nach TRESCA ist konservativer als die nach VON MI-SES.

3. Die Hypothese nach VON MISES wird auch Gestaltänderungsenergiehypothese oderHypothese der Oktaederschubspannungen genannt.

7.2.2 Bruchhypothese - Normalspannungshypothese

Die Bruchhypothese nach RANKINE beruht auf der Annahme, dass für den Eintritt des Bru-ches spröder Werkstoffe die größte Normalspannung maßgebend ist. Deshalb wird sie auch alsHypothese der maximalen Normalspannungen bezeichnet.

Die maximale Normalspannung ist gleich der größten der drei Hauptnormalspannungen, diesist nach Definition σ(1). Folglich ist σ(1) die Vergleichsspannung. Somit ergibt sich die Bruch-bedingung nach RANKINE im Falle von Zugversagen zu

σV = σ(1) = σB , σ

(1) > 0 , (7.23)

mit σB als der einaxialen Zugfestigkeit des Werkstoffs. Für Druckversagen erhält man

σV = |σ(3)|= σD , σ(3) < 0 , (7.24)

mit σD als der einaxialen Druckfestigkeit des Werkstoffs.

Die Bruchhypothese von RANKINE ist zur Feststellung des Zugversagens spröder Werkstof-fe, wie z.B. des Reißens von Beton, gut geeignet. Für den Bruch von Beton bei mehraxialemDruck liefert diese Hypothese hingegen nur eine sehr grobe Abschätzung. Für das Versagendes Werkstoffs ist in diesem Fall nämlich nicht nur die betragsmäßig größte Hauptdruckspan-nung σ(3) maßgebend. Das Versagen des Materials wird vielmehr auch von den beiden anderenHauptnormalspannungen σ(1) und σ(2) beeinflusst.

Page 138: Mechanik 2

130 7 Überlagerung von Belastungsfällen – Vergleichsspannungen

So ist z.B. bei einem ebenen Spannungszustand die Druckfestigkeit von Beton in einer Haupt-normalspannungsrichtung größer als die einaxiale Druckfestigkeit, wenn die zweite von Nullverschiedene Hauptnormalspannung ebenfalls eine Druckspannung ist. Andererseits kann beieinem ebenen Spannungszustand die Druckfestigkeit von Beton in einer Hauptnormalspan-nungsrichtung erheblich kleiner als die einaxiale Druckfestigkeit sein, wenn die zweite vonNull verschiedene Hauptnormalspannung eine Zugspannung ist.

Das Bruchkriterium nach RANKINE kann als Fläche im Hauptspannungsraum dargestellt wer-den. Analog zur Fließfläche bezeichnet man diese Fläche als Bruchfläche. Auf dieser Flä-che gelegene Spannungspunkte repräsentieren Spannungszustände, bei denen das Material zuBruch geht. Gleichung (7.23) definiert eine zur σ(2)-σ(3)-Ebene im Hauptspannungsraum par-allele Ebene. Mit σ(1) = σmax lässt sich (7.23) zu σV = σmax = σB anschreiben. Gemäß derBruchhypothese nach RANKINE tritt Bruch also dann ein, wenn die größte Hauptnormalspan-nung den Wert der Zugfestigkeit bei einaxialer Beanspruchung erreicht. Ordnet man σmax derHauptnormalspannungsachse 2 bzw. 3 zu, dann erhält man mit σ(2) = σF oder σ(3) = σF ei-ne zur σ(1)-σ(3)- oder σ(1)-σ(2)-Ebene parallele Ebene. Die drei erwähnten Ebenen stellen dieZugversagensfläche dar (siehe Bild 7.5(a)). Ihr Schnitt mit einer deviatorischen Ebene ergibtdie dreieckförmige Bruchkurve aus Bild 7.5(b).

σ(1)

σ(2)

σ(3)

σF

σF

σF

σ(1) = σ(2) = σ(3)

(a) Bruchfläche im Hauptspannungsraum

σ(1)σ(2)

σ(3)

(b) Bruchkurve in einer deviatorischen Ebene

Bild 7.5: Bruchhypothese nach RANKINE

Page 139: Mechanik 2

8 ENERGIE-METHODEN IN DER ELASTOSTATIK

In den bisherigen Kapiteln wurden die Verformungen und Spannungen aus den drei wesentli-chen Gleichungen

• den Gleichgewichtsbedingungen, die den Zusammenhang zwischen den äußeren undinneren Kräften (Spannungen, Schnittgrößen) herstellt

• den kinematischen Bedingungen, die den Zusammenhang zwischen den Verzerrungenund Verschiebungen herstellen

• und dem Stoffgesetz (hier nur das Elastizitätsgesetz), dass den Zusammenhang zwischenden Spannungen und Verzerrungen herstellt

berechnet. Dabei konnte für den dreidimensionalen und dem zweidimensionalen Fall praktischkeine Lösung angegeben werden. Nach der Reduktion auf Stäbe und Balken konnten analy-tische Lösungen berechnet werden. Wenn jedoch mehrere Balken oder ein Balken mit vielenFeldern zu betrachten sind, werden die vorgestellten Methoden sehr mühsam.

Dies motiviert die Einführung von anderen Methoden, die effektiver für die gleiche Problem-stellung benutzt werden können. Dafür bieten sich die so-genannten Energie-Methoden an,die auf dem Arbeitssatz beruhen und natürlich zu gleichen Ergebnissen führen, wie die bishergeschilderten Verfahren. Eine einfache Form davon wurde schon in der Statik starrer Körper indem Kapitel Arbeitsprinzipien vorgestellt.

Dies wird hier erweitert. Es ist noch anzumerken, dass dieses Prinzip, oder Abwandlungendavon, als Grundlage für numerische Verfahren (z.B. Finite Element Methode, FEM) benutztwird.

8.1 Das Arbeitsprinzip für einen ideal elastischen Körper

Der Arbeitssatz für einen ideal elastischen Körper lautet

ArbeitssatzEin ideal elastischer Körper befindet sich unter der Wirkung äußerer Kräfte in einer Gleich-gewichtslage, wenn die Arbeit der äußeren Kräfte Wa gleich der im System gespeicherten

131

Page 140: Mechanik 2

132 8 Energie-Methoden in der Elastostatik

Formänderungsenergie U ist, d.h. es gilt dann

Wa = U . (8.1)

Diese Aussage wird häufig als Satz von Clapeyron bezeichnet. Zwei wesentliche Aussagen fürdie Gültigkeit des Satzes in der vorliegenden Form sind

1. die äußeren Kräfte, die die Arbeit Wa bewirken, werden sehr langsam aufgebracht, d.h.dynamische Effekte treten nicht auf,

2. der Körper ist ideal elastisch, d.h. es gilt das Hooke’sche Gesetz.

Der Arbeitssatz ist natürlich auf dynamische Systeme oder Systeme mit inelastischen Stoffge-setzen erweiterbar, jedoch sind dann weitere Arbeitsausdrücke der Bilanz hinzuzufügen. Dissi-pation im Stoffgesetz müsste zum Beispiel in Form einer Verlustarbeit beachtet werden.

Physikalisch gedeutet bedeutet das Arbeitsprinzip, dass in einem elastischen Körper die Ener-gie, die durch die äußeren Kräfte in das System eingebracht wird, in Form der Formänderungs-energie gespeichert ist. Diese kann der Körper bei Entlastung auch wieder vollständig abgeben.

Das Prinzip wird auch gerne als die Gleichheit der Arbeit von äußeren und inneren Kräftendargestellt. Deshalb wird U oft innere Energie genannt. Die Formänderungsenergie mit derinneren Energie gleich zu setzten ist jedoch nur bei elastischen Körpern zulässig. Ein weitererName der Formänderungsenergie wurde in Kapitel 7 benutzt. Dort wurde U als Verzerrungs-energie benannt.

Werden an einem System nun keine tatsächlichen sondern nur virtuelle Verschiebungen oderKräfte angebracht, so erhält man aus dem Arbeitssatz das

Prinzip der virtuellen Arbeit

Ein ideal elastisches System befindet sich unter der Wirkung äußerer Kräfte in einer Gleich-gewichtslage, wenn bei einer virtuellen Verschiebung aus dieser Lage heraus die virtuelleArbeit δWa der äußeren Kräfte gleich der virtuellen Änderung δU der im System gespei-cherten Formänderungsenergie U ist, d.h.

δWa = δU . (8.2)

Dieses Prinzip gilt auch, wenn virtuelle Kräfte auf tatsächlichen Verschiebungen Arbeit leisten.Im Falle der Formulierung mit virtuellen Verschiebungen nennt man es auch Prinzip der vir-tuellen Verschiebungen(Verrückungen) (PvV) und im Falle von virtuellen Kräften Prinzipder virtuellen Kräfte (PvK).

Page 141: Mechanik 2

8.2 Formänderungsenergie eines Systems aus Hooke’schem Werkstoff 133

Der in der Statik starrer Körper behandelte Spezialfall des Prinzips der virtuellen Verrückungenist in der Formel (8.2) mit einbezogen, da für starre Körper gilt

δU = 0 δWa = 0 . (8.3)

Virtuell bedeutet im obigem Zusammenhang, dass diese Verschiebungen oder Kräfte möglichsind, d.h. mit den Bedingungen des Systems vereinbar, aber nicht tatsächlich auftreten. Daherwird das Variationssymbol δ gewählt und nicht ein Differential d.

8.2 Formänderungsenergie eines Systems aus Hooke’schem Werkstoff

Die Formänderungsenergie ist im Prinzip die Arbeit, welche die Spannungen und damit dieinneren Kräfte leisten. Da Arbeit aber das Integral über Kraft × Weg ist, muss man sich nochGedanken über den Weg machen. An jedem Punkt im Kontinuum bewirken die SpannungenVerzerrungen. Deren Produkt mit den Spannungen ergibt die Arbeit.

Dies soll an einem elastischen Zugstab veranschaulicht werden. Es wird ein einseitig fest ein-gespannter Stab der Länge `, der auf der anderen Seite durch die Kraft F belastet ist, betrachtet.Diese Kraft wird von Null bis zum Endwert F langsam gesteigert. Dabei verformt sich dasbelastete Stabende um die Verschiebung u, und erzeugt die Arbeit

RF du. Es wird in diesem

Beispiel davon ausgegangen, dass die Kraft und damit die Auslenkung in Richtung der Stabach-se erfolgt. Aus dem Kapitel 4 über den Zug/Druckstab ist bekannt, dass die Kraft F proportionalzur Auslenkung ist, d.h. F = EA/`u. Damit kann die Arbeit

Wa =uZ

0

F du =uZ

0

EA`

udu =EA`

u2

2=

12

Fu , (8.4)

berechnet werden. Eine graphisch Interpretation dieser Arbeit ist in Bild 8.1 zu finden. Die

F

uu

Bild 8.1: Kraft-Verformungskurve beim Zugstab: Arbeit Wa entspricht der schraffierten Fläche

Arbeit Wa der Kraft F entspricht der Fläche unter der Kraft-Verformungskurve. Für den Zugstabmit dem linearen Zusammenhang zwischen Kraft und Verformung ist dies die Fläche einesDreiecks wie in Bild 8.1 dargestellt.

Page 142: Mechanik 2

134 8 Energie-Methoden in der Elastostatik

Die Arbeit der inneren Kräfte, also die Formänderungsenergie ist ebenso berechenbar. Dabeileisten dann die Schnittgrößen, die den Spannungen äquivalent sind, Arbeit auf den Verformun-gen. Es kann also die Formänderungsenergie U berechnet werden über

U =uZ

0

N du =εZ

0

σ A `dε =εZ

0

E ε A `dε = E A `ε2

2=

12

σ ε A ` . (8.5)

In dieser Umformung wurde das eindimensionale Hooke’sche Gesetz (3.2) und die Definitionder Normalspannung aus (4.10) für eine über den Querschnitt konstante Normalspannung N =σ A eingebracht.

Aus dieser Vorüberlegung am Stab kann die allgemeine Darstellung der Formänderungsenergieangegeben werden. Sie ist definiert als

U =12

ZV

σi j εi j dV . (8.6)

In diesem Energieausdruck wird durch das Tensorprodukt sichergestellt, dass immer nur dieVerformungsanteile von εi j in Richtung der Spannung σi j benützt werden. Mit V ist das Volu-men des betrachteten Körpers bezeichnet.

Andere Darstellungen der Formänderungsenergie im Falle eines linear elastischen Materialver-haltens, d.h. es gilt das Hooke’sche Gesetz, sind zu finden, wenn man entweder die Spannungendurch die Verzerrung ausdrückt

U =12

ZV

εi j Ci jk` εk` dV (8.7)

oder umgedreht die Verzerrungen durch die Spannungen

U =12

ZV

σi j Si jk` σk` dV . (8.8)

Setzt man in der Formänderungsenergie U aus (8.6) für die Spannung und Verzerrung jeweilsdie Zerlegung in deviatorischen und hydrostatischen Anteil ein, so erhält man die schon ausKapitel 7 bekannte Darstellung

U =1

2 K

ZV

(σm)2 dV +1

4 G

ZV

sDi j sD

i j dV . (8.9)

Aus dieser Darstellung ist zu erkennen, dass U immer positiv ist. Sobald irgendwelche Span-nungen im Körper auftreten ist U auch ungleich Null. Diese Aussage gilt jedoch nur für einSystem mit isotropen Hooke’schem Werkstoffgesetz. Im Folgenden sollen die Formänderungs-energien für die in den vorherigen Kapiteln eingeführten Stäbe oder Balken unter den jeweiligenBelastungen angegeben werden.

Page 143: Mechanik 2

8.2 Formänderungsenergie eines Systems aus Hooke’schem Werkstoff 135

8.2.1 Formänderungsenergie des Zugstabes

Betrachtet wird ein Stab der Länge `, der die von der Längskoordinate x abhängige Quer-schnittsfläche A(x) besitzt. Auch die Längskraft N (x) soll von der Längskoordinate x abhän-gen, wie das z.B. in einer Säule unter Eigengewicht der Fall ist. Es gilt der ZusammenhangdV = A(x)dx. Schneidet man aus dem Stab ein Stück dx heraus, so wirkt dort der Spannungs-zustand (siehe (4.10))

σ11 =N (x)A(x)

σ22 = σ33 = σ12 = σ13 = σ23 = 0 . (8.10)

Eingesetzt ergibt dies die Formänderungsenergie des Zugstabes

U =1

2 E

`Z0

N2 (x)A2 (x)

A(x)dx =1

2 E

`Z0

N2 (x)A(x)

dx =E2

`Z0

A(

dudx

)2

dx . (8.11)

Im letzten Ausdruck wurden anstatt der Normalkräfte die Verschiebungen in Längsrichtungeingesetzt. Der Spezialfall einer konstanten Normalkraft N und Querschnittsfläche A resultiertin eine Formänderungsenergie

U =N2`

2EA. (8.12)

8.2.2 Formänderungsenergie des Torsionsstabes

Es wird ein gerader Stab mit der Längskoordinate x mit einem variablen Kreis- oder Kreis-ringquerschnitt betrachtet. Er hat das polare Flächenmoment IP (x) (TorsionsträgheitsmomentIT (x)). Das Torsionsmoment ist MT (x). Das Volumenelement dV kann für ein infinitesimalesStück des Stabes dx als dV = dAdx dargestellt werden (siehe Bild 8.2). An diesem Element

dx

dA

z

xy

τxs

Bild 8.2: Schubspannung an einem Flächenelement dA

Page 144: Mechanik 2

136 8 Energie-Methoden in der Elastostatik

dA wirken in der Stirnfläche in Umfangsrichtung die Schubspannungen

τxs (x) =MT (x)IT (x)

r . (8.13)

Der Spannungszustand ist damit

σ212 (x)+σ

213 (x) = τ

2xs (x) =

M2T (x)

I2T (x)

r2σ11 = σ22 = σ33 = σ23 = 0 . (8.14)

Damit ist die Formänderungsenergie

U =1

2G

`Z0

ZA(x)

M2T (x)

I2T (x)

r2 dAdx =1

2G

`Z0

M2T (x)

I2T (x)

ZA(x)

r2 dAdx . (8.15)

Das Integral über A(x) entspricht genau der Definition von IT (x). Damit ist die Formänderungs-energie beim Torsionsstab

U =1

2G

`Z0

M2T (x)

IT (x)dx . (8.16)

Für einen dünnwandigen Querschnitt gilt die selbe Formel, nur muss das entsprechende IT ausTabelle 6.1 gewählt werden. Die Herleitung dazu folgt den obigen Schritten.

8.2.3 Formänderungsenergie des Biegebalkens

In einem geraden Stab der Länge ` mit veränderlichem Flächenmoment Iy (x) seien My (x) undQz (x) das Biegemoment bzw. die Querkraft. In dem in Bild 8.3 schraffierten Stabelement mitden Abmessungen dx,dz,b(z) und dem Volumen

dV = b(z)dzdx = dAdx (8.17)

wirkt aufgrund des Biegemoments die Längsspannung

σx (x,z) =My (x)Iy (x)

z . (8.18)

Die Querkraft Qz (x) verursacht Schubspannungen

τxz (x,z) =−Qz (x) Sy (z)Iy (x) b(z)

. (8.19)

Diese Formel gilt nur für Vollquerschnitte. Bei dünnwandigen offenen Querschnitten gilt eineanaloge Formel in der b(z) durch t (s) zu ersetzen ist. Das Folgende gilt dafür sinngemäß.

Page 145: Mechanik 2

8.2 Formänderungsenergie eines Systems aus Hooke’schem Werkstoff 137

dx

y

z

x

dz

b(z)

τxz σx

Bild 8.3: Volumenelement eines Biegebalkens mit den Abmessungen dx und b(z) und denSpannungen σx und τxz.

Da alle anderen Spannungskomponenten verschwinden, kann nun die Formänderungsenergieaufgestellt werden

U =1

2E

`Z0

ZA(x)

M2y (x)

I2y (x)

z2 dAdx+1

2G

`Z0

ZA(x)

Q2z S2

y

I2y b2 dAdx =

=1

2E

`Z0

M2y

I2y

ZA(x)

z2 dAdx+1

2G

`Z0

Q2z (x)

I2y (x)

ZA(x)

S2y (z)

b2 (z)dAdx .

(8.20)

Dort ist wie im vorherigen Abschnitt Iy =R

z2 dA zu identifizieren was aufZA(x)

S2y (z)

b2 (z)b(z)dz =

Z S2y (z)

b(z)dz (8.21)

führt. Es ist zweckmäßig die dimensionslose Querschubzahl

κ−1 (x) =A(x)I2y (x)

Z S2y (z)

b(z)dz (8.22)

einzuführen. Diese Größe wurde schon beim Stoffgesetz für den Biegebalken als Schubkorrek-turfaktor in (5.41) benutzt. Damit nimmt die Formänderungsenergie die Form

U =1

2E

`Z0

M2y (x)

Iy (x)dx+

12G

`Z0

Q2z (x)

κ (x)A(x)dx (8.23)

an.

Page 146: Mechanik 2

138 8 Energie-Methoden in der Elastostatik

BEISPIEL 8.2.1 : Einfluss des Schubanteils auf die Biegung

Es ist entsprechend Bild 8.4 ein Kragträger der Länge ` mit konstantem Rechteckquerschnitt(b×h) gegeben. Es soll die Durchbiegung am freien Ende berechnet werden.

z`

x

F

Iy =bh3

12

Bild 8.4: Kragträger mit konstantem Rechteckquerschnitt

Die Schnittgrößen sind

Qz = F My =−F (`− x)

und damit die Formänderungsenergie

U =1

2E

`Z0

F2 (`− x)2 12bh3 dx+

12G

`Z0

F2

κbhdx =

2F2`3

bh3 E+

F2`

2Gκbh.

Die Arbeit der äußeren Kräfte ist hier

Wa =12

Fw

mit der Durchbiegung w am freien Ende. Der Arbeitssatz ergibt dann

12

Fw =F2`3 2bh3E

+F2`

2Gκbh w =

F`3 4bh3 E

+F`

Gκbh.

Die Durchbiegung setzt sich damit aus einem Biegeanteil und einem Schubanteil zusammen

w =4 F`

E bh

(`2

h2︸︷︷︸Biegung

+E

Gκ 4︸ ︷︷ ︸Schub

).

Vergleicht man beide Anteile, so erkennt man mit `2� h2 (schlanker Balken), dass der Schu-banteil unabhängig vom Korrekturfaktor κ (beim Rechteck κ = 5

6 ) einen vernachlässigbarenAnteil liefert. ♣

Page 147: Mechanik 2

8.2 Formänderungsenergie eines Systems aus Hooke’schem Werkstoff 139

Das Beispiel 8.2.1 zeigt, dass man bei schlanken Balken in guter Näherung mit der Formände-rungsenergie

U =1

2E

`Z0

M2y (x)

Iy (x)dx (8.24)

rechnen kann.

Im Zusammenhang mit Normalspannungen muss abschließend noch die Formänderungsenergiefür den Fall berechnet werden, dass Zug und Biegung überlagert werden. In diesem Fall ist dieNormalspannung

σx (x,z) =N (x)A(x)

+My (x)Iy (x)

z (8.25)

und damit die Formänderungsenergie

U =1

2E

`Z0

ZA(x)

(N (x)A(x)

+My (x)Iy (x)

z)2

dAdx =

=1

2E

`Z0

N2 (x)A(x)

dx+1

2E

`Z0

M2y (x)

Iy (x)dx+

1E

`Z0

ZA(x)

N (x)My (x)A(x) Iy (x)

zdAdx .

(8.26)

Der letzte Ausdruck liefert keinen Beitrag, daR

zdA = 0 ist. Die Formänderungsenergie ist alsodie Summe der Formänderungsenergien der Einzelbelastungen Zug und Biegung.

U =1

2E

`Z0

N2 (x)A(x)

dx+1

2E

`Z0

M2y (x)

Iy (x)dx . (8.27)

BEISPIEL 8.2.2 : Abgewinkelter Kragträger

Ein abgewinkelter Balken trägt am freien Ende eine Last F (siehe Bild 8.5(a)). Beide Teile desBalkens haben unterschiedliche Biegesteifigkeiten EIy1 und EIy2. Wie groß ist die Absenkung fdes Kraftangriffspunktes?

Der Winkel wird in den Teilen ¬ und ­ auf Biegung und in ­ außerdem auf Torsion bean-sprucht. Der Arbeitssatz lautet daher

12

F f =12

Z M2y

EIydx+

12

Z M2T

GITdx .

Page 148: Mechanik 2

140 8 Energie-Methoden in der Elastostatik

zF

a

`

x1

x2

­ EIy1

¬ EIy2

(a) Problemstellung

F`

MyFa

Fa⊕

MT

(b) Schnittgrößen

Bild 8.5: Räumlicher abgewinkelter Träger

Es werden zur Berechnung die Koordinaten x1 und x2 entsprechend Bild 8.5(a) benutzt. ImBalken ¬ wirkt ein Biegemoment M1 =−Fx1. Der Balken ­ überträgt ein Biegemoment M2 =−Fx2 und ein Torsionsmoment MT 2 = Fa (siehe Bild 8.5(b)). Einsetzen ergibt

12

F f =12

aZ0

F2x21

EIy1dx1 +

12

`Z0

F2x22

EIy2dx2 +

12

`Z0

F2a2

GITdx2

=12

F2

EIy1

a3

3+

12

F2

EIy2

`3

3+

12

F2

GITa2` .

Hieraus folgt die gesuchte Absenkung zu

f = F(

a3

3EIy1+

`3

3EIy2+

a2`

GIT

).

8.3 Die Sätze von Maxwell und Betti: Einflusszahlen

Mit Hilfe des Arbeitssatzes kann die Verschiebung w12 an einer beliebigen Stelle ’1’ einesBalken belastet an einer Stelle ’2’ berechnet werden. Wenn nur eine einzige Kraft F2 an dieserStelle ’2’ wirkt, sind alle Durchbiegungen proportional zu dieser Kraft. Man kann daher dieKraft als Proportionalitätsfaktor abspalten und erhält

w12 = α12F2 . (8.28)

Dabei wurde angenommen, dass die Kraft F2 und die Durchbiegung w12 in die selbe Richtungzeigen. Die Größe α12 heißt Verschiebungseinflusszahl oder kurz Einflusszahl. Sie liefertdie Verschiebung an der Stelle ’1’ infolge einer Einheitskraft (|F2|= 1) an der Stelle ’2’. ImBeispiel 8.2.2 aus dem letzten Kapitel war die Durchbiegung des abgewinkelten Balkens amfreien Ende

w = F(

a3

3EIy1+

`3

3EIy2+

a2`

GIT

)

Page 149: Mechanik 2

8.3 Die Sätze von Maxwell und Betti: Einflusszahlen 141

und damit die Einflusszahl

α11 =(

a3

3EIy1+

`3

3EIy2+

a2`

GIT

). (8.29)

Die gleichen Indizes bei α11 bedeuten dass die Stelle der Durchbiegung und die Kraftangriffs-stelle gleich sind.

Wirken auf einen Balken n Lasten Fk, so folgt die Durchbiegung w an der Stelle ’1’ aus derSuperposition zu

w =n

∑k=1

w1k = α11F1 +α12F2 + . . .+α1nFn . (8.30)

Im Folgenden wird ein durch zwei Kräfte belasteter Balken wie er in Bild 8.6(a) dargestellt istbetrachtet. An diesem Balken greift an der Stelle ’1’ eine Kraft F1 und an der Stelle ’2’ eine

F1

1 2

F2

(a) Problemstellung

F1

w11

F1 F2

w12 w22

(b) Zuerst Last F1 und dann F2

F2

w22

F1 F2

w11 w21

(c) Zuerst Last F2 und dann F1

Bild 8.6: Balken belastet durch zwei Kräfte: Verschiedene Lastreihenfolge

Kraft F2 an. Wenn zuerst die Kraft F1 und dann zusätzlich die Kraft F2 aufgebracht wird (sieheBild 8.6(b)), wird die Arbeit

W =12

w11F1 +12

w22F2 +F1w12 =12

α11F21 +

12

α22F22 +F1 (α12F2) (8.31)

geleistet. Im dritten Arbeitsterm fehlt der Faktor 12 , da die Kraft F1 ja unabhängig von der

Durchbiegung w12 ist, die durch die Kraft F2 verursacht wird. Damit ist das Arbeitsintegraleinfach Kraft mal Weg. Kehrt man nun die Lastfolge um, es wird also zuerst F2 und dann F1aufgebracht, dann ist die Arbeit (siehe Bild 8.6(c))

W =12

w22F2 +12

w11F1 +F2w21 =12

α22F22 +

12

α11F21 +F2 (α21F1) . (8.32)

Da die Formänderungsenergie im Endzustand unabhängig von der Reihenfolge der Belastungist, trifft dies auch für die Gesamtarbeit zu. Aus dem Vergleich der beiden Arbeitsausdrücke(8.31) und (8.32) folgt daher

F2w21 = F1w12 . (8.33)

Dies ist der Satz von Betti. Er sagt aus

Page 150: Mechanik 2

142 8 Energie-Methoden in der Elastostatik

Satz von Betti

Die Kraft F2 leistet an der Verschiebung w21 infolge F1 dieselbe Arbeit wie die Kraft F1 ander Verschiebung w12 infolge F2.

Dieser Satz lässt sich auf beliebige elastische Systeme verallgemeinern. Mit w21 = α21F1 undw12 = α12F2 folgt aus dem Satz von Betti der Vertauschungssatz von Maxwell

α12 = α21 . (8.34)

Vertauschungssatz von Maxwell

Die Durchbiegung α12 am Punkt ’1’ infolge einer im Punkt ’2’ angreifenden Kraft mit demBetrag |F2| = 1 ist gleich der Durchbiegung α21 am Punkt ’2’ infolge einer Kraft mit demBetrag |F1|= 1, die im Punkt ’1’ angreift, d.h.

α12 = α21 .

Im Folgenden wird an Hand eines Beispiels gezeigt, dass sich der Satz von Maxwell sinngemäßanwenden lässt, wenn Momente wirken.

BEISPIEL 8.3.1 : Symmetrie der Einflusszahlen

Es wird der Balken der Steifigkeit EIy aus Bild 8.7(a) betrachtet. Er ist mit einer Einzelkraft F1im Punkt ’1’ und einem Einzelmoment M2 am Punkt ’2’ belastet. Es sollen die Einflusszahlenα12 und α21 berechnet werden.

`2

F1 M2

1 2

`

c d

(a) Problemstellung

|F1|= 1

w12 = α12

|M2|= 1

ϕ21 = α21

(b) Einflusszahlen

Bild 8.7: Balken belastet durch Einzelkraft und Einzelmoment

Die Durchbiegung an der Kraftangriffsstelle ’1’ verursacht durch das Moment in ’2’ kann z.B.

Page 151: Mechanik 2

8.4 Nachgiebigkeits- und Steifigkeitsmatrix 143

Tabellen entnommen werden. Es ist

w12 =− `2

6EIy

{12

[3(

d`

)2

−1]+18

}︸ ︷︷ ︸

α12

M2 = α12M2 .

Der Neigungswinkel an der Momenteneinleitungsstelle ’2’ verursacht durch die Kraft im Punkt’1’ wird ebenfalls einer Biegetafel entnommen. Beachtet man dabei die Kinematik des Euler-Bernoulli-Balken ϕ21 =−w′21 erhält man

ϕ21 =− `2

6 EIy

{32

(c`

)2−3(c

`

)+

98

}F1 .

Mit c = `−d lässt sich dieses Ergebnis umschreiben in

ϕ21 =− `2

6 EIy

{12

[3(

d`

)2

−1

]+

18

}︸ ︷︷ ︸

α21

F1 = α21F1

woraus folgt

α12 = α21 .

Die Einflusszahlen α12 und α21 sind in Bild 8.7(b) skizziert. dabei wurden die Beträge der Kraftund des Momentes zu Eins gesetzt. ♣

Das Ergebnis des Beispiels 8.3.1 bedeutet in Worten: Die Verschiebung α12 an der Stelle ’1’infolge eines Moments mit Betrag |M| = 1 an der Stelle ’2’ ist gleich der Verdrehung α21an der Stelle ’2’ infolge einer Kraft mit Betrag |F | = 1 an der Stelle 1 (siehe Bild 8.7(b)).Man beachte, dass hier die Einheitsverschiebung α12 und die Einheitsverdrehung α21 gleicheDimension haben.

8.4 Nachgiebigkeits- und Steifigkeitsmatrix

Im allgemeinen Fall greifen an einem linear elastischen System n Kräfte F1, . . . ,Fn an. AlleKräfte zusammen verursachen an den Kraftangriffspunkten in Richtung der Kräfte Verschie-bungen w1, ...,wn. Die Formänderungsenergie U ist gleich der Arbeit der äußeren Kräfte, es giltalso

U = Wa =12

n

∑i=1

Fiwi =12

FT w (8.35)

Page 152: Mechanik 2

144 8 Energie-Methoden in der Elastostatik

mit dem Vektor aller angreifenden Kräfte F = [F1,F2, . . . ,Fn]T und dem Vektor aller Verschie-bungen w = [w1,w2, . . . ,wn]T . Es kann aber jede Verschiebung wi durch eine Linearkombinationaller Kräfte Fi dargestellt werden

wi = αi1F1 +αi2F2 + · · ·+αinFn (8.36)

mit den Einflusszahlen αi j. In Matrixform geschrieben ergibt dies

w = HF (8.37)

mit der Nachgiebigkeitsmatrix H, die alle Einflusszahlen αi j beinhaltet. Nach dem Satz vonMaxwell gilt αi j = α ji, d.h. die Matrix H ist symmetrisch. Setzt man den Vektor w in dieFormänderungsenergie U ein, so kann man diese als Funktion der Kräfte

U =12

FT HF (8.38)

darstellen. Da U positiv definit und H symmetrisch ist, existiert eine Inverse von H

H−1 = K , (8.39)

die Steifigkeitsmatrix des Systems genannt wird. Sie ist ebenso wie H symmetrisch. Mit ihrlassen sich die Kräfte explizit durch die Verschiebung ausdrücken

F = Kw . (8.40)

Mit der transponierten Form dieser Matrixgleichung kann die entsprechende Form der Formän-derungsenergie

U =12

wT Kw (8.41)

angeschrieben werden. Dabei wurde die Symmetrie von K, d.h. K = KT , ausgenutzt.

Anmerkung:

Die obigen Betrachtungen können auf Momente und Drehwinkel übertragen werden. Üb-licherweise spricht man dann von generalisierten Kräften mit generalisierten Verschie-bungen, und stellt beide Kombinationen, M und ϕ und F und f , in der gleichen Form dar.

8.5 Sätze von Castigliano

Es wird ein beliebiges linear elastisches System unter der Wirkung von n Kräften F1, . . . ,Fn be-trachtet. Alle Kräfte zusammen verursachen an den Angriffspunkten und in Richtung der Kräfte

Page 153: Mechanik 2

8.5 Sätze von Castigliano 145

die Verschiebungen w1, . . . ,wn. Die Formänderungsenergie kann, wie oben gezeigt wurde, al-lein durch die Kräfte ausgedrückt werden

U = UF (F1, . . . ,Fn) =12

FT HF . (8.42)

Im Kapitel 8.2 wurde gezeigt, wie die Formänderungsenergie zu berechnen ist. Sind die Schnitt-größen bekannt, kann also auch die Formänderungsenergie berechnet werden. Die Verschiebungeines Kraftangriffspunktes kann nun durch Differentiation

∂UF

∂Fi= wi i = 1, ...,n (8.43)

berechnet werden. Dies ist der 1. Satz von Castigliano, der in Worten lautet

1. Satz von CastiglianoDie partielle Ableitung von UF nach einer Kraft ist gleich der Verschiebung des Kraftan-griffspunktes dieser Kraft in Richtung der Kraft.

Der Nachweis erfolgt einfach durch Nachrechnen. In Indexnotation lautet die Formänderungs-energie

UF =12

αk jFkFj j,k = 1, ...,n . (8.44)

Die Differentiation nach der Kraft Fi ergibt

∂UF

∂Fi=

12

αk j

(∂Fk

∂FiFj +Fk

∂Fj

∂Fi

)=

12

αk j(δikFj +Fkδi j

). (8.45)

In (8.45) wurde beachtet, dass eine Kraft nach sich selbst abgeleitet Eins ergibt und sonst Null.Fasst man nun die Klammer des Ergebnisses in (8.45) zusammen, erhält man mit dem Satz vonMaxwell

∂UF

∂Fi=

12(αi jFj +αk jFk

)= αi jFj = wi . (8.46)

Die im Nachweis benutzten Einflusszahlen αi j, also die Komponenten der Nachgiebigkeits-matrix H, werden für die tatsächliche Berechnung nicht benutzt, da damit die Lösung schonvorgegeben wäre. Die Formänderungsenergie ist alleine durch die Schnittgrößen gegeben.

Der Satz darf auch nicht so missverstanden werden, dass Verschiebungen nur an den Angriffs-punkten derjenigen Kräfte berechnet werden können, die an einem gerade zu untersuchendemSystem tatsächlich angreifen. Wenn man die Verschiebung an einer anderen Stelle und in einebestimmte Richtung sucht, führt man dort in diese Richtung eine Hilfskraft F ein und fasst sieals Teil der gegebenen äußeren Belastung auf. Dann bestimmt man die FormänderungsenergieUF (Fi, ...,Fn, F), leitet sie nach F ab und setzt danach F wieder zu Null.

Page 154: Mechanik 2

146 8 Energie-Methoden in der Elastostatik

Der geschilderte Rechenablauf erinnert an das Prinzip der virtuellen Kräfte. In der Tat sindbeide Verfahren nicht nur ähnlich, sondern gleich. Das wird am Beispiel eines Biegebalkensdemonstriert. Sei My (x) das Biegemoment infolge der wirklichen Belastung F1, . . . ,Fn d.h. oh-ne die Hilfskraft F , und sei My (x) das Biegemoment infolge der Hilfskraft alleine. Weil dieHilfskraft als Teil der äußeren Belastung verstanden wird, muss die Summe der beiden Biege-momente in die Formänderungsarbeit eingesetzt werden. Die partielle Ableitung nach F führtman zweckmäßig vor der Integration aus. Damit ist die Verschiebung

w =∂UF∂F

∣∣∣F=0

=1E

`Z0

1Iy (x)

[My (x)+ My (x)]∂

∂F[My (x)+ My (x)]dx

∣∣∣F=0

. (8.47)

Von dem Ausdruck in der ersten eckigen Klammer bleibt nach dem Einsetzen von F = 0 nurMy (x) übrig. In der zweiten eckigen Klammer verschwindet My (x) beim Differenzieren, dadieses Biegemoment unabhängig von F ist. Weiterhin ist My (x) linear in F und es gilt

∂FMy (x) =

My (x)F

. (8.48)

Damit ist dieser Ausdruck von F unabhängig. Mit diesen Überlegungen kann die Verschiebungzu

w =1

E F

`Z0

My (x)My (x)Iy (x)

dx (8.49)

berechnet werden. Die gleiche Formel findet man beim Prinzip der virtuellen Kräfte wieder.

BEISPIEL 8.5.1 : Berechnung Durchbiegung Kragträger

Für einen Kragträger (siehe Bild 8.8) der Länge ` mit konstanter Biegesteifigkeit EIy soll dieDurchbiegung am freien Ende berechnet werden. Der Kragträger ist durch die eine konstanteStreckenlast q0 belastet. Der Querkrafteinfluss kann vernachlässigt werden.

x`

q0F

Bild 8.8: Kragträger unter konstanter Streckenlast

Da hier die Durchbiegung am freien Ende gefragt ist, und dort aber keine Kraft angreift, wirdeine vertikale Hilfskraft F eingeführt, die in Richtung der Durchbiegung zeigt (siehe Bild 8.8).

Page 155: Mechanik 2

8.5 Sätze von Castigliano 147

Das Biegemoment des tatsächlichen Systems ist

My (x) =−q0

2(`− x)2

und der Hilfskraft F

My (x) =−F (`− x) .

Damit ist die Formänderungsenergie

UF =12

`Z0

M2y

EIydx =

12EIy

`Z0

[−q0

2(`− x)2− F (`− x)

]2dx

=1

2EIy

[q2

0`5

20+

Fq0`4

4+

F2`3

3

].

Nun muss zuerst nach F differenziert werden und erst danach kann die Hilfskraft zu Nullgesetzt werden. Dies führt auf die Durchbiegung am freien Ende

w(`) = limF→0

∂UF∂F

= limF→0

[q0`

4

8EIy+

F`3

3EIy

]=

q0`4

8EIy.

Vollkommen analog können aus der Formänderungsenergie U auch die Kräfte berechnet wer-den. Stellt man für das gleiche wie oben eingeführte System die Formänderungsenergie alsFunktion der Verschiebung dar

U = Uw (w1, ...,wn) , (8.50)

so können die Kräfte mit dem 2. Satz von Castigliano

∂Uw

∂wi= Fi i = 1, ...,n (8.51)

berechnet werden. In Worten lautet dieser

2. Satz von CastiglianoDie partielle Ableitung von Uw nach einer Verschiebung ist gleich der Kraft an der Stelleund in Richtung der Verschiebung.

Der Nachweis kann analog zum 1. Satz von Castigliano geführt werden.

Anmerkung:

Wie im letzten Unterabschnitt schon angemerkt, können die hier abgeleiteten Formeln direktauf Momente und Verdrehwinkel übertragen werden.

Page 156: Mechanik 2

148 8 Energie-Methoden in der Elastostatik

8.6 Statisch unbestimmte Systeme: Satz von Menabrea

Bisher wurden in diesem Kapitel nur statisch bestimmte Systeme behandelt, da dort die Schnitt-größen direkt berechenbar sind, und damit die Formänderungsenergie bekannt ist. Bei statischunbestimmten Systemen hingegen ist dies nicht der Fall.

Die Vorgehensweise bei statisch unbestimmten Systemen ist im Prinzip vom Superpositions-prinzip beim Biegebalken bekannt (siehe Kapitel 5.3.4). Es wird ein statisch bestimmtes Grund-system erzeugt, in dem entweder Lager durch äußere Kräfte ersetzt, oder Beweglichkeiten insSystem eingebracht werden. Danach ist das Grundsystem berechenbar, wenn man so tut, alsob die zusätzlich eingeführten Kräfte oder Beweglichkeiten bekannt sind. Danach werden dieseentweder durch geometrische Bedingungen oder über eine Energiebetrachtung, den Satz vonMenabrea, bestimmt.

8.6.1 Geometrische Methode

Wird bei einem äußerlich einfach statisch unbestimmten System ein überzähliges Lager ent-fernt, so erhält man ein statisch bestimmtes ’0’-System. In diesem System kann die Verschie-bung unter den gegebenen Lasten mit den Einflusszahlen, also durch die dann bekannten Schnitt-größen, berechnet werden. Nennt man die Einflusszahlen für die Verschiebung an der Stelle desehemaligen Lagers α10, so gilt für die Verschiebung w(0) = α10. Nun wird am gleichen, statischbestimmt gelagerten Tragwerk nur die unbekannte Kraft X , also die Ersatzkraft für das Lager,angebracht. Man nennt X auch die statisch Überzählige. Die Verschiebung unter dieser Last andem neuen ’1’-System beträgt w(1) = Xα11, wobei α11 die Einflusszahl unter der Last |X | = 1ist. Im wirklichen System darf an dem dort vorhandenen Lager keine Verschiebung w auftreten,d.h. es gilt die geometrische Bedingung

w = w(0) +w(1) = 0 . (8.52)

Aus dieser Kompatibilitätsbedingung kann die statisch Überzählige X mit

α10 +Xα11 = 0 X =−α10

α11(8.53)

bestimmt werden. Sinngemäß ist zu verfahren, wenn man einen statisch unbestimmt gelagertenBalken dadurch bestimmt macht, dass an einer Stelle G ein Gelenk angebracht wird. In diesemFall ist die statisch Überzählige X ein Moment und an die Stelle der Verschiebung tritt einWinkel ϕG am Gelenk.

BEISPIEL 8.6.1 : Statisch unbestimmtes System mit Arbeitssatz

Es wird ein einseitig eingespannter und an der anderen Seite einwertig gelagerter Balken be-trachtet (siehe Bild 8.9). Die Länge ist ` und die Biegesteifigkeit EIy. Das Koordinatensystemzählt vom rechten Lager. Gesucht ist das Einspannmoment.

Page 157: Mechanik 2

8.6 Statisch unbestimmte Systeme: Satz von Menabrea 149

����

����

����

����

��������

��������

q0

AB

EIy `x

=

q0

+

’0’-System ’1’-System|X |= 1

M0 M1

Bild 8.9: Statisch unbestimmter Balken mit statisch bestimmten Grundsystem

Das rechte Lager bei B wird entfernt um das statisch bestimmte ’0’-System zu erhalten. Das’1’-System ist folglich ein Kragträger mit einer Einzellast am freien Ende.

Wenn die Koordinate vom rechten Rand aus gewählt wird, sind die Biegemomente im ’0’- und’1’-System (siehe Bild 8.9)

M0 =−q0

6`x3 M1 = x .

Der Querstrich über M1 kennzeichnet, dass dies das Biegemoment infolge der Überzähligen ist.Nach der Definition von Einflusszahlen wird der Betrag der Überzähligen mit |X | = 1 ange-nommen. Damit können die Durchbiegungen, respektive Formzahlen nach (8.49), angegebenwerden

α10 =Z M0M1

EIydx =

1EIy

`Z0

x(− q0

G`x3)

dx =− q0`4

30EIy

α11 =Z M2

1EIy

dx =1

EIy

`Z0

x2 dx =`3

3EIy.

Mit diesen Formzahlen und dem Zusammenhang (8.53) berechnet sich die statisch Überzähligezu

X =−α10

α11=

q0`

10.

Durch Superposition findet man damit den Momentenverlauf

My = M0 +XM1 =−q0

6`x3 +

q0`

10x ,

und schlussendlich das Einspannmoment

MA = My (x = `) =−q0`2

15.

Page 158: Mechanik 2

150 8 Energie-Methoden in der Elastostatik

8.6.2 Energetische Methode: Satz von Menabrea

Ein statisch unbestimmtes System wird durch Ersetzen der überzähligen Lager durch Kräfte Fzu einem statisch bestimmten Grundsystem. An diesem greifen neben den Überzähligen nochdie äußeren Belastungen des Systems an. Mit der Formänderungsenergie UF , dargestellt in Kräf-ten, können mit dem 1. Satz von Castigliano die Verschiebungen wi an den Angriffspunkten derKräfte Fi mit

∂FiUF (F1, . . . ,Fn, F) = wi i = 1, . . . ,n (8.54)

berechnet werden. Interessant ist der Sonderfall, in dem alle Verschiebungen wi gleich Nullsind. Er liegt vor, wenn das statisch unbestimmte System im Zustand ohne äußere Belastungspannungsfrei ist. Dann haben die Bestimmungsgleichungen die Form

∂FiUF (F1, . . . ,Fn, F) = 0 i = 1, . . . ,n . (8.55)

Sie lassen folgenden Schluss zu

Satz von Menabrea

In einem statisch unbestimmten System, dass ohne äußere Belastungen spannungsfrei ist,stellen sich die Kraftgrößen F1, . . . ,Fn so ein, dass die Formänderungsenergie UF einen sta-tionären Wert, und zwar ein Minimum annimmt.

Der Nachweis, dass der stationäre Wert ein Minimum ist, folgt aus der Umformung

∂2

∂Fi∂FjUF (F1, . . . ,Fn, F) =

∂wi

∂Fj= αi j (i, j = 1, . . . ,n) . (8.56)

Die Matrix H =(αi j)

ist wie vorne gezeigt positiv definit. Das ist notwendig und hinreichenddafür, dass ein Minimum vorliegt.

BEISPIEL 8.6.2 : Statisch unbestimmtes System mit Satz von Menabrea

Es wird das gleiche System wie in Beispiel 8.6.1 behandelt.

Ein statisch bestimmtes Grundsystem wird durch Ersetzen des Lagers B durch eine Kraft er-zeugt (siehe Bild 8.10). Das Biegemoment dieses Systems ist

My (x) =−q0

6`x3 + x B ,

Page 159: Mechanik 2

8.6 Statisch unbestimmte Systeme: Satz von Menabrea 151

xz

q0

B

Bild 8.10: Statisches Ersatzsystem für Satz von Menabrea

womit die Formänderungsenergie aufgestellt werden kann. Danach wird der Satz von Menabreaangewandt

∂B

12EIy

`Z0

M2y (x)dx

=1

EIy

`Z0

My (x)∂My (x)

∂Bdx =

1EIy

`Z0

[−q0

6`x3 + x B

]xdx

=1

EIy

[−q0`

5

30`+

`3

3B]

!= 0 .

Daraus wird dann die Lagerkraft

B =q0`

10

berechnet. Einsetzen in das Biegemoment ermöglicht die Berechnung des Einspannmomentes.Das Ergebnis ist natürlich das gleiche wie mit der geometrischen Methode, nur hieß die Kraftdort X . ♣

BEISPIEL 8.6.3 : Statisch unbestimmter Zugstab

Ein beidseitig gelagerter Zugstab wird durch die Kraft F an der Stelle `1 belastet. Der Stab hatdie Dehnsteifigkeit EA und die Länge ` (siehe Bild 8.11(a)). Gefragt sind die Lagerreaktionen.(Dieses Aufgabenstellung wurde in Kapitel 4.2 mit zwei anderen Methoden in Beispiel 4.2.2gerechnet.)

Das statisch bestimmte Grundsystem ist in Bild 8.11(c) skizziert. Entsprechend dem Freischnittin Bild 8.11(b) erkennt man die Normalkräfte im Stab

NI = F +RB 0≤ x≤ `1

NII = RB `1 ≤ x≤ ` .

Damit kann die Formänderungsenergie

UF =`Z

0

N2

EAdx =

`1Z0

(F +RB)2

EAdx+

`Z`1

(R2

B)

EAdx =

12

(F +RB)2

EA`1 +

12

R2B

EA(`− `1)

Page 160: Mechanik 2

152 8 Energie-Methoden in der Elastostatik

`

`1

F

x

(a) Problemstellung

RA

RB

F

(b) Freischnitt

F

B(c) Statisch bestimmtes Grundsystem

Bild 8.11: Statisch unbestimmt gelagerter Zugstab

berechnet werden. Die Ableitung der Formänderungsenergie nach RB liefert

∂UF

∂RB=

1EA

[(F +RB)`1 +RB (`− `1)] =1

EA[RB`+F`1]

!= 0 .

Daraus sind die Lagerreaktionen zu bestimmen

RB =−F`1

`RA = F

`− `1

`.

Anmerkung:

Ist ein mehrfach statisch unbestimmtes System zu behandeln, so werden entsprechend nÜberzählige eingeführt. Der Satz von Menabrea oder entsprechende geometrische Zusatz-bedingungen ergeben dann n-Gleichungen für die n Überzähligen. Dieses System ist imallgemeinen gekoppelt.

BEISPIEL 8.6.4 : Zweifach überbestimmtes System

Das Kettenglied einer Schwerlastkette besteht aus zwei Halbkreisen (Radius r) die über zweigerade Stücke der Länge a = 2r miteinander verbunden sind. In der lotrechten Symmetrie-achse befindet sich eine undehnbare Stütze (2r) zwischen den beiden geraden Stücken (sieheBild 8.12(a)). Der Querschnitt des Kettengliedes ist ein Kreis (Durchmesser d� r). Das Ket-tenglied wird in der horizontalen Symmetrieachse mit F gezogen. Für die Berechnung der sta-tisch unbestimmten Schnittgrößen M0 und Q0 wird das vor der Stütze abgeschnittene, halbeKettenglied betrachtet (siehe Bild 8.12(b)). Es soll nur die Formänderungsenergie infolge derBiegemomente betrachtet werden.

Page 161: Mechanik 2

8.6 Statisch unbestimmte Systeme: Satz von Menabrea 153

1. Man gebe den Verlauf der Biegemomente My (x) und My (ϕ) an und formuliere die Form-änderungsenergie als Funktion von M0,Q0 und F.

2. Man berechne M0 und Q0 aus den Verformungsbedingungen bei x = 0.

3. Wie groß ist das Biegemoment M1 an der Lasteinleitungsstelle (ϕ = π

2 )?

r r

rF F

da

(a) Problemstellung

Q0M0

N0 x ϕ F

Q0

M0

N0

(b) Freischnitt

Bild 8.12: Kettenglied einer Schwerlastkette

Die Normalkraft und das Biegemoment können entsprechend dem Freischnitt in Bild 8.12(b)bestimmt werden. Dies führt für die Längskraft bei x = 0 auf

N0 =F2

,

und die Biegemomente sind

My (x) =M0 +Q0 xMy (ϕ) =M0 +Q0 r (1+ sinϕ)−N0 r (1− cosϕ) .

Der Biegemomentenverlauf ist in Bild 8.13 skizziert. Damit lautet die Formänderungsenergie

M0

M1

Bild 8.13: Verlauf des Biegemomentes im Kettenglied

Page 162: Mechanik 2

154 8 Energie-Methoden in der Elastostatik

U =2

2 EI

rZ0

M2y (x)dx+

π

2Z0

M2y (ϕ)r dϕ

=

22 EI

rZ0

(M0 +Q0 x)2 dx+

π

2Z0

(M0 +Q0 r (1+ sinϕ)− F

2r (1− cosϕ)

)2

r dϕ

.

Dieses Beispiel ist zweifach überbestimmt, d.h. M0 und Q0 sind noch zu berechnen. Dazu wirdder Satz von Menabrea benutzt. Die Ableitung der Formänderungsenergie nach dem Momentist

∂U∂M0

= 0 :rZ

0

(M0 +Q0 x)dx+

π

2Z0

(M0 +Q0 r (1+ sinϕ)− F

2r (1− cosϕ)

)r dϕ = 0

und nach der Querkraft

∂U∂Q0

=0 :

rZ0

(M0 +Q0 x) xdx+

π

2Z0

(M0 +Q0 r (1+ sinϕ)− F

2r (1− cosϕ)

)(1+ sinϕ) r2 dϕ = 0 .

Dies führt nach Integration zur Bestimmung der beiden Unbekannten auf das Gleichungssystem

M0

(1+

π

2

)+Q0 r

(32

2

)=

F2

r(

π

2−1)

M0

(32

2

)+Q0 r

(73

+3π

2

)=

F4

r (π−1) .

Dieses Gleichungssystem hat die Lösung

2,5708M0 +3,0708Q0 r = 0,2854 F r

3,0708M0 +4,6895Q0 r = 0,5354 F r

∣∣∣∣∣∣−→ M0 = −0,305722,62595 F r = −0,1164 F r ,

Q0 = −0,52,62595F = 0,1904 F .

Daraus kann dann abschließend das Biegemoment an der Lasteinleitungsstelle

M1 = My

2

)= M0 +2Q0 r− F

2r =−0,2356 F r −→ |M1|

|M0|= 2,024

berechnet werden, welches ca. doppelt so groß ist wie in den Stegen. ♣

Page 163: Mechanik 2

9 STABILITÄTSPROBLEME

Wenn man einen Stab auf Zug beansprucht, erhält man einen eindeutigen Zusammenhang zwi-schen äußerer Last und Stabverlängerung. Erst wenn das Material plastifiziert, ist dies nichtmehr der Fall. Das gleiche gilt für die Balkenbiegung. Eine Last senkrecht zur Balkenachsebewirkt eine eindeutig berechenbare Durchbiegung. Aus der Erfahrung ist bekannt, dass beimDruckstab der Zusammenhang zwischen Last und Verformung nicht eindeutig sein muss. Abbestimmten Drucklasten treten weitere Gleichgewichtslagen auf, die mit einem seitlichen Aus-weichen verbunden sind. Dieses Phänomen wurde schon in der Statik starrer Körper behandeltund es ist bekannt, dass es unterschiedliche Arten des Gleichgewichts gibt: Die

• stabile Gleichgewichtslage,

• die indifferente Gleichgewichtslage

• und die instabile Gleichgewichtslage.

Weiterhin können mehrere stabile Gleichgewichtslagen existieren. Das Beispiel des „Überkopf-pendels“ zeigt diesen Sachverhalt eindrucksvoll auf. In Bild 9.1 ist das Überkopfpendel und diedazugehörige Last-Verformungskurve gezeigt. Ab einer kritischen Last Fkrit geht der eindeutige

��������������������

���

���

���

���

F

`

a

ϕ

(a) Problemstellung

stabilinstabilFkrit

ϕ

F

(b) Last-Verformungskurve

Bild 9.1: Elastisch gestütztes „Überkopfpendel“ als Beispiel für ein Verzweigungsproblem

Zusammenhang zwischen Kraft und Auslenkung verloren. Danach gibt es jeweils zwei stabileGleichgewichtslagen. Dies nennt man ein Verzweigungsproblem.

155

Page 164: Mechanik 2

156 9 Stabilitätsprobleme

In dem obigen Beispiel war der Stab starr. Betrachtet man hingegen den elastischen Stabzwei-schlag aus Bild 9.2(a), dann erkennt man ein anderes Problem bei dem zwei stabile Gleichge-wichtslagen existieren. Steigert man die Last F wird sich der Lastangriffspunkt auf Grund der

F

f

(a) Problemstellung

F

f

1 2

34

(b) Kraft-Verformungskurve

Bild 9.2: Elastischer Stabzweischlag als Beispiel für ein Durchschlagproblem

Elastizität der beiden Stäbe absenken. Da es sich um große Verformungen handelt, verläuft dieLast-Verformungskurve nichtlinear. Sobald jedoch die beiden Stäbe kurz genug sind, d.h. weitgenug gestaucht, so dass der Abstand zwischen den Lagern größer als die addierten gestauchtenStablängen ist, wird der Stabzweischlag in die untere (gestrichelte) Gleichgewichtslage durch-schlagen. Das entspricht in der Last-Verformungskurve in Bild 9.2(b) dem gestrichelten Verlaufvon 1 nach 2. Wird danach die Last weiter gesteigert, gilt wieder die durchgezogene Last-Verformungskurve. Entlastet man jedoch und gibt gar eine negative Kraft F auf, so verhält sichder Zusammenhang zwischen Last und Verformung wie durch die durchgezogene Linie zwi-schen Punkt 2 und 3 dargestellt. Im Punkt 3 sind die Stäbe dann wieder kurz genug um in dieAusgangslage zurückzuspringen, d.h. es wird der gestrichelte Pfad von 3 nach 4 benutzt. Solchein Problem heißt Durchschlagproblem.

Beide Beispiele sind Stabilitätsprobleme. Beim Verzweigungsproblem muss untersucht werden,ob bei einer Störung der Gleichgewichtslage, also einer kleinen Auslenkung aus der Gleichge-wichtslage, eine stabile benachbarte Gleichgewichtslage existiert. Dies ist häufig im Rahmeneiner linearen Theorie berechenbar. Beim Durchschlagproblem ist die benachbarte Gleichge-wichtslage meist nur mit einer geometrisch nichtlinearen Theorie (nichtlineare Kinematik) zufinden. In beiden Fällen ist jedoch im Unterschied zu allen bisher behandelten Problemstel-lungen eine Gleichgewichtsbetrachtung am verformten System durchzuführen, da nicht mehrangenommen werden kann, dass die Verformungen klein sind. Ein spezielles Verzweigungs-problem ist besonders bei schlanken Stäben zu beobachten - das Knicken.

Page 165: Mechanik 2

9.1 Knicken eines Druckstabes 157

9.1 Knicken eines Druckstabes

Ein Druckstab kann in unendlich viele Stabformen ausweichen. Je nach Lagerung und Bela-stung ergibt sich ein anderer Fall. Hier werden nur einige Grundfälle untersucht, die so genann-ten Euler-Fälle. Diese vier Fälle sind in Bild 9.3 dargestellt.

(a) Fall I (b) Fall II (c) Fall III (d) Fall IV

Bild 9.3: Euler’sche Knickfälle mit erster Eigenform (gestrichelt)

Zur Untersuchung dieser vier Euler-Fälle und anderer Druckstäbe gelten im Folgenden die Vor-aussetzungen

1. Die Stabachse ist gerade

2. Die y-z-Achsen sind Hauptachsen des Querschnitts und der Schubmittelpunkt entsprichtdem Schwerpunkt

3. Die Belastung des Endquerschnitts ist zentrisch mit gleichbleibender Wirkungsrichtung

4. Die Temperatur ist konstant.

9.1.1 Euler’scher Knickstab: Fall II

Als erster Fall wird der II. Euler’sche Knickfall behandelt, da dieser sich etwas einfacher alsdie anderen Fälle lösen lässt. Das Vorgehen zur Berechnung der Durchbiegung, also der Aus-knickung und vor allem der kritischen Knicklast, ist jedoch im Prinzip bei allen anderen Fällenidentisch.

Page 166: Mechanik 2

158 9 Stabilitätsprobleme

Zur Berechnung der Verschiebung quer zur Stabachse, d.h. der Durchbiegung, wird das Gleich-gewicht am verformten Stabelement betrachtet. In Bild 9.4 ist dieses skizziert. Auf Grund der

F

w(x)

NMy

My (x) = Fw(x)N =−F

Bild 9.4: Gleichgewicht am verformten Stabelement

Lagerung des Knickstabes kann auch im verformten Zustand keine Querkraft im Querschnittwirken. Das Biegemoment und die Normalkraft sind in Bild 9.4 angegeben.

Unter Beachtung der Biegelinie für den schubstarren Balken

My (x) =−EIy w′′ (x)

führt die Momentenbilanz auf die Differentialgleichung zweiter Ordnung für die Durchbiegung

EIy w′′ (x)+F w(x) = 0 , (9.1)

die mit der Abkürzung λ2 = FEIy

umgeformt werden kann in

w′′ (x)+F

EIyw(x) = w′′ (x)+λ

2w(x) = 0 . (9.2)

Die allgemeine Lösung der Differentialgleichung (9.2) lautet

w(x) = Acos(λx)+Bsin(λx) . (9.3)

Die Randbedingungen des Euler-Falls II lauten (die Stablänge ist `)

w(0) = w(`) = 0 , (9.4)

womit die zwei Konstanten A und B zu

w(0) = Acos(λ0) = 0w(`) = Acos(λ`)+Bsin(λ`) = 0

}→ A = 0 Bsin(λ`) = 0 (9.5)

Page 167: Mechanik 2

9.1 Knicken eines Druckstabes 159

bestimmt werden können. Die Bedingung für B hat zum einen die triviale Lösung B = 0, d.h.es resultiert keine Auslenkung. Zum anderen gilt für B 6= 0

sin(λ`) = 0 → λn` = nπ n = 1,2, . . . , (9.6)

mit den n Lösungen λn, die die Eigenwerte des Systems sind. D.h. es existieren unendlichviele Lösungen, wie zu Beginn des Abschnitts schon angedeutet wurde. Diese entsprechen denEigenformen des Stabes

wn (x) = Bsin(λnx) = Bsin(

nπx`

). (9.7)

Jeder Eigenwert λn korrespondiert zu einer Last Fn. Technisch wichtig ist der kleinste (von Nullverschiedene) Eigenwert λ1` = π, da dieser auch der kleinsten Last, der kritischen Knicklast

Fkrit = λ21EIy = π

2 EIy

`2 (9.8)

entspricht. Dazu gehört die Knickform (erste Eigenform)

w(x) = Bsin(λ1x) = Bsin(

πx`

). (9.9)

Die Amplitude B dieser Knickform ist nur mit einer Theorie höherer Ordnung zu bestimmen.

9.1.2 Kritische Lasten für Stäbe mit beliebigen Randbedingungen

Wie oben gezeigt wird für die Berechnung der tatsächlichen Auslenkung eine Theorie höhe-rer Ordnung benötigt. Mit der linearen Theorie ist nur die kritische Last und die Knickformberechenbar, jedoch nicht die Amplitude. Da es in der technischen Anwendung im Normalfallnur darauf ankommt ein Knicken oder Beulen zu vermeiden, ist meistens nur die kritische Lastgefragt.

Die Berechnung der kritischen Last erfolgt mit einer Gleichgewichtsbilanz am verformten Sta-belement, wie oben schon dargestellt wurde. Jedoch kann es im Allgemeinen trotz einer reinzentrischen Belastung auch Querkräfte in den Querschnitten geben. Auch diese verallgemei-nerte Berechnung wird auf ein Eigenwertproblem führen, wie alle Stabilitätsprobleme. Es wirddaher ein freigeschnittenes Stabelement dx im verformten Zustand wie in Bild 9.5 skizziert be-trachtet. In diesem Freischnitt sind schon zwei Ergebnisse eingearbeitet. Zum einen wurde nichtdie Normalkraft angetragen, sondern gleich die Last F , da ja die Normalkraft über die Stablängekonstant und gleich der Last ist und als Druckkraft wirkt. Weiterhin wurde schon beachtet, dassdie Querkraft Qz konstant sein muss, da keine Streckenlast quer zur Stabachse wirkt. Solch eineQuerkraft kann je nach Lagerung auftreten, obwohl der Stab nur in Längsrichtung belastet ist.

Page 168: Mechanik 2

160 9 Stabilitätsprobleme

xy z

dx

w

w+dw

F

F

Qz

Qz

My

My +dMy

Bild 9.5: Freischnitt eines Stabelements: Verformter Zustand

Mit diesen Annahmen wurden implizit schon die Kräftebilanzen in und quer zur Stabachseausgewertet. Als nächstes wird eine Momentenbilanz um das negative Schnittufer (in Bild 9.5das untere Schnittufer) gebildet

My +dMy−My−Qz dx−F (w+dw−w) = 0 , (9.10)

welche sich zu

Qz =dMy

dx−F

dwdx

= M′y−Fw′ (9.11)

umformen lässt. Mit der Differentialgleichung der Biegelinie erhält man

Qz =(−EIy w′′

)′−Fw′ . (9.12)

Für den häufigen Sonderfall einer konstanten Biegesteifigkeit (EIy =const) und der Abkürzungλ2 = F

EIyerhält man für die Querkraft

Qz =−EIy(w′′′+λ

2w′)

. (9.13)

Da diese jedoch konstant ist, resultiert eine Differentiation nach x in eine Differentialgleichungvierter Ordnung für die Durchbiegung

w′′′′+λ2w′′ = 0 . (9.14)

Deren allgemeine Lösung lautet

w(x) = Asin(λx)+Bcos(λx)+Cx+D (9.15)

mit den Konstanten A,B,C und D. Diese müssen an die entsprechenden Randbedingungen desjeweiligen Systems angepasst werden. Es zeigt sich damit, dass alle Knickprobleme auf Eigen-wertprobleme für λ führen. Der jeweils kleinste von Null verschiedene Eigenwert bestimmt diegesuchte kritische Last.

Page 169: Mechanik 2

9.1 Knicken eines Druckstabes 161

Anmerkung:

Im Abschnitt 9.1.1 wurde der Euler’sche Knickfall II mit einer Differentialgleichung 2. Ord-nung behandelt. Dies stellt einen Spezialfall der in (9.14) gegebenen allgemeinen Gleichungdar. Die Spezialisierung liegt darin, dass die konstante Querkraft in diesem Fall verschwin-det, d.h. es gilt Qz = 0. Wie dies mit der Gleichung (9.14) harmoniert zeigt das Folgende.Im Fall Qz = 0 ist (9.13)

w′′′+λ2w′ = 0 ,

welches nach Integration

w′′+λ2w = const (9.16)

ergibt. Setzt man die Randbedingungen w(x = 0) = w′′ (x = 0) = 0 in (9.16) ein

w′′ (0)+λ2w(0) = 0 ,

so erkennt man, dass die Konstante aus (9.16) verschwinden muss. Damit erhält man dieDifferentialgleichung (9.2) für den Euler-Fall II

w′′+λ2w = 0 .

Mit der allgemein gültigen Differentialgleichung (9.14) und den speziellen Randbedingungender noch nicht behandelten Euler-Fälle I, III und IV können die kritischen Lasten dafür be-rechnet werden. Die Randbedingungen dieser verbleibenden Euler-Fälle lauten (siehe Bild 9.3)

Fall I: w(0) = 0 w′ (0) = 0 Qz = 0 w′′ (`) = 0 (9.17a)Fall III: w(0) = 0 w′ (0) = 0 w(`) = 0 w′′ (`) = 0 (9.17b)Fall IV: w(0) = 0 w′ (0) = 0 w(`) = 0 w′ (`) = 0 . (9.17c)

Es wurde in (9.17) wieder angenommen, dass der Stab die Länge ` besitzt. Aus der drittenRandbedingung in (9.17a) erkennt man, dass auch der Euler-Fall III keine Querkräfte beinhaltet,und somit entsprechend Abschnitt 9.1.1 mit der Differentialgleichung zweiter Ordnung (9.2)gelöst werden könnte. Im Folgenden wird dieser Fall jedoch zusammen mit den anderen beidenEuler-Fällen behandelt.

Für alle drei Euler-Fälle I, III und IV sind die ersten beiden Randbedingungen w(0) = 0 undw′ (0) = 0 gleich. Damit können zwei Bedingungen zur Bestimmung der vier Integrationskon-stanten

B+D = 0 Aλ+C = 0 (9.18)

aufgestellt werden. Diese können in die allgemeine Lösung (9.15) eingearbeitet werden, undreduzieren diese auf

w(x) = A(sin(λx)−λx)+B(cos(λx)−1) . (9.19)

Page 170: Mechanik 2

162 9 Stabilitätsprobleme

Im Folgenden werden die Ableitungen der Lösung (9.19) benötigt, um die restlichen beidenKonstanten A und B zu bestimmen. Diese lauten

w′ (x) =λ(A(cos(λx)−1)−Bsin(λx)) (9.20a)

w′′ (x) =−λ2 (Asin(λx)+Bcos(λx)) (9.20b)

w′′′ (x) =λ3 (−Acos(λx)+Bsin(λx)) . (9.20c)

Die Anpassung an die Randbedingungen muss jedoch für jeden Fall einzeln durchgeführt wer-den.

Knickfall I: In diesem Fall kann die Konstante A über die Randbedingung Qz = 0 mit (9.20c),d.h. die dritte Ableitung von w muss verschwinden, bestimmt werden

w′′′ (0) =−λ3A = 0 → A = 0 . (9.21)

Die noch verbleibende Randbedingung lautet mit (9.21)

w′′ (`) =−λ2Bcos(λ`) = 0 → Bcos(λ`) = 0 , (9.22)

welches für die nicht-triviale Lösung B 6= 0 die Eigenwerte

λn` = (2n−1)π

2(9.23)

ergibt. Der kleinste von Null verschiedene Eigenwert λ1 bestimmt wie oben die kritische Last

λ1 =π

2`→ Fkrit =

π2

4`2 EIy . (9.24)

Damit kann nun auch die Verformungsfigur dieser Knicklast, die erste Eigenform, angegebenwerden

w(x) = B(

cos(

πx2`

)−1)

. (9.25)

Wie schon beim Euler-Fall II kann die Konstante B nicht im Rahmen dieser linearen Theoriebestimmt werden.

Knickfall III: Abweichend von den vorherigen Rechnungen sind im Fall III die verbleiben-den Konstanten nicht so einfach zu berechnen, da die Randbedingungen in (9.17b) auf ein ge-koppeltes System von zwei transzendenten Gleichungen

A(sin(λ`)−λ`)+B(cos(λ`)−1) = 0Asin(λ`)+Bcos(λ`) = 0

(9.26)

Page 171: Mechanik 2

9.1 Knicken eines Druckstabes 163

führt. Dieses System kann gelöst werden, wenn die Determinante des Gleichungssystems (9.26)verschwindet, d.h. es gilt

(sin(λ`)−λ`)cos(λ`)− sin(λ`)(cos(λ`)−1)= sin(λ`)cos(λ`)−λ`cos(λ`)− sin(λ`)cos(λ`)+ sin(λ`)

= sin(λ`)−λ`cos(λ`) != 0 .

(9.27)

Die Lösung dieser Gleichung ist

tan(λ`) = λ` → λ`≈ 4,49≈ 1,43π , (9.28)

wobei hier nur der kleinste Eigenwert als Lösung angegeben wurde. Dies ergibt die kritischeLast

Fkrit ≈ 2,04π2

`2 EIy . (9.29)

Einsetzen von (9.28) in die zweite Gleichung von (9.26) erlaubt die Elimination von A = −Bλ`

und führt auf die erste Eigenform der Lösung

w(x)≈ A

[cos(

1,43πx`

)−1−

sin(1,43πx

`

)1,43π

+x`

]. (9.30)

Knickfall IV: Ebenfalls wie beim Fall III müssen hier die Konstanten aus einem transzenden-ten Gleichungssystem

A(sin(λ`)−λ`)+B(cos(λ`)−1) = 0A(cos(λ`)−1)−Bsin(λ`) = 0

(9.31)

berechnet werden. Die verschwindende Determinante liefert auch hier die Eigenwertgleichung

−sin2 (λ`)+λ`sin(λ`)− (cos(λ`)−1)2

=−sin2 (λ`)− cos2 (λ`)+λ`sin(λ`)+2cos(λ`)−1

=−2+λ`sin(λ`)+2cos(λ`) != 0 .

(9.32)

Fasst man diese Lösung mit Hilfe der Additionstheoreme

sin(λ`) = 2sin(

λ`

2

)cos(

λ`

2

)und cos(λ`) = 1−2sin2

(λ`

2

)zusammen, so erhält man

sin(

λ`

2

)[λ`

2cos(

λ`

2

)− sin

(λ`

2

)]= 0 (9.33)

Page 172: Mechanik 2

164 9 Stabilitätsprobleme

mit den beiden Lösungsmöglichkeiten

λn` = 2nπ tan(

λm`

2

)=

λm`

2. (9.34)

Der kleinste dieser Eigenwerte ist λ` = 2π, welcher auf die kritische Last

Fkrit =4π2

`2 EIy (9.35)

führt. Setzt man λ` = 2π in die erste Gleichung von (9.31) ein erhält man die Konstante A = 0.Damit ist die erste Eigenform der Lösung

w(x) = B[

cos(

2πx`

)−1]

. (9.36)

Wie alle anderen Eigenformen ist diese gestrichelt in Bild 9.3 dargestellt.

Anmerkung:

1. Bei den obigen Untersuchungen wurde davon ausgegangen, dass der Stab immer in derx-z-Ebene ausknickt. Dies war durch die Annahme eines Hauptachsensystems gerecht-fertigt. Es kann gezeigt werden, dass Stäbe immer in solch einer Ebene ausknicken.Bei schiefer Biegung knickt der Stab in Richtung des minimalen Flächenmomentes 2.Grades aus. D.h. in diesen Fällen ist das in den oben angegebenen Formeln benutzteFlächenmoment Iy durch das minimale Flächenmoment zu ersetzen.

2. Es wird weiter darauf hingewiesen, dass bei Stabilitätsnachweisen die durch die Vor-schriften festgelegten Sicherheitsbeiwerte beachtet werden müssen. So kann ein Stabz.B. infolge von Imperfektionen, d.h. Abweichungen von der exakt gerade angenom-menen Stabachse, oder bei exzentrischem Lastangriff schon bei Lasten unterhalb Fkritunzulässig große Durchbiegungen erfahren.

9.2 Eulerhyperbel

Die Beispiele der vorigen Abschnitte zeigen, dass bei Druckstäben durch Änderung der Rand-bedingungen eine Vielzahl von Knickproblemen entstehen, und dass die kritische Last in allenFällen in der Form

Fkrit =π2

L2 EIy (9.37)

angegeben werden kann. Man muss L nur als geeignetes Vielfaches der Stablänge ` definieren.Für die vier Eulerfälle ist dies

Page 173: Mechanik 2

9.2 Eulerhyperbel 165

Fall I II III IV

L 2 ` ``√

2,07≈ 0,7`

`

2

Die Angabe der kritischen Last in dieser Form bedeutet den Vergleich eines beliebig gelagertenDruckstabes mit einem beidseitig gelenkig gelagerten Druckstab der Länge L.

Alle oben angegebenen kritische Lasten setzen voraus, dass der Stab sich unter der kritischenLast nicht plastisch verformt. Um das nachzuprüfen, muss die Längsspannung

σkrit =Fkrit

A=

π2EIy

L2A= E

Liy

)2

= E(

π

δ

)2(9.38)

berechnet werden. In diesen Ausdruck ist das mit δ abgekürzte Verhältnis

δ =Liy

=L√Iy/A

(9.39)

nur von den geometrischen Abmessungen des Stabes abhängig. Es ist dimensionslos und des-halb zum Vergleich verschiedener Stäbe gut geeignet. Der Trägheitsradius iy =

√Iy/A ist allein

durch die Form des Querschnitts bestimmt. Das Verhältnis δ nennt man Schlankheitsgrad desStabes. Ein Beispiel: Für einen Stab mit L = 1m und mit einem Rechteckquerschnitt der Breiteb = 0,03m und der Höhe h = 0,04cm ist iy =

√Iy/A = b/12 und δ≈ 115.

In einem δ-σkrit-Diagramm wird die Beziehung (9.38) durch die so-genannte Eulerhyperbeldargestellt (siehe Bild 9.6). Der gestrichelte Teil der Hyperbel oberhalb der Proportionalitäts-

δ

σkrit

σP

Bild 9.6: Eulerhyperbel

grenze σP ist bedeutungslos, weil der Werkstoff sich plastisch verformt, bevor die kritische Lasterreicht wird. Die durchgezogene Kurve gibt die theoretisch erlaubte Obergrenze für Spannun-gen an. Multiplikation mit der Querschnittsfläche ergibt die theoretisch erlaubte Obergrenze fürdie Druckkraft. In der Baupraxis ist aus Sicherheitsgründen jedoch die zulässige Druckkraftkleiner als diese theoretisch erlaubte Obergrenze.

Page 174: Mechanik 2

166 9 Stabilitätsprobleme

Page 175: Mechanik 2

LITERATURVERZEICHNIS

[1] Bruhns, O.; Lehmann, T.: Elemente der Mechanik II, Elastostatik. Vieweg Verlag, Braun-schweig Wiesbaden, 1994.

[2] Grote, K.-H.; Feldhusen, J. (Eds.): Dubbel - Taschenbuch für den Maschinenbau. SpringerVerlag, 21 ed., 2005.

[3] Hibbeler, R.C.: Technische Mechanik 2 – Festigkeitslehre. 5. überarbeitete und erweiterteAuflage. Pearson Studium, 2006.

[4] Krapfenbauer, R.; Krapfenbauer, T.: Bautabellen, Ausgabe 2004/05. Pichler Verlag, 2004.

[5] Mang, H.; Hofstetter, G.: Festigkeitslehre. Springer Verlag, Wien, 2000.

[6] Schneider, K.-J. (Ed.): Bautabellen für Ingenieure. Werner Verlag, Düsseldorf, 14 ed., 2001.

[7] Schnell, W.; Gross, D.; Hauger, W.: Technische Mechanik Band 2: Elastostatik. SpringerVerlag, Berlin Heidelberg Tokyo, 7. ed., 2002.

[8] Wittenburg, J.; Pestel, E.: Festigkeitslehre: Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Springer-Verlag,Berlin Heidelberg New York, 3. ed., 2001.

167

Page 176: Mechanik 2

168 Literaturverzeichnis

Page 177: Mechanik 2

INDEX

AAnstrengungshypothesen 121Arbeitssatz 131

BBernoulli’sche Hypothese 47, 56Biegelinie 69

Differentialgleichung 69Differentialgleichung vierter Ordnung 70

Biegepfeil 72, 88Biegesteifigkeit 58Biegung

gerade 55reine 56schief 55, 83

Bruchfestigkeit 33, 124Bruchfläche 130Bruchhypothese 124

maximale Normalspannung 129Rankine 129

CCastigliano

1. Satz 1452. Satz 147

Cauchy’sche Formel 15Cauchy’sche Gleichungen 13Cauchy’scher Spannungstensor 11

DDehnsteifigkeit 49Deviationsmoment 59Dilatation 28Divergenz 8Drillsteifigkeit 104Durchbiegung 67Durchschlagproblem 156dyadische Produkt 5

Eebener Spannungszustand 18

Einflusszahl 140Einstein’sche Summationskonvention 3elastisches Potential 35Elastizitätsmodul (E-Modul) 32Elastizitätstensor 35Euler-Bernoulli Theorie 69Euler-Fälle 157Eulerhyperbel 165

FFlächenträgheitsmoment 58

axial 58biaxial 58Invarianten 65polar 60, 104

Fließfläche 126Fließgrenze 33, 124Fließhypothese 124

Gestaltänderungsenergiehypothese 129maximalen Schubspannung 125Oktaederschubspannungen 129Tresca 125von Mises 127, 128

Formänderungsenergie 134Biegung 137reine Biegung 139Torsion 136Zug und Biegung 139Zugstab 135

GGleichgewichtsbedingen 13Gradient 8

HHauptachsensystem 17Hauptnormalspannungen 16

ebener Spannungszustand 21Hauptschubspannungen 17

ebener Spannungszustand 21Hauptspannungsraum 126

169

Page 178: Mechanik 2

170 Index

Hauptträgheitsmomente 66Hauptverzerrung 27

ebener Verzerrungszustand 29Hooke’sche Gesetz

dreidimensional 35eindimensional 32isotrop 36

Hypothese Ebenbleiben der Querschnitte 47

IInkompressiebilität 34innere Energie 132

KKern eines Querschnitts 122Knicken 156Kompatibilitätsbedingung 148Kompressionsmodul 36Kontinuum 9kritische Knicklast

Euler-Fall I 162Euler-Fall II 159Euler-Fall III 163Euler-Fall IV 164

Kroneckersymbol 4

LLamé’schen Konstanten 36Lamé-Navier Bewegungsgleichungen 42

MMaterial

anisotrop 31homogen 31inhomogen 31isotrop 31orthotrop 38transversal isotrop 39

NNachgiebigkeitsmatrix 144Nachgiebigkeitstensor 35neutrale Faser 56Normalspannung 10, 11

schiefe Biegung 86

PPoisson’sche Querkontraktionszahl 34Prinzip der virtuellen Arbeit 132Prinzip der virtuellen Kräfte 132, 146Prinzip der virtuellen Verrückungen 132Prinzip der virtuellen Verschiebungen 132Prinzip von Saint-Vernant 31Profilmittellinie 109

QQuerdehnzahl 34Querschubzahl 137

RRandbedingung

geometrisch 71statisch 71

SSatz von Betti 141Satz von Clapeyron 132Satz von Menabrea 150Satz von Steiner 63Scherung 26Schlankheitsgrad 165Schubfläche 69Schubfluss 92Schubkorrekturfaktor 69, 137Schubmittelpunkt 47, 96Schubmodul 34Schubspannung 10, 11schubstarr 69Schubsteifigkeit 69Schubverformung 26Spannung

Invarianten 17Normalkomponente 16Tangentialkomponente 16Transformation in 2-d 20

Spannungshauptrichtung 16Spannungsnullinie 86, 122Spannungsresultanten 46Spannungstensor 11

Symmetrie 14

Page 179: Mechanik 2

Index 171

Spannungsvektor 9Spannungszustand

deviatorisch 18hydrostatisch 18

Stabachse 45Starrkörperrotation 28Starrkörperverschiebung 24statisch Überzählige 148Steifigkeitsmatrix 144Superpositionsprinzips 121

TTemperaturausdehnungskoeffizient 40Tensor 5

doppelte Kontraktion 7inneres Produkt 7Kontraktion 7Transformationsgesetze 6

Tensorfeld 7Torsion

Differentialgleichung 107erste Bredt’sche Formel 110ohne Wölbbehinderung 109zweite Bredt’sche Formel 111

Torsionsfunktion 102Torsionssteifigkeit 104Torsionsträgheitsmoment 104, 111Trägheitsradius 60, 165Trägheitstensor 66

UÜbergangsbedingungen 75

VVektor 3Verdrillung 100Vergleichsspannungen 124Verschiebungseinflusszahl 140Vertauschungssatz von Maxwell 142Verwölbung 99Verwindung 100Verzerrung

deviatorisch 27hydrostatisch 27

Verzerrungsenergie 132Verzerrungstensor 27Verzweigungsproblem 155Voigt’sche Schreibweise 38Volumendehnung 27

WWölbkrafttorsion 99Widerstandsmoment

Biegung 58Torsion 105, 110

ZZentrifugalmoment 59zugeordneten Schubspannungen 14