natascha kampusch: 3096 tage

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    Natascha Kampusch

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    Mit Heike Gronemeier und Corinna Milborn 

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    Impressum 

    3096 Tage

     Natascha KampuschPreis: EUR 19,95

    gebundene Ausgabe: 288 Seiten

    Verlag: List (8. September 2010)

    Sprache: DeutschISBN-10: 3471350403

    ISBN-13: 978-3471350409

     Natascha Kampusch erlitt das schrecklichste Schicksal, das einem

    Kind zustoßen kann: Am 2. März 1998 wurde sie im Alter von

    zehn Jahren auf dem Schulweg entführt. Ihr Peiniger, der Nach-

    richtentechniker Wolfgang Priklopil, hielt sie in einem Kellerver-

    lies gefangen - 3096 Tage lang. Am 23. August 2006 gelang ihr

    aus eigener Kraft die Flucht. Priklopil nahm sich noch am selbenTag das Leben. Jetzt spricht Natascha Kampusch zum ersten Mal

    offen über die Entführung 

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     Zum Buch: 

     Psychisches Trauma ist das Leid der Ohn-mächtigen. Das Trauma entsteht in dem Augen-blick, wo das Opfer von einer überwältigenden Macht hilflos gemacht wird. Ist diese Macht eine Naturgewalt, sprechen wir von einer Katastro- phe. Üben andere Menschen diese Macht aus, sprechen wir von Gewalttaten. Traumatische Ereignisse schalten das soziale Netz aus, dasdem Menschen gewöhnlich das Gefühl von Kont-rolle, Zugehörigkeit zu einem Beziehungssystemund Sinn gibt. 

    Judith Hermann, Die Narben der Gewalt  

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    Inhalt  

    Brüchige WeltMeine Kindheit am Stadtrand von Wien

    Was soll schon passieren?

    Der letzte Tag meines alten LebensVergebliche Hoffnung auf RettungDie ersten Wochen im Verlies

    Lebendig begrabenDer Alptraum wird Wirklichkeit

    Sturz ins NichtsDer Raub meiner Identität

    Misshandlung und HungerDer tägliche Kampf ums Überleben

    Zwischen Wahn und heiler WeltDie zwei Gesichter des Täters

    Ganz untenWenn körperlicher Schmerz die seelischen Qualen lindert

    Angst vor dem LebenDas innere Gefängnis stehtFür einen bleibt nur der TodMeine Flucht in die Freiheit

    Epilog

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    Brüchige Welt Meine Kindheit am Stadtrand von Wien 

    MEINE MUTTER ZÜNDETE sich eine Zigarette an undnahm einen tiefen Zug. »Es ist schon finster draußen. Wasdir alles passieren hätte können!« Sie schüttelte den Kopf.

    Mein Vater und ich hatten das letzte Februarwochenendedes Jahres 1998 in Ungarn verbracht. Dort hatte er sich in

    einem kleinen Dorf nicht weit von der Grenze ein Woche-nendhaus gekauft. Es war eine regelrechte Bruchbude ge-wesen, mit feuchten Mauern, von denen der Putz abbrö-ckelte. Im Laufe der Jahre hatte er sie renoviert und mitschönen, alten Möbeln eingerichtet, so dass sie inzwischenfast wohnlich war. Trotzdem mochte ich die Ausflüge dor-thin nicht besonders. Mein Vater hatte viele Freunde inUngarn, mit denen er sich ausgiebig traf und dank desgünstigen Wechselkurses immer ein bisschen zu viel feier-te. In den Kneipen und Restaurants, die wir abends besuch-ten, war ich das einzige Kind in der Runde, saß schweigenddaneben und langweilte mich.

    Wie schon die Male zuvor war ich nur widerwillig mit-

    gefahren. Die Zeit verging im Schneckentempo, und ich är-gerte mich, dass ich noch zu klein und unselbständig war,um selbst über sie bestimmen zu können. Auch als wir amSonntag das nahegelegene Thermalbad aufsuchten, hieltsich meine Begeisterung in Grenzen. Missmutig schlender-te ich durch das Areal des Bades, als mich eine Bekannteansprach: »Willst du nicht eine Limonade mit mir trinken?«Ich nickte und folgte ihr ins Cafe. Sie war Schauspielerinund lebte in Wien. Ich bewunderte sie, weil sie eine großeGelassenheit ausstrahlte und so sicher wirkte. Außerdem

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    hatte sie genau den Beruf, von dem ich insgeheim träumte.Nach einer Weile holte ich tief Luft und sagte: »Weißt du,

    ich würde auch gerne Schauspielerin werden. Glaubst du,dass ich das könnte?«

    Sie lächelte mich strahlend an. »Natürlich kannst du das,Natascha! Du wirst eine großartige Schauspielerin, wenndu das wirklich willst!«

    Mein Herz machte einen Sprung. Ich hatte fest damit ge-

    rechnet, nicht ernst genommen oder gar ausgelacht zuwerden - wie so oft. »Wenn es so weit ist, helfe ich dir«,versprach sie mir und legte ihren Arm um meine Schulter.Auf dem Weg zurück in die Schwimmhalle hüpfte ich aus-gelassen und summte vor mich hin: »Ich kann alles, wennich nur will und wenn ich fest genug an mich glaube.« Ichfühlte mich so leicht und unbeschwert wie schon lange

    nicht mehr.Doch meine Euphorie währte nur kurz. Der Nachmittag

    war bereits weit fortgeschritten, aber mein Vater machtekeine Anstalten, das Bad zu verlassen. Auch als wir endlichwieder im Ferienhaus angekommen waren, legte er keineEile an den Tag. Im Gegenteil, er wollte sich noch kurz hin-

    legen. Ich sah nervös auf die Uhr. Wir hatten meiner Mut-ter versprochen, um sieben Uhr zu Hause zu sein - amnächsten Tag war ja Schule. Ich wusste, dass es heftigeStreitereien geben würde, wenn wir nicht pünktlich inWien ankämen. Während er schnarchend auf dem Sofa lag,schritt die Zeit unerbittlich voran. Als mein Vater endlichaufwachte und wir uns auf den Rückweg machten, war es

    schon dunkel. Ich saß schmollend auf der Rückbank undsagte kein Wort. Wir würden es nicht rechtzeitig schaffen,meine Mutter würde wütend sein, alles, was heute Nach-

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    mittag so schön gewesen war, wäre mit einem Schlag da-hin. Wie immer würde ich zwischen die Fronten geraten.

    Die Erwachsenen machten alles kaputt. Als mir mein Vateran einer Tankstelle Schokolade kaufte, stopfte ich die ganzeTafel auf einmal in mich hinein.

    Erst um halb neun, mit zweieinhalbstündiger Verspä-tung, kamen wir bei der Rennbahnsiedlung an. »Ich lassdich hier raus, lauf schnell nach Hause«, sagte mein Vaterund gab mir einen Kuss. »Ich hab dich lieb«, murmelte ichwie immer zum Abschied. Dann ging ich durch den dunk-len Hof zu unserer Stiege und sperrte die Haustür auf. ImFlur fand ich neben dem Telefon einen Zettel von meinerMutter: »Bin im Kino, komme später.« Ich stellte meine Ta-sche ab und zögerte einen Moment. Dann schrieb ich mei-ner Mutter eine Notiz, dass ich bei unserer Nachbarin im

    Stock unter uns auf sie warten würde. Als sie mich nach ei-ner Weile abholte, war sie außer sich: »Wo ist dein Vater?«,fuhr sie mich an.

    »Er ist nicht mitgekommen, er hat mich vorne aussteigenlassen«, sagte ich leise. Ich konnte nichts für die Verspä-tung und auch nichts dafür, dass er mich nicht bis vor dieHaustür begleitet hatte. Trotzdem fühlte ich mich schuldig.

    »Herrgott noch mal! Ihr seid um Stunden zu spät, ich sit-ze hier und mache mir Sorgen. Wie kann er dich nur alleindurch den Hof gehen lassen? Mitten in der Nacht? Es hättedir etwas passieren können! Aber eines sage ich dir: Dusiehst deinen Vater nicht mehr. Ich hab es so satt und ichlasse das nicht mehr länger zu!«

    * * *

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    Zum Zeitpunkt meiner Geburt am 17. Februar 1988 warmeine Mutter 38 Jahre alt und hatte bereits zwei erwachse-

    ne Töchter. Meine erste Halbschwester war auf die Weltgekommen, als sie gerade 18 Jahre gewesen alt war, diezweite wurde ein gutes Jahr später geboren. Das war Endeder 1960er Jahre. Meine Mutter war mit den beiden kleinenKindern überfordert und auf sich allein gestellt - sie hattesich bald nach der Geburt meiner zweiten Halbschwestervom Vater der beiden Mädchen scheiden lassen. Es war

    nicht leicht für sie gewesen, den Lebensunterhalt für ihrekleine Familie zu bestreiten. Sie musste um vieles kämpfen,handelte dabei pragmatisch und mit einer gewissen Härtegegen sich selbst und tat alles, um ihre Kinder durchzu-bringen. Für Sentimentalität und Zaghaftigkeit, für Mußeund Leichtigkeit war kein Raum in ihrem Leben. Nun, mit

    38, als die beiden Mädchen erwachsen waren, war sie zumersten Mal seit langem von den Pflichten und Sorgen derKindererziehung befreit. Genau zu diesem Zeitpunkt kün-digte ich mich an. Meine Mutter hatte nicht mehr mit einerSchwangerschaft gerechnet.

    Die Familie, in die ich hineingeboren wurde, war eigen-dich gerade dabei, sich wieder aufzulösen. Ich wirbelte al-

    les durcheinander: Die Kindersachen mussten wieder her-vorgekramt und die Tagesabläufe auf einen Säugling abge-stimmt werden. Auch wenn ich freudig aufgenommen undvon allen wie eine kleine Prinzessin verwöhnt wurde, fühl-te ich mich in meiner Kindheit manchmal wie das fünfteRad am Wagen. Ich musste mir meinen Platz in einer Welt,

    in der die Rollen bereits verteilt waren, erst erkämpfen.Meine Eltern waren zum Zeitpunkt meiner Geburt seitdrei Jahren ein Paar. Kennengelernt hatten sie sich über ei-

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    ne Kundin meiner Mutter. Als gelernte Schneiderin ver-diente meine Mutter den Lebensunterhalt für sich und ihre

    beiden Töchter, indem sie für die Damen der UmgebungKleider nähte und änderte. Eine ihrer Kundinnen war eineFrau aus Süßenbrunn bei Wien, die gemeinsam mit ihremMann und ihrem Sohn eine Bäckerei und ein kleines Le-bensmittelgeschäft betrieb. Ludwig Koch junior hatte siemanchmal zu den Anproben begleitet und war immer et-was länger als notwendig geblieben, um mit meiner Mutter

    zu plaudern. Sie hatte sich schnell in den jungen, stattlichenBäcker verhebt, der sie mit seinen Geschichten zum Lachenbrachte. Nach einiger Zeit hielt er sich immer häufiger beiihr und den beiden Mädchen im großen Gemeindebau amnördlichen Stadtrand von Wien auf. Die Stadt franst hier indas flache Land des Marchfeldes aus und kann sich nicht

    recht entscheiden, was sie sein will. Es ist eine zusammen-gewürfelte Gegend ohne Zentrum und ohne Gesicht, in deralles möglich scheint und der Zufall regiert. Gewerbegebie-te und Fabriken stehen inmitten brachliegender Felder, aufdenen die Hunde der Siedlungen in Rudeln durch das un-gemähte Gras toben. Dazwischen kämpfen die Kerne ehe-maliger Dörfer um ihre Identität, die genau wie die Farbe

    der kleinen Biedermeier-Häuschen langsam abblättert. Re-likte vergangener Zeiten, abgelöst von zahllosen Gemein-debauten, Utopien des sozialen Wohnungsbaus, mit großerGeste hingeklotzt auf die grüne Wiese und sich dort selbstüberlassen. In einer der größten dieser Siedlungen bin ichaufgewachsen.

    Der Gemeindebau am Rennbahnweg war in den 1970er Jahren am Reißbrett entworfen und hochgezogen worden,eine Stein gewordene Vision der Stadtplaner, die ein neuesUmfeld für neue Menschen schaffen wollten: glückliche

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    und arbeitsame Familien der Zukunft, untergebracht inmodernen Satellitenstädten mit klaren Linien, Einkaufs-

    zentren und guter Verkehrsanbindung nach Wien.Auf den ersten Blick schien das Experiment gelungen.

    Der Komplex besteht aus 2400 Wohnungen, über 7000Menschen wohnen dort. Die Höfe zwischen den Wohn-türmen sind großzügig bemessen und von hohen Bäumenbeschattet, Spielplätze wechseln sich ab mit Arenen aus Be-ton und großen Rasenflächen. Man kann sich direkt vor-stellen, wie die Stadtplaner Miniaturausgaben spielenderKinder und Mütter mit Kinderwagen auf ihr Modell setz-ten und überzeugt davon waren, dass sie einen Raum füreine ganz neue Art von sozialem Zusammenleben geschaf-fen hatten. Die Wohnungen, übereinandergestapelt inTürmen mit bis zu 15 Stockwerken, waren im Vergleich zu

    den muffigen Substandard-Zinshäusern der Stadt luftigund gut geschnitten, versehen mit Baikonen und ausgestat-tet mit modernen Badezimmern.

    Aber von Anfang an war die Siedlung eine Auffangstati-on für Zugezogene, die in die Stadt wollten und doch nieganz dort ankamen: Arbeiter aus den österreichischenBundesländern, aus Niederösterreich, dem Burgenland undder Steiermark. Nach und nach kamen Migranten hinzu,mit denen die anderen Bewohner täglich kleine Scharmüt-zel um Kochgerüche, spielende Kinder und die unter-schiedliche Auffassung von Lautstärke austrugen. DieStimmung in der Gegend wurde aggressiver, die Zahl dernationalistischen und fremdenfeindlichen Schmierereien

    nahm zu. Ins Einkaufszentrum zogen Billigläden, auf dengroßen Plätzen davor tummelten sich schon tagsüber Ju-

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    gendliche und Menschen ohne Arbeit, die ihren Frust inAlkohol ertränkten.

    Heute ist die Siedlung renoviert, die Wohntürme leuch-ten in bunten Farben und die U-Bahn ist endlich fertig.Doch als ich meine Kindheit dort verbrachte, war »derRennbahnweg« geradezu der Inbegriff eines sozialenBrennpunkts. Es galt als gefährlich, nachts das Gelände zuüberqueren, und auch tagsüber war es unangenehm, anden Gruppen Halbstarker vorbeizugehen, die sich die Zeitdamit vertrieben, in den Höfen herumzuhängen und Frau-en Anzüglichkeiten hinterherzurufen. Meine Mutter eilteimmer schnellen Schrittes durch die Höfe und Stiegenhäu-ser, meine Hand fest in ihrer. Obwohl sie eine so resolute,schlagfertige Frau war, hasste sie die Pöbeleien, denen sieim Rennbahnweg ausgesetzt war. So gut es ging, versuchte

    sie, mich zu schützen, erklärte mir, warum sie es nicht ge-rne sah, wenn ich im Hof spielte, und warum sie die Nach-barn als vulgär empfand. Für mich als Kind war das aufden ersten Blick natürlich nicht nachvollziehbar, aber ichbefolgte ihre Anweisungen meistens.

    Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie ich als kleinesMädchen immer wieder den Entschluss fasste, doch in denHof hinunterzugehen und zu spielen. Ich bereitete michstundenlang darauf vor, überlegte mir, was ich zu den an-deren Kindern sagen würde, zog mich an und wieder um.Ich wählte Spielzeuge für die Sandkiste und verwarf siewieder; dachte lange nach, welche Puppe ich wohl mit-nehmen sollte, um Kontakt zu knüpfen. Doch wenn ich

    dann tatsächlich unten in den Hof trat, blieb ich immer nurwenige Minuten: Ich konnte das Gefühl nie überwinden,nicht dazuzugehören. Ich hatte die ablehnende Haltung

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    meiner Eltern so sehr verinnerlicht, dass meine eigene Sied-lung für mich eine fremde Welt blieb. Lieber flüchtete ich

    mich, auf meinem Bett im Kinderzimmer liegend, in Tag-träumereien. Dieser rosa gestrichene Raum mit seinem hel-len Teppichboden und dem gemusterten Vorhang, denmeine Mutter genäht hatte und der auch tagsüber nichtaufgezogen wurde, hüllte mich schützend ein. Hierschmiedete ich große Pläne und dachte Stunden darübernach, wohin mich mein Weg im Leben wohl führen würde.

    Hier in der Siedlung jedenfalls, das wusste ich, wollte ichkeine Wurzeln schlagen.

    * * *

    Die ersten Monate meines Lebens war ich der Mittel-punkt unserer Familie. Meine Schwestern umsorgten dasneue Baby, als würden sie für später üben. Die eine fütterteund wickelte mich, die andere nahm mich im Tragetuchmit ins Stadtzentrum und flanierte die Einkaufsstraßen aufund ab, wo die Passanten stehen blieben, mein breites Lä-cheln und meine hübschen Kleider bewunderten. Wenn sie

    meiner Mutter davon erzählten, war sie selig. Sie kümmer-te sich hingebungsvoll um mein Außeres und staffiertemich von klein auf mit den schönsten Kleidern aus, die siean langen Abenden für mich nähte. Sie suchte besondereStoffe aus, blätterte in Modezeitschriften nach den neuestenSchnittmustern oder kaufte mir Kleinigkeiten in Boutiquen.Alles war aufeinander abgestimmt, selbst die Socken. In-

    mitten eines Stadtviertels, in dem viele Frauen mit Lo-ckenwicklern und die meisten Männer mit Trainingshosenaus Ballonseide in den Supermarkt schlurften, war ich ge-

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    kleidet wie ein kleines Model. Diese Überbetonung vonÄußerlichkeiten war nicht nur ein Akt der Abgrenzung von

    unserem Umfeld; es war auch die Art meiner Mutter, mirso ihre Liebe zu zeigen.

    Mit ihrem forschen, resoluten Wesen fiel es ihr eherschwer, Gefühle bei sich und anderen zuzulassen. Sie warnicht die Frau, die ein Kind ständig in den Arm nahm undknuddelte. Sowohl Tränen als auch überschwängliche Lie-besbekundungen waren ihr immer etwas unangenehm.Meine Mutter, die durch die frühe Schwangerschaft soschnell erwachsen werden musste, hatte sich im Laufe derZeit ein dickes Fell zugelegt. Sie gestand sich selbst keine»Schwäche« zu und ertrug sie nicht bei anderen. Ich habeals Kind oft erlebt, wie sie Erkältungen mit reiner Willens-kraft niederrang, und sah fasziniert zu, wie sie dampfend

    heißes Geschirr aus dem Geschirrspüler nahm, ohne zu-rückzuzucken. »Ein Indianer kennt keinen Schmerz« warihr Credo - eine gewisse Härte schadet nicht, sie hilft einemsogar, in der Welt zu bestehen.

    Mein Vater war in dieser Hinsicht das genaue Gegenteil.Er empfing mich mit offenen Armen, wenn ich mich an ihnkuscheln wollte, und spielte voller Spaß mit mir - wenn erdenn wach war. In dieser Zeit nämlich, als er noch bei unslebte, habe ich ihn meist schlafend erlebt. Mein Vater liebtees, nachts auszugehen, und trank gerne und reichlich mitseinen Freunden. Dementsprechend wenig geeignet war erfür seinen Beruf. Er hatte die Bäckerei von seinem Vaterübernommen, ohne sich jemals für dieses Handwerk zu

    begeistern. Aber die größte Qual bereitete ihm das früheAufstehen. Bis Mitternacht zog er durch die Bars, undwenn der Wecker um zwei Uhr früh läutete, war er kaum

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    wachzubekommen. Nach dem Ausliefern der Brötchen lager für Stunden schnarchend auf der Couch. Sein riesiger,

    kugelförmiger Bauch hob und senkte sich gewaltig vormeinen faszinierten Kinderaugen. Ich spielte mit demschlafenden, großen Mann, legte ihm Teddybären an dieWange, dekorierte ihn mit Bändern und Schleifen, setzteihm Häubchen auf und lackierte ihm die Nägel. Wenn eram Nachmittag wieder aufwachte, wirbelte er mich durchdie Luft und zauberte kleine Überraschungen aus den Är-

    meln. Dann zog er wieder los in die Bars und Cafes derStadt.

    * * *

    Zum wichtigsten Bezugspunkt wurde für mich in dieserZeit meine Großmutter. Bei ihr, die mit meinem Vater ge-meinsam die Bäckerei führte, fühlte ich mich rundum zuHause und aufgehoben. Sie wohnte nur wenige Autominu-ten von uns entfernt und doch in einer anderen Welt. Sü-ßenbrunn ist eines der alten Dörfer am nördlichen Stadt-rand von Wien, dessen ländlichen Charakter die immer nä-

    her rückende Stadt nicht brechen konnte. Die ruhigen Sei-tengassen säumten alte Einfamilienhäuser mit Gärten, indenen noch Gemüse angebaut wurde. Das Haus meinerGroßmutter, in dem sich eine kleine Greißlerei* [Tante-Emma-Laden] sowie die Backstube befanden, sah noch ge-nauso aus wie zu Zeiten der Monarchie.

    Meine Großmutter stammte aus der Wachau, einem pit-toresken Teil des Donautals, in dem auf den sonnigenHangterrassen Wein angebaut wird. Ihre Eltern warenWeinbauern, und wie damals üblich musste meine Groß-

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    kleinen Inseln für violette, gelbe, weiße und rosa Blütenwurden. Im angrenzenden Obstgarten wuchsen Marillen,

    Kirschen, Zwetschgen und jede Menge Ribisel* [Johannis-beeren]. Der Kontrast zu unserer Siedlung im Rennbahn-weg hätte kaum größer sein können.

    Die ersten Jahre meines Lebens war meine Großmutterfür mich der Inbegriff von Heimat. Ich übernachtete oft beiihr, ließ mich mit Schokolade verwöhnen und kuschelte mitihr auf dem alten Sofa. An den Nachmittagen besuchte icheine Freundin im Ort, deren Eltern einen kleinen Swim-mingpool im Garten hatten, radelte mit den anderen Kin-dern der Straße durch das Dorf und erkundete neugierigeine Umgebung, in der man sich frei bewegen konnte. Alsmeine Eltern später ein Geschäft in der Nähe eröffneten,fuhr ich manchmal mit dem Rad die paar Minuten zum

    Haus meiner Großmutter, um sie mit meinem Besuch zuüberraschen. Ich weiß noch, dass sie oft unter der Trocken-haube saß und mein Läuten und Klopfen nicht hörte. Dannkletterte ich über den Zaun, schlich mich von hinten insHaus hinein und machte mir einen Spaß daraus, sie zu er-schrecken. Mit den Wicklern im Haar scheuchte sie michlachend durch die Küche - »Warte nur, bis ich dich erwi-

    sche!« - und teilte mich zur »Strafe« zur Gartenarbeit ein.Ich liebte es, gemeinsam mit ihr die dunkelroten Kirschenvom Baum zu pflücken oder die übervollen Rispen mit denRibiseln vorsichtig von den Stauden zu knipsen.

    Meine Großmutter schenkte mir aber nicht nur ein Stückunbeschwerter, geborgener Kindheit - ich lernte von ihr

    auch, wie man sich in einer Welt, die keine Gefühle zulässt,Räume dafür schaffen kann. Wenn ich bei ihr zu Besuchwar, begleitete ich sie fast täglich zu dem kleinen Friedhof,

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    der etwas außerhalb inmitten der weiten Felder liegt. DasGrab meines Großvaters mit seinem glänzend schwarzen

    Stein befand sich ganz hinten, an einem neu geschottertenWeg nahe der Friedhofsmauer. Die Sonne brennt im Som-mer heiß auf die Gräber, und außer einem gelegentlichvorbeifahrenden Auto auf der Hauptstraße hört man nurdas Sirren der Grillen und die Vogelschwärme über denFeldern. Meine Großmutter legte frische Blumen aufs Grabund weinte dabei leise vor sich hin. Als ich klein war, ver-

    suchte ich immer, sie zu trösten: »Wein doch nicht, Oma,Opa will dich doch lächeln sehen!« Später, als Volksschul-kind, habe ich begriffen, dass die Frauen meiner Familie,die im Alltag keine Schwäche zeigen wollten, einen Ortbrauchten, an dem sie ihren Gefühlen freien Lauf lassenkonnten. Einen geschützten Ort, der nur ihnen gehörte.

    Als ich älter wurde, begannen mich die Nachmittage beiden Freundinnen meiner Großmutter, die sich oft an denFriedhofsbesuch anschlossen, zu langweilen. Sosehr ich esals kleines Kind gehebt hatte, mit Torten gefüttert und vonden alten Damen ausgefragt zu werden - irgendwann hatteich keine Lust mehr, in den altmodischen Wohnzimmernmit den dunklen Möbeln und Spitzendeckchen zu sitzen, in

    denen man nichts anrühren durfte, während die Damenmit ihren Enkelkindern prahlten. Meine Großmutter hatmir diese »Abwendung« damals sehr übelgenommen.»Dann suche ich mir eben eine andere Enkelin«, eröffnetesie mir eines Tages. Ich war zutiefst verletzt, als sie tatsäch-lich begann, einem anderen, kleineren Mädchen, das re-

    gelmäßig in ihr Geschäft kam, Eis und Süßigkeiten zuschenken.

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    Diese Unstimmigkeit war zwar bald ausgeräumt - abervon da an wurden meine Besuche in Süßenbrunn seltener.

    Meine Mutter hatte ohnehin ein gespanntes Verhältnis zuihrer Schwiegermutter, es kam ihr also nicht ungelegen,dass ich nun nicht mehr so oft dort übernachtete. Wenn-gleich unsere Beziehung, wie bei den meisten Enkeln undGroßmüttern, mit der Volksschulzeit etwas weniger engwurde, blieb sie immer mein Fels in der Brandung. Dennsie hat mir einen Lebensvorrat an Sicherheit und Gebor-

    genheit mitgegeben, den ich zu Hause eher vermisste.

    * * *

    Drei Jahre vor meiner Geburt eröffneten meine Eltern einkleines Lebensmittelgeschäft mit einem »Stüberl« - einemangebauten Cafe - in der Marco-Polo-Siedlung, etwa 15Minuten mit dem Auto vom Rennbahnweg entfernt. 1988übernahmen sie noch eine Greißlerei in der SüßenbrunnerPröbstelgasse, nur ein paar hundert Meter vom Haus mei-ner Großmutter entfernt an der Hauptstraße des Ortes. Ineinem ebenerdigen altrosa Eckhaus mit einer altmodischen

    Tür und einer Ladentheke aus den 1960er Jahren verkauf-ten sie Gebäck, Feinkost, Zeitungen und spezielle Zeit-schriften für Lastwagenfahrer, die hier, an der Ausfallstra-ße von Wien, einen letzten Stopp einlegten. In den Regalenstapelten sich die kleinen Dinge des täglichen Bedarfs, dieman auch dann noch beim Greißler holt, wenn man sonstschon lange im Supermarkt einkauft: kleine Kartons mit

    Waschmitteln, Nudeln, Päckchensuppen und vor allem Sü-ßigkeiten. Im kleinen Hinterhof stand ein altes, rosa gestri-chenes Kühlhaus.

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    Diese beiden Geschäfte wurden später - neben dem Hausmeiner Großmutter - zu zentralen Eckpunkten meiner

    Kindheit. Im Laden in der Marco-Polo-Siedlung verbrachteich unzählige Nachmittage nach dem Kindergarten oderder Schule, während meine Mutter sich um die Buchhal-tung kümmerte oder Kunden bediente. Ich spielte mit an-deren Kindern Verstecken oder kullerte den kleinen Rodel-hügel hinunter, den die Gemeinde aufgeschüttet hatte. DieSiedlung war kleiner und ruhiger als unsere, ich durfte

    mich frei bewegen und fand leicht Anschluss. Aus dem Ge-schäft konnte ich die Gäste im Stüberl beobachten: Hausf-rauen, Männer, die von der Arbeit kamen, und andere, dieschon am späten Vormittag ihr erstes Bier tranken und sichdazu einen Toast servieren ließen. Alle diese Geschäfte ge-hörten zu der Sorte, die langsam aus den Städten ver-

    schwinden und die dank langer Öffnungszeiten, Alkohol-ausschank und der persönlichen Ansprache eine wichtigeNische fur viele Menschen sind.

    Mein Vater war für die Bäckerei und die Auslieferungder Backwaren zuständig, um alles andere kümmerte sichmeine Mutter. Als ich etwa fünf Jahre alt war, begann er,mich auf seine Touren mitzunehmen. Wir fuhren in unse-

    rem Kastenwagen durch die weitläufigen Vorstädte undDörfer, hielten in Gasthäusern, Bars und Cafes, an Hotdog-Ständen und in kleinen Geschäften. Ich habe deshalb dieGegend nördlich der Donau wohl besser kennengelernt alsirgendein anderes Kind meines Alters - und mehr Zeit inBars und Cafes verbracht, als vielleicht angemessen war.

    Ich genoss es ungemein, so viel Zeit mit meinem Vater zu-sammen zu verbringen, und fühlte mich sehr erwachsenund ernst genommen. Doch die Touren durch die Lokalehatten auch ihre unangenehmen Seiten.

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    »So ein liebes Mädchen!« Diesen Satz habe ich wohl tau-send Mal gehört. Er ist mir nicht in guter Erinnerung, ob-

    wohl ich gelobt wurde und im Mittelpunkt stand. Die Men-schen, die mich in die Wange kniffen und mir Schokoladekauften, waren mir fremd. Außerdem hasste ich es, wennich in ein Rampenlicht gedrängt wurde, das ich mir nichtselbst gesucht hatte und das in mir nur ein tiefes Gefühl derPeinlichkeit hinterließ.

    In diesem Fall war es mein Vater, der sich vor seinenKunden mit mir schmückte. Er war ein jovialer Mann, derden großen Auftritt liebte, seine kleine Tochter in ihremfrisch gebügelten Kleidchen war ein perfektes Accessoire.Er hatte überall Freunde - so viele, dass mir selbst als Kindauffiel, dass ihm nicht all diese Menschen wirklich nahes-tehen konnten. Die meisten von ihnen ließen sich von ihm

    auf ein Getränk einladen oder liehen sich Geld. In seinerSucht nach Anerkennung zahlte er gerne.

    In diesen verrauchten Vorstadtkneipen saß ich auf zuhohen Stühlen und hörte Erwachsenen zu, die sich nur imersten Moment für mich interessierten. Zu einem guten Teilwaren es Arbeitslose und verkrachte Existenzen, die ihreTage mit Bier, Wein und Kartenspielen verbrachten. Vielevon ihnen hatten einmal einen Beruf, waren Lehrer oderBeamte gewesen und irgendwann aus dem Leben gefallen.Heute nennt man das Burnout. Damals war es die Normali-tät in der Vorstadt.

    Nur selten fragte jemand, was ich in diesen Lokalen ver-loren hätte. Die meisten nahmen es als gegeben hin und

    waren auf eine überdrehte Art freundlich zu mir. »Meingroßes Mädchen«, sagte mein Vater dann anerkennend undtätschelte mir mit der Hand die Wange. Wenn mir jemand

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    Süßigkeiten oder eine Limonade spendierte, wurde eineGegenleistung erwartet: »Gib dem Onkel ein Küsschen. Gib

    der Tante ein Küsschen.« Ich sperrte mich gegen diesen en-gen Kontakt mit den Fremden, denen ich es übelnahm,dass sie die Aufmerksamkeit meines Vaters stahlen, diedoch mir zustand. Diese Touren waren ein dauerndesWechselbad: Im einen Moment war ich der Mittelpunkt derRunde, wurde stolz präsentiert und bekam ein Zuckerl, imnächsten beachtete man mich so wenig, dass ich unbemerkt

    unter ein Auto hätte geraten können. Dieses Schwankenzwischen Aufmerksamkeit und Vernachlässigung in einerWelt der Oberflächlichkeiten zehrte an meinem Selbstbe-wusstsein. Ich lernte, mich in den Mittelpunkt zu spielenund so lange wie möglich dort zu halten. Heute erst habeich begriffen, dass dieser Zug zur Bühne, mein Traum von

    der Schauspielerei, den ich von klein auf entwickelt hatte,nicht aus mir selbst kam. Er war eine Art, meine extrover-tierten Eltern zu imitieren - und eine Methode, zu überle-ben in einer Welt, in der man entweder bewundert odernicht beachtet wurde.

    * * *

    Wenig später setzte sich dieses Wechselbad aus Auf-merksamkeit und Vernachlässigung, das mein Selbstbe-wusstsein so ankratzte, in meiner engsten Umgebung fort.Die Welt meiner frühen Kindheit bekam langsam Risse.Erst zogen sie sich so klein und unmerklich durch die ver-

    traute Umgebung, dass ich sie noch ignorieren und dieSchuld für die Missstimmungen auf mich nehmen konnte.Doch dann wurden die Risse größer, bis das ganze Fami-

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    liengebäude in sich zusammenfiel. Mein Vater merkte vielzu spät, dass er den Bogen überspannt und meine Muter

    längst entschieden hatte, sich von ihm zu trennen. Er lebteweiter sein grandioses Leben als Vorstadtkönig, der durchdie Bars zog und sich immer wieder große, imposante Au-tos kaufte. Es waren Mercedes oder Cadillacs, mit denen erseine »Freunde« beeindrucken wollte. Das Geld dafür borg-te er aus. Selbst wenn er mir etwas Taschengeld gab, lieh eres sich schnell wieder zurück, um sich Zigaretten zu kaufen

    oder einen Kaffee trinken zu gehen. Auf das Haus meinerGroßmutter nahm er so viele Kredite auf, dass es gepfändetwurde. Mitte der 1990er Jahre hatte er so viele Schuldenangehäuft, dass die Existenz der Familie gefährdet war. ImZuge einer Umschuldung übernahm meine Mutter dieGreißlerei in der Pröbstelgasse und das Geschäft in der

    Marco-Polo-Siedlung. Aber der Riss ging weit über die fi-nanzielle Seite hinaus. Meine Mutter hatte irgendwann ge-nug von diesem Mann, der gerne feierte, aber so etwas wieZuverlässigkeit nicht kannte.

    Für mich änderte sich mit der schrittweisen Trennungmeiner Eltern das ganze Leben. Statt umsorgt und umhegtzu werden, ließ man mich links liegen. Meine Eltern stritten

    sich lautstark über Stunden hinweg. Abwechselnd sperrtensie sich im Schlafzimmer ein, während der andere imWohnzimmer weitertobte. Wenn ich verängstigt versuchtenachzufragen, steckten sie mich in mein Zimmer, schlossendie Tür und stritten weiter. Ich fühlte mich darin gefangenund verstand die Welt nicht mehr. Mit dem Kopfpolster

    über den Ohren versuchte ich, die lauten Wortgefechtewegzudrücken und mich in meine frühere, unbeschwerteKindheit zu versetzen. Es gelang mir nur selten. Ich konntenicht begreifen, warum mein sonst so strahlender Vater

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    nun hilflos und verloren wirkte und keine kleinen Überra-schungen mehr aus dem Ärmel zauberte, um mich aufzu-

    heitern. Sein unerschöpflicher Vorrat an Gummibärchenschien plötzlich ausgegangen.

    Meine Mutter verließ einmal sogar nach einem heftigenStreit die Wohnung und blieb für Tage verschollen. Siewollte meinem Vater zeigen, wie es sich anfühlt, von sei-nem Partner nichts zu hören - für ihn waren ein, zweiNächte außer Haus nichts Ungewöhnliches. Doch ich warviel zu klein, um die Hintergründe zu durchschauen, undfürchtete mich. Das Zeitgefühl ist in diesem Alter ein ganzanderes, die Abwesenheit meiner Mutter erschien mir end-los lange. Ich wusste nicht, ob sie überhaupt jemals zu-rückkommt. Das Gefühl der Verlassenheit, des Zurückges-toßen-Seins setzte sich tief in mir fest. Und es begann eine

    Phase meiner Kindheit, in der ich meinen Platz nicht mehrfand, in der ich mich nicht länger geliebt fühlte. Aus einerselbstbewussten kleinen Person wurde nach und nach einunsicheres Mädchen, das aufhörte, seiner engsten Umge-bung zu trauen.

    * * *

    In dieser schwierigen Zeit kam ich in den Kindergarten.Ein Schritt, mit dem die Fremdbestimmung, mit der ich alsKind so schlecht umgehen konnte, einen Höhepunkt er-reichte.

    Meine Mutter hatte mich in einem Privatkindergarten,der nicht weit von unserer Siedlung entfernt liegt, ange-meldet. Von Anfang an fühlte ich mich missverstandenund so wenig angenommen, dass ich begann, den Kinder-

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    Zu den anderen Kindern fand ich nur langsam Zugang,ich fühlte mich inmitten Gleichaltriger einsamer als zuvor.

    * * *

    »Risikofaktoren vor allem bei der sekundären Enuresisbeziehen sich auf Verluste im weitesten Sinn, wie zum Bei-spiel Trennung, Scheidung, Todesfälle, Geburt eines Ge-

    schwisters, extreme Armut, Delinquenz der Eltern, Depri-vation, Vernachlässigung, mangelhafte Unterstützung beiEntwicklungsschritten.« So beschreibt das Lexikon die Ur-sachen für ein Problem, mit dem ich in dieser Zeit zukämpfen hatte. Ich wurde vom frühreifen Kind, das schonsehr bald die Windeln abgelegt hatte, zur Bettnässerin. DasBettnässen wurde zu einem Stigma, das mein Leben beeint-rächtigte. Die nächtlichen nassen Flecken im Bett wurdenzu einem Quell unaufhörlicher Schelte und Spotts.

    Als ich mich zum wiederholten Mal einnässte, reagiertemeine Mutter, wie es damals üblich war. Sie hielt es für einmutwilliges Verhalten, das man einem Kind mit Zwangund Strafen aberziehen kann. Sie gab mir einen Klaps auf

    den Po und fragte wütend: »Warum tust du mir das an?«Sie tobte, reagierte verzweifelt, war ratlos. Und ich machteweiter nachts ins Bett. Meine Mutter besorgte Kautschuk-Unterlagen und legte damit mein Bett aus. Es war eine de-mütigende Erfahrung. Ich wusste aus den Unterhaltungender Freundinnen meiner Großmutter, dass Gummimattenund Spezialbettwäsche Utensilien für alte und kranke Men-schen waren. Ich hingegen wollte als großes Mädchen be-handelt werden.

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    Doch es hörte nicht auf. Meine Mutter weckte michnachts, um mich aufs Klo zu setzen. Machte ich das Bett

    trotzdem nass, wechselte sie fluchend meine Leintücherund den Pyjama. Manchmal wachte ich in der Früh trockenund stolz auf, aber sie dämpfte meine Freude sofort: »Dukannst dich nur nicht erinnern, dass ich dich in der Nachtschon wieder umziehen musste«, blaffte sie. »Sieh nur,welchen Pyjama du anhast.« Es waren Vorwürfe, denen ichnichts entgegensetzen konnte. Sie strafte mich mit Verach-

    tung und Spott. Als ich mir Barbie-Bettwäsche wünschte,lachte sie mich aus - ich würde sie ja ohnehin nur nass ma-chen. Ich versank vor Scham fast im Boden.

    Schließlich begann sie zu kontrollieren, wie viel Flüssig-keit ich zu mir nahm. Ich war immer schon ein durstigesKind gewesen und trank oft und viel. Doch nun wurde

    mein Trinkverhalten genau reglementiert. Am Tag bekamich nur wenig, am Abend gar nichts mehr. Je verbotenerWasser oder Säfte waren, desto größer wurde mein Durst,bis ich an nichts anderes mehr denken konnte. JederSchluck und jeder Toilettengang wurden beobachtet undkommentiert, aber nur, wenn wir allein waren. Was sollendenn die Leute denken.

    Im Kindergarten nahm das Bettnässen eine neue Dimen-sion an. Ich machte mich nun auch tagsüber nass. Die Kin-der lachten mich aus, und die Betreuerinnen feuerten siedabei auch noch an und stellten mich ein ums andere Malvor der Gruppe bloß. Sie dachten wohl, dass der Spott michdazu bringen würde, meine Blase besser zu kontrollieren.

    Doch mit jeder Demütigung wurde es schlimmer. DerGang zur Toilette und der Griff zum Wasserglas wurdenzur Qual. Sie wurden mir aufgezwungen, wenn ich sie

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    nicht wollte, und mir verweigert, wenn ich sie dringendbrauchte. Denn im Kindergarten mussten wir um Erlaubnis

    fragen, wenn wir zur Toilette wollten. In meinem Fall wur-de diese Frage jedes Mal kommentiert: »Du warst doch ge-rade erst. Warum musst du denn schon wieder?« Umge-kehrt zwang man mich vor Ausflügen, vor dem Essen, vordem Mittagsschlaf auf die Toilette und beaufsichtigte michdabei. Einmal, als mich die Kindergärtnerinnen wieder imVerdacht hatten, mich nass gemacht zu haben, zwangen sie

    mich sogar, vor allen Kindern meine Wäsche zu zeigen.Wenn ich mit meiner Mutter das Haus verließ, nahm sie

    immer einen Beutel mit Wäsche zum Wechseln mit. DasKleiderbündel verstärkte meine Scham und meine Unsi-cherheit. Die Erwachsenen rechneten also fest damit, dassich mich einnässen würde. Und je mehr sie damit rechneten

    und mich dafür schimpften und verspotteten, umso mehrbehielten sie recht. Es war ein Teufelskreis, aus dem ichauch während meiner Volksschulzeit nicht hinausfand. Ichblieb ich eine verspottete, gedemütigte und ewig durstigeBettnässerin.

    * * *

    Nach zwei Jahren des Streits und einiger Versöhnungs-versuche zog mein Vater endgültig aus. Ich war jetzt fünf Jahre alt und hatte mich von einem fröhlichen Kleinkind zueinem verunsicherten, verschlossenen Wesen entwickelt,das sein Leben nicht mehr mochte und auf verschiedeneArten dagegen protestierte. Mal zog ich mich zurück, malschrie ich, übergab mich und bekam Heulkrämpfe vor

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    Schmerz und Unverstandensein. Für Wochen quälte micheine Gastritis.

    Meine Mutter, die selbst von der Trennung sehr mitge-nommen war, übertrug ihre Art, damit umzugehen, aufmich. So wie sie den Schmerz und die Unsicherheitschluckte und tapfer weitermachte, verlangte sie von mir,dass ich die Zähne zusammenbiss. Sie konnte nur schwerdamit umgehen, dass ich als kleines Kind dazu gar nicht inder Lage war. Wenn ich ihr zu emotional wurde, reagiertesie geradezu aggressiv auf meine Anfälle. Sie warf mirSelbstmitleid vor und lockte mich abwechselnd mit Beloh-nungen oder drohte mit Strafen, wenn ich nicht aufhörte.

    Meine Wut über die Situation, die ich nicht verstand,wandte sich so nach und nach gegen die Person, die nachdem Auszug meines Vaters dageblieben war: meine Mut-

    ter. Mehr als einmal war ich so zornig auf sie, dass ich be-schloss auszuziehen. Ich packte ein paar Sachen in meinenTurnbeutel und verabschiedete mich von ihr. Aber siewusste, dass ich nicht weiter als bis zur Tür gehen würde,und kommentierte mein Verhalten augenzwinkernd nurmit: »Okay, mach's gut.« Ein anderes Mal räumte ich allePuppen, die sie mir geschenkt hatte, aus meinem Zimmerund reihte sie im Flur auf. Sie sollte ruhig sehen, dass ichentschlossen war, sie aus meinem kleinen Reich im Kinder-zimmer auszusperren. Doch natürlich brachten diese Ma-növer gegen meine Mutter keine Lösung für mein eigentli-ches Problem. Ich hatte mit der Trennung meiner Eltern dieFixpunkte meiner Welt verloren und konnte auf die Perso-

    nen, die bis dahin immer für mich da gewesen waren, nichtmehr bauen.

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    Dazu kam eine alltägliche Form von Gewalt - nicht bru-tal genug, um als Misshandlung zu gelten, und doch so voll

    nebensächlicher Missachtung, dass sie mein Selbstwertge-fühl langsam zerstörte. Unter Gewalt an Kindern stellt mansich systematische schwere Prügel vor, die zu körperlichenVerletzungen führen. Nichts davon habe ich in meinerKindheit erlebt. Es war diese fatale Mischung aus verbalerUnterdrückung und »klassischen« Ohrfeigen, die mir zeig-te, dass ich als Kind die Schwächere war.

    Es war nicht Wut oder kalte Berechnung, die meine Mut-ter antrieb, sondern eine immer wieder aufflackernde Agg-ression, die wie eine Stichflamme aus ihr schoss und eben-so schnell wieder verlosch. Die Ohrfeigen, die ich von ihrbekam, wurden zum schmerzhaften und demütigendenBestandteil meiner Kindheit. Ich bekam sie, wenn sie über-

    fordert war. Ich bekam sie, wenn ich etwas falsch gemachthatte. Wenn ich mir weh getan hatte und Sprüche wie»Große Mädchen weinen nicht« oder »Indianer kennenkeinen Schmerz« meine Tränen nicht trockneten, schlug siemich scharf ins Gesicht, »damit du wenigstens weißt, war-um du heulst«. Manchmal landete eine Ohrfeige völlig oh-ne ersichtlichen Grund auf meiner Wange: »Irgendetwas

    wirst du schon angestellt haben.« Sie hasste es, wenn ichquengelte, nachfragte oder eine ihrer Erklärungen in Fragestellte - auch das war ihr schon eine Ohrfeige wert. Diegrößte Demütigung waren die Schläge mit dem Handrü-cken, die sie schnell über meine Wange zog. Die ganze Ge-sichtspartie wurde taub, und die Tränen schossen sofort in

    meine Augen.Es war in dieser Zeit und in dieser Gegend nicht unge-wöhnlich, mit Kindern so umzugehen: Im Gegenteil, ich

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    hatte ein sehr viel »leichteres« Leben als manch andereKinder in der Nachbarschaft. Im Hof konnte ich immer

    wieder Mütter beobachten, die ihre Kinder anbrüllten, zuBoden stießen und auf sie einprügelten. Das hätte meineMutter nie getan, und ihre Art, mich nebenbei zu ohrfeigen,stieß nirgends auf Unverständnis. Selbst wenn sie mir inder Öffentlichkeit ins Gesicht schlug, mischte sich nie je-mand ein. Meist aber war meine Mutter zu sehr Dame, umsich auch nur dem Risiko auszusetzen, bei einem Streit be-

    obachtet zu werden. Sichtbare Gewalt, das war etwas fürdie anderen Frauen in unserer Siedlung. Ich hingegen wur-de angehalten, die Tränen abzuwischen oder mir die Backezu kühlen, bevor ich das Haus verließ oder aus dem Autostieg.

    Gleichzeitig versuchte meine Mutter, ihr schlechtes Ge-

    wissen mit Geschenken zu erleichtern. Sie wetteiferte regel-recht mit meinem Vater darum, mir die schönsten Kleiderzu kaufen oder am Wochenende Ausflüge mit mir zu ma-chen. Doch ich wollte keine Geschenke. Ich hätte in dieserPhase meines Lebens einzig und allein jemanden ge-braucht, der mir bedingungslosen Rückhalt und Liebe gab.Meine Eltern waren dazu nicht in der Lage.

    * * *

    Wie sehr ich damals verinnerlicht hatte, dass von Er-wachsenen keine Hilfe zu erwarten ist, zeigt ein Erlebnisaus meiner Volksschulzeit. Ich war etwa acht Jahre alt undmit meiner Klasse für eine Woche ins Schullandheim in dieSteiermark gefahren. Ich war kein sportliches Kind undtraute mir kaum eines der wilden Spiele zu, mit denen die

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    anderen Kinder ihre Zeit verbrachten. Aber auf demSpielplatz wollte ich wenigstens einen Versuch wagen.

    Der Schmerz schoss scharf durch meinen Arm, als ichvom Klettergerüst stürzte und auf dem Boden aufschlug.Ich wollte mich aufsetzen, doch mein Arm gab nach undich fiel nach hinten. Das fröhliche Lachen der Kinder, dierund um mich über den Spielplatz tobten, klang dumpf inmeinen Ohren. Ich wollte schreien, Tränen liefen mir überdie Wangen. Aber ich brachte keinen Ton heraus. Erst alseine Schulkameradin zu mir kam, bat ich sie leise, die Leh-rerin zu holen. Das Mädchen lief zu ihr hinüber. Die Lehre-rin aber schickte es zurück und ließ mir ausrichten, dass ichschon selber kommen müsse, wenn ich etwas wolle.

    Ich versuchte, mich hochzurappeln, doch kaum bewegteich mich, war der Schmerz in meinem Arm wieder da. Hilf-

    los blieb ich liegen. Erst einige Zeit später half mir die Leh-rerin einer anderen Klasse auf. Ich biss die Zähne zusam-men, weinte nicht und beklagte mich nicht. Ich wollte nie-mandem Umstände machen. Später bemerkte auch meineKlassenlehrerin, dass etwas mit mir nicht stimmte. Sievermutete, dass ich mir bei dem Sturz eine starke Prellungzugezogen hatte, und erlaubte mir, den Nachmittag imFernsehzimmer zu verbringen.

    In der Nacht lag ich in meinem Bett im Gemeinschafts-zimmer und konnte vor Schmerzen kaum atmen. Dennochbat ich nicht um Hilfe. Erst spät am nächsten Tag, wir war-en gerade im Tierpark Herberstein, erkannte meine Klas-senlehrerin, dass ich mich ernsthaft verletzt hatte, und

    brachte mich zum Arzt. Der schickte mich gleich ins Kran-kenhaus nach Graz. Mein Arm war gebrochen.

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    Meine Mutter holte mich gemeinsam mit ihrem Freundaus der Klinik ab. Der neue Mann in ihrem Leben war ein

    guter Bekannter - mein Taufpate. Ich mochte ihn nicht. DieFahrt nach Wien war eine einzige Tortur. Drei Stundenlang schimpfte der Freund meiner Mutter, dass sie wegenmeiner Ungeschicktheit so eine lange Strecke mit dem Autofahren mussten. Meine Mutter versuchte zwar, die Stim-mung aufzulockern, aber es wollte ihr nicht gelingen, dieVorwürfe hörten nicht auf. Ich saß auf dem Rücksitz und

    weinte leise vor mich hin. Ich schämte mich dafür, dass ichgefallen war, und ich schämte mich für die Mühe, die ichallen bereitete. Mach keine Umstände. Mach nicht so einenAufstand. Sei nicht hysterisch. Große Mädchen weinennicht. Diese Leitsätze meiner Kindheit, tausend Mal gehört,hatten mich anderthalb Tage die Schmerzen in meinem ge-

    brochenen Arm ertragen lassen. Nun, während der Fahrtauf der Autobahn, zwischen den Tiraden des Freundesmeiner Mutter, wiederholte sie eine innere Stimme in mei-nem Kopf.

    Meine Lehrerin bekam damals ein Disziplinarverfahren,weil sie mich nicht sofort ins Krankenhaus gebracht hatte.Es stimmte natürlich, dass sie ihre Aufsichtspflicht ver-

    nachlässigt hatte. Doch den größten Teil der Vernachlässi-gung erledigte ich selbst. Das Vertrauen in meine eigeneWahrnehmung war damals schon so gering, dass ich nichteinmal mit einem gebrochenen Arm das Gefühl hatte, umHilfe bitten zu dürfen.

    * * *

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    Meinen Vater sah ich inzwischen nur noch an den Wo-chenenden oder wenn er mich hin und wieder auf eine sei-

    ner Touren mitnahm. Auch er hatte sich nach der Trennungvon meiner Mutter neu verliebt. Seine Freundin war nett,aber distanziert. Einmal sagte sie nachdenklich zu mir: »Ichweiß jetzt, warum du so schwierig bist. Deine Eltern habendich nicht lieb.« Ich protestierte lautstark - aber der Satzverfing sich in meiner verletzten Kinderseele. Vielleichthatte sie ja recht? Schließlich war sie eine Erwachsene, und

    die hatten ja immer recht.Der Gedanke ließ mich tagelang nicht los.

    Als ich neun Jahre alt war, begann ich, meinen Frust mitEssen zu kompensieren. Ich war schon früher kein dünnesKind gewesen und in einer Familie aufgewachsen, in derEssen eine große Rolle spielte. Meine Mutter war der Typ

    Frau, die essen konnte, so viel sie wollte, ohne ein Grammzuzunehmen. Es mag an einer Schilddrüsen-Überfunktiongelegen haben oder an ihrem aktiven Wesen: Sie aßSchmalzbrote und Torten, Kümmelbraten und Schinken-semmeln und nahm nicht zu und wurde nicht müde, dasauch vor anderen zu betonen: »Ich kann ja essen, was ichwill«, flötete sie, ein Brot mit fettem Aufstrich in der Hand.Ich bekam von ihr die Maßlosigkeit beim Essen mit - nichtaber die Fähigkeit, die Kalorien von allein wieder zu ver-brennen.

    Mein Vater hingegen war so dick, dass es mir als Kindschon peinlich war, mit ihm gesehen zu werden. SeinBauch war riesig und prall gespannt wie der einer Frau im

    achten Monat. Wenn er auf dem Sofa lag, ragte er wie einGebirge in die Höhe, und als kleines Kind hatte ich oft da-gegen geklopft und gefragt: »Wann kommt denn das Ba-

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    wieder in der Lage, etwas in den Mund zu stecken, aß ichweiter. Im letzten Jahr vor meiner Entführung nahm ich so

    sehr zu, dass ich von einem Pummelchen tatsächlich zu ei-nem richtig dicken Kind wurde. Ich wurde noch unsportli-cher, die anderen Kinder hänselten mich noch mehr unddie Einsamkeit kompensierte ich mit noch mehr Essen. Anmeinem zehnten Geburtstag wog ich 45 Kilo.

    Meine Mutter tat ein Übriges, mich weiter zu frustrieren.»Ich mag dich trotzdem, egal wie du aussiehst.« Oder:»Man muss ein hässliches Kind nur in ein schönes Kleidstecken.« Wenn ich verletzt reagierte, lachte sie und meinte:»Bezieh das doch nicht auf dich, Schatz. Sei nicht so sensi-bel.« Sensibel - das war das Schlimmste, das durfte mannicht sein. Ich bin heute immer wieder erstaunt, wie positivdas Wort »sensibel« verwendet wird. In meiner Kindheit

    war es ein Schimpfwort für Menschen, die zu weich sindfür diese Welt. Ich hätte mir damals gewünscht, weichersein zu dürfen. Später hat mir die Härte, die mir vor allemmeine Mutter auferlegte, wahrscheinlich das Leben geret-tet.

    * * *

    Umgeben von jeder Menge Süßigkeiten verbrachte ichStunden allein vor dem Fernseher oder in meinem Zimmermit einem Buch in der Hand. Ich wollte vor dieser Realität,die nichts als Demütigungen für mich bereithielt, in andereWelten fliehen. Wir hatten zu Hause alle Fernsehprogram-me, und niemand achtete wirklich darauf, was ich mir an-sah. Ich schaltete wahllos durch die Kanäle, sah Kinder-sendungen, Nachrichten und Krimis, die mir Angst mach-

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    ten, deren Inhalte ich aber trotzdem aufsaugte wie einSchwamm. Im Sommer 1997 bestimmte ein Thema die Me-

    dien: Im Salzkammergut flog ein Kinderpornoring auf. MitErschrecken hörte ich im Fernsehen, dass sieben erwachse-ne Männer eine unbestimmte Anzahl von Buben mit klei-nen Geldgeschenken in ein eigens eingerichtetes Zimmer ineinem Haus gelockt hatten, um sie dort zu missbrauchenund Videos davon zu drehen, die sie weltweit verkauften.Am 24. Januar 1998 erschütterte ein weiterer Fall Oberös-

    terreich. Über ein Postfach waren Videos verteilt worden,auf denen der Missbrauch von fünf- bis siebenjährigenMädchen zu sehen war. Ein Video zeigte einen der Täter,wie er ein siebenjähriges Mädchen aus der Nachbarschaftin ein Mansardenzimmer gelockt und dort schwer miss-braucht hatte.

    Noch mehr nahmen mich Berichte über die Morde anMädchen mit, die damals in Serie in Deutschland stattfan-den. Meiner Erinnerung nach gab es während meinerVolksschulzeit kaum einen Monat, in dem nicht über ent-führte, vergewaltigte oder ermordete Mädchen berichtetwurde. Die Nachrichten sparten kaum ein Detail der dra-matischen Suchaktionen und polizeilichen Ermittlungen

    aus. Ich sah Suchhunde in Wäldern und Taucher, die inSeen und Teichen nach den Leichen verschwundener Mäd-chen suchten. Und ich lauschte immer wieder den erschüt-ternden Erzählungen der Angehörigen: wie die Mädchenbeim Spielen im Freien verschwanden oder nicht mehr vonder Schule nach Hause kamen. Wie die Eltern verzweifelt

    nach ihnen gesucht hatten, bis sie die schreckliche Gewiss-heit ereilte, dass sie ihre Kinder nicht mehr lebend sehenwürden.

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    Die Fälle, die damals durch die Medien gingen, hatteneine so große Präsenz, dass wir auch in der Schule darüber

    sprachen. Die Lehrer erklärten uns, wie wir uns vor Über-griffen schützen konnten. Wir sahen Filme, in denen Mäd-chen von ihrem älteren Bruder belästigt wurden oder Bu-ben lernten, zu ihrem übergriffigen Vater »Nein!« zu sagen.Und die Lehrer wiederholten die Mahnungen, die uns Kin-dern auch zu Hause immer wieder eingetrichtert wurden:»Geht niemals mit einem Fremden mit! Steigt nicht in ein

    unbekanntes Auto.Nehmt keine Süßigkeiten an! Und wechselt lieber die

    Straßenseite, wenn euch etwas komisch vorkommt.«

    Wenn ich die Liste der Fälle, die in meine Volksschulzeitfallen, heute anschaue, bin ich noch so erschüttert wie da-

    mals:

    Yvonne (12 Jahre alt) wurde im Juli 1995 am PinnowerSee (Brandenburg) erschlagen, weil sie sich einer Vergewal-tigung durch einen Mann widersetzte.

    Annette (15 Jahre alt) aus Mardorf am Steinhuder Meer

    wurde 1995 unbekleidet, sexuell missbraucht und ermordetin einem Maisfeld gefunden. Der Mörder wurde nicht ge-fasst.

    Maria (7 Jahre alt) wurde im November 1995 in Haldens-leben (Sachsen-Anhalt) entführt, missbraucht und in einenTeich geworfen.

    Elmedina (6 Jahre alt) wurde im Februar 1996 in Siegenentführt, missbraucht und erstickt.

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    Claudia (n Jahre alt) wurde im Mai 1996 in Grevenbroichentführt, missbraucht und verbrannt.

    Ulrike (13 Jahre alt) kehrte am 11. Juni 1996 von einerAusfahrt mit ihrer Ponykutsche nicht zurück. Ihre Leichewurde zwei Jahre später gefunden.

    Ramona (10 Jahre alt) verschwand am 15. August 1996 in Jena spurlos aus einem Einkaufszentrum. Ihre Leiche wur-de im Januar 1997 bei Eisenach gefunden.

    Natalie (7 Jahre alt) wurde am 20. September 1996 in Ep-fach in Oberbayern von einem 29-jährigen Mann auf demWeg zur Schule entführt, missbraucht und ermordet.

    Kim (10 Jahre alt) aus Varel in Friesland wurde im Januar1997 entführt, missbraucht und ermordet.

    Anne-Katrin (8 Jahre alt) wurde am 9. Juni 1997 in der

    Nähe ihres Elternhauses in Seebeck in Brandenburg er-schlagen aufgefunden.

    Loren (9 Jahre alt) wurde im Juli 1997 im Keller des El-ternhauses in Prenzlau von einem 20-jährigen Mann miss-braucht und ermordet.

     Jennifer (11 Jahre alt) wurde am 13. Januar 1998 in Ver-smold bei Gütersloh von ihrem Onkel in sein Auto gelockt,missbraucht und erwürgt.

    Carla (12 Jahre alt) wurde am 22. Januar 1998 in Wil-herms-dorf bei Fürth auf ihrem Schulweg überfallen, miss-braucht und bewusstlos in einen Weiher geworfen. Siestarb nach fünf Tagen im Koma.

    Die Fälle von Jennifer und von Carla haben mich beson-ders bewegt. Jennifers Onkel gestand nach seiner Festnah-me, dass er das Mädchen im Auto sexuell missbrauchen

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    wollte. Als es sich wehrte, erwürgte er es und verstecktedie Leiche in einem Wald. Die Berichte gingen mir unter

    die Haut. Die Psychologen, die vom Fernsehen befragtwurden, rieten damals, sich gegen Übergriffe nicht zu weh-ren, um sein Leben nicht aufs Spiel zu setzen. Noch er-schreckender waren die Fernsehbeiträge über den Mord anCarla. Ich sehe noch heute die Reporter vor mir, wie sie mitihren Mikrofonen vor dem Teich in Wilhermsdorf stehenund berichten, dass man anhand des aufgewühlten Er-

    dreichs feststellen könne, wie sehr sich das Mädchen ge-wehrt habe. Der Trauergottesdienst wurde im Fernsehenübertragen. Ich saß mit schreckgeweiteten Augen vor demBildschirm. Alle diese Mädchen waren in meinem Alter.Nur eines beruhigte mich, wenn ich ihre Fotos in denNachrichten sah: Ich war nicht das blonde, zarte Mädchen,

    das die Täter zu bevorzugen schienen. Ich hatte keine Ah-nung, wie falsch ich lag.

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    Was soll schon passieren?

     Der letzte Tag meines alten Lebens 

    Ich versuchte zu schreien. Aber es kam kein Laut heraus.Meine Stimmbänder haben einfach nicht mitgemacht. Allesin mir war ein Schrei. Ein stummer Schrei, den niemandhören konnte.

    AM NÄCHSTEN TAG erwachte ich traurig und wütend.Der Ärger über den Zorn meiner Mutter, der dem Vatergegolten hatte und an mir ausgelassen worden war,schnürte mir den Brustkorb ein. Noch mehr quälte michaber, dass sie mir verboten hatte, ihn jemals wiederzuse-hen. Es war eine dieser leichtfertig dahingesagten Ent-

    scheidungen gewesen, die Erwachsene über die Köpfe vonKindern hinweg fällen - aus Zorn oder aus einer plötzli-chen Laune heraus, ohne zu bedenken, dass es dabei nichtnur um sie, sondern auch um die tiefsten Bedürfnisse derergeht, die solchen Schiedssprüchen ohnmächtig gegenübers-tehen.

    Ich hasste dieses Gefühl der Ohnmacht, ein Gefühl, dasmich daran erinnerte, ein Kind zu sein. Ich wollte endlicherwachsener werden, in der Hoffnung, die Auseinander-setzungen mit meiner Mutter würden mir dann nicht mehrso nahe gehen. Ich wollte lernen, meine Gefühle hinunter-zuschlucken und damit auch diese tiefgehende Angst, dieStreit mit den Eltern bei Kindern auslöst.

    Mit meinem zehnten Geburtstag hatte ich den ersten undunselbständigsten Abschnitt meines Lebens hinter michgebracht. Das magische Datum, das meine Selbständigkeit

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    auch amtlich verbriefen würde, rückte näher: Noch acht Jahre, dann würde ich ausziehen und mir einen Beruf su-

    chen. Dann würde ich nicht länger von den Entscheidun-gen der Erwachsenen rund um mich herum abhängig sein,denen meine Bedürfnisse weniger wert waren als ihre klei-nen Streitigkeiten und Eifersüchteleien. Acht Jahre noch,die ich nützen wollte, um mich auf ein selbstbestimmtesLeben vorzubereiten.

    Einen wichtigen Schritt in Richtung Selbständigkeit hatteich bereits einige Wochen zuvor getan: Ich hatte meineMutter davon überzeugt, dass sie mich allein zur Schulegehen ließ. Obwohl ich bereits in der vierten Klasse war,hatte sie mich bis dahin immer mit dem Auto vor der Schu-le abgesetzt. Die Fahrt dauerte nicht einmal fünf Minuten. Jeden Tag hatte ich mich vor den anderen Kindern für mei-

    ne Schwäche geschämt, die für jeden sichtbar wurde, wennich aus dem Auto stieg und meine Mutter mir einen Ab-schiedskuss gab. Eine ganze Weile schon hatte ich mit ihrdarüber verhandelt, dass es nun an der Zeit sei, den Schul-weg allein zu bewältigen. Ich wollte damit nicht nur denEltern, sondern vor allem mir zeigen, dass ich kein kleinesKind mehr war. Und dass ich meine Angst besiegen konn-

    te.Meine Unsicherheit war etwas, das mich zutiefst quälte.

    Sie überfiel mich schon auf dem Weg durch das Stiegen-haus, setzte sich im Hof fort und wurde zum bestimmen-den Gefühl, wenn ich durch die Straßen der Rennbahnsied-lung lief. Ich fühlte mich schutzlos und winzig und hasste

    mich dafür. An diesem Tag, das nahm ich mir fest vor,wollte ich versuchen, stark zu sein. Dieser Tag sollte dererste meines neuen Lebens und der letzte meines alten

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    werden. Im Nachhinein mutet es beinahe zynisch an, dassgenau an diesem Tag mein Leben, wie ich es kannte, tat-

    sächlich endete. Allerdings auf eine Weise, für die mir jeg-liche Vorstellungskraft fehlte.

    Entschlossen schob ich die gemusterte Bettdecke zur Sei-te und stand auf. Wie immer hatte mir meine Mutter dieSachen bereitgelegt, die ich anziehen sollte. Ein Kleid miteinem Oberteil aus Jeansstoffund einem Rock aus karier-tem, grauem Flanell. Ich fühlte mich unförmig darin, ein-gezwängt, als hielte mich das Kleid fest in einem Stadium,dem ich doch längst entwachsen wollte.

    Missmutig schlüpfte ich hinein, dann ging ich über denFlur in die Küche. Auf dem Tisch hatte meine Mutter diePausenbrote für mich zurechtgelegt, eingewickelt in Pa-pierservietten, die das Logo des kleinen Lokals in der Mar-

    co-Polo-Siedlung und ihren Namen trugen. Als es Zeit warzu gehen, schlüpfte ich in meinen roten Anorak und schul-terte meinen bunten Rucksack. Ich streichelte die Katzenund verabschiedete mich von ihnen. Dann öffnete ich dieTür zum Stiegenhaus und ging hinaus. Auf dem letztenAbsatz blieb ich stehen und zögerte, jenen Satz im Kopf,den meine Mutter mir Dutzende Male gesagt hatte: »Mandarf nie im Ärger auseinandergehen. Man weiß ja nicht, obman sich wiedersehen wird!« Sie konnte wütend werden,sie war impulsiv, und oft rutschte ihr die Hand aus. Aberwenn es daran ging, sich zu verabschieden, war sie immersehr liebevoll. Sollte ich wirklich ohne ein Wort gehen? Ichdrehte mich um, aber dann siegte doch das Gefühl der Ent-

    täuschung, das der Vorabend in mir hinterlassen hatte. Ichwürde ihr keinen Kuss mehr geben und sie mit meinemSchweigen strafen. Außerdem, was sollte schon passieren?

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    »Was soll schon passieren?«, murmelte ich halblaut vormich hin. Die Worte hallten im Treppenhaus mit den grau-

    en Fliesen. Ich wandte mich wieder um und ging die Stufenhinunter. Was soll schon passieren? Der Satz wurde meinMantra für den Weg hinaus auf die Straße und durch dieHäuserblocks zur Schule. Mein Mantra, gerichtet gegen dieAngst und gegen das schlechte Gewissen, mich nicht ver-abschiedet zu haben.

    Ich verließ den Gemeindebau, lief an seiner endlosenMauer endang und wartete am Zebrastreifen. Die Straßen-bahn ratterte an mir vorüber, vollgestopft mit Menschenauf dem Weg zur Arbeit. Mein Mut sank. Alles um michherum schien plötzlich viel zu groß für mich. Der Streit mitmeiner Mutter ging mir nach, und das Gefühl, in diesemBeziehungsgeflecht zwischen meinen streitenden Eltern

    und deren neuen Partnern, die mich nicht akzeptierten, un-terzugehen, machte mir Angst. Die Aufbruchstimmung, dieich an diesem Tag hatte verspüren wollen, wich der Ge-wissheit, dass ich einmal mehr um einen Platz in diesemGeflecht würde kämpfen müssen. Und dass ich es nichtschaffen würde, mein Leben zu ändern, wenn mir schonder Zebrastreifen wie ein unüberwindbares Hindernis vor-

    kam.Ich begann zu weinen und spürte, wie der Drang über-

    mächtig wurde, einfach zu verschwinden und mich in Luftaufzulösen. Ich ließ den Verkehr an mir vorbeifließen undstellte mir vor, wie ich auf die Straße treten und mich einAuto erfassen würde. Es würde mich ein paar Meter mit-

    schleifen, und dann wäre ich tot. Mein Rucksack würdeneben mir liegen, und meine rote Jacke wäre wie eine Sig-nalfarbe auf dem Asphalt, die schrie: Seht nur, was ihr mit

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    diesem Mädchen gemacht habt. Meine Mutter würde ausdem Haus stürzen, um mich weinen und alle ihre Fehler

    einsehen. Ja, das würde sie. Ganz sicher.Natürlich sprang ich nicht vor ein Auto und auch nicht

    vor die Straßenbahn. Ich hätte niemals so viel Aufmerk-samkeit auf mich ziehen wollen. Stattdessen gab ich mir ei-nen Ruck, überquerte die Straße und ging den Rennbahn-weg entlang in Richtung meiner Volksschule am Brioschi-weg. Der Weg führte durch ein paar ruhige Nebenstraßen,gesäumt von kleinen Einfamilienhäusern aus den 1950er Jahren mit bescheidenen Vorgärten. In einer Gegend, diegeprägt war von Industriebauten und Plattenbausiedlun-gen, wirkten sie anachronistisch und beruhigend zugleich.Als ich in die Melangasse einbog, wischte ich mir die letz-ten Tränen vom Gesicht, dann trottete ich mit gesenktem

    Kopf weiter.Ich weiß nicht mehr, was mich veranlasste, den Kopf zu

    heben. Ein Geräusch? Ein Vogel? Jedenfalls fiel mein Blickauf einen weißen Lieferwagen. Er stand in der Parkspur aufder rechten Straßenseite und wirkte in dieser ruhigen Um-gebung seltsam fehl am Platz. Vor dem Lieferwagen sah icheinen Mann stehen. Er war schlank, nicht sehr groß undblickte irgendwie ziellos umher: als würde er auf etwaswarten und wüsste nicht, worauf.

    Ich verlangsamte meine Schritte und wurde steif. MeineAngst, die ich so wenig greifen konnte, war mit einemSchlag zurück und überzog meine Arme mit einer Gänse-haut. Sofort hatte ich den Impuls, die Straßenseite zu wech-

    seln. Eine schnelle Abfolge von Bildern und Wortfetzenraste durch meinen Kopf: Sprich nicht mit fremden Män-nern ... Steig nicht in ein fremdes Auto ... Entführungen,

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    Missbrauch, die vielen Geschichten, die ich über gekid-nappte Mädchen im Fernsehen gesehen hatte. Aber wenn

    ich wirklich erwachsen werden wollte, durfte ich diesemImpuls nicht nachgeben. Ich musste mich stellen undzwang mich weiterzugehen. Was soll schon passieren? DerSchulweg war meine Prüfung. Ich würde sie bestehen, oh-ne auszuweichen.

    Rückblickend kann ich nicht mehr sagen, warum beimAnblick des Lieferwagens in mir sofort die Alarmglockenschrillten: Es mag Intuition gewesen sein, vielleicht aberauch einfach die Überflutung mit all den Meldungen übersexuellen Missbrauch, denen wir damals in Folge des »Fal-les Groer« ausgesetzt waren. Der Kardinal wurde 1995 be-zichtigt, Jugendliche missbraucht zu haben, die Reaktiondes Vatikans sorgte für einen regelrechten Medienrummel

    und führte zu einem Kirchenvolksbegehren in Österreich.Dazu kamen all die Berichte über entführte und ermordeteMädchen, die ich aus den deutschen Fernsehnachrichtenkannte. Aber wahrscheinlich hätte mir wohl jeder Mann,dem ich in einer ungewöhnlichen Situation auf der Straßebegegnet wäre, Angst eingejagt. Entführt zu werden war inmeinen kindlichen Augen eine realistische Möglichkeit -

    aber im tiefsten Inneren doch etwas, das im Fernsehenstattfand. Und nicht in meiner Nachbarschaft.

    Als ich mich dem Mann bis auf etwa zwei Meter genä-hert hatte, sah er mir in die Augen. In diesem Momentschwand meine Angst. Er hatte blaue Augen und wirktemit seinen etwas zu langen Haaren wie ein Student in ei-

    nem alten Fernsehfilm aus den 1970er Jahren. Sein Blickging auf seltsame Weise ins Leere. Das ist ein armer Mann,dachte ich, denn er strahlte so etwas Schutzbedürftiges aus,

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    dass ich den spontanen Wunsch hatte, ihm zu helfen. Dasmag seltsam klingen, wie ein unbedingtes Festhalten am

    kindlichen Glauben an das Gute im Menschen. Aber als ermich an diesem Morgen zum ersten Mal frontal ansah,wirkte er verloren und sehr zerbrechlich.

     Ja. Diese Prüfung würde ich bestehen. Ich würde in demAbstand, den der schmale Gehsteig zuließ, an diesemMann vorbeigehen. Ich traf nicht gerne mit anderen Men-schen zusammen und wollte ihm wenigstens so weit aus-weichen, dass ich nicht mit ihm in Berührung kam.

    Dann ging alles sehr schnell.

    In dem Moment, als ich mit gesenktem Blick den Mannpassieren wollte, packte er mich um die Taille und hobmich durch die offene Türe in den Lieferwagen. Alles ge-schah mit einer einzigen Bewegung, als wäre die Szene

    choreographiert worden, als hätten wir sie gemeinsam ein-studiert. Eine Choreographie des Schreckens.

    Habe ich geschrien? Ich glaube nicht. Und doch war allesin mir ein einziger Schrei. Er drängte nach oben und bliebweit unten in meiner Kehle stecken: ein stummer Schrei, alswäre einer dieser Alpträume wahr geworden, in denen

    man schreien will, aber es ist kein Ton zu hören; in denenman rennen will, aber die Beine bewegen sich wie in Treib-sand.

    Habe ich mich gewehrt? Habe ich versucht, seine perfek-te Inszenierung zu stören? Ich muss mich gewehrt haben,denn am nächsten Tag hatte ich ein blaues Auge. An denSchmerz durch einen Schlag kann ich mich allerdings nichtmehr erinnern, nur an das Gefühl lähmender Ohnmacht.Der Täter hatte leichtes Spiel mit mir. Er war i Meter 72groß, ich nur 1,50. Ich war dick und sowieso nicht beson-

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    Wohin bringt er mich? Was ist das für ein Auto? Wie spätist es jetzt? Die Scheiben des Lieferwagens waren bis auf

    einen schmalen Streifen am oberen Rand abgedunkelt. Ichkonnte vom Boden aus nicht genau sehen, wohin wir fuh-ren, und ich traute mich nicht, den Kopf so weit zu heben,dass ich durch die Windschutzscheibe sehen konnte. DieFahrt erschien mir lang und ziellos, ich verlor rasch das Ge-spür für Zeit und Raum. Aber die Baumkronen undStrommasten, die immer wieder an mir vorbeizogen, gaben

    mir das Gefühl, als würden wir im Kreis durch das Viertelfahren.

    Reden. Du musst mit ihm reden. Aber wie? Wie sprichtman einen Verbrecher an? Verbrecher verdienen keinenRespekt, die Höflichkeitsform erschien mir nicht angeb-racht. Also du. Die Anrede, die eigentlich für Menschen re-

    serviert war, die mir nahestanden.Ich fragte ihn absurderweise zuerst nach seiner Schuh-

    größe. Das hatte ich mir aus Fernsehsendungen wie »Ak-tenzeichen XY ungelöst« gemerkt. Man muss den Täter ge-nau beschreiben können, jedes noch so kleine Detail warwichtig. Aber natürlich bekam ich keine Antwort. Stattdes-sen befahl mir der Mann barsch, ruhig zu sein, dann würdemir auch nichts geschehen. Ich weiß bis heute nicht, wie ichdamals den Mut aufbrachte, mich über seine Anweisunghinwegzusetzen.

    Vielleicht, weil ich mir sicher war, dass ich ohnehin ster-ben würde - dass es nicht schlimmer werden konnte.

    »Werde ich jetzt missbraucht?«, fragte ich ihn als Näch-

    stes.Diesmal bekam ich eine Antwort. »Dazu bist du viel zu

     jung«, sagte er. »Das würde ich nie tun.« Dann telefonierte

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    er wieder. Nachdem er aufgelegt hatte, sagte er: »Ich bringedich jetzt in einen Wald und übergebe dich den anderen.

    Dann habe ich mit der Sache nichts mehr zu tun.« DiesenSatz wiederholte er mehrmals, schnell und fahrig: »Ichübergebe dich und dann habe ich nichts mehr mit dir zutun. Wir werden uns nie wiedersehen.«

    Wenn er mir Angst hatte einjagen wollen, dann hatte erdamit genau das richtige Stichwort gefunden: Seine An-kündigung, mich an »andere« zu übergeben, raubte mirden Atem, ich wurde starr vor Schreck. Er brauchte nichtsweiter zu sagen, ich wusste, was damit gemeint war: Kin-derpornoringe waren seit Monaten Thema in den Medien.Es war seit dem letzten Sommer keine Woche vergangen, inder nicht über Täter diskutiert worden war, die Kinder ent-führten, sie missbrauchten und dabei filmten. Vor meinem

    inneren Auge sah ich alles ganz genau vor mir: Gruppenvon Männern, die mich in einen Keller zerren, mich überallanfassen, während andere Fotos davon machen. Bis zu die-sem Moment war ich überzeugt davon gewesen, dass ichbald sterben würde. Das, was mir jetzt drohte, schien mirschlimmer.

    Ich weiß nicht mehr, wie lange die Fahrt gedauert hat,bis wir anhielten. Wir waren in einem Föhrenwald, wie essie außerhalb von Wien zahlreich gibt. Der Täter stellte denMotor ab und telefonierte wieder. Etwas schien schiefge-gangen zu sein. »Die kommen nicht, die sind nicht hier!«,schimpfte er vor sich hin. Er wirkte dabei verängstigt, ge-hetzt. Aber vielleicht war das auch nur ein Trick: Vielleicht

    wollte er, dass ich mich mit ihm verbünde, gegen diese»anderen«, denen er mich übergeben sollte und die ihn nun

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    hängenließen. Vielleicht hat er sie aber auch nur erfunden,um meine Angst zu vergrößern und mich damit zu lähmen.

    Der Täter stieg aus und befahl mir, mich nicht von derStelle zu rühren. Ich gehorchte stumm. Hatte Jennifer nichtaus einem solchen Auto fliehen wollen? Wie hatte sie dasversucht? Und was hatte sie dabei falsch gemacht? In mei-nem Kopf wirbelte alles durcheinander. Wenn er die Türnicht verriegelt hatte, konnte ich sie vielleicht aufschieben.Aber dann? Zwei Schritte und er wäre bei mir. Ich konntenicht schnell laufen. Ich hatte auch keine Ahnung, in wel-chem Wald wir uns befanden und in welche Richtung ichrennen sollte. Und dann waren da noch »die anderen«, diemich holen sollten, die überall sein konnten. Ich sah es leb-haft vor mir, wie sie hinter mir her hetzen, mich packenund zu Boden reißen würden. Und dann sah ich mich als

    Leiche in diesem Wald, verscharrt unter einer Föhre.Ich dachte an meine Eltern. Meine Mutter würde am

    Nachmittag in den Hort kommen, um mich abzuholen, unddie Horttante würde ihr sagen: »Aber Natascha war dochheute gar nicht hier!« Meine Mutter würde verzweifeln,und ich hatte keine Möglichkeit, sie davor zu schützen. Esschnitt mir ins Herz, wenn ich daran dachte, wie sie imHort steht und ich bin nicht da.

    Was soll schon passieren? Ich war gegangen an diesemMorgen ohne ein Wort des Abschieds, ohne einen Kuss.»Man weiß ja nicht, ob man sich wiedersehen wird.«

    * * *

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    Die Worte des Täters ließen mich zusammenzucken. »Siekommen nicht.« Dann stieg er ein, startete den Motor und

    fuhr wieder los. Diesmal erkannte ich an den Giebeln undDächern der Häuser, die ich durch den schmalen Streifender Seitenfenster gerade noch sehen konnte, wohin er denWagen lenkte: an den Stadtrand zurück und dann auf dieAusfallstraße Richtung Gänserndorf.

    »Wohin fahren wir?«, fragte ich.

    »Nach Straßhof«, sagte der Täter freimütig.Als wir Süßenbrunn durchquerten, erfasste mich tiefeTraurigkeit. Wir kamen beim alten Geschäft meiner Muttervorbei, das sie vor kurzem aufgelassen hatte. Noch dreiWochen vorher wäre sie vormittags hier am Schreibtischgesessen und hätte die Büroarbeit erledigt. Ich konnte sievor mir sehen und wollte schreien, aber ich brachte nur ein

    schwaches Wimmern heraus, als wir an der Gasse vorbei-fuhren, die zum Haus meiner Großmutter führte. Hier hat-te ich die glücklichsten Momente meiner Kindheit ver-bracht.

    In einer Garage kam der Wagen zum Stehen. Der Täterbefahl mir, am Boden der Ladefläche liegen zu bleiben, und

    stellte den Motor ab. Dann stieg er aus, holte eine blaue De-cke, warf sie über mich und wickelte mich fest darin ein.Ich bekam kaum noch Luft, um mich herum war absoluteDunkelheit. Als er mich wie ein verschnürtes Paket hoch-hob und aus dem Auto trug, erfasste mich Panik. Ich muss-te aus dieser Decke heraus. Und ich musste aufs Klo.

    Meine Stimme klang dumpf und fremd unter der Decke,als ich ihn bat, mich abzusetzen und auf die Toilette zu las-sen. Er hielt einen Moment inne, dann wickelte er mich ausund führte mich durch einen Vorraum zu einem kleinen

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    Gästeklo. Vom Gang aus konnte ich einen kurzen Blick indie angrenzenden Zimmer werfen. Die Einrichtung wirkte

    bieder und teuer - für mich eine weitere Bestätigung dafür,dass ich wirklich einem Verbrechen zum Opfer gefallenwar: In den Fernsehkrimis, die ich kannte, hatten Kriminel-le immer große Häuser mit wertvoller Einrichtung.

    Der Täter blieb vor der Tür stehen und wartete. Ich dreh-te sofort den Schlüssel herum und atmete auf. Doch derMoment der Erleichterung dauerte nur Sekunden: DerRaum hatte kein Fenster, ich war gefangen. Der einzigeWeg nach draußen führte durch die Tür, hinter der ichmich nicht ewig einschließen konnte. Zumal es für ihn einLeichtes wäre, sie aufzubrechen.

    Als ich nach einer Weile aus der Toilette herauskam,hüllte mich der Täter wieder in die Decke: Dunkelheit, sti-

    ckige Luft. Er hob mich hoch, und ich spürte, wie er michmehrere Treppen hinabtrug: ein Keller? Unten angekom-men, legte er mich auf den Boden, zerrte mich an der Deckeein Stück vorwärts, schulterte mich wieder und ging wei-ter. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis er mich wiederabsetzte. Dann hörte ich, wie sich seine Schritte entfernten.

    Ich hielt den Atem an und lauschte. Nichts. Es war abso-lut nichts zu hören. Trotzdem dauerte es, bis ich es wagte,mich vorsichtig aus der Decke zu schälen. Rund um michherum herrschte absolute Dunkelheit. Es roch nach Staub,die schale Luft war seltsam warm. Unter mir spürte ich denkalten, nackten Boden. Ich rollte mich darauf zusammenund wimmerte leise. Meine eigene Stimme klang in der

    Stille so seltsam, dass ich erschrocken aufhörte. Wie langeich so liegen blieb, weiß ich nicht mehr. Ich versuchte an-fangs noch, die Sekunden zu zählen und die Minuten. Ei-

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    nundzwanzig, zweiundzwanzig ... murmelte ich vor michhin, für die Länge der Sekunden. Mit den Fingern versuch-

    te ich, die Minuten festzuhalten. Ich verzählte mich immerwieder, dabei durfte mir das doch jetzt nicht passieren! Ichmusste mich doch konzentrieren, mir jedes Detail merken!Aber schnell hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren. DieDunkelheit, der Geruch, der Ekel in mir hervorrief, all daslegte sich über mich wie ein schwarzes Tuch.

    Als der Täter zurückkam, brachte er eine Glühbirne mit,die er in eine Halterung an der Wand schraubte. Das grelleLicht, das so plötzlich aufflammte, blendete mich undbrachte keinerlei Linderung: Denn nun sah ich, wo ichmich befand. Der Raum war klein und kahl, die Wändewaren mit Holz verkleidet, eine nackte Pritsche war mitHaken an der Wand montiert. Der Boden war aus hellem

    Laminat. In der Ecke stand eine Toilette ohne Deckel, an ei-ner Wand befand sich ein Doppelwaschbecken aus Nirosta.

    Sah so das geheime Versteck einer Verbrecherbande aus?Ein Sexclub? Die Wände mit dem hellen Holz erinnertenmich an eine Sauna und setzten eine Gedankenkette inGang: Sauna im Keller - Kinderschänder - Verbrecher. Ichsah dicke, schwitzende Männer vor mir, die mich in diesemengen Raum bedrängten. Für mich als Kind war eine Saunaim Keller der Ort, an den solche Leute ihre Opfer lockten,um sie dort zu missbrauchen. Doch es gab keinen Ofen undkeinen dieser Holzkübel, die sich normalerweise in Saunasbefinden.

    Der Täter wies mich an, aufzustehen, mich in einem ge-

    wissen Abstand vor ihm hinzustellen und mich nicht vonder Stelle zu rühren. Dann begann er, die Holzpritsche ab-zumontieren und die Haken, an denen sie befestigt war,

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    aus der Wand zu schrauben. Währenddessen redete er miteiner Stimme auf mich ein, die Menschen in der Regel für

    ihr Haustier reservieren: beschwichtigend und sanft. Ichsolle keine Angst haben, es würde alles gut werden, wennich nur machte, was er mir befahl. Er sah mich dabei an,wie ein stolzer Besitzer seine neue Katze betrachtet - oderschlimmer: wie ein Kind ein neues Spielzeug. VöDer Vor-freude und gleichzeitig unsicher, was man damit alles ans-tellen kann.

    Nach einiger Zeit ebbte meine Panik langsam ab und ichwagte es, ihn anzusprechen. Ich flehte ihn an, mich gehenzu lassen: »Ich werde niemandem etwas erzählen. Wenndu mich jetzt freilässt, bemerkt niemand etwas. Ich werdeeinfach sagen, ich bin weggelaufen. Wenn du mich nichtüber Nacht behältst, passiert dir ja nichts.« Ich versuchte,

    ihm zu erklären, dass er einen schweren Fehler beging,dass man mich bereits suchen und ganz sicher finden wür-de. Ich appellierte an sein Verantwortungsgefühl, ich bet-telte um Mitleid. Doch es war zwecklos. Er machte mirunmissverständlich klar, dass ich die Nacht in diesem Ver-lies verbringen würde.

    Hätte ich geahnt, dass dieser Raum für 3096 Nächte meinRückzugsraum und mein Gefängnis zugleich sein würde,ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte. Wenn ich heute zu-rückblicke, sehe ich, dass allein das Wissen, diese ersteNacht im Keller bleiben zu müssen, einen Mechanismus inGang setzte, der wohl lebensrettend war - und zugleich ge-fährlich. Was eben noch außerhalb des Denkbaren erschien,

    war nun eine Tatsache: Ich war im Keller eines Verbrecherseingesperrt, und ich würde zumindest an diesem Tag nichtmehr freikommen. Ein Ruck ging durch meine Welt, die

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    Realität verschob sich um ein kleines Stück. Ich akzeptierte,was passiert war, und anstatt verzweifelt und empört ge-

    gen die neue Situation anzukämpfen, fügte ich mich. AlsErwachsener weiß man, dass man ein Stück von sich selbstverliert, wenn man Gegebenheiten erdulden muss, die biszu ihrem Eintreten völlig außerhalb des eigenen Vorstel-lungsvermögens waren. Der Boden, auf dem die eigenePersönlichkeit steht, bekommt einen Riss. Und doch ist esdie einzig richtige Reaktion, sich anzupassen, denn sie si-

    chert das Überleben. Als Kind handelt man intuitiver. Ichwar eingeschüchtert, ich wehrte mich nicht, sondern be-gann, mich einzurichten - vorerst nur für eine Nacht.

    Aus heutiger Sicht erscheint es mir beinahe befremdlich,wie meine Panik einem gewissen Pragmatismus wich. Wieschnell ich begriff, dass mein Flehen keinen Sinn haben und

    wie jedes weitere Wort an diesem fremden Mann abtropfenwürde. Wie instinktiv ich ahnte, dass ich die Situation an-nehmen musste, um diese eine endlose Nacht im Keller zuüberstehen.

    Als der Täter die Pritsche von der Wand geschraubt hat-te, fragte er mich, was ich alles brauchte. Eine absurde Si-tuation, so, als würde ich im Hotel übernachten und hättemein Necessaire vergessen. »Eine Haarbürste, eine Zahn-bürste, Zahnpasta und einen Zahnputzbecher. Ein Joghurt-becher genügt auch.« Ich funktionierte.

    Er erklärte mir, dass er nun nach Wien fahren müsse, ummir aus seiner dortigen Wohnung eine Matratze zu holen.

    »Ist das dein Haus?«, fragte ich, doch ich erhielt keine

    Antwort. »Warum kannst du mich nicht in deiner Woh-nung in Wien unterbringen?«

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    Er meinte, das wäre viel zu gefährlich: dünne Wände,aufmerksame Nachbarn, ich könnte schreien. Ich versprach

    ihm, ruhig zu sein, wenn er mich nur nach Wien brächte.Aber es nützte nichts.

    In dem Moment, als er rückwärts den Raum verließ unddie Tür zusperrte, geriet meine Überlebensstrategie insWanken. Ich hätte alles getan, damit er blieb oder michmitnahm: alles, nur um nicht allein zu sein.

    * * *

    Ich hockte auf dem Boden, meine Arme und Beine fühl-ten sich seltsam taub an, meine Zunge klebte schwer anmeinem Gaumen. Meine Gedanken kreisten um die Schule,

    als suchte ich nach einer zeitlichen Struktur, die mir Haltgeben würde, die ich aber längst verloren hatte. WelchesFach wurde wohl gerade unterrichtet? War die große Pauseschon vorbei? Wann haben sie bemerkt, dass ich nicht dabin? Und wann werden sie begreifen, dass ich gar nichtmehr komme? Werden sie meine Eltern informieren? Wiewerden sie reagieren?

    Der Gedanke an meine Eltern trieb mir Tränen in dieAugen. Aber ich durfte doch nicht weinen. Ich musste dochstark sein, die Kontrolle behalten. Ein Indianer kennt kei-nen Schmerz, und außerdem: morgen wäre das alles ganzsicher vorbei. Und dann würde alles wieder gut werden.Meine Eltern würden sich durch den Schock, mich fast ver-

    loren zu haben, wieder vertragen und liebevoll mit mirumgehen. Ich sah sie vor mir, gemeinsam am Tisch beimEssen sitzend, wie sie mich stolz und bewundernd befrag-ten, wie ich das alles gemeistert hatte. Ich stellte mir den

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    ersten Tag in der Schule vor. Ob man mich wohl auslachenwürde? Oder würde man mich als Wunder feiern, weil ich

     ja freigekommen war, während alle anderen, denen solcheDinge passieren, als Leichen in einem Teich oder einemWald endeten. Ich malte mir aus, wie triumphal es wäre -und auch ein bisschen peinlich -, wie sich alle um michscharen und unermüdlich ausfragen würden: »Hat dich diePolizei befreit?« Würde mich die Polizei denn überhauptbefreien können? Wie sollte sie mich finden? »Wie konntest

    du denn fliehen?« - »Woher hattest du den Mut zu flie-hen?« Hätte ich überhaupt den Mut zu fliehen?

    Panik kroch wieder in mir hoch: Ich hatte keine Ahnung,wie ich hier herauskommen sollte. Im Fernsehen »überwäl-tigte« man Täter einfach. Aber wie? Würde ich ihn viel-leicht sogar töten müssen? Ich wusste, dass man durch ei-

    nen Leberstich stirbt, das hatte ich in der Zeitung gelesen.Aber wo war die Leber genau? Würde ich die richtige Stellefinden? Womit sollte ich zustechen? Und war ich dazuüberhaupt fähig? Einen Menschen zu töten, ich, ein kleinesMädchen? Ich musste an Gott denken. War es in meiner Si-tuation denn erlaubt, jemanden umzubringen, auch wennman keine andere Wahl hatte? Du sollst nicht töten. Ich

    versuchte, mich zu erinnern, ob wir im Religionsunterrichtüber dieses Gebot gesprochen hatten - und ob es Ausnah-men in der Bibel gab. Mir fiel keine ein.

    Ein dumpfes Geräusch riss mich aus meinen Gedanken.Der Täter war zurück.

    Er hatte eine schmale und etwa acht Zentimeter dünne

    Schaumstoffmatte mitgebracht, die er auf den Boden legte.Sie sah aus, als ob sie vom Bundesheer stammte, oder voneiner Gartenliege. Als ich mich auf sie setzte, wich die Luft

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    sofort aus dem dünnen Gewebe und ich spürte den hartenBoden unter mir. Der Täter hatte alles, worum ich ihn gebe-

    ten hatte, mitgebracht. Und sogar Kekse. Butterkekse miteiner dicken Schicht Schokolade darauf. Meine Lieblings-kekse, die ich eigentlich nicht mehr essen durfte, weil ichzu dick war. Ich verband mit diesen Keksen eine unbändi-ge Sehnsucht und eine Reihe demütigender Momente: Die-ser Blick, wenn jemand zu mir sagte: »Das isst du jetzt abernicht. Du bist ohnehin schon so pummelig.« Die Scham,

    wenn alle anderen Kinder Zugriffen und meine Hand zu-rückgehalten wurde. Und das Glücksgefühl, wenn dieSchokolade langsam in meinem Mund schmolz.

    Als der Täter die Kekspackung öffnete, begannen meineHände zu zittern. Ich wollte sie haben, aber vor lauter Ner-vosität und Angst wurde mein Mund ganz trocken. Ich

    wusste, ich würde sie nicht hinunterbringen. Er hielt mirdie Packung so lange unter die Nase, bis ich einen heraus-nahm, den ich in kleine Teile zerbröselte. Dabei sprangenein paar Schokoladenstücke ab, die ich mir in den Mundsteckte. Mehr konnte ich nicht essen.

    Nach einer Weile wandte sich der Täter von mir ab undging zu meiner Schultasche, die auf dem Boden in einerEcke lag. Als er sie hochhob und sich zum Gehen anschick-te, flehte ich ihn an, mir die Tasche zu lassen - das Gefühl,die einzigen persönlichen Sachen in dieser verstörendenUmgebung zu verlieren, zog mir den Boden unter den Fü-ßen weg. Er starrte mich mit einem wirren Gesichtsaus-druck an: »Du könntest einen Sender darin versteckt haben

    und damit um Hilfe rufen«, sagte er. »Du fuhrst mich hin-ters Licht und gibst dich absichtlich ahnungslos! Du bistviel intelligenter, als zu zugibst!«

  • 8/18/2019 Natascha Kampusch: 3096 Tage

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    Der unvermittelte Wechsel seiner Stimmung ängstigtemich. Hatte ich etwas falsch gemacht? Und was für einen

    Sender sollte ich in meiner Tasche haben, in der außer einpaar Büchern und Stiften doch nur meine Pausenbrotewaren? Damals wusste ich nichts mit seinem seltsamenVerhalten anzufangen. Heute ist dieser Satz für mich dererste Anhaltspunkt, dass der Täter paranoid und psychischkrank war. Es gab damals keine Sender, die man Kindernmitgeben konnte, um sie zu orten - und selbst heute, wo es

    diese Möglichkeiten gibt, ist so etwas höchst ungewöhn-lich. Für den Täter aber war die Gefahr real, dass ich im Jahr 1998 solche futuristisch anmutenden Kommunikati-onsmittel in meiner Tasche versteckt hätte. So real, dass erin seinem Wähn Angst davor hatte, ein kleines Kind könnedie Welt, die es nur in seinem Kopf gab, zum Einsturz

    bringen.Seine Rolle in dieser Welt wechselte blitzschnell: Im ei-nen Moment schien er mir den Zwangsaufenthalt in seinemKelle