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Das Erscheinen von Anthony Mc- Elligotts Buch Contested City war bereits 1993 von der University of Michigan Press angekündigt, doch hatte es noch einen langen Weg vor sich. Die Studie basiert auf erschöp- fenden Recherchen in städtischen, staatlichen und nationalen Archiven sowie auf enzyklopädisch umfassen- der Lektüre von Sekundärliteratur. Seine dicht gewobenen Porträts des Lebens in den innerstädtischen Vierteln und Vororten Altonas illus- triert die Spannungen und die Un- zufriedenheit urbaner Milieus in der Weimarer Zeit und fügt un- serem Verständnis der Instabilität in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg viele neue Details aus lokaler Sicht hinzu. McElligotts Fokus auf Altona ist besonders willkommen. Wir haben viel zu wenig Kenntnis davon, wie städtische Arbeiter- und Mittel- schicht-Viertel auf die scheinbar endlosen Serien ökonomischer und politischer Krisen der Weimarer Zeit reagierten, vor allem außerhalb Berlins. Mit einer Bevölkerung von etwa einer Viertelmillion im Jahr 1927 und „einer Reputation als Stadt der Arbeiterklasse“ (S. 4) galt Altona – zusammen mit seinem rie- sigen Nachbarn Hamburg – als eines der wichtigsten Kraftzentren der Sozialdemokratie in Preußen. Unter Verwendung von Wahlstatis- tiken und politischen Berichten stellt McElligott sowohl den neuen Zentralismus der SPD in kommu- nalen Verwaltungen nach 1919 als auch das Unbehagen heraus, das dieser bei den städtischen Eliten und der Mittelschicht auslöste. Hat- ten sie noch kurz zuvor die lokale Politik fest im Griff, fürchteten Konservative und Nationalisten nun eine „kalte Sozialisierung“ in Rathäusern und Stadtverordneten- versammlungen. In Reaktion hier- auf führten sie in den zwanziger Jahren eine Reihe energischer Kam- pagnen gegen die Verwaltung und ihren hoch profilierten SPD-Bür- germeister Max Brauer durch. Während Stadtfeindlichkeit oft im Zusammenhang mit dem Nie- dergang der Weimarer Republik und dem Aufstieg des Nationalsozi- alismus angeführt wird, sind Belege für einen weit verbreiteten Anti- Urbanismus jedoch meist auf die Schriften von Intellektuellen wie Oswald Spengler und Ausbrüche nationalsozialistischer Ideologen – darunter Hitler selbst – beschränkt gewesen. Wie Hein Hoebink es 1990 für die große Rheinland-Re- form von 1929 gemacht hat, er- forscht auch McElligott die umfas- 101 Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Nr. 43. April 2004. S. 100 – 151. Überlebende Juden im Hof der Lübecker Synagoge (vgl. Seite 140) Foto: Sammlung Benjamin Gruszka, Lübeck/Matrosenanzug – Davidstern, Neumünster 2002, S. 329 REZENSIONEN „Umkämpftes Altona“

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Page 1: Überlebende Juden im Hof der Lübecker Synagoge (vgl. Seite ...McElligotts Fokus auf Altona ist besonders willkommen. Wir haben viel zu wenig Kenntnis davon, wie städtische Arbeiter-

Das Erscheinen von Anthony Mc-Elligotts Buch Contested City warbereits 1993 von der University ofMichigan Press angekündigt, dochhatte es noch einen langen Weg vorsich. Die Studie basiert auf erschöp-fenden Recherchen in städtischen,staatlichen und nationalen Archivensowie auf enzyklopädisch umfassen-der Lektüre von Sekundärliteratur.Seine dicht gewobenen Porträts des Lebens in den innerstädtischenVierteln und Vororten Altonas illus-triert die Spannungen und die Un-zufriedenheit urbaner Milieus inder Weimarer Zeit und fügt un-serem Verständnis der Instabilität in Deutschland nach dem ErstenWeltkrieg viele neue Details auslokaler Sicht hinzu.

McElligotts Fokus auf Altona istbesonders willkommen. Wir habenviel zu wenig Kenntnis davon, wiestädtische Arbeiter- und Mittel-schicht-Viertel auf die scheinbarendlosen Serien ökonomischer undpolitischer Krisen der WeimarerZeit reagierten, vor allem außerhalbBerlins. Mit einer Bevölkerung vonetwa einer Viertelmillion im Jahr1927 und „einer Reputation alsStadt der Arbeiterklasse“ (S. 4) galtAltona – zusammen mit seinem rie-sigen Nachbarn Hamburg – alseines der wichtigsten Kraftzentren

der Sozialdemokratie in Preußen.Unter Verwendung von Wahlstatis-tiken und politischen Berichtenstellt McElligott sowohl den neuenZentralismus der SPD in kommu-nalen Verwaltungen nach 1919 alsauch das Unbehagen heraus, dasdieser bei den städtischen Elitenund der Mittelschicht auslöste. Hat-ten sie noch kurz zuvor die lokalePolitik fest im Griff, fürchtetenKonservative und Nationalistennun eine „kalte Sozialisierung“ inRathäusern und Stadtverordneten-versammlungen. In Reaktion hier-auf führten sie in den zwanzigerJahren eine Reihe energischer Kam-pagnen gegen die Verwaltung undihren hoch profilierten SPD-Bür-germeister Max Brauer durch.

Während Stadtfeindlichkeit oftim Zusammenhang mit dem Nie-dergang der Weimarer Republikund dem Aufstieg des Nationalsozi-alismus angeführt wird, sind Belegefür einen weit verbreiteten Anti-Urbanismus jedoch meist auf dieSchriften von Intellektuellen wieOswald Spengler und Ausbrüchenationalsozialistischer Ideologen –darunter Hitler selbst – beschränktgewesen. Wie Hein Hoebink es1990 für die große Rheinland-Re-form von 1929 gemacht hat, er-forscht auch McElligott die umfas-

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Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Nr. 43. April 2004. S. 100 – 151.Überlebende Juden im Hof der Lübecker Synagoge (vgl. Seite 140)

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REZENSIONEN

„Umkämpftes Altona“

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meister wurde) sowie die Skrupello-sigkeit der Gewalt auf den Straßen,die das politische und soziale Lebender Weimarer Zeit qualitativ verän-derte. Das Buch erforscht die Stadt-teile Altonas auf überzeugendeWeise und stellt die wichtigstenPersönlichkeiten vor. Vor allem inder Beachtung, die es auf von Kom-munisten dominierte Viertel legt,liefert es viele neue und erhellendeEinsichten, die in ein fein gewobe-nes Stadtporträt dieser problemati-schen Jahre münden.

Abgesehen von einigen Fehlernim Text und der bedauerlichen Ent-scheidung des Verlags, keine Biblio-grafie aufzunehmen, liefert dieseswichtige Buch einen substanziellenhistorischen Beitrag zu unserem

Verständnis der Weimarer Republikund der frühen Jahre des „DrittenReichs“. Und vielleicht noch wich-tiger: McElligotts Arbeit unter-streicht die zentrale Bedeutung derMethoden und Perspektiven derStadtgeschichtsforschung in dengrößeren Historiografien.

John Bingham

Anthony McElligott, Contested City.Municipal Politics and the Rise of Na-zism in Altona, 1917–1937. Ann Arbor:University of Michigan Press 1998. XII,334 S. (= Social History, Popular Cul-ture, and Politics in Germany).Übersetzung des Erstdruckes aus Ger-man Studies Review (East Lansing,Michigan), Vol. XXIV, No. 1, Februar2001, S. 212–214. Der Text wurde fürdiesen Wiederabdruck überarbeitet.

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senderen sozialen Implikationender populären Großstadt-Ablehungdurch einen faszinierenden Ein-blick in den Konflikt um den Plander Brauer-Administration, in denMittzwanzigern umliegende Voror-te und Landkreise einem Groß-Altona einzuverleiben. Die Geplän-kel zwischen den Befürworterneiner Annexion, die ein größeres,geeintes Gemeinwesen suchten,und den Menschen in den Randge-bieten, die nicht qua bürokratischerVerfügung Großstadtbewohnerwerden wollten, zeigen, wie imStreit über Fragen der Urbanisie-rung im „umkämpften“ Altonaweitreichende nationale und politi-sche Schlagworte – Boschewismus,Versailles – verwendet wurden, umdas eigene Ziel darzustellen und dieOpponenten zu verleumden.

Der Beginn wirtschaftlicher De-pression und chronischer Arbeitslo-sigkeit im Jahr 1929 trieb viele Städ-te und Orte in Deutschland an denRand des Bankrotts. Die lokalenBehörden, denen oft sogar das Geldzur Bezahlung ihrer eigenen Beam-ten fehlte, wurden zusätzlich vonwenig verständnisvollen Vertreterndes Reiches und Staates bedrängt,die zuallererst ihre eigenen Budgetsauszugleichen suchten. ContestedCity leistet einen wichtigen Beitrag,indem die Darstellung hinter diesewohlbekannten Zusammenhängeblickt. Die Bürger Altonas versuch-ten verzweifelt, den Kopf über Was-ser zu behalten, während sie sichimmer neuer Versuche der Steuer-

erhöhung erwehren mussten. DasEnde der Weimarer Republik teilsals Steuerrevolte großen Stils zuinterpretieren, ist nicht neu, aberdiese oft evokativen Porträts undGeschichten geben den bislangmeist trockenen politischen undwirtschaftlichen Darstellungenmenschliche Dimension. McElligottzeigt in überzeugender Weise, wiedie mitleidslosen Verwaltungsmitar-beiter die Menschen von republika-nischen Institutionen entfremdeten.Die in schlechtem Ruf stehendenVerwaltungsbehörden schwächtendie Legitimation der Republik alsganze ebenso gewiss wie die popu-läre Ablehnung nationaler undstaatlicher Einrichtungen. McElli-gott betont die strukturellen Span-nungen zwischen staatlichem Zen-trum und lokalen Lebenswelten alskritischen Faktor im Kollaps derRepublik.

Die Darstellung vom Aufstiegder Nazis und ihrer frühen Jahre ander Macht ist vertrauter: die außer-ordentlichen Aktivitäten derNSDAP in den Ortsgruppen, dieSpektakel der Partei, mit denen sievom Hunger nach nationalistischerZurschaustellung der WeimarerZeit profitieren wollte, und ihrschlauer Einsatz der Propaganda,um die Unzufriedenheit mit denherrschenden Verhältnissen zu stei-gern, ferner die bedeutende Rollemännlicher Vertreter des Kleinbür-gertums unter den Aktivisten (etwades Bankangestellten Emil Brix, dernach 1933 Altonas Oberbürger-

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Terror über Europa

Die Verfasser legen mit diesem Bandbereits ihre zweite gemeinsame Ver-öffentlichung zu dem Themenkom-plex Gestapo vor. Beeindrucktebereits die vorangegangene Samm-lung Die Gestapo. Mythos und Rea-lität (Darmstadt 1995) durch außer-gewöhnliche Vielfalt der Beiträgeund zahlreiche neue Aspekte derForschung, so muss für die aktuelleVeröffentlichung festgestellt wer-den, dass Herausgeber und Auto-ren erneut ein umfassendes Kom-pendium zur Geschichte der Ge-stapo vorgelegt haben, das in derwissenschaftlichen Literatur überden Nationalsozialismus der letzten

Jahre einen hervorragenden Platzeinnimmt. Gerade vor dem Hinter-grund der immer noch vorhande-nen Gefahren des Rechtsradikalis-mus und des Rechtsextremismus –nicht nur in der Bundesrepublik –,sondern auch in der dringend not-wendigen ideologischen und politi-schen Auseinandersetzung mit demvon vielen Medien gerne „schön“und „harmlos“ geredeten Rechts-populismus in Europa, bei dem essich vielfach doch nur um rechtesund rechtsextremes Gedankengut,wenn auch in anderer „medienge-rechter“ Verpackung, handelt, istdieser Sammelband ein Gewinn.

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ständnis im Reichssicherheitshaupt-amt bzw. auf die handelnden Perso-nen. Zehntausende polnischer undjüdischer Menschen wurden dabeiermordet. Eine Vielzahl von ihnenim Rahmen der – so Wildt – „Völki-schen Flurbereinigung“ in Posenund Westpreußen und der gezieltenMordprogramme zur Vernichtungder polnischen Intelligenz. Alleindie Zahl der durch den Volksdeut-schen Selbstschutz ermordetenMenschen wird auf 20.000 bis30.000 geschätzt. Auch die sog. All-gemeine Befriedungsaktion (AB-Aktion) unter der Verantwortungdes Befehlshabers der Sicherheits-polizei (BdS) in Krakau, BrunoStreckenbach – ehemaliger Leiterder Gestapo in Hamburg –, forder-te 1939/40 Zehntausende von Men-schenleben.

Gerhard Paul be schreibt in sei-nem Beitrag („Kämpfende Verwal-tung“. Das Amt IV des Reichs-sicherheitshauptamtes als Führungs-instanz der Gestapo. S. 42–81) zu-nächst sehr präzise die Entwicklungzum Reichssicherheitshauptamt(RSHA), die ursprünglichen Ziel-setzungen, die Organisation undGeschäftsverteilung und die tat-sächliche Ausgestaltung, insbeson-dere der Abt. IV (Gegnererfor-schung und Gegnerbekämpfung)im Verlauf des Zweiten Weltkriegs.

Am 1. Januar 1944 waren31.374 Gestapo-Mitarbeiter für dierund 200 Millionen Menschen imdeutschen Machtbereich zuständig.Etwa 75 % von ihnen waren außer-

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Hier wird auch deutlich, wiespannend und kreativ Geschichtebeschrieben und geschrieben wer-den kann und wie wirklich neueIdeen und Erkenntnisse in der For-schung erarbeitet werden können,und zwar europaweit. Der Lesererhält einen überwältigenden –manchmal nur schwer erträglichen– Einblick in die grauenvolle Tä-tigkeit der Gestapo in ganz Europa.

Alle Aufsätze überzeugen durchaußerordentlich gute Rechercheund zahlreiche Quellen- und Lite-raturhinweise. Sie bewegen sichdurchweg auf einem hohen wissen-schaftlichen Niveau und eröffnen

zahlreiche neue Fragestellungen fürdie Forschung. Besonders gelungenist in fast allen Beiträgen die Zu-sammenführung von Ereignis- undPersonengeschichte zu einer be-achtlichen Qualität von Sozialge-schichte. Die zahlreichen Hinweisezu den handelnden Personen undzu ihren Werdegängen machendeutlich, wie komplex die Entste-hungsgeschichte des Nationalsozia-lismus in Deutschland gesehen wer-den muss. Gerade diese Aspektesind aus meiner Sicht für eine Ver-wendung im Geschichts- und Po-litikunterricht auch für jüngereJahrgänge von herausragender Be-deutung und machen das Buchnicht nur für den wissenschaftlichinteressierten Leser wertvoll.

Der Sammelband gliedert sichin fünf Kapitel: I. Organisation undPersonal, II. Die Gestapo an der„Heimatfront“, III. Die Gestapo imbesetzten Europa, IV. Das Ende derGestapo und V. Ein Resümee. Denbreitesten Raum nehmen dabei dieKapitel II und III ein.

Nach einer Einleitung der Her-ausgeber beschäftigt sich MichaelWildt (Radikalisierung und Selbst-radikalisierung 1939. S. 11–41) imSchwerpunkt mit den Einsätzenund ersten Massenmorden in Polen1939. Dabei schildert er eindrucks-voll die ständig zunehmende Bruta-lisierung der Einsätze von Gestapo,SD, Sipo, Polizei und SS gegen diepolnische und jüdische Bevölke-rung und deren Auswirkung auf dieEntwicklung und das Selbstver-

Gerhard Paul/Klaus-Michael Mallmann(Hg.), Die Gestapo im Zweiten Welt-krieg. „Heimatfront“ und besetztesEuropa. Darmstadt: WissenschaftlicheBuchgesellschaft 2000. 674 Seiten.

halb des Reichsgebietes von 1937im Einsatz. Im Verlauf des Kriegsradikalisierte und brutalisierte sichdie Terrorherrschaft der Gestapoimmer mehr, besonders im Rahmender Einsatzgruppen und des Mas-senmordes an der jüdischen Bevöl-kerung, organisiert und geleitetdurch das „Judenreferat“ (IV B 4)unter Adolf Eichmann. Der „Geg-nerbegriff“ wurde immer exzessiverausgelegt und im Rahmen der„Sonderbehandlung“ in Mordtatenumgesetzt. Gab es im „Altreich“noch Begrenzungen, so war die„Sonderbehandlung“ in den besetz-ten Gebieten Europas bald das gän-gige Verfahren der staatspolizei-lichen Massenmorde. Gegen Endedes Kriegs fielen aber auch hier dieletzten Grenzen, als Kaltenbrunnerals Chef des RSHA die Delegationder Anordnung von „Sonderbe-handlung“ auf die regionalen undörtlichen Dienststellen verlagerte.Mit der Selbstauflösung des Amtesund der Flucht von großen Teilen indie „Alpenfestung“ und die „Fes-tung Nord“ (Schleswig-Holstein)endete die Tätigkeit kurz vorKriegsende. Ein Verfahren gegendas RSHA hat es nie gegeben, eswurde 1968 „durch die Hintertür“eingestellt (S. 81, Anm. 140).

Jens Banach (Heydrichs Ver-treter im Feld. Die Inspekteure,Kommandeure und Befehlshaber derSicherheitspolizei und des SD. S.82–99) gibt einen konzentriertenÜberblick und zahlreiche interes-sante und neue Informationen zum

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Finanzverwaltung wurde nach 1935immer intensiver und detaillierter.Die in den Osten deportierten jüdi-schen Menschen durften lediglich100 RM und 50 kg Gepäck je Per-son behalten, alle anderen Wertewurden ihnen geraubt. Selbst dieKosten ihrer eigenen Deportationmussten die Menschen, zum Teilunmittelbar vor dem Abtransport,selber bezahlen. Mit der Einrich-tung des Sonderkontos „W“ – aufdas erzwungene „Spenden“ an dieReichsvereinigung der Juden inDeutschland eingezahlt werdenkonnten und auf das die GestapoZugriff hatte – und des „Heimein-kaufvertrags H“ – der „auf Lebens-zeit Heimunterkunft und Verpfle-gung“ in Theresienstadt garantierte,der höchste bisher bekannte Einzel-betrag betrug 500.000 RM –, gelanges der Gestapo, erhebliche Beträgedem Zugriff der Finanzverwaltungzu entziehen. Der geschätzte Ge-samt betrag der Verträge soll zwi-schen 300 und 400 Millionen RMgelegen haben.

Holger Berschel beschreibt inseinem Beitrag (Polizeiroutiniersund Judenverfolgung. Die Bearbei-tung von „Judenangelegenheiten“ beider Stapo-Leitstelle Düsseldorf. S.155–178) die Zusammenarbeit aufder regionalen und lokalen Ebene.Er zeigt, dass der überwiegende Teilder „Judensachbearbeiter“ bereitsin der Weimarer Republik als Poli-zeibeamte tätig waren, die dann inden 30er Jahren zur Gestapo ver-setzt wurden. Der Leiter des Düs-

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Thema. So wurde die überwiegendeMehrheit nach 1900 geboren,stammte aus den „staatstragenden“Schichten des Kaiserreichs, verfügteüber höhere und hohe Bildungs-abschlüsse und war relativ frühNationalsozialist geworden. ImDurchschnitt waren sie bei derMachtergreifung 30 Jahre alt. Vonden insgesamt 59 Inspekteurenwaren 18 hauptberufliche Polizei-beamte, davon mindestens zehnbereits vor 1933. Auffallend ist dergroße Anteil von Personen (sechs),die bei der Politischen Polizei inBayern erste Erfahrungen gemachthatten (in Preußen lediglich vier,einer in Bremen). Die größte Grup-pe bildeten die Juristen (insgesamt45 der Jahrgänge 1903–1911). Be-sonders wertvoll sind die zahlrei-chen Angaben zu den Personen.

„Vom Vorurteil zum Völker-mord führt kein gradliniger Weg.“Ein Zitat aus dem Aufsatz von Jür-gen Matthäus („Warum wird überdas Judentum geschult?“ Die ideolo-gische Vorbereitung der deutschenPolizei auf den Holocaust. S. 100–124, Zitat S. 101), das bereits dieKomplexität seines Beitrags deut-lich macht. Während Gestapo, SDund Kriminalpolizei im wesent-lichen strukturell und ideologischals gefestigt galten, bestanden grö-ßere Probleme offenbar bei derSchutzpolizei und der Gendarme-rie, bei denen man auf längerfristigeErkenntnis- und Überzeugungs-prozesse setzte, so Daluege 1937.Die weltanschaulichen Schulungen

waren Teil des „Rahmen für dieSozialisierung von Serienmördern,ohne den sich der Vollzug der„Endlösung“ nicht denken lässt.“(S. 124).

Das II. Kapitel über die Gesta-po an der Heimatfront wird ein-geleitet von einem Beitrag vonJohannes Tuchel (Registrierung,Mißhandlung und Exekution. Die„Politischen Abteilungen“ in denKonzentrationslagern. S. 127–140).In der Regel handelte es sich beiden Leitern der „Politischen Abtei-lungen“ um abgeordnete Kriminal-bzw. Staatspolizeibeamte, die aberin das System der Konzentrations-lager voll integriert waren. Ange-hörige der „Politischen Abteilung“waren in allen Konzentrationsla-gern an den Massenmorden betei-ligt, in Auschwitz-Birkenau auch anden Selektionen auf der „Rampe“.Eine umfassende Aufarbeitung desThemas hat bis heute nicht stattge-funden. Mit diesem Aufsatz hatTuchel eine breite Grundlage fürweitere Forschungen gegeben.

Im Mittelpunkt des Beitrags vonHans-Dieter Schmid („Finanztod“.Die Zusammenarbeit von Gestapound Finanzverwaltung bei der Aus-plünderung der Juden in Deutsch-land. S. 141–154) steht die engeZusammenarbeit beider Einrich-tungen. Grundlage war zunächstdie 1931 eingeführte „Reichflucht-steuer“ für Auswanderer. Sie wurdenach 1933 rasch verschärft bzw.durch neue Gesetze ergänzt. DieZusammenarbeit von Gestapo und

seldorfer „Judenreferats“ Humpertwar überzeugter Katholik, der sichweigerte, der SS beizutreten, ausder Kirche auszutreten und engeKontakte zu seinem Bruder – einemMönch – pflegte. Seinen Anträgenauf Versetzung wurde nicht gefolgt.Berschel schildert eindrucksvoll die„gleichgültige, formal korrekte Exe-kution der vorhandenen Gesetzeund Erlasse“, also das Funktionie-ren der staatlichen Instanzen undihre Zusammenarbeit mit anderenBehörden und Einrichtungen beider „Endlösung“ auf der örtlichenEbene.

Alfons Kenkmann (Störfaktor ander „Heimatfront“. Jugendliche Non-konformität und die Gestapo. S.179– 200) schildert das Vorgehender Gestapo gegen alle Versuchejunger Menschen, sich dem Natio-nalsozialismus zu entziehen (Bündi-sche Jugend, ehemaliger KJVD,Edelweißpiraten). So wurden beieiner Großaktion gegen Edelweiß-piraten im Regierungsbezirk Düs-seldorf am 7. Dezember 1942 allein739 Jugendliche aus 28 Gruppenverhaftet.

Interessante Einblicke in diePersönlichkeit der Gestapo-Beam-ten vermittelt der von Kenkmannunternommene „Versuch einerTypisierung der staatspolizeilichenErmittler“. Neben dem Kriminalbe-amten der Weimarer Republik, derim Dienst blieb, standen die „altenKämpfer“ – in der Regel ohne jedekriminalistische Ausbildung – undab der zweiten Hälfte des „Dritten

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rassisch minderwertig“ galten, ingrößerer Zahl verhängt. Die erstenHinrichtungen polnischer Landar-beiter fanden bereits 1940 statt.

Gerhard Wysocki (Lizenz zumTöten. Die ‚Sonderbehandlungs‘-Praxis der Stapo-Stelle Braun-schweig. S. 237–254) schildert dieUmsetzung der Weisung von Rein-hard Heydrich an die Stapo-Stellenvom 3. September 1939 zum Vor-gehen gegen alle Personen, die die„Geschlossenheit und den Kamp-feswillen des deutschen Volkes [...]zersetzen“. Die „brutale Liquidie-rung solcher Elemente“, so Heyd-rich, sei dabei anzuwenden. Damitkonnte die Gestapo mit Kriegsbe-ginn in eigener Zuständigkeit jedeStrafe – einschließlich der Todes-strafe – nicht nur verhängen, son-dern auch vollstrecken. Auch dieAnweisungen Görings vom 8. März1940 zum Arbeitseinsatz der polni-schen Bevölkerung enthielten aus-drücklich den Hinweis auf eine„Sonderbehandlung“ bei Arbeits-verweigerung, „renitentem Verhal-ten“ usw. In der Regel wurden dieHinrichtungen am Tatort durchErhängen und vor Zuschauern zurAbschreckung durchgeführt (sieheauch der Beitrag von Heusler).

In seinem Beitrag verweistWysocki auch auf andere Mordak-tionen der Gestapo, die zum Teilungeplant verliefen, etwa „auf derFlucht erschossen“, oder durch denEinsatz von schwerkranken Men-schen in besonderen Arbeitskom-mandos bzw. auf die Ermordung

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Reichs“ die „jungen Technokraten“mit einem entsprechenden Karrie-restreben.

Reinhard Otto (Die Gestapound die sowjetischen Kriegsgefange-nen. Das Beispiel der Stapo-StelleNürnberg-Fürth. S. 201–221) be-schreibt, ausgehend vom Schicksaleines jungen Artillerie-Leutnantsder Roten Armee Jurij Bobowin(der am 3. Juli 1941 in deutscheGefangenschaft geriet, in das Offi-zierslager Hammelburg transpor-tiert und von dort am 20. Septem-ber 1941 in das KZ Dachaugebracht, wo er sich im Hof desArrestgebäudes – mit ca. 60 weite-ren Offizieren – entkleiden musste,an einen Pfahl gebunden underschossen wurde) die Tätigkeitvon örtlichen Gestapobeamten beider Ermordung sowjetischer Offi-ziere im Rahmen des EinsatzbefehlsNr. 9 vom 21. Juli 1941, herausge-geben vom Chef der Sicherheitspo-lizei Reinhard Heydrich, der die„Aussonderung“ und „Sonderbe-handlung“ von als weltanschaulichgefährlichen Offizieren der RotenArmee beschrieb. Ziel war die„Aussonderung“ aller ehemaligenFunktionsträger in Partei und Ver-waltung der Sowjetunion, derKommissare der Roten Armee, derIntelligenzler, Juden sowie der sogenannten fanatischen Kommunis-ten. Nach Anweisung des RSHAsollten diese Personen in demnächstgelegenen KZ „unauffällig“exekutiert werden. EntsprechendeEinsatzkommandos stellte auch die

Stapo-Stelle Nürnberg-Fürth auf.Drei Nürnberger und ein Würz-burger Beamter wurden z. B. in das Offizierslager Hammelburg inUnterfranken geschickt, um dieseAufgabe zu erfüllen. Die Kriterienwaren willkürlich: So galt als Krite-rium für die Einstufung als Judeeine Beschneidung, in anderen Fäl-len reichte die Berufsangabe „Post-schaffner“ bzw. der Besuch einerzehnjährigen Schule oder – wie beiBobowin – die Angabe „Schüler“für den Abtransport ins KZ und dieErmordung aus. Bis Mai 1942 hat-ten die Beamten insgesamt ca. 1.100Offiziere und 1.700 Unteroffiziere„ausgesondert“ und zur „Sonder-behandlung“ ins KZ Dachau ge-schickt, ca. 13 % aller Kriegsgefan-genen. Insgesamt gehen die Schät-zungen von mindestens 40.000ermordeten sowjetischen Kriegsge-fangenen bis zum 31. Juli 1942 aus.

Andreas Heusler (Präventiondurch Terror. Die Gestapo und dieKontrolle der ausländischen Zwangs-arbeiter am Beispiel Münchens. S.222–236) dokumentiert die Tätig-keit der Münchener Gestapo beider Überwachung der Zwangs-arbeiter in und um München. Mitdem Einsatz brutalster Mittel (Poli-zeihaft, Prügelstrafe, Hinrichtun-gen) versuchten die Beamten dieKontrolle über die zahlreichen aus-ländischen Zwangsarbeiter aufrechtzu erhalten. „Schutzhaft“ und„Sonderbehandlung“ wurden gera-de bei Menschen aus dem Osten,die ohnehin als „fremdvölkisch und

jüdischer Menschen noch vor ihremAbtransport in ein Vernichtungs-lager. Ab Mitte 1943 begannen die„Sonderlageraktionen“ des RSHA,bei denen polnische und sowjeti-sche Arbeiter als „Geisteskranke“eingestuft und in den Heil- undPflegeanstalten ermordet wurden.

Gabriele Lotfi (Stätten des Ter-rors. Die ‚Arbeitserziehungslager‘der Gestapo. S. 255–269) schildertdie bisher von der Forschung nurwenig beachteten Arbeitserzie-hungslager (AEL) im Rahmen derTerrorstrukturen des „DrittenReichs“. Mindestens 500.000 Frau-en und Männer wurden Häftlingein den ca. 200 Arbeitserziehungsla-gern der Gestapo, dazu kamennoch betriebliche und kommunaleErziehungslager.

Die Arbeitserziehungslager wa-ren eine offensichtlich „improvisier-te“ Einrichtung, die Himmler aus-drücklich nur für die Dauer desKriegs akzeptierte und die vor allemauf lokaler Ebene die Arbeit derGestapo bestimmen sollte. DieHaftdauer war zunächst auf derBasis der vorläufigen Festnahmeoder Schutzhaft begrenzt, die örtli-che Stapo-Stellen – ohne Zustim-mung des RSHA – für 21 Tage ver-hängen konnten. Im Laufe relativkurzer Zeit verfügte fast jede Stapo-Stelle im Reich über ein Arbeits-erziehungslager; die AEL waren – so Lofti – neben der Justiz und den Konzentrationslagern die „drit-te eigene Repressionsebene der Sicherheitspolizei“.

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griff auf Jugoslawien und Griechen-land und dann beim Überfall aufdie Sowjetunion im Juni, als vonAnfang an Massenmord und Welt-anschauungskrieg zur täglichenPraxis wurden. Präzise beschreibtMallmann die Aktionen der Ein-satzgruppen und bietet damit einesehr gelungene und konzentriertekurze Geschichte unter Einbezie-hung auch der aktuellen For-schungslage. Dabei geht er auchkurz auf das Einsatzkommando fürNordafrika ein sowie auf die Aus-dehnung der Einsätze auf den Bal-kan und in Mitteleuropa in den Jah-ren 1943/44. Dazu gehören u.a.Einsätze in Kroatien, Slowenien,Ungarn, Rumänien, der Slowakei,an der Westfront und bei der Ar-dennenoffensive.

Oldrich Sládek (Standrecht undStandgericht. Die Gestapo in Böh-men und Mähren. S. 317–339) be-schäftigt sich umfassend mit derGestapo von den Vorbereitungen1938 bis zum Ende im Mai 1945.Bereits im Juni 1938 begannenumfassende Sammlungen von mög-lichen „Staatsfeinden“ durch dieGestapo als Grundlage für die Ein-satzgruppen. Einen ersten Höhe-punkt erreichte die Tätigkeit derGestapo mit der Vertreibung dertschechischen Bevölkerung aus demSudentenland im Herbst 1938. DieZahl der Verhafteten wird auf10.000 bis 20.000 Menschen ge-schätzt. Einsatzgruppen der Ge-stapo übernahmen auch die erstenVerhaftungen nach dem Einmarsch

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Klaus-Michael Mallmann (Brü-derlein & Co. Die Gestapo und derkommunistische Widerstand in derKriegsendphase. S. 270–287) be-schäftigt sich mit dem Einsatz vonsog. V-Leuten gegen den kommu-nistischen Widerstand im „DrittenReich“, einem ebenfalls bisherwenig beachteten Thema. Mall-mann zeigt, dass die Gestapo wäh-rend des Kriegs zeitweise kaumInformationen über den kommunis-tischen Widerstand besaß undmanchmal nur durch Zufälle – inVerbindung mit dann brutalstenVernehmungsmethoden – entspre-chende Organisationen und Verbin-dungen aufdecken konnte, so z.B.den Versuch des Aufbaus einer neu-en KPD-Reichsleitung 1942/43 auf-grund der Anzeige eines Hitler-Jungen in Düsseldorf über entspre-chende Aktivitäten seines Vaters.Am Beispiel u.a. der ehemaligenkommunistischen Funktionäre KurtSindermann für Dresden (Bruderdes späteren Mitglieds des Polit-büros der SED Horst Sindermann)und Alfons Pannek für Hamburgzeigt Mallmann, wie die Einschleu-sung in kommunistische Wider-standsgruppen gelang.

Mit dem Beitrag von Klaus-Michael Mallmann (Menschenjagdund Massenmord. Das neue Instru-ment der Einsatzgruppen und -kom-mandos 1938–1945. S. 291–316)beginnt das III. Kapitel des Buchesüber „Die Gestapo im besetztenEuropa“. Den ersten Einsätzen vonEinsatzgruppen bei der Besetzung

Österreichs, des Sudentenlandesund der sog. Rest-Tschechei folgte –so Mallmann – mit dem Überfall aufPolen 1939 „Die neue Dimensiondes Terrors“. Heydrichs Anweisung„Aufgabe der sicherheitspolizeili-chen Einsatzkommandos ist die Be-kämpfung aller reichs- und deutsch-feindlichen Elemente in Feindes-land rückwärts der kämpfendenTruppe“ bot nun alle Möglichkeitenvon Terror und Willkür bis zumMassen- und Völkermord. Schonim Mai 1939 wurde durch den SDmit den Arbeiten an einem Sonder-fahndungsbuch begonnen, das61.000 Namen – vor allem der pol-nischen Intelligenz und der „imRahmen der Volkstumsauseinan-dersetzung hervorgetretenen Po-len“ – umfasste.

Präzise lässt sich der genaueBeginn der zielgerichteten Massen-morde bis heute noch nicht feststel-len, vermutlich lag er in der zweitenHälfte des September 1939. Ganzanders ausgerichtet war das Vorge-hen der Einsatzgruppen beim An-griff im Westen (Belgien, Nieder-lande, Frankreich) und Norden(Dänemark, Norwegen) 1940. Aus-drücklich wurde von Heydrichdiesmal bestimmt: „Alle Angehöri-gen des Einsatzes sind verpflichtet,jederzeit und in jeder Lage, be-sonders der einheimischen Bevöl-kerung gegenüber, sich völlig ein-wandfrei und zurückhaltend zuverhalten.“

Ganz anders das Vorgehen1941, zunächst im April beim An-

in die „Rest-Tschechei“ im März1939. Hier liegen die Zahlen bei5.800 bis 6.400 Festnahmen. Am 1. September 1939 begann die vor-beugende Verhaftung von ca. 2.000Tschechen im Rahmen der „AktionAlbrecht I“. Sie wurden sofort indie Konzentrationslager Buchen-wald und Dachau eingeliefert. Aufden Protest der tschechischen Be-völkerung anlässlich des Jahrestagsder Gründung der CSR am 28. Ok-tober reagierten die Nationalsozia-listen mit brutalem Terror. Zahlrei-che Studenten (ca. 1.200) wurdenim Rahmen einer von Hitler ange-ordneten Vergeltungsaktion verhaf-tet und in das KonzentrationslagerSachsenhausen gebracht. NeunFunktionäre der Studentenbewe-gung wurden am 17. November1939 zur Abschreckung der Bevöl-kerung erschossen. Der Widerstandwuchs aber weiter an. Mit dem Ein-treffen des zum stellvertretendenReichsprotektor ernannten Chefsdes RSHA Reinhard Heydrich inPrag begann am 27. September1941 sofort eine neue Welle desnationalsozialistischen Terrors. Inderen Verlauf wurden u.a. polizei-liche Standgerichte geschaffen, dieallein in der Zeit vom 28. Septem-ber 1941 bis zum 20. Januar 1942mindestens 486 Menschen zumTode und 2.242 zur Einlieferung indie Konzentrationslager verurteil-ten. 1.585 Menschen wurden imdirekten Zusammenhang mit demAttentat auf Reinhard Heydrich(27. Mai 1942) durch die National-

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heitspolizei sehr eng mit der franzö-sischen Polizei bei der Unterdrü-ckung des kommunistischen Wider-stands zusammen. Ausgehend vondieser – auch aus Sicht der Wehr-macht erfolgreichen – Arbeit gelanges dem BdS, seinen Einfluss ständigauszuweiten. Nach der BesetzungSüdfrankreichs und der Einführungdes Zwangsarbeitsdienstes stieg derfranzösische Widerstand an. Dieaus dem Osten nach Frankreichabkommandierten regionalen Kom-mandeure der Sicherheitspolizeiwandten in der Regel bei der Unter-drückung die von ihnen an der Ost-front praktizierten brutalen Metho-den an und schürten so häufig nurden Widerstand.

Über die Tätigkeit von Sicher-heitspolizei und SD in den Nieder-landen berichtet Guus Meershoek(Machtentfaltung und Scheitern.Sicherheitspolizei und SD in denNiederlanden. S. 383–402). Zu denwesentlichen Erkenntnissen seinesBeitrags gehört die – nach den Kri-terien von SD und Sipo – erfolgrei-che Arbeit in den ersten drei Jahrender deutschen Besatzung, die vorallem auf eine starke Zentrali-sierung des Apparates und eineintensive Zusammenarbeit mit derniederländischen Polizei setzte.Nachdem sich diese allerdings zu-nehmend zurückzog, wurde es fürSD und Sipo immer schwieriger, ineinem fremden Land die Kontrollezu behalten, auch wenn die Führerimmer radikalere Methoden an-wandten. Ohne die massive Unter-

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sozialisten ermordet. Insgesamtwird die Zahl der Opfer unter Ein-beziehung von 3.000 ermordetenjüdischen Menschen und der Mor-de in den Konzentrationslagern aufmehr als 5.000 geschätzt. GegenKriegsende steigerte sich der Terrorweiter; so liegt allein die Zahl derOpfer bei den Todesmärschen auftschechischem Gebiet vermutlichbei über 5.500.

Michael Foedrowitz (Auf derSuche nach einer besatzungspoliti-schen Konzeption. Der Befehlshaberder Sicherheitspolizei und des SD imGeneralgouvernement. S. 340–361)gibt eine informative und über-sichtliche Darstellung über dieOrganisation und den grauenvollenTerror im Generalgouvernementvon 1939 bis 1944/45. Die Zahl dereingesetzten deutschen Angehöri-gen der Sipo und des SD wird vonFoedrowitz auf ca. 5.000 geschätzt.

Mit Bruno Streckenbach undDr. Walter Bierkamp waren u.a.zwei ehemalige Leiter der Gestapobzw. der Kripo-Leitstelle in Ham-burg BdS in Krakau. Eindrucksvollzeigt der Autor die Unterschiedebei der Unterdrückung der polni-schen Bevölkerung zwischen dendeutschen und den sowjetischenOrganisationen. Während derNKWD sehr genau wusste, wie derErfolg einer Besatzung gesichertwerden konnte, z.B. durch dieZusammenarbeit mit Teilen derBevölkerung oder mit nationalenMinderheiten bzw. durch dieGründung eigener Widerstands-

gruppen zur Unterwanderung deseigentlichen polnischen Widerstan-des, war auf der deutschen Seite einZuständigkeitschaos in Verbindungmit Inkompetenz, einer sehr gerin-gen personellen Stärke und anderenFehlern festzustellen. So bestandz.B. ein Verbot, die polnische Spra-che zu erlernen. Identisch war beiNKWD und Sipo die Zielsetzungder Zerschlagung der polnischenIntelligenz als Träger eines mög-lichen Widerstandes. Der deutscheTerror – u.a. durch den SSPFLublin, Odilo Globocnik, z.B. imZusammenhang mit der „Germani-sierung“ der Region um Lublin –führte zu einer deutlichen Stärkungdes polnischen Widerstandes. Ver-suche, eine „antibolschewistische“Zusammenarbeit mit Teilen derHeimatarmee zu erreichen, warenvor diesem Hintergrund – mit Aus-nahmen z.B. Ende 1944/Anfang1945 im Distrikt Krakau – zumScheitern verurteilt.

Bernd Kasten (Zwischen Prag-matismus und exzessiver Gewalt.Die Gestapo in Frankreich 1940–1944. S. 362–382) gibt eine kom-pakte Übersicht über die Tätigkeitder Gestapo in Frankreich unterder deutschen Besatzung. Nach denErfahrungen mit der brutalen undrücksichtslosen Unterdrückung imbesetzten Polen durch SS, Polizei,Gestapo und andere versuchte dieWehrmacht in Frankreich zunächstdie Kontrolle über die polizeilicheExekutive zu behalten. In der An-fangsphase arbeitete die Sicher-

stützung der niederländischen Poli-zei, vor allem in Amsterdam undDen Haag, wären die Massende-portationen der niederländischenJuden 1942 und 1943 nicht durch-führbar gewesen. Als sich hier –auch bei den Polizeibeamten – ver-stärkter Widerstand zeigte, warendie meisten niederländischen Judenbereits in die Vernichtungslager ab-transportiert worden.

In einem sehr kenntnisreichenund breit angelegten Beitrag befasstsich Claudia Steuer mit den „Juden-beratern“ in Europa (EichmannsEmissäre. Die „Judenberater“ in Hit-lers Europa. S. 403–436). Die „Be-rater für Judenfragen“ – der Begriffwurde erstmals im August 1940 verwendet – unterstanden dem vonEichmann geleiteten Judenreferatim RSHA und wurden ab Septem-ber 1940 im europäischen Auslandeingesetzt, zunächst mit dem Ziel,die Juden zu isolieren und zu inter-nieren. Seit 1942 gehörte auch dieDeportation in die Vernichtungs-lager zu den Aufgaben. Detailliertund präzise schildert Steuer dieTätigkeit in den einzelnen Ländern(Slowakei, Frankreich, Belgien,Niederlande, Rumänien, Bulgarien,Griechenland, Kroatien, Italien undUngarn) und geht dabei ausführlichauf die einzelnen Personen ein.

Klaus-Michael Mallmann (DieTüröffner der ‚Endlösung‘. ZurGenesis des Genozids. S. 437–480)leistet einmal mehr einen beach-tenswerten Beitrag, in dem er sichintensiv mit der Frage beschäftigt,

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nische Interessen – ihren Mordauf-trag voll ausführen. Mit dem Rück-zug aus dem Kaukasus im Januar1943 wurde die Einsatzgruppepraktisch aufgelöst. Der größte Teilder Täter wurde gerichtlich nichtzur Verantwortung gezogen.

In seinem zweiten Beitrag schil-dert Klaus-Michael Mallmann Aspekte des „Bandenkampfes“ inden besetzten Gebieten der Sowjet-union („Aufgeräumt und abge-brannt“. Sicherheitspolizei und „Ban-denkampf“ in der besetzten Sowjet-union. S. 503–520). Ausgehend vonallgemeinen Erläuterungen zur Ent-wicklung des Partisanentums an derOstfront und den immer brutalerenAnweisungen zu seiner Bekämpfungdurch die Wehrmacht, schildertMallmann ausführlicher einzelneEinsätze im Rahmen des sog. Ban-denkampfes, der tatsächlich nichtsanderes war als ein Massenmord angroßen Teilen der Bevölkerung.

Carlo Gentile und Lutz Klink-hammer beschreiben in ihrem Beitrag (Gegen die Verbündeten von einst. Die Gestapo in Italien.S. 521–540) die Tätigkeit der Gesta-po in Italien vor allem in den Jahren1943–1945. Besondere Schwer-punkte setzen sie dabei auf dieMaßnahmen der Judenverfolgungin den von Deutschen besetztenTeilen seit 1943, die Repressions-maßnahmen von 1943 bis 1945 unddie „Sühnemaßnahmen“ in derEndphase des Kriegs.

Kapitel IV des Sammelbandes –„Das Ende der Gestapo“ über-

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„wie ein sich über fast ganz Europaerstreckender Völkermord ausge-löst und gesteuert werden kann“.Mallmann widerspricht zunächstder Existenz eines sog. Endlösungs-befehls, wie er lange Jahre – u.a.vom langjährigen Direktor desMünchener Instituts für Zeitge-schichte, Helmut Krausnick – be-hauptet wurde. Nach AuffassungMallmanns ist Ausgangspunkt derMorde die Weisung Hitlers vom 3. März 1941, nach der „die jü-disch-bolschewistische Intelligenz“„beseitigt“ werden müsse. In engerVerbindung dazu steht die Anwei-sung Heydrichs vom 2. Juli 1941,die zunächst die Morde auf „Judenin Partei- und Staatsstellungen“begrenzte. Auf der örtlichen Ebenespielten u.a. die GleichsetzungJuden = Partisanen eine besondereRolle. Immer wieder forderte dieWehrmacht von der Sicherheitspo-lizei vorbeugende Maßnahmen, d.h.die Massenerschießungen jüdischerMänner zur Abschreckung, diedann auch sofort durchgeführt wurden. Persönliche Besuche vonHimmler, Heydrich und Daluegevor Ort und die Vorlage der Ein-satzmeldungen bei Hitler (seitAugust 1941) trugen ebenfalls zurAusweitung der Massenmorde bei,von denen auch Frauen und Kinderbald nicht mehr verschont wurden.Ausführlich geht Mallmann in sei-nem Beitrag auch auf einzelne An-gehörige der Einsatzkommandosund ihren dienstlichen und persön-lichen Werdegang ein.

Am Beispiel des Einsatzkom-mandos 3 und des „Rollkomman-dos Hamann“ beschreibt KnutStang die Praxis des Massenmordesin Litauen(Kollaboration und Völ-kermord. Das Rollkommando Ha-mann und die Vernichtung der litau-ischen Juden. S. 464–480). Das„Rollkommando Hamann“ setztesich zu einem erheblichen Teil ausehemaligen litauischen Partisanenzusammen, die bereits seit EndeJuni 1941 an zahlreichen Massen-morden an der jüdischen Bevölke-rung beteiligt gewesen waren. DieEinheit war motorisiert und verübte– jeweils mit Unterstützung der li-tauischen Polizei und Hilfspolizei –zahlreiche Morde vor allem in denländlichen Gebieten Litauens.

Andrej Angrick (Im Windschat-ten der 11. Armee. Die Einsatzgrup-pe D. S. 481–502) gibt eine Über-sicht über die Mordaktionen dieserEinsatzgruppe an der Südfront. Derrumänische Diktator Antonescuhatte – vor allem nach dem geschei-terten Putschversuch der „EisernenGarde“ im Januar 1941 – ein grund-sätzliches Misstrauen gegenüberSD, SS und Polizei. Es gestalte sichvor diesem Hintergrund als schwie-rig, eine Einsatzgruppe auch vonzunächst rumänischem Territoriumaus einzusetzen. Zwar war die Ein-satzgruppe auch auf dem rumäni-schen Interessengebiet an zahlrei-chen Morden beteiligt, aber mitdem Überschreiten des Bug imGefolge der 11. Armee konnte sie –nun ohne jede Rücksicht auf rumä-

schrieben – beginnt mit einem Bei-trag von Gerhard Paul („DieseErschießungen haben mich innerlichgar nicht mehr berührt.“ Die Kriegs-endphase der Gestapo 1944/45. S.543–568). Der Verfasser schätzt dieZahl der von der Gestapo gegenEnde des Kriegs ermordeten Men-schen auf mehr als zehntausend.Die ersten Mordaktionen in diesemZusammenhang sind, so Paul, be-reits seit dem Herbst 1944 durch-geführt worden, hier vor allem imWesten. Belegt sind u.a. entspre-chende „Exekutionskommandos“für Dortmund, Breslau, Berlin,Wien und Köln. Das brutale Vor-gehen der Gestapo in dieser Phasesteht in einem engen Zusammen-hang mit einer weiteren Radikalisie-rung der NS-Sonderjustiz und derMilitärgerichtsbarkeit der Wehr-macht. Die Schwelle für Todesurtei-le und Morde wurde in den letztenKriegsmonaten immer niedriger,„Sonderbehandlungen“ und die Er-mordung von Häftlingen nahmenmassiv zu. Paul erläutert dies anzahlreichen Beispielen (u.a. „Edel-weißpiraten“ in Köln, Morde inDortmund, Duisburg, Essen). Fürden norddeutschen Raum verweister auf Mordaktionen in Hannover,Hildesheim, Hamburg und Kiel. Sowurden im „ArbeitserziehungslagerNordmark“ zwischen Januar undApril 1945 mindestens 200 Gefan-gene ermordet. Die Übersicht überdie Mordaktionen zeigt, dass fastalle größeren – noch vom National-sozialismus kontrollierten – deut-

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schung – nicht nur in Deutschland– lange vernachlässigt wurde. Mall-mann und Paul weisen z. B. daraufhin, dass vom Personal des BdS inDen Haag die Hälfte Niederländerwaren. Auf 2.000 deutsche Angehö-rige der Sicherheitspolizei im Gene-ralgouvernement kamen 1942 3.000polnische Angehörige. In diesemZusammenhang ist auch die Rolleder Schutzmannschaften und der„Trawniki“-Einheiten bisher zuwenig erforscht worden. Die Aus-richtung der Gestapo mit dem Zielder „Eliminierung von Krankheits-symptomen am deutschen Volks-körper“ fand, so die Verfasser, „ihregrausigste Handlungsrelevanz imProzess der Judenvernichtung, dendie Gestapo als Zentralinstitutionexekutierte.“

Höchst eindrucksvoll ist dasvon beiden gezogene Fazit (S. 649–650), insbesondere der folgendeHinweis: „Zugleich demonstriertdieses genauere Hinsehen, daß we-nigstens der deutschen Gesellschaft– doch vermutlich längst nicht nurihr allein – eine Tendenz zur Selbst-polizierung innewohnte, daß siegeradezu ein Biotop jener vielfäl-tigen Aktivitäten sozialer Selbst-kontrolle und -überwachung war, in denen sich populäre Ordnungs-praktiken und eigensüchtige In-dienstnahme der Macht spiegel-ten.“ Mit Recht sprechen Mallmannund Paul von „einer Denunziations-und Überwachungsgesellschaft“ im„Dritten Reich“, die sehr wohl auch

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schen Städte betroffen waren. Ca.90 % der Opfer waren Ausländer,mehrheitlich „Ostarbeiter“. AmBeispiel einiger Befehlshaber derMordaktionen geht Paul ausführ-licher auf deren Motive ein.Erschütternd ist die Bilanz derstrafrechtlichen Ahndung dieserTaten – nur wenige Täter wurdenzur Verantwortung gezogen. Das„Straffreiheitsgesetz“ aus dem Jahre1954 erwies sich dabei im nach-hinein, so Paul, als „eine General-amnestie für alle jene NS-Täter, die sich der beschriebenen Kriegs-endphasenverbrechen schuldig ge-macht hatten.“

Stephan Linck („Festung Nord“und „Alpenfestung“. Das Ende desSicherheitsapparates. S. 569–595)gibt einen hochinteressanten Über-blick über die Versuche der Gesta-po – und anderer Organisationen –,sich bei Kriegsende in Sicherheit zubringen. Die „Alpenfestung“ wurdevon den Alliierten in ihrer Bedeu-tung und Stärke weit überbewertet.Diese Einschätzungen führten je-doch zu einem teilweisen Ablenkender westalliierten Truppenverbändevom Vormarsch nach Osten inRichtung Alpenraum. Dieser Vor-marsch verhinderte allerdings zumTeil auch die Absetzbewegung vonGestapo und anderen Stäben Rich-tung Süden. Ein erheblicher Teildes Personals des Reichssicherheits-hauptamtes setzte sich in die „Fes-tung Nord“ nach Schleswig-Hol-stein ab, vor allem in den Groß-raum Flensburg.

Mit Kapitel V – Ein Resümee –enden die Beiträge des Sammelban-des. Klaus-Michael Mallmann undGerhard Paul (Die Gestapo. Weltan-schauungsexekutive mit gesellschaft-lichem Rückhalt. S. 599–650) gehendabei in einem sehr übersichtlichenund präzisen Beitrag noch einmaldetailliert auf die Entwicklung derGestapo im „Dritten Reich“ ein.Ausgehend von den bereits in derWeimarer Republik eingeleitetenEntwicklungen in den politischenPolizeien der Länder (u.a. Einstel-lung der Beobachtung der NSDAP,Intensivierung der KPD-Beobach-tung und Wiederaufnahme der Be-obachtung der SPD) waren dieersten Schwerpunkte der Arbeit der politischen Polizei(en) nach der Machtübernahme durch dieNSDAP die umfassende Unter-drückung der politischen Opposi-tion, die „Verreichlichung“ und die„Entstaatlichung“ der Arbeit derGestapo. Seit 1936/37 entwickeltesich – immer konkreter werdend –die Konzeption einer „völkischenPolizei“. Ausführlich schildern dieAutoren die ständigen Verände-rungen und die Anpassung in derOrganisation der Gestapo mit derÜbernahme von immer neuen Auf-gaben. Eindrucksvoll ist auch dieBeschreibung der Zusammenarbeitder verschiedenen Organisationender staatlichen Exekutive, z.B. diemassive Unterstützung durch diePolizei. Dies gilt im gleichen Maßefür das Thema „Kollaboration undOkkupation“, das von der For-

zu einer Neubetrachtung des The-mas der „Ohnmacht der kleinenLeute“ führen sollte.

Gerhard Paul, Klaus-MichaelMallmann und allen Autorinnenund Autoren gebührt Dank undAnerkennung für diesen Sammel-band, der – bestechend in Präzisionund Umfang – einen Überblicküber die Verbrechen der Gestapobietet, in Deutschland wie im be-setzten Europa. Der interessierteLeser wird diesen Band mit tieferErschütterung – vor allem auchüber die Rolle der deutschen Justizund der deutschen Gesellschaft –aus der Hand legen und sich dieFrage stellen: „Haben wir eigentlichaus der Geschichte wirklich ge-lernt?“ Der Band ist uneinge-schränkt zu empfehlen, er ist einePflichtlektüre für jeden am Natio-nalsozialismus und an unserer Ge-schichte Interessierten. Er hat dieForschung über die Gestapo einsehr großes Stück vorangebrachtund bietet zahlreiche weitere Denk-und Forschungsanregungen.

Die Bedeutung für die Gegen-wart – einige Tendenzen wohnennoch immer umfassend unsererGesellschaft innewohnt, im übrigennicht nur der deutschen – machtdiesen Band zusätzlich lesenswertund auch attraktiv, gerade auch fürjüngere Leserinnen und Leser. Michhat seit längerer Zeit kein Sammel-band so intensiv angesprochen undinnerlich berührt.

Wolfgang Kopitzsch

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Organisierungsmodell von Gewerk-schaften nach 1945 reorganisierteund eine kritische Auseinanderset-zung mit dem Versagen des ADGBim Kampf gegen den Nationalsozia-lismus so verhindert wurde.

Einleitend muss vorausge-schickt werden, dass das Modell dernationalstaatlich verfassten Ge-werkschaften bis zur Gründungtransnationaler Betriebsräte unhin-terfragt blieb, diese Entwicklunghistorisch aber keineswegs zwangs-läufig oder gar alternativlos war.Gerade die Seeleute, die – heutewie damals – in nationalstaatlichnicht regulierten internationalenGewässern operierten und in einem(arbeits-)rechtlich extrem deregu-lierten Sektor beschäftigt waren,sind im besonderen Maße an dieInternationalität der Arbeiterbewe-gung und Transnationalität ihrerOrganisationen gebunden.

Diese hatte erst mit Ausbruchdes Ersten Weltkriegs ihr vorläufi-ges Ende gefunden. Transnationale,syndikalistische Orientierungen wa-ren in der Arbeiterbewegung derZwischenkriegszeit weder von Sozi-aldemokraten noch von Kommunis-ten als legitime Strömung der Ge-werkschaftsbewegung anerkanntworden, obwohl ihre Elementeimmer dann auflebten, wenn dieParteien der Arbeiterbewegung imbesonderen Maße als moralischeund politische Instanz diskreditiertwaren, wie etwa in der Machtüber-gabe oder nach der Befreiung – einBefund, der sich in Kiel sicher über-

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zentrale, nahezu übersehene Funk-tion im europäischen Widerstands-kampf hervorzuheben. Persönlich-keiten wie der legendäre ITF-Sekretär Edo Fimmen – ein Sozial-revolutionär – und der AktivistHermann Künfken – der „GenossePirat“ (W. I. Lenin) – sowie ein weitgestrecktes Netzwerk von Vertrau-ensleuten sind, so Nelles’ These, indie Vergessenheit gedrängt worden,weil sich das nationalstaatliche

Dieter Nelles hat sich als Historio-graf der Seeleute-Organisierungenund deren Widerstand gegen denFaschismus wissenschaftliche Aner-kennung erworben. Seine Studienhaben immer wieder das Lebenauch an Schleswig-Holsteins Küs-ten und in Hamburg berührt undAnknüpfungspunkte für die regio-nal erkennbaren Prozesse undEreignisse geliefert. Seine Disserta-tion – die auf ein Projekt am dama-ligen Institut zur Erforschung dereuropäischen Arbeiterbewegung(Uni Bochum) bei Helga Grebingzurückgeht – schließt die mindes-tens zehnjährigen, ausdrücklich voneigenen politischen Impulsen moti-vierten Studien vorläufig ab. Das(politische) Engagement für dasThema ist der Arbeit auf nahezujeder Seite anzumerken. Nelles’ en-gagiertes Auftreten und sein über-aus kollegiales Verhalten sind demRezensenten gegenwärtig.

Mit Widerstand und internatio-nale Solidarität. Die InternationaleTransportarbeiter-Föderation (ITF)im Widerstand gegen den National-sozialismus wird der Widerstandeiner transnationalen, syndikalisti-schen Organisation vorgestellt. Nel-les’ vor allem zu würdigende Leis-tung besteht darin, einer Bewegung,die außerhalb heutiger Arbeits-kämpfe im Hamburger Hafen weitgehend von der historischen Bild-fläche verschwunden ist, zu histori-scher Geltung zu verhelfen und ihre

Widerstand auf Meeren und an Küsten

Dieter Nelles, Widerstand und interna-tionale Solidarität. Die InternationaleTransportarbeiter-Föderation (ITF) imWiderstand gegen den Nationalsozia-lismus. Essen: Klartext-Verlag 2001.466 S. (= Veröffentlichungen des In-stituts für soziale Bewegungen, Schrif-tenreihe A: Darstellungen, Bd. 18).

prüfen ließe. Die Verdrängung die-ser transnationaler Strukturen haterst recht in der historischen For-schung nachwirkt – auch der Wis-senschaftsbetrieb war lange Zeitallein nationalstaatlich organisiertund zielte, selten komparativ ange-legt, auf nationale Prozesse ab.

Bereits 1975 hatte Lutz Niet-hammer kritisch zur Geschichts-schreibung der Arbeiterbewegungder Nachkriegszeit angemerkt, dassdie „nationalgeschichtliche Erfor-schung“ der Gewerkschaften beiweitgehender Ausblendung derinternationalen Zusammenhängeungeachtet der verschiedenen poli-tisch-historischen Sichtweisen zueiner „Überbetonung der natio-nalen Kontinuitätslinie“ geführthat. Gerade der ITF-Widerstandsprengt diesen Rahmen, wie Nelleszeigt. Keine nationale Gewerk-schaftsgliederung konnte sich di-rekt in die Kontinuitätslinie stellen,auch die ÖTV nicht; jede nationalumgrenzte Forschung hätte sich einVerlassen des gesteckten Rahmensvorhalten lassen müssen. Die„Agenda der dreißiger Jahre“ aber„war transnational“ (S. 28), zitierter Eric Hobsbawm. Bislang gibt eskeine Arbeit, „in der systematischuntersucht worden wäre, welcheBedeutung internationale Faktorenauf die Politik der deutschen Wi-derstandsgruppen und das Verhal-ten der Arbeiterschaft hatten“ (S.27). Hierin sieht Nelles seine vor-dringliche Aufgabenstellung. In denMittelpunkt seiner durch eine über-

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rischen Befund weitgehend undinterpretiert ihn im Kontext dereigenen These schlüssig.

Die Radikalität der Seeleutebe-wegung bzw. ihrer „militant minori-ty“ speiste sich aus der dem elendenund überaus harten Bordalltag ab-gewonnenen Subkultur, ihr Interna-tionalismus und ihre Affinität zumSyndikalismus aus der Weite undnationalstaatlichen Losgelöstheitder Arbeit auf See.

Nelles stellt in einer überzeu-gend klar gegliederten Studie nachdem Einleitungsteil (S. 7–38) – hiereine eklatante Lücke hinsichtlichder Darstellung der Quellengrund-lage (allein S. 34) – die Geschichtedes ITF-Seeleute-Widerstands als„Sozialgeschichte des Widerstands“dar. Niemals fällt er der Gefahr an-heim, sich allein in der Dokumenta-tion von spannenden Widerstands-aktionen zu verlieren. „In dervorliegenden Arbeit wird die Her-ausbildung des ITF-Widerstandsals ein Prozeß dynamischer Interak-tion zwischen einer ,militant mino-rity‘ der deutschen Arbeiterklasseund der ITF im Kontext der inter-nationalen Politik der 30er Jahreinterpretiert. Das Resultat diesesProzesses war die programmatischeund organisatorische Verschmel-zung mehrerer Traditionsstränge,die dem ITF-Widerstand sein spezi-fisches transnationales Profil ga-ben.“ Ein politisches Verständnisvom internationalen Kampf gegenden Nationalsozialismus „war amstärksten ausgeprägt bei den See-

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wältigende Sättigung mit histori-schen Material fazinierenden Studiestellt er den Stellenwert von Natio-nalismus und Internationalismus in der deutschen Arbeiter- und Ge-werkschaftsbewegung, speziell imWiderstand auch auf Seeschiffenund im Exil (S. 25).

Die Seeleute und Binnenschifferinnerhalb der ITF-Organisierungwählt Nelles aus, um eine Sozial-geschichte des Widerstands opera-tionalisieren zu können und umgerade „ihre mentalen und habi-tuellen Besonderheiten und sozia-len Kommunikationsformen“ zurekonstruieren. Zudem war das po-litische Selbstverständnis der ITF inder Arbeit gegen den Faschismusdurch die Antwerpener Aktivgrup-pe deutscher Seeleute – namentlichHermann Knüfken – geprägt wor-den. Diese beiden Gründe führenzur gewählten Zuspitzung der The-menstellung (S. 31f.).

Nelles’ Untersuchung bestätigtdie These, dass die in der ITF orga-nisierten Seeleute und Binnenschif-fer die aktivste und größte, letztlichauch erfolgreichste Widerstands-gruppe innerhalb der deutschenGewerkschaftsbewegung bildeteund bei allen Rückschlägen zuKriegsbeginn während des Kriegseine große Bedeutung erlangtenkonnte. Die Begründung für dieseWirksamkeit fällt überzeugend aus:„Die größten und aktivsten gewerk-schaftlichen Widerstandsgruppenknüpften als Konsequenz aus derAnpassungspolitik der Gewerk-

schaften [von 1933, TP] an die Tra-ditionen der Rätebewegung an;einer Tradition, die von den freienGewerkschaften bekämpft wordenwar.“ (S. 24)

Die Untersuchung geht von derGrundthese aus, dass das Bordle-ben der Seeleute dem Zusammen-halt einer informellen Gruppe ent-sprach und als solche interpretiertwerden muss. Das Bemerkenswerteam Status der informellen Gruppe –die es überall am Arbeitsplatz, anBord gab – war, dass der sozialeBezugsrahmen („Familie am Ar-beitsplatz“) mit dem Kollegenkreisübereinstimmte (S. 29f.). Diese weitgehende Deckung konnte es so nur im geschlossenen Kosmos derBordbesatzungen geben; andern-orts ist sie für die Arbeitssituationim Bergbau beschrieben worden.Aus diesen informellen Gruppenund ihrem spezifischen Loyalitätko-dex heraus begründet Nelles, wiesosich die Seeleute der ITF erfolgrei-cher als die Widerstandskreise derKPD bzw. der International Sea-men and Habour Workers (ISH)gegen die Versuche der Gestapound des SD zur Wehr setzen konn-ten, ihre Strukturen zu infiltrierenund zu neutralisieren. Seine Haupt-these vom geschlosseneren und resi-stenteren Widerstandspotenzial dersyndika-listischen Seeleutebewe-gung ist von Ludwig Eiber als Idea-lisierung ausgemacht worden, eineSichtweise, die der Rezensent andieser Stelle nicht folgen mag. Mehrnoch, Nelles integriert Eibers empi-

leuten, auf deren Widerstand gegendas NS-Regime die vorliegende Ar-beit konzentriert ist.“ (S. 31f.)

„Unter den Ausnahmebedin-gungen der NS-Diktatur kam es zueiner bis dahin einzigartigen Ver-bindung von drei Elementen: desRadikalismus der seemännischenArbeiterschaft, der revolutionärsyndikalistischen Konzeption derpolitischen Aktivisten und der sozi-alrevolutionären Tradition des ITF-Sekretariats unter Fimmen. [...] ImZentrum der Arbeit stehen dieAktivitäten der ITF-Gruppen inden europäischen und amerikani-schen Häfen, der Vertrauensleuteauf deutschen See- und Binnen-schiffen sowie deren Verbindung inDeutschland. Dies ist eingebettet ineine Gesamtdarstellung des ITF-Widerstands [...] Erstmals werdenauch die weitgehend unerforschtenAktivitäten der ITF-Eisenbahnerwährend des Krieges sowie die Rolle der ITF [...] im deutschenExil auf einer breiten empirischenGrundlage dargestellt und analy-siert.“ (S. 31)

Der Darstellungsteil beginnt imKapitel II mit der Rekonstruktionder Rahmenbedingungen des Wi-derstands, insb. des Verhältnissesvon Arbeiterschaft (und nicht -bewegung!) und Nationalsozialis-mus. Zahlreiche von der gründ-lichen Durchdringung und empi-rischen Erfassung des Quellen-materials zeugende Tabellen unter-stützen seine sozialhistorischen Be-funde.

Page 12: Überlebende Juden im Hof der Lübecker Synagoge (vgl. Seite ...McElligotts Fokus auf Altona ist besonders willkommen. Wir haben viel zu wenig Kenntnis davon, wie städtische Arbeiter-

hinwirken – weder dass eine revolu-tionäre Ursuppe vergleichbar derSituation im Herbst 1918 zu Meute-reien geführt hätte, noch dass mitmilitanten Aktionsformen nennens-werte Schiffskapazität der Achsen-mächte auf den Meeresgrund ge-schickt werden konnte. Auch diedurchaus kritische ITF-Leitung hatte das Widerstandspotenzial inDeutschland überschätzt.

Die nachrichtendienstliche Zu-arbeit gehört zu den Glanzstückendes ITF-Widerstands und bewährtesich im Krieg, hatte im britischenKonzept der „Europäischen Revo-lution“ gegen den Nationalsozia-lismus zunächst auch eine politischeEntsprechung und konnte nach derAblösung dieses Konzepts einewertvolle Zuarbeit für die alliierteKriegsführung darstellen. ITF-Ver-trauensleute unter den Eisenbah-nern und unter den See- und Bin-nenschiffern waren während desganzen Kriegs sowohl auf Schiffenneutraler Staaten als auch auf deut-schen Schiffen erfolgreich tätig.

Nachkriegskonzepte der ITF –so Knüfkens Vorstellungen vomNeuaufbau von Gewerkschaften –ließen sich nicht realisieren (KapitelVIII). Deren Neuaufbau orientiertesich nicht an den Diskussionen ausWiderstand und Exil, sondernknüpfte personell und konzeptio-nell an die Weimarer Republik an.

Die von Knüfken (als Mitar-beiter der britischen Regierung) inHamburg kritisierte ausgeprägtennationalistische Stimmung in ge-

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Mit der Tradition des ITF-Widerstands, der Matrosen in derKriegsmarine, Soldatenräte unddem Widerstand der deutscher See-leute in der Konsolidierungsphasedes NS beschreibt er die Geschich-te der Seeleute-Organisierung, so-wohl international wie im Deut-schen Reich (Kapitel III).

Die Antwerpener ITF-(Aktiv-)Gruppe steht im Mittelpunkt derseit 1935 sich entwickelnden Wi-derstandspolitik, so der radikalenDistanzierung von parteiloyal agie-renden gewerkschaftlichen Organi-sierungen wie der ISH. Der politi-sche Erosionsprozess der ISH/KPDmündet hier in eine neue Sammlunginnerhalb der syndikalistischenBewegung. Mit einer beachtlichenQualität der Widerstandsarbeit undüberraschenden Quantität derdurch die Aktivgruppe bearbeitetenSchiffe bei einer hohen Kontinuitätder Arbeit und einem weitgehendenAusschluss einer Gefährdung derSeeleute durch Gestapo und Frem-denbehörden der Exilländer belegtNelles die These von der spezifi-schen Solidarität im Seeleutemilieu.

Die Beschreibung der ITF-Akti-vitäten auf See- und Binnenschiffenim gesamten NordatlantischenRaum, insb. die Zusammenarbeitmit linken Kleingruppen im Exil,im fünften und der Darlegung derZusammenarbeit mit den britischenund französischen Geheimdiensent,dem Aufbau von Nachrichtennet-zen im Reich während der Vor-kriegsphase im sechsten Kapitel

machen den erzählerischen Höhe-punkt der Darstellung aus.

Spätestens ab Sommer 1937 warEdo Fimmen klar geworden, dassein europäischer Krieg unvermeid-lich sein würde. Die eine Konse-quenz dieser Einsicht war die Ent-wicklung von Sabotagetechnikenund die Anschauung, dass man sichim kommenden Krieg bei allerDistanz auf die Seite einer kriegfüh-renden Macht stellen müsse und dieUdSSR bzw. Komintern sich alsPartner ausschlösse. Abgestimmtauf die Strukturen der ITF bot sichdabei eine Ausrichtung der Vertrau-ensleutenetze auf die nachrichten-dienstliche Arbeit an. Eine Zusam-menarbeit trotz großer Vorbehaltegegen die Geheimdienste Großbri-tanniens und Frankreichs war alter-nativlos. Das Verdienst des poli-tischen Radikalen Edo Fimmen war es, dies beizeiten erkannt zuhaben.

Der ITF-Widerstand im Krieg(Kapitel VII) konnte nicht dazu bei-tragen, an dessen schnellem Endemitzuwirken – der Krieg sah andersaus, als er erwartet worden war. Soerfolgreich die Agitation auf See-und Binnenschiffen in der Vor-kriegsphase auch war – es wurdenArbeitskämpfe angezettelt, undDAF und Gestapo hatten ihre liebeMühe, die Lage auf den Schiffen inden Griff bekamen –, diese „Artrevolutionärer Gymnastik zur Stär-kung des Solidaritätsgefühls“ (S.393) konnte nicht zum Sturz desNS-Regimes im Fall eines Kriegs

werkschaftlichen Neugründungs-prozessen kann auch andernortswie etwa für Kiel konstatiert wer-den. Der Schulterschluss zwischenDeutschen – Nazis wie Oppositio-nellen – schien näher zu liegen alsder Wunsch der Aufarbeitung undTransformation der überkommenenStrukturen, die erst die NS-Herr-schaft ermöglicht hatten. Die ÖTV-Vorläuferorganisation in Hamburgscheute sich 1947 nicht, Knüfkenaus der Gewerkschaft auszuschlie-ßen, weil er nach der Zerschlagungder NS-Herrschaft die zentrale poli-tische Frage – „Was hast du 1933gemacht?“ – zu stellen wagte undden innergewerkschaftlich vorhan-denen Schweigekonsens der Nach-kriegszeit in Frage stellte (S. 384).

Was hatte den ITF-Widerstandausgezeichnet? Nelles zitiert ab-schließend Hermann Knüfkenselbst. Die ITF-Gruppe habe schonlange vor dem Krieg „mit allen Mit-teln für die Niederlage Deutsch-lands gearbeitet und dazu mit bei-getragen, einwandfreies Materialüber die deutsche Aufrüstung unddie Vorbereitung des Überfallkrie-ges zu sammeln. An dieser Arbeithaben tausende von Seeleuten undBinnenschiffern aber auch die mitihnen Verbindung haltenden Anti-faschisten in der Heimat teilgenom-men“. Sie hätten „in der Erkennt-nis, daß Deutschland unter allenUmständen [...] eine furchtbare Ge-fahr für seine Nachbarn und darü-ber hinaus für die ganze Welt be-deutete [...] eine Politik geführt, die

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burg-Vorpommern. Eine Funktiondes Buches formuliert das Geleit-wort, verfasst im Büro der schles-wig-holsteinischen Ministerpräsi-dentin Heide Simonis: „[...] setzt eraus vielen kleinen Mosaiksteinchenein Bild dieses Raumes zwischen1925 und 1945 zusammen, zeigtwichtige Ereignisse aus nur 20 Jah-ren Geschichte auf, die trotzdemunser Leben bis zur Jahrtausend-wende und darüber hinaus verän-dert haben.“ (S. 7) Von ihremdidaktischen Ansatz her spiegeltKay Dohnkes Publikation die Inter-essen der regionalen NS-Historio-grafie, „die aus ihrer ‚Nahsicht‘besonders dichte und konkrete Ein-blicke in die Vergangenheit eröff-nen kann“ (S. 7) und die Auswir-

kungen und Zusammenhänge der‚großen‘ Politik am Beispiel vonOrten und Personen der Nachbar-schaft aufzuzeigen sucht.“

Bilanz der aktuellen Foschung

Dohnkes Buch ist zum einen eineBilanz des derzeitigen Forschungs-standes. Der schmale Rücken des128-Seiten-Hardcoverbändchensverbirgt das Mammutprojekt, umdas es sich beim Recherchieren,Zusammentragen und Zusammen-stellen der Tausenden von Einzelda-ten gehandelt hat – mit ein Grund,warum eine derartige Präsentationzurzeit bundesweit einmalig seindürfte. Dieser regionale Geschichts-atlas will deshalb in erster Linie einNachschlagewerk sein, das demLeser sowohl ein Gesamtbild ver-mitteln wie auch den Zugang zuDetails gewähren kann.

Die insgesamt 60, teils doppel-seitigen Karten sind in vier Haupt-kapitel untergliedert, deren Ord-nung einerseits eine thematische ist,andererseits grob einer Chronologiefolgt. Für die Jahre 1925 bis 1932werden der Aufstieg der NSDAP,der Stand der jüdischen Bevöl-kerung zum Stichjahr 1925 (letzteVolkszählung vor 1933) und Aspek-te der NS-Propaganda sowie politi-sche Gewalttaten mit Todesfolge inden letzten Jahren der WeimarerRepublik dargestellt.

Das zweite Kapitel thematisiertdie nationalsozialistischen Vor-kriegsjahre unter den Stichworten

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im positiven Sinne für die Wasser-transportarbeiter [...] Deutschland-feindlich war! (freilich zu dem Lie-de des ,Deutschland über alles!‘)“,so Knüfken 1944. „Diese Gewalt-bereitschaft frühzeitig klar erkanntund mit allen Konsequenzen be-kämpft zu haben, bleibt ein blei-bendes Vermächtnis des ITF-Wider-standes“, resümiert Nelles (S. 398f.).

Im ITF-Widerstand finden wirdie kritische Analyse zum Scheiternder deutschen Arbeiterbewegungbeim Aufstieg des NS ebenso wie-der wie eine überlegene Analyse dernationalsozialistischen Bedrohung.Die ITF stellte sich der Analyse; ihrProgramm und die hieraus abge-leiteten Konsequenzen – etwa dieZusammenarbeit mit den Nachrich-tendiensten der westlichen Demo-kratien – überraschen, spiegeln abereine konsequente Umsetzung derzuvor getroffenen Analyse wider.

Wer Nelles’ Ergebnisse rezi-piert, wird feststellen müssen, dass

der bislang dokumentierte gewerk-schaftliche Widerstand im NS unddie Rolle des ADGB in der Mach-terlangung einer Überprüfung be-dürfen. Widerstand und internatio-nale Solidarität stellt eine überausge-lungene Grundlegung zumgewerkschaftlichen Widerstand imNationalsozialismus dar. Wer sichmit dem – überwiegend ausgeblie-benen – Widerstand der Arbeiter-bewegung zwischen 1932 und 1945auseinandersetzt, wird an dergründlichen Rezeption und an eineran Nelles anknüpfenden Thesenbil-dung nicht vorbeikommen. So man-che Darlegung zum Widerstanderscheint im Kontrast hierzu alsMiszelle, als kontextbeliebige Do-kumentation, als ein Stochern imhistorischen Nebel.

Das Buch liest sich überausspannend, was es auch für politischInteressierte außerhalb des Wissen-schaftsbetriebs attraktiv macht.

Thomas Pusch

Visualisierte Regionalgeschichte

Methodisches Neuland hat derHamburger Publizist und JournalistKay Dohnke mit einem regional-historischen Kartenwerk betreten.Nationalsozialismus in Norddeutsch-land. Ein Atlas wählt für die Auf-stiegs- und Herrschaftsjahre desNationalsozialismus einen in die-sem Kontext neuen Zugang: „Erst-mals visuell in Form von Kartenund neu entwickelten Piktogram-

men aufbereitet, präsentiert er diewichtigsten Aspekte der nationalso-zialistischen Politik und ihrer Um-setzung vom Aufstieg der NSDAPab 1925 bis zum Kriegsende undgeht außerdem auf örtliche Beispie-le ein“, heißt es im Klappentext.Abgedeckt wird die Region der fünf norddeutschen BundesländerSchleswig-Holstein, Hamburg, Nie-dersachsen, Bremen und Mecklen-

Kay Dohnke, Nationalsozialismus inNorddeutschland. Ein Atlas. Hamburg-Wien: Europa-Verlag 2001. 128 S.

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verzeichnet (Holstenstraße 24, Wil-helminenstraße 10, Adelheidstraße30, Elisabethstraße 40). Warum derim Kreis Steinburg aufgewachseneund mit dessen NS-Geschichte be-sonders vertraute Autor in der Dar-stellung der jüdischen Bevölkerungin Schleswig-Holstein 1925 dieFriedhöfe in Glückstadt, aber auchin Rendsburg nicht verzeichnet, istebenfalls erstaunlich.

Sicherlich werden zahlreicheKenner der jeweils regionalenGeschichte noch viel zu ergänzenund zu korrigieren haben – dochgeht es darum? „Besser, ein defizitä-res Werk zügig der Öffentlichkeitpräsentieren und in einer Zweitauf-lage mögliche Kritik berücksich-tigen, als jahrelang an einer Publi-kation zu feilen, die das Publikumentsprechend lange entbehrenmuss“, wischte jüngst ein Kollegedie lähmenden Skrupel ängstlicherPerfektionisten vom Tisch. Wichtigist zum einen, dass die zentralenAussagen stimmen – und hier dürf-ten Kay Dohnke keine Versäum-nisse vorzuwerfen sein. Das Min-desthaltbarkeitsdatum des Atlassesist aber aufgrund einer noch immerim Fluss befindlichen NS-Regional-forschung in jedem Fall begrenzt.

Denkbare Kartenthemen uner-schöpflich

Diskutiert werden könnte unteranderem, inwieweit die Auswahlder Kartenthemen erweiterungsbe-dürftig ist. Einige relevante Themen

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Herrschaftsaufbau und -ausübung,Widerstand und Verfolgung. Be-handelt werden unter anderem derBoykott jüdischer Geschäfte, dieBücherverbrennungen, Haftstätten,Opposition und Widerstand, „Ent-judung“ und „Arisierungen“ sowiedie Reichspogromnacht im Novem-ber 1938.

Die letzten beiden Kapitel de-cken die Kriegsjahre ab. Ersteresstellt „Euthanasie“, Judendeporta-tion, KZ im Überblick und im De-tail sowie NS-Justizverfahren dar.In einem weiteren Kapitel wird derThemenkomplex der Kriegsgefan-genen und Zwangsarbeiter veran-schaulicht – von der Lage der Lagerbis zu Todesmärschen und KZ-Evakuierungen zum Kriegsende.

Neue Aspekte der NS-Zeit

Während viele dieser Themen ein-schlägig Interessierten schon überdie zugrundeliegende Literatur be-kannt sein mögen, hat Dohnkemehrere Aspekte der norddeut-schen NS-Periode kartografischumgesetzt, die nur Insidern vertrautsein dürften. Der Überblick überdie Reden des plattdeutsch agitie-renden NS-Propagandisten HansKummerfeldt erwächst aus einemForschungsschwerpunkt des Au-tors, der Mitherausgeber des volu-minösen Sammelbandes Nieder-deutsch im Nationalsozialismus(Hildesheim 1994) ist. Ein Schat-tendasein hat in der Geschichts-schreibung bisher auch der im Jahre

1936 geführte „Kreuzkampf“ ge-führt, ein religiös motivierter Pro-test gegen den so genannten Kreuz-erlass, mit dem das Oldenburgi-sche Innenministerium AnfangNovember jenes Jahres die Entfer-nung von Lutherbildern und Kruzi-fixen aus öffentlichen Gebäuden,also auch aus Schulen und Kirchenanordnete.

Unvollständigkeit und Fehlerim Detail unumgänglich

Kay Dohnke rechnete bei der Er-stellung des Atlasses damit, dasssein Werk Objekt einer eingehen-den Kritik regionalhistorischerExperten würde und bei einerscharfen Durchsicht im Hinblickauf Vollständigkeit und Fehlerfrei-heit im Detail zahllose Auslassun-gen und Unkorrektheiten offenba-ren müsste. Tatsächlich enthält dasWerk eine ganze Reihe von Auslas-sungen und Fehlern, die hinsicht-lich ihrer Kritikwürdigkeit zum Teilzu vernachlässigen und verzeihlichsind, zum Teil angesichts der szene-bekannten Zuverlässigkeit des Ver-fassers ein wenig erstaunen. Warumhat Dohnke in der hochinteressan-ten Karte zum „Boykott jüdischerGeschäfte in Kiel“ am 1. April 1933nicht auch die als „nicht lokalisiert“vermerkten Ziele antisemitischerAngriffe in den zeitgenössischenKieler Adressbüchern nachgeschla-gen? Dort sind beispielsweise dieAdressen der vier Kieler Lindor-Strumpfläden noch im Jahre 1938

konnten sicherlich aus dem einfa-chen Grunde noch nicht berück-sichtigt werden, dass die Forschungnoch kein hinreichend umfangrei-ches Datenmaterial zur Verfügunggestellt hat. Wünschenswert wärebeispielsweise eine Abbildung derin Norddeutschland durchgeführ-ten Zwangssterilisationen ein-schließlich der Erbgesundheits-gerichtsbarkeit, der ausführendenKrankenhäuser und privatärztli-chen Kliniken – ein Thema, dasnoch nicht flächendeckend er-forscht ist. Regionale Zahlen – rund700 Zwangssterilisationsopfer bei-spielsweise im Kreis Steinburg –zeigen aber die Dimension diesesNS-Verbrechenskomplexes und da-mit seine Relevanz. Dargestellt wer-den könnten außerdem die in Reak-tion auf das Attentat vom 20. Juli1944 vom Reichssicherheits-Haupt-amt ausgelöste Verhaftungswelle„Aktion Gewitter“ (angerissen vonDetlef Korte im Jahrbuch des Bei-rats für die Geschichte der Demo-kratie und Arbeiterbewegung inSchleswig-Holstein, Bd. III) oderdie Auswirkungen des Bomben-kriegs auf die Region – ein letztend-lich von den Nationalsozialisten zuverantwortender Terror gegen diedeutsche Bevölkerung. Denkbarwäre auch eine Veranschaulichungder Landgewinnungsmaßnahmenan der nordfriesischen Küste oderder Bau militärischer Anlagen und Verteidigungslinien in Nord-deutschland – letzteres Aktivitäten,die zum Teil in Bezug zu den errich-

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sen vermag, könnte auch der Histo-riker dieses zwar aus dem Schul-unterricht stammende, aber mit kei-ner guten Begründung auf diesenzu beschränkende Medium nutzen.Der gemeinhin ohne Register er-scheinende Aufsatz könnte auf ei-nen Blick erschlossen werden. Dasin manchen Zeitschriften etablierteAbstract käme so in kartografi-schem Gewand daher. Es gilt,Dohnkes Werk nicht nur von Zeitzu Zeit aktualisiert in neuer Auflagezu edieren, sondern die in ihm

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teten Außenlagern des KZ Neuen-gamme gesetzt werden könnten.Und so wie der behandelte Zeit-raum begründet und nachvollzieh-bar schon 1925 beginnt, so kannauch eine Ausdehnung des Atlassesauf die Zeit nach 1945 sinnvollargumentativ unterfüttert werden.Kriegsgefangenenlager (vgl. Karten-material bei Holger Piening, Als dieWaffen schwiegen. Heide 1995, S.67, 72, 88f., 142f.) und Flüchtlings-ströme, alliierte Verwaltungsstruk-turen oder Aktivitäten der Displa-ced Persons gäben interessanteThemen ab.

Einsatz für schulpädagogischeZwecke

Abschließend seien einige Anmer-kungen zur Methodik, zur Karto-grafie im technischen Sinne erlaubt.Wer immer in Norddeutschland mitder Vermittlung von NS-Geschich-te an Schülerinnen im Rahmen desGeschichts- oder Gesellschaftskun-deunterrichts beauftragt ist oder imRahmen der Erwachsenenbildunganschauliches grafisches Material zuverwenden pflegt, mag den Atlasspontan begrüßen. Streng genom-men kann dies aber nur auf denersten Blick ohne weitere Aufarbei-tung geschehen, denn bei der karto-grafischen Darstellung haben KayDohnke und Kartograf FrankThamm der Vollständigkeit denVorrang vor Übersichtlichkeit undAnschaulichkeit gegeben. Wer alsPädagoge oder Referent die dar-

gebotenen Materialien verwenden,auf Folie kopieren möchte, wirdgerade im Schul- und Jugendbe-reich um eine didaktische Reduk-tion, um eine Nachbearbeitung derKarten nicht herumkommen. Anzu-raten wäre beispielsweise die Kon-zentration auf geografische Aus-schnitte. Auch die Beschränkungder Buchherausgeber auf einenZweifarbdruck – verwendet werdennur Schwarz und Rot – erleichtertnicht die Übersichtlichkeit des Dar-gestellten, hat aber möglicherweisedie Kostenkalkulation für das Buchvereinfacht. Denkbar wäre eineArbeitsgruppe beispielsweise amschleswig-holsteinischen Institut fürdie Praxis und Theorie der Schule(IPTS), die diesen Steilpass alsAnlass für eine Aufbereitung fürden Schulunterricht nehmen könn-te – mit Zustimmung des Verfassers.

Grafische Aufbereitung histori-scher Sachverhalte

Ein Beispiel an Dohnkes undThamms grafischer Aufbereitunghistorischer Sachverhalte solltensich im Übrigen alle geschichtswis-senschaftlich Publizierenden neh-men. Es gibt kaum eine Thematik,die nicht im Rahmen eines Aufsat-zes oder einer Monografie auch der-artig visuell aufbereitet werdenkönnte. So wie der Geschichtsleh-rer unter Zuhilfenahme eines brei-ten Instrumentariums von grafi-schen Zeichen historische Abläufein einem Tafelbild zusammenzufas-

enthaltenen medialen Ansätze alsfruchtbare Anregung in der regio-nalen Forschungslandschaft wirk-sam werden zu lassen.

Kay Dohnkes Atlas zum Natio-nalsozialismus in Norddeutschlandbleibt ein beachtliches Pionierwerk,mehr als eine Fleißarbeit – abereben auch dies –, eine methodischansprechende Bilanz regionalhisto-rischer Wühlarbeit, die in weitenTeilen über lange Jahre ein Stan-dardwerk im behandelten Raumbleiben dürfte. Björn Marnau

NS-Zeit im Spiegel der Ortsgeschichte

Wenn zu einer Kleinstadt wiePreetz in Holstein, von der bishernur recht wenig über die NS-Zeitbekannt ist, eine über 700 Seitenumfassende Monografie mit demTitel Preetz unter dem Hakenkreuzerscheint, verspricht dies eine inter-essante Lektüre zu werden. Schließ-lich hat die Stadt Preetz bisher nurwenig Erwähnung in der Literaturüber den Nationalsozialismus inSchleswig-Holstein gefunden.

Peter Pauselius, Stadtarchivarund Geschichtslehrer in Preetz, hatsich dieser Aufgabe angenommen,Licht in ein bisher nur sehr frag-mentarisch belichtetes Kapitel derStadtgeschichte zu bringen. Diebreit angelegte Darstellung beschäf-tigt sich mit einem großen Themen-spektrum, das von den Anfängenund dem Aufstieg der NSDAP überdas Vereinswesen und den Kriegs-

Peter Pauselius, Preetz unter demHakenkreuz. Großbarkau: Edition Barkau 2001. 723 S.

alltag bis zum Ende der nationalso-zialistischen Diktatur reicht. Es seivorweggenommen, dass genau dies

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Stadt in der Zeit von 1933 bis 1945sicherlich keine exponierte Stellungin Schleswig-Holstein inne hatte,gleichzeitig aber auch keine Insel imReich des Bösen war, wie der Ver-fasser treffend schlussfolgert. Ver-schiedene Faktoren haben laut Pau-selius gar Schlimmeres verhütet,wie z. B. die geringe Einwohnerzahlder Kleinstadt, in der jeder jedenkannte und damit eine gewisseHemmschwelle bestand (währendder NS-Zeit hatte Preetz ca. 4500Einwohner). Ferner könnten auchInformationsdefizite der Bevölke-rung „präventiv“ gewirkt haben –so berichtete z.B. die Preetzer Zei-tung nicht über die Vorfälle in derReichspogromnacht in Kiel. Plausi-bel ist ferner das Argument, dassdie „politischen Leiter nicht hun-dertprozentig nationalsozialistischgeprägt waren“. BürgermeisterUebel war bemerkenswerterweisekein Parteigenosse, und die Stadtwurde 1945 kampflos den Englän-dern übergeben.

In seiner Schlussbetrachtungstellt Pauselius nochmals heraus,dass der Großteil der PreetzerBevölkerung trotz allem nicht voneiner Mittäterschaft freigesprochenwerden kann, wie dies auch dieWahlergebnisse belegen.

Die umfangreiche Darstellunghat vor allem für Preetzer Bürgereinen hohen Informationsgehalt.Die im Anhang vorhandene Über-sicht der Wahlergebnisse von1924–1933 sowie die Zusammen-stellung aller Parteiversammlungen

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eine der Stärken der Untersuchungist, da sich aus der Fülle des unter-suchten Materials ein aussagekräfti-ges Mosaik zusammensetzt.

Preetz galt schon früh als tradi-tionell „rote“ Stadt in Schleswig-Holstein und war eine der erstenStädte in Deutschland, in der sichim November 1918 ein Arbeiter-und Soldatenrat bildete. Der Natio-nalsozialismus breitete sich im länd-lichen Preetz zunächst nur zöger-lich aus. Pauselius weist nach, dassHitler und die NSDAP über langeJahre keine Erwähnung in derPreetzer Zeitung fanden und vielePreetzer als uninformiert geltenmussten. Eine 1926 gehaltene Hit-ler-Rede im benachbarten Eutinblieb im Ort noch unbeachtet.

Obwohl der bürgerliche Bevöl-kerungsanteil auch in den zwanzi-ger Jahren gering blieb, gingen vonihm entscheidende Impulse aus, diedem Nationalsozialismus in Preetzden Weg ebneten. So zählte z.B. dasEhepaar Dr. Genzken zu den erstenPreetzer Parteigenossen, die 1926in die NSDAP eintraten und neueMitglieder rekrutierten. In derPreetzer Zeitung erschien im März1927 erstmalig ein Hinweis auf eineVolksversammlung der NSDAP inPreetz, organisiert von der Orts-gruppe Kiel. Als im Frühjahr 1930die Nationalsozialisten auch in denumliegenden Dörfern systematischfür ihre Ziele warben, war in Preetzdie Ortsgruppe der NSDAP bereitsetabliert. Die Polarisierung zwi-schen dem nun aufkommenden

Nationalsozialismus und dem Ar-beiterlager war in Preetz sehr starkausgeprägt. Wiederholt gab es Saal-schlachten und Übergriffe auf poli-tische Gegner.

Dennoch, der Aufstieg derNSDAP in der Stadt Preetz unter-schied sich in der Struktur und sei-nen Mechanismen kaum von ande-ren schleswig-holsteinischen Städ-ten vergleichbarer Größe. Da Pau-selius besonders in dem Kapitelüber den Aufstieg der NSDAPinteressante Bezüge zu landesge-schichtlich relevanten Ereignissenoder Wahlergebnissen herstellt, las-sen sich die Aussagen über die StadtPreetz überzeugend einordnen.

Ein großes Verdienst des Bu-ches stellt die Sorgfalt und Akribiedar, mit der die Vorgänge in Preetznachgezeichnet werden. So sind dieKapitel, in denen Pauselius die„Gleichschaltung“ von Vereinenund Verbänden darstellt, äußerstdetailliert und sachkundig verfasst.Das gründliche Vorgehen zeigt sichauch bei dem Thema Judenverfol-gung, dem eine umfassende Quel-lenauswertung zu Grunde liegt.Auch wenn es keine jüdische Ge-meinde und vereinzelt jüdischeBürger in der Kleinstadt Preetz gab,so war auch hier der Antisemi-tismus virulent und wurde durchdie Nationalsozialisten mit entspre-chenden Zeitungsartikeln und Ver-anstaltungen in der Öffentlichkeitzu einem Thema gemacht.

Die Beschäftigung mit derPreetzer Geschichte zeigt, dass die

in Preetz vom März 1926 bis Januar1933 sind ausgesprochen hilfreichund dienen der schnellen Orientie-rung. Bedauerlich ist jedoch, dassder Autor bzw. Verlag auf ein Per-sonenregister und eine lokalge-schichtliche Chronologie verzichtethat. Beides hätte ortsfremden His-torikern den Zugang erleichternkönnen. Nur an wenigen Stellenwird die Darstellung wegen der vie-len Ausschnitte aus Zeitzeugenin-terviews und dem umfangreichenQuellenmaterial etwas deskriptiv,dennoch gelingt es Pauselius, nichtzum bloßen Chronisten zu werden.

Die vorliegende UntersuchungPreetz unter dem Hakenkreuz läuftan keiner Stelle Gefahr, sich inregionalen Details zu verlieren unddabei die Einordnung in einen größeren landesgeschichtlichen Zu-sammenhang zu vernachlässigen.Die Zielsetzung der Arbeit, diePreetzer Bürgerinnen und Bürgermöglichst eingehend und nachhal-tig über ihre Stadtgeschichte zuinformieren und vor allem denSchülerinnen und Schülern sowieihren Lehrkräften lokalgeschichtli-che Bezüge bei der Behandlung derNS-Zeit zu ermöglichen, ist in jederHinsicht erreicht worden. Insoferngebührt dem Verfasser große Aner-kennung für die langjährige Arbeitund sein Engagement, das schließ-lich zu dem vorliegenden Buch ge-führt und eine weitere Lücke in derErforschung des Nationalsozialis-mus in Schleswig-Holstein geschlos-sen hat. Ralf Mertens

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der Unterstützung eines einflussrei-chen Politikers versichern, währendsich dem Politiker Böhmcker eineeinzigartige Gelegenheit bot, alsFörderer der Kultur aufzutreten.

Die explizite Bezugnahme aufden um 1800 in Eutin existierendenZirkel um Graf Friedrich LeopoldStolberg und Johann Heinrich Voßdokumentiert Anspruch wie Anma-ßung des EDK, der sich mit seinenAktivitäten – literarischen Morgen-feiern und kulturellen Abendver-anstaltungen, Dichterausflügen undeiner Reihe von Almanachen –demonstrativ an die Öffentlichkeitwandte. Mitglieder fanden sichschnell. Zu den bekannteren gehör-ten Hermann Claudius und EdwinErich Dwinger, Gustav Frenssenund August Hinrichs, Alma Roggeund Helene Voigt-Diederichs.

Freilich stellte der Kreis keinehomogene Gruppe dar. Zum EDKzählten sowohl NS-Erfolgsautorenwie der HJ-Schriftsteller HenrikHerse (Das Fähnlein Rauk, Zur Raafuhr auf ein roter Schild) als aucheher unpolitische Schöngeister wieWaldemar Augustiny. Doch wie-wohl nur ein Teil der Mitglieder alsim engeren Sinne nationalsozia-listische Schriftsteller zu bezeich-nen ist, kann eigentlich nicht außerFrage stehen, dass es sich beimZusammenwirken der nationalsozi-alistischen Eutiner Staatsverwal-tung und des Dichterkreises umeine auf die gleichen kulturpoliti-schen Ziele ausgerichtete konzer-tierte Aktion handelte.

In einer minutiösen Untersu-chung versucht der kanadischeHistoriker Lawrence D. Stokes dieFrage zu klären, „ob der EutinerDichterkreis zu Recht als national-sozialistische Einrichtung bezeich-net werden kann oder ob er le-diglich mit gewissen Zielen desNationalsozialismus übereinstimm-te und einige Angehörige hatte, diepersönlich überzeugte Parteianhän-ger waren.“

Stokes, der bereits 1984 miteiner grundlegenden Studie zurpolitischen Geschichte Eutins her-vorgetreten ist, tut dies zum einenmit einem analysierenden Drei-schritt – quellengestützen, detail-lierten Untersuchungen des kultur-politischen Kontexts, der Organi-sationsgeschichte des EDK sowievon dessen Publikationen. Zumandern hat der Autor in einem vierten – dem umfangreichsten –Abschnitt des Buchs biografischeInformationen zu den 27 Autorender Schriftstellergruppe, Textpro-ben und zum Teil unveröffentlichteDokumente aus Nachlässen oderaus entlegenen Publikationen zu-sammengetragen, die Einblick indie individuellen Positionen ermög-lichen.

Bescheiden merkt der Histori-ker an, dass es ihm nicht möglichgewesen sei, „jeden einzelnen auchnur annähernd vollständig zu be-handeln“, zumal die Autoren so-wohl im ‚Dritten Reich‘ als „auchspäter zum Teil sehr produktiv“gewesen seien. Doch sind es gerade

„Latten-Böhmcker“ und die Literaten

Ein feiner Regierungspräsident:Beim Assessorexamen zweimaldurchgefallen und deshalb vomhöheren Staatsdienst ausgeschlos-sen, pflegte der bereits 1926 in dieNSDAP eingetretene RechtsanwaltJohann Heinrich Böhmcker Ausein-andersetzungen lieber handgreiflichauszutragen. „Latten-Böhmcker“wurde der NS-Haudegen von derBevölkerung genannt, weil er beiStreitigkeiten wiederholt Lattenvom Zaun gebrochen und damit aufGegner eingedroschen hatte.

Seine Amtszeit als Oberhauptder Eutiner Staatsverwaltung ab1932 war von Anfang an durchzahlreiche politische Skandale undprivate Exzesse geprägt. Auch zurKultur pflegte der aus der NäheEutins gebürtige Sohn eines Land-wirts ein eigenwilliges Verhältnis:Bei einer Abschlussfeier im städti-schen Gymnasium im April 1934demolierten Böhmckers SA-Kame-raden in dessen Anwesenheit einewertvolle Sammlung naturwissen-schaftlicher Gegenstände, Böhm-cker goß Bier in ein Klavier.

Die parteiinternen Säuberungendes so genannten „Röhm-Putschs“vom Juni 1934 müssen ihn zurMäßigung veranlasst haben. Jeden-falls versuchte sich Böhmcker in der Folgezeit als gütiger Landesva-ter zu profilieren. Als sich 1936 umden völkisch-national-konservati-ven Schriftsteller Hans FriedrichBlunck ein „Eutiner Dichterkreis“

(EDK) zu formieren begann undBöhmcker die Schirmherrschaftangetragen wurde, fand dies seinebegeisterte Zustimmung.

Ein kluger Schachzug – von bei-den Seiten! Schriftsteller Blunck,der 1935 von seinem Amt als Präsi-dent der von Joseph Goebbels ein-gerichteten NS-Reichsschrifttums-kammer zurückgetreten war undsich in die ostholsteinische Provinzzurückgezogen hatte, konnte sichdamit erneut des Wohlwollens und

Lawrence D. Stokes, Der Eutiner Dich-terkreis und der Nationalsozialismus1936–1945. Eine Dokumentation. Neu-münster: Karl Wachholtz Verlag 2001.470 S. m. zahl. Abb. (= Quellen undForschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins, Band 111).

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so breiteren Raum ein. Die Aktivi-täten des EDK sollten vor allem„unter NS-Ägide auf dem Gebietder Kultur“ erreichte Erfolge de-monstrieren. So kommt Stokes amEnde seiner Darstellung zu dem

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von Stokes pointiert einander ge-genübergestellte Äußerungen vonvor und nach 1945, die zuweilenentscheidende Aufschlüsse über dieMitglieder der Gruppe und derenZielsetzung erlauben. So schriebetwa Christian Jenssen, der sich alsPrivatsekretär und Biograf vonHans Friedrich Blunck seine Spo-ren verdient hatte, 1961 rückbli-ckend, dass der EDK stets „unab-hängig von den zeitlichen Umstän-den“ sowie „von den jeweils herr-schenden politischen Kräften undzeitgeistigen Strömungen“ bestan-den habe. Vor Tisch las man es hin-gegen anders: 1937 hatte Jenssennoch explizit betont, dass der EDK„dank der Initiative von SA-Grup-penführer Böhmcker“ und „im Be-wußtsein besonderer gemeinsamerAufgaben“ gegründet worden sei.

Chamäleongleich wusste sichJenssen auch in anderer Hinsicht zuwandeln. In seiner Literaturge-schichte Deutsche Dichtung derGegenwart (2. Aufl. 1938) hatte ernoch gegen vehement gegen dasWirken „von völkisch ungebunde-nen, vielfach jüdischen Schriftstel-lern“ Stellung bezogen und etwaauch Thomas Manns „Entwicklungzu einer internationalen [...] Ein-stellung“ sowie dessen Hochschät-zung von „Siegmund [!] FreudsPsychoanalyse“ als „Keime einerundeutschen Einstellung“ denun-ziert. Nach 1945 engagierte sichJenssen überraschenderweise beiden Rotariern, einer „Weltgemein-schaft“, die sich die Beachtung

„hoher ethischer Grundsätze“ aufdie Fahnen geschrieben hat unddurch dezidiert international ausge-richtete „Pflege des guten Willens“auf Völkerverständigung und fried-lichen Austausch hinzuwirkensucht. Jenssen gelang es, zum Präsi-denten des Eutiner Rotary Clubsund sogar zum „Governor“ seinesRotary-Distrikts zu avancieren; erfungierte zudem lange Jahre alsstellvertretender Chefredakteurrespektive als „Schriftleiter“ desVereinsblattes Der Rotarier. Nacheiner kritischen Auseinanderset-zung mit seinen früheren Äußerun-gen wurde bei Jenssen, der noch1988 die Blut-und-Boden-Literaturseines früheren Arbeitgebers HansFriedrich Bluncks hochlobte, bis-lang leider vergebens geforscht. MitRecht beklagt Stokes, dass detail-lierte Einzelstudien zu zahlreichen,im „Dritten Reich“ und danach täti-gen Autoren fehlen. Die Germanis-tik hatte offensichtlich lange JahreBesseres zu tun.

Dem Historiker gelingt es je-denfalls, mit seinen Mitteln zu ei-nem glasklaren Ergebnis zu kom-men. Stokes interpretiert dabeikeine literarischen Texte, sondernreferiert Positionen, lässt Faktenund Dokumente sprechen. Über-haupt muss er feststellen, dass dieLiteratur selbst „nur einen relativbescheidenen Platz in der Gesamt-entwicklung des EDK“ bean-spruchte. Dafür nahm die „natio-nalsozialistische Umrahmung“ vonLesungen und Veranstaltungen um

Schluss, dass der Eutiner Dichter-kreis „eine Vereinigung war, diesich bewußt den Zwecken der NS-Regierung unterordnete“. – Litera-turgeschichte als Institutionenge-schichte. Kai-Uwe Scholz

Mehr Konzept, weniger Pragmatismus

Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.),Terror ohne System. Die ersten Konzentrationslager im Nationalsozialis-mus 1933–1935. Berlin: Metropol Verlag 2001. 310 S. (= Geschichte derKonzentrationslager 1933–1945, Band 1). Herrschaft und Gewalt. Frühe Konzentrationslager 1933–1939. Berlin: Metropol Verlag 2002. 295 S.(= Geschichte der Konzentrations-lager 1933–1945, Band 2).

Im Vorwort zu Terror ohne Systemschreiben Wolfgang Benz und Bar-bara Distel: „Dieser Band [...] prä-sentiert die ersten Ergebnisse einesgroßen Projektes, das die Gesamt-darstellung aller Konzentrationsla-ger im nationalsozialistischen Herr-schaftsbereich 1933–1945 zum Zielhat.“ (I, S. 9). Damit verbinden bei-de die Absicht, eine „wissenschaft-lichen Ansprüchen genügendeGesamtdarstellung“ herauszugebenund gleichzeitig deren Nutzbar-machung für die politische Bildung,Schulunterricht, Wissenschaft undGedenkkultur zu betreiben (ebd).

Ausgangspunkt der Publika-tion, deren Redaktion AngelikaKönigseder und Verena Walterübernommen haben (und die ausunverständlichen Gründen trotz-dem nicht als Mitherausgeberinnengenannt werden), ist eine im No-vember 2000 in Bayern durchge-führte Tagung. Dort wurden u.a.Fragestellungen wie die folgendendiskutiert: „Wie definiert man Kon-zentrationslager in Abgrenzung zuanderen Haftstätten des NS-Regi-mes mit ähnlichen Lebensbedin-gungen? Welche Kriterien über die

formalen Unterstellungen hinausermöglichen die Einordnung in das

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betrieben wurde); bis hin zu Aufsät-zen, die zwar in den FußnotenQuellen und Literatur nennen, aberkeine Zusammenfassung am Endeder Darstellung bringen (so beimAufsatz zum KZ Dachau).

Zwar geben alle AutorInnen amEnde Quellen und Literaturhin-weise, doch ist zu fragen, welchenSinn die Nennung von zwei bis dreiArchivstandorten hat, an denen re-levantes Aktenmaterial liegt. Wemsollen diese Angaben dienen? FürForschende ist es zu wenig, da siedetailliertere Hinweise – wie bspw.bei Stokes zu Eutin geschehen –benötigen. Interessierte Laienkönnten die Liste dahingehendmissverstehen, dass es keine weite-ren Quellenbestände gäbe. MeinesErachtens hätten sich hier die Her-ausgeberrInnen auf ein sinnvollesSystem einigen und den Autorendieses vorgeben müssen.

Ein weiteres Manko ist, dass fastnirgends eine Art „Ausblick / For-schungsstand“ am Ende des Aufsat-zes erfolgt. So bleibt häufig unklar,ob die Geschichte des jeweiligenLagers nun quellenmäßig gut er-schlossen ist, es wichtige Desiderategibt oder gerade neuere Forschun-gen laufen. Auffallend ist auch, dassnicht immer auf die Nachkriegsge-schichte (insb. Prozesse) eingegan-gen wird, was z.T. wohl an derQuellenlage liegt, aber doch zumin-dest mit einem Satz erwähnt wer-den sollte. Sehr unterschiedlichwird auch mit dem Gedenken nach1945 umgegangen: So sind Jörg

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Herrschafts- und Terrorsystem?Wie unterscheiden sich ‚wilde‘ KZals Haftstätten in der Zeit der‚Machtergreifung‘ von frühen Kon-zentrationslagern mit längeremBestand?“ (I, S. 12).

Obwohl gerade die Antwortenauf solche Fragen am Anfang einerGesamtedition von Einzeldarstel-lungen zu den Konzentrationsla-gern stehen sollten und die Heraus-geber/in selbst meinen, dass die„Strukturen des KZ-System inzwi-schen gut erforscht“ seien, wird einsolcher für die Einordnung dermindestens 80 1933/34 bestehen-den frühen KZ sinnvoller Einstiegfür einen der Folgebände angekün-digt (I, S. 11). Benz und Distelhaben sich dagegen aus Pragma-tismus heraus entschlossen, die Rei-he unabhängig von geografischenoder chronologischen Aspektenherauszugeben – also das zu publi-zieren, was gerade da ist.

Das Spektrum des ersten Ban-des umfasst 15 Aufsätze über früheKZ, beginnend mit Dachau, überNohra in Thüringen, Breitenau beiKassel bis hin zu den vier in Ham-burg und Schleswig-Holstein ge-legenen Lagern Fuhlsbüttel, Witt-moor, Eutin und Ahrensbök. Imzweiten Band nehmen die „Haft-stätten der mittleren Periode, diedas Bindeglied zwischen den frühenKonzentrationslagern und der spä-teren KZ-Topographie“ (II, S. 8)bilden, den Großteil ein, wobei fürNorddeutschland die Beschreibun-gen zum KZ Lichtenburg sowie der

Emslandlager von Bedeutung sindund die beiden weiteren frühenLager – KZ Kuhlen bei Ricklingund das KZ Glückstadt – fürSchleswig-Holstein von Interessesind.

Der Aufbau der Aufsätze folgtinsgesamt keinem einheitlichenSchema, was einerseits dem jeweili-gen Forschungsstand geschuldet ist,andererseits aber auch den man-gelnden Vorgaben der Herausgebe-rInnen. So ist zwar einsichtig, dassnicht immer etwas zum Lageralltag,zu den Bewachern oder gar zu Ein-zelbiografien der wichtigsten Pro-tagonisten gesagt werden kann.Gleichzeitig wäre nach den im Vor-wort angemeldeten Ansprüchen andas Gesamtwerk zumindest eineEinheitlichkeit bei Literaturan-gaben und Quellenhinweisen, beidem Resümee des Forschungs-stands und Gedenkens sowie beieinem Ausblick sinnvoll gewesen.

So gibt es Aufsätze, die sichlediglich auf Literaturquellen bezie-hen, ohne deutlich zu machen, wa-rum die Quellenlage so schlecht ist(am auffälligsten im eineinhalbsei-tigen Beitrag von Stefanie Schüler-Springorum zu Quednau bei Kö-nigsberg); Aufsätze, die sich ledig-lich auf einen indirekt überliefertenQuellenbestand beziehen und diesnicht kritisch hinterfragen bzw.beleuchten (so beim KZ Nohra, wolaut Autor die VdN-Akten benutztwurden und keine weitere Quellen-forschung bzw. -überprüfung inden so überlieferten Aktenauszügen

Wollenbergs Ausführungen zumKZ Ahrensbök mit 1 1/2 Seitenoder die knappe Seite zur Gedenk-stätte Lichtenburg die Ausnahme;häufig erfährt die Leserschaft garnichts über dieses Thema oder musssich mit resümierenden kurzen Zei-len über das Gedenken in derNachkriegszeit begnügen (typischetwa beim Aufsatz über das KZOberer Kuhberg bei Ulm).

Doch deuten die Ausführungenvon Harald Jenner zum KZ Kuhlen– dessen einzige Baracke nach in-tensiven Diskussionen nach 1994abgerissen und durch eine Gedenk-anlage ersetzt wurde – an, welchesehr unterschiedlichen Positionenes hier jeweils geben kann (II, S.126f.).

Der Rezensent kann nicht füralle beschriebenen Lager beurtei-len, ob die Aufsätze auf dem aktuel-len Stand der Forschung sind. Diejeweiligen Abschnitte zu den sechsLager in Hamburg und Schleswig-Holstein spiegeln meines Erachtens– unabhängig davon, dass sie zumTeil schon vor längerer Zeit in ähn-licher Form publiziert wurden –den bisherigen, wenn nicht sogarden zu erwartenden endgültigenStand der Forschung wider. DieQualität ist unterschiedlich (soerfährt bspw. die Leserschaft imAufsatz von Stokes zu den EutinerLagern erst auf der achten Seite,wann das erste dortige Lager instal-liert wurde), im Großen und Gan-zen aber sind die Aufsätze trotzmancher Schwächen lesenswert.

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Devisen-, Rückerstattungs- undEntschädigungsakten dem Schick-sal dreier eng miteinander verwand-ter Familien – der Familien Rosen-berg, Eichenberg und Eisenstein –im nationalsozialistischen Deutsch-land und in der Emigration nachzu-gehen. Im Zentrum der mikrohisto-rischen Studie stehen 470 Briefe,zehn Brieffragmente und 79 Post-karten, die in den Jahren 1933 bis1947 geschrieben und zwischenFrankfurt/Main, den USA, Groß-britannien und Palästina hin- undhergeschickt wurden.

Stellt allein schon die großeZahl der überlieferten Briefe eineSeltenheit dar, so gilt dies mehrnoch für die Tatsache, dass derBestand nicht nur Briefe aus, son-dern auch solche nach Deutschlandumfasst, der dialogische Charakterder Kommunikation somit nichterst aus Andeutungen rekonstruiertwerden muss, sondern erhalten ge-blieben ist.

Die Briefe aus Frankfurt stam-men vornehmlich von dem 1934zwangsweise pensionierten Bankdi-rektor Georg Rosenberg und seinerFrau Rosa, außerdem von derenverwitweter Schwester Else Eisen-stein, die mit zwei kleinen Töchternbei Rosenbergs wohnte. Die Briefeaus Palästina kamen von der 1933emigrierten Margarete Eichenberg,ebenfalls einer Schwester von RosaRosenberg. Die Briefe aus den USAund aus England schrieben die vierKinder des Ehepaars Rosenberg,von denen Hermann und Kurt – die

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Ob sich die von den Herausge-berInnen formulierten Ansprüchean diese Reihe zur Geschichte derKonzentrationslager tatsächlichdort auch widerspiegeln werden,wird sich erst in Zukunft erweisen.Derzeit kann noch nicht gesagt wer-den, ob es sich einfach nur um einNachschlagewerk handeln wird, indem lediglich jedes Lager im deut-

schen Herrschaftsbereich einmalbeschrieben wird. Der Rezensentwünscht sich für die Folgebändemehr Mut zu klareren konzeptio-nellen Vorgaben an die AutorInnenund ist gespannt, ob in Zukunftauch Bände folgen, die dem An-spruch gerecht werden, auch für diepolitische Bildung nutzbar zu sein.

Frank Omland

„Eine Geschichte von Verlusten“

Oliver Doetzer, „Aus Menschen wer-den Briefe“. Die Korrespondenz einerjüdischen Familie zwischen Verfolgungund Emigration 1933–1947. Köln/Wei-mar/Wien: Böhlau Verlag 2002. 277 S.(= Selbstzeugnisse der Neuzeit, 11).

Die Bedingungen jüdischer Exis-tenz unter der nationalsozialisti-schen Verfolgung aufzuzeichnenund damit dem Vergessen zu entrei-ßen, ist von den Überlebenden alsVerpflichtung und Aufgabe verstan-den worden. Die so entstandeneautobiografische Literatur ist indesnotwendig geprägt durch das Wis-sen um den millionenfachen Mordam europäischen Judentum, einWissen, das – bewusst oder unbe-wusst – auch die Erinnerungenstrukturiert.

Vor diesem Hintergrund gewin-nen zeitnahe Selbstzeugnisse beson-dere Bedeutung, wie sie einerUntersuchung von Oliver Doetzerzugrunde liegen, die 2002 unterdem Titel „Aus Menschen werdenBriefe“. Die Korrespondenz einerjüdischen Familie zwischen Verfol-gung und Emigration 1933–1947 imBöhlau Verlag erschienen ist.

Anders als der Titel es sugge-riert, handelt es sich bei dem Bandnicht um eine Edition, sondern viel-

mehr um den Versuch, auf der Basisvon Briefen und anderen persön-lichen Dokumenten sowie von

beiden ältesten – 1936 bzw. 1938ausgewandert waren, während dieZwillinge Gerd und Ursula erst imJuli 1939 mit einem Kindertrans-port nach Großbritannien in Si-cherheit gebracht werden konnten.

Oliver Doetzer folgt in seinerArbeit im Wesentlichen der Chro-nologie der Ereignisse. LeitendeThemen sind die Einwirkungen desNationalsozialismus auf Leben undSelbstverständnis dieser assimilier-ten Familien des deutschjüdischenBürgertums sowie die unterschied-liche Wahrnehmung der Bedrohungdurch die verschiedenen Familien-mitglieder und die daraus resultie-renden Unterschiede in der Einstel-lung zur Auswanderung. Doetzeruntersucht, wie Entschlüsse undpraktische Schritte zu einer Aus-wanderung zustande kamen unddiskutiert wurden, und er fragtnach den Bedingungen, unter de-nen „ein Familienzusammenhangdurch das Schreiben der Briefe im-mer wieder neu hergestellt werdenkonnte“ (S. 9).

Besonders eindringlich sind diedem Novemberpogrom und derZeit danach gewidmeten Kapitel.Als am 10. November 1938 25 Per-sonen in die Frankfurter Wohnungvon Rosenbergs einzudringen ver-suchten, verständigte die Familiedas „Überfallkommando“ der Poli-zei, das tatsächlich kam und dieVerwüstung unterband, jedochgleichzeitig Georg Rosenberg fest-nahm. Auf Grund seines Alters ge-hörte er zwar zu denjenigen, die am

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12. November wieder entlassenwurden, aber er war danach ein ge-brochener Mensch, der kaum mehrdas Haus verließ, über seine Erleb-nisse während der Haft schwiegund auch in der brieflichen Kom-munikation – deren Hauptträger erbislang gewesen war – in den fol-genden Monaten fast völlig ver-stummte.

Wie in vielen Familien war esjetzt die Ehefrau, die die Initiativezu einer beschleunigten Auswan-derung ergriff und in zahlreichenBriefen sowohl an die nächstenAngehörigen als auch an entfernteVerwandte im Ausland um Hilfebat. Nach ihrem plötzlichen Tod –Rosa Rosenberg starb am 10. März1939 44-jährig an einer Embolie –,musste sich Georg Rosenberg in dieihm bislang fremde Materie derAuswanderung einarbeiten, wobeiihm insbesondere sein bereits inden USA lebender Sohn Kurt durchemotionalen Beistand und konkreteHandlungsanweisungen Halt undUnterstützung gab.

Die Zwillinge Gerd und UrsulaRosenberg konnten noch nach Eng-land gebracht werden. Seinem Va-

ter und seiner Tante sowie derenzwei Kindern die Flucht ins retten-de Ausland zu ermöglichen, gelangKurt Rosenberg nicht. GeorgRosenberg wurde am 19. Oktober1941 in das Ghetto Lodz deportiert.Else, Ruth und Inge Eisenstein wur-den am 24. September 1942 nachEstland deportiert. Niemand vonihnen überlebte den Holocaust.

„Die Geschichte der Brief-schreibenden ist in starkem Maßeeine Geschichte von Verlusten. […]Der Erfahrung dieser Verluste giltes nachzugehen“, heißt es in derEinleitung. Dies ist Oliver Doetzerüber weite Strecken seines auf einerMagisterarbeit basierenden Buchesüberzeugend gelungen. Nur in denersten Kapiteln leidet die Lesbar-keit unter einem bisweilen etwasangestrengten Bemühen, auch wirk-lich alle Ansätze und Begriffsbil-dungen der neueren Forschung inText oder Fußnoten unterzubrin-gen. Damit sind allerdings Mängelangesprochen, die in Qualifika-tionsarbeiten häufiger zu findensind. Der grundsätzliche Wert derUntersuchung wird dadurch nichtin Frage gestellt. Bettina Goldberg

Ganz normale Fotos?

Gerhard Paul hat in den „Quellenund Studien zur Geschichte derjüdischen Bevölkerung Schleswig-Holsteins“ den dritten Band vorge-legt. Für Matrosenanzug – David-stern. Bilder jüdischen Lebens aus

der Provinz zeichnen Bettina Gold-berg und er als Autor/in verant-wortlich, wobei sich erst bei ge-nauerem Hinsehen der jeweiligeAnteil an dem Buch erschließt, daauf die Nennung in den einzelnen

Abschnitten verzichtet worden ist. Das Grundprinzip der Gestal-

tung der 373 Seiten folgt dabeieinem wiederkehrenden Schema:auf fünf bis sechs einleitenden Text-seiten, die einem der acht Haupt-abschnitte vorangestellt sind, folgenzumeist mit privaten Fotos (und sel-tener: Dokumenten) illustrierte Sei-ten sowie – schwarz unterlegt – einoder zwei bebilderte Familienbio-grafien. Dabei behandeln die Auto-rin und der Autor den Zeitraumvom Kaiserreich bis zur frühenNachkriegszeit, wobei der Textteilmit der Remigration nach 1945 en-det, während im achten und letztenAbschnitt „… und heute“ lediglichFotos von Überlebenden (vgl. S.100) und deren Angehörigen ge-zeigt werden. Einen Ausblick aufdas heutige, von russischsprachigerZuwanderung geprägten jüdischenGemeindelebens erhält die Leser-schaft nicht. Am Ende des Bandesfindet sich ein Anhang mit einemdetaillierten Fotonachweis, einemnach Orten gegliederten Auswahl-literaturverzeichnis sowie einemOrts- und Personenregister.

Nach Menora und Hakenkreuz(Neumünster 1998) wirkt Matrosen-anzug wie der Fotoband zu diesemBuch, oder genauer: wie ein Katalogfür eine bis heute fehlende Dauer-ausstellung zur Geschichte der jüdi-schen Bevölkerung des Landes.

Aufgrund der großen Zahl vonAbbildungen und Fotos kommt derquellenkritischen Einordnung vonFotos als Quelle eine hohe Bedeu-

Gerhard Paul/Bettina Goldberg, Matrosenanzug und Davidstern. Bilderjüdischen Lebens aus der Provinz.Neumünster: Wachholtz-Verlag 2002.373 S., über 600 Fotos und Doku-mente (= Quellen und Studien zurGeschichte der jüdischen BevölkerungSchleswig-Holsteins, Band 3).

tung zu, denn ohne eine solche blei-ben die Fotos bloße, fast instrumen-talistische Illustration eines Text-teils. Dementsprechend gewinntder Band immer dann, wenn er sichauf quellenkritische Reflexionenund Bewertungen des Gezeigteneinlässt: Beispielsweise wenn daraufabgehoben wird, dass aufgrund derhohen Kosten nur bestimmte Ereig-nisse als fotografierenswert angese-hen und damit der Alltag nicht insBild gesetzt wurde (S. 46); wennsich der Alltag im Nationalsozia-lismus „komplexer und wider-

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sprüchlicher darstellt als in denInterpretationen der Nachgebore-nen“ (so eine Bemerkung Paulsüber ein Foto vom „Tag der natio-nalen Arbeit“ im Mai 1934, wo einmitmarschierender jüdischer „Ge-folgschaftsführer“ neben einen Be-triebszellenobmann zu sehen ist, S.155, S. 163); wenn bisherige Leer-stellen in der Fotoüberlieferung be-nannt werden (S. 250 bzgl. derDeportationen) und wenn auf über-lieferte Fotos zu den Massener-schießungen im Stadtwald Rigasbewusst verzichtet wird (ebd.).

Auch die Selbstinszenierungeneiner vermeintlich erfolgreichenAuswanderung und des Exils unddie Ausblendung des Fremdseins inder neuen Heimat in der Fotoüber-lieferung werden thematisiert (S.272); ebenso, dass das Fotografie-ren nach dem Holocaust auch dieFunktion einer Selbstvergewisse-rung hatte, diesen überlebt zu ha-ben (S. 322) und dass das Fehlenvon Nichtjuden als Zeichen für diejüdische Abschottung in den frühenNachkriegsjahren gelesen werdenkann (ebd.).

Bitterkeit über den Umgang mitder Geschichte klingt zwischen-durch bei Gerhard Paul an, wenn erbzgl. des heutigen Umgangs mit derjüdischen Bevölkerung schreibt:„Es scheint als interessiere man sichin Deutschland weniger für dieGeschichte der Überlebenden alsfür die der Toten.“ (S. 322).

Da Bettina Goldberg ihre Habi-litationsschrift zum Thema noch

nicht abgeschlossen hat, fragt mansich, wozu dieser Band veröffent-licht wurde – weil die Veröffent-lichung dieses Fundus an sich einenWert hat, oder schlichtweg weileben diese Arbeit noch auf sichwarten lässt? Auf Nachfrage desRezensenten ergab sich ein anderesBild: In Schleswig-Holstein bestehtleider nach wie vor eher ein Des-interesse an dem sehr großen Foto-bestand des Forschungsprojekts, sodass eine Veröffentlichung nötigwurde.

Leider zeigt sich hierin wiederder entscheidende Unterschied zuanderen Regionen. Zugespitzt ge-sagt: In Hamburg wäre das ganzeschon museal in einer Dauerausstel-lung untergebracht – in Schleswig-Holstein bezeichnenderweise nicht.

Der Erkenntnisgewinn des Bu-ches besteht unter anderem darin,dass ohne den Holocaust fast alleder Fotos ganz normale Familien-fotos gewesen wären, die allenfallseinzelbiografisches bzw. alltags-geschichtliches Interesse hätten we-cken können. Vor dem Hintergrunddes Massenmordes an den europäi-schen Jüdinnen und Juden hinge-gen ergeben sich andere Blickwin-kel: Auch die Verfolgten versuch-ten, „normal“ weiterzuleben, und in den Fotos spiegelt sich höchstensin der nachmaligen Betrachtungund Interpretation die Ausgren-zung und Desintegration wider. Diescheinbare und tatsächliche familiä-re Normalität der Minderheit alsSchutzrahmen in einer verfolgen-

den Mehrheitsgesellschaft zeigt auf,dass es „Nischen des richtigenLebens in der braunen Barbarei“gab (S. 272).

Matrosenanzug – Davidstern be-legt aber auch, welche Quellenfun-de möglich sind, wenn professionel-le HistorikerInnen auf die Suchegehen. Oder anders ausgedrückt:Wo wären wir in Schleswig-Hol-

stein, wenn Gerhard Paul und ins-besondere Bettina Goldberg sichnicht auf die systematische Recher-che begeben hätten?

Es bleibt zu hoffen, dass derBand irgendwann zum Katalogeiner tatsächlichen Dauerausstel-lung des jüdischen Lebens in derProvinz werden wird.

Frank Omland

Vergessene Opfer

Die zu besprechende Monografiestellt die auf höchstem Niveau ver-fasste und bereits 1996 am Histori-schen Seminar der Universität Kieleingereichte Staatsexamensarbeitdes Autors dar, die für diese Ver-öffentlichung um Forschungsergeb-nisse zu den Protagonisten des na-tionalsozialistischen Sterilisierungs-programms auf regionaler Ebeneergänzt wurde. Es werden alle As-pekte der Thematik „Zwangssteri-lisation“ einschließlich ihrer histori-schen Voraussetzungen als auch dieFrage von Wiedergutmachungen imNachkriegsdeutschland untersucht– insbesondere hinsichtlich Letzte-rem wird bereits im Vorwort und inder Einleitung ein über das Histori-sche hinausgreifender aktualpoliti-scher Blick des Autors deutlich.

Steril und rasserein ist ein regio-nalgeschichtliches Novum in derHistoriografie des Nationalsozia-lismus, weil hier erstmalig für dieOpfergruppe der Zwangssterilisier-ten die Totalerhebung für einen

Gesundheitsamtsbezirk gelingt –der Anspruch des Verfassers einer„Gesamtdarstellung der Durchfüh-

Björn Marnau, Steril und rasserein.Zwangssterilisation als Teil der nationalsozialistischen Rassenpolitik1934 bis 1945. Der Kreis Steinburg als Beispiel. Frankfurt am Main: PeterLang Verlag 2003. 166 S.

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über Hilfsschüler von Lehrern ge-genüber dem anfordernden „Erb-gesundheitsgericht“ bzw. dem Itze-hoer Gesundheitsamt; es gibt aberkeine Hinweise darauf, dass dieHilfsschule Sterilisationsanzeigengegen ihre Schüler erstattet hätte.

Die „Erbgesundheitsgerichte“Altona und Itzehoe erließen von1934 bis Kriegsende insgesamt 756Sterilisationsbeschlüsse gegen Ein-wohner des Kreises Steinburg – tat-sächlich wurden dann 612 Men-schen unfruchtbar gemacht. Dabeikann die Beschlusspraxis diesererstinstanzlichen Sterilisationsge-richte als eine „Massenabfertigung“bezeichnet werden; für die standar-disierten Verfahren, in denen dieKranken- und Familiengeschichtender Sterilisanden nur eine sehr mar-ginale Rolle spielten, standen je-weils, wie Marnau ermittelte, nur15 bis 30 Minuten zur Verfügung.Dennoch war die Diagnose, dienach dem GZVEN zur Unfrucht-barmachung führen sollte, ein entscheidendes, differenzierendesMerkmal für das von Marnau unter-suchte Verhältnis zwischen den vom„Erbgesundheitsgericht“ abgelehn-ten Sterilisierungsanträgen und dengerichtlich angeordneten Operatio-nen. Eine wesentlich größere Be-deutung als für die Erstinstanzallerdings hatten die Diagnosen alsDifferenzierungskriterium zwischen„Freispruch“ und chirurgischerVerstümmelung in den Verfahrenvor der einzigen Berufungsinstanzfür Schleswig-Holstein, dem „Erb-

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rung des Zwangssterilisierungspro-grammes auf Kreisebene“ wird, gemäß der gegebenen Forschungs-und Quellenlage, eingelöst.

Einem kurzen Übersichtskapitelzum „Gesetz zur Verhütung erb-kranken Nachwuchses“ (GZVEN)und seiner ideologischen Grund-lage, der Rassenhygiene, folgt einAbschnitt über die NS-Agitationfür die Maßnahmen der negativenEugenik, in dem – erstmals fürSchleswig-Holstein – die Propagan-da für eine erb- und rassenhygieni-sche Bevölkerungspolitik national-sozialistischer Diktion in den Me-dien Film, Theater, Rundfunk undLokalpresse mit dem Fokus auf denKreis Steinburg dargestellt wird.Untersuchungen zur Rezeption der-artiger Propaganda in der Bevöl-kerung bleiben allerdings ein Desi-derat weiterer Forschung.

Die folgenden zwei Kapitel be-schreiben ausführlich das Sterili-sationsverfahren unter Beteiligungniedergelassener Ärzte, der An-staltsärzte, des Gesundheitsamtes inItzehoe, der Hilfsschule Itzehoeund der für den Kreis Steinburgzuständigen „Erbgesundheitsge-richte“ in Altona und – ab 1937 – inItzehoe. Die methodisch fundierteAnalyse der sozialen Herkunft derdurch eine Anzeige denunziertenSterilisanden in Itzehoe zeigt, dassder Großteil der Opfer aus Stadt-teilen der proletarischen und sub-proletarischen Unterschichten undden Armenvierteln der Kreisstadtstammte. Dies bestätigt und ergänzt

damit andere regionale Studien zumThema.

Hingegen konstatiert Marnauim überregionalen Vergleich, dassdas Itzehoer Gesundheitsamt imGegensatz zu anderen untersuchtenBehörden die Unfruchtbarmachungsehr vieler junger Menschen bean-tragte und zieht daraus den Schluss,„daß die Holsteiner mit einer früh-zeitigen Sterilisation das Risikostaatspolitisch unerwünschtenNachwuchses so gering wie möglichhalten wollten.“ Um dies für ganzSchleswig-Holstein zu verifizierenund damit die Hypothese bestätigtzu finden, dass sich der nördliche„Mustergau“ auch in der „Auslese“und „Ausmerzung“ der „Minder-wertigen“ besonders hervortat,müssten freilich sämtliche schles-wig-holsteinischen Gesundheitsäm-ter unter diesen Aspekten unter-sucht werden.

Auch hinsichtlich der Sterilisa-tionsanträge kommt die Studie er-wartungsgemäß zu dem Ergebnis,dass vorwiegend die unteren sozia-len Schichten des Kreises Stein-burg, wie etwa Erwerbslose, Arbei-ter und Hausangestellte, betroffenwaren. Der Autor zieht hierfür –methodisch korrekt – Statistikenzur Berufstätigkeit der Betroffenenheran. Am Beispiel der HilfsschuleItzehoe wird die Beteiligung einerpädagogischen Institution am pri-mär medizinisch und juristischdominierten Sterilisationsverfahrengezeigt. Diese Beteiligung bestandin der Erstattung von Gutachten

gesundheitsobergericht“ in Kiel,wie die vorzügliche Analyse desAutors hierzu zeigt.

Sowohl für die „Erbgesund-heitsgerichte“ als auch für die Be-schwerdeinstanz in Kiel war dieBeschluss- und damit auch die fol-gende Sterilisierungspraxis für psy-chiatrische und neurologische Er-krankungen – wie etwa der Schi-zophrenie oder der Epilepsie –generell zurückhaltender als die fürdiejenigen Diagnosen, die in beson-derem Maße auch soziale Deviatio-nen der Betroffenen unterstellten.So sind im Kreis Steinburg 77 Prozent aller Sterilisierungsopfermit den Diagnosen „angeborenerSchwachsinn“ und „schwerer Alko-holismus“ stigmatisiert gewesen –ein Befund, der sich mit Unter-suchungsergebnissen für das übrigeSchleswig-Holstein als auch mitüberregionalen Forschungsergeb-nissen deckt.

Belegt an Einzelfällen aus demKreis Steinburg geht der Autor derFrage der physischen, psychischen,sozialen und rechtlichen Folgen derSterilisation für die Opfer und de-ren Angehörige nach. Diese reich-ten vom Ausschluss von jeglichenstaatlichen Unterstützungsleistun-gen über Eheverbote bis hin zuchronifizierten körperlichen Leidenund Suiziden.

Trotz derartig gravierender Fol-gen gab es in der untersuchten Re-gion keinen nennenswerten Wider-stand gegen die nationalsozialisti-sche Sterilisierungspolitik, wie Mar-

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staatlich organisierter Mordpro-gramme als auch von in Eigenregieder Heil- und Pflegeanstaltendurchgeführten Tötungen wurden.

Für den Kreis Steinburg doku-mentiert der Verfasser auf derGrundlage umfänglicher Quellen-recherchen die Überschneidungender Opfergruppen der Sterilisierteneinerseits und der „Euthanasierten“andererseits. Demzufolge muss eineder gängigen Thesen bisheriger Ste-rilisationsforschung – dass Psychia-triepatienten mit vergleichsweiseguter Prognose lediglich unfrucht-bar gemacht und solche mit einerungünstigen Prognose ermordetwurden – zumindest auf Regional-ebene korrigiert werden. So galtendeutlich mehr als die Hälfte derSteinburger, die zunächst sterilisiertund später, noch in den letztenMonaten des Regimes, in der bran-denburgischen Anstalt Meseritz-Obrawalde getötet worden sind, als„arbeitsfähig“ – eines der wesent-lichen Kriterien für eine günstigeSozialprognose und die Verwend-barkeit für das „Dritte Reich“.

Diejenigen Opfer des NS-Ras-sismus, die im Nachkriegsdeutsch-land auf Wiedergutmachung undEntschädigungen hofften, erlittenstattdessen weitere Demütigungenund Enttäuschungen: „Von denbekannt gewordenen Wiedergut-machungsverfahren SteinburgerSterilisationsopfer führte kein einzi-ges zu einer Anerkennung der gel-tend gemachten Ansprüche.“ Dem-gegenüber ist keiner der Ärzte und

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nau feststellt; vereinzelt finden sichsogar Hinweise auf das Einver-ständnis der Betroffenen mit derSterilisierung. Ebenso vereinzelt istwiderständisches Verhalten derdurch die UnfruchtbarmachungBedrohten oder deren Angehörigedokumentiert. Solche „Akte nichtangepassten Verhaltens“ sind etwadas Fernbleiben vom Verhand-lungstermin oder der Operation,Flucht oder auch tätliche Angriffegegen Ärzte und Polizeibeamte.Zeitigte solcher „Widerstand“ zwarkeinen unmittelbaren Erfolg wie die Verhinderung der Sterilisation,so führte er in seiner reichsweitenSummation doch dazu, „die Sterili-sationspolitik um 1937 in eine Krisezu führen.“

Die lokalen Akteure des Sterili-sierungsprogrammes unterzieht derAutor im Folgenden einer einge-henden Betrachtung hinsichtlichihrer Loyalität zum NS-Regime. Erstellt fest, dass der dafür als Para-meter gewählte Organisationsgradder an den Sterilisierungen ent-weder administrativ oder operativbeteiligten Ärzte außerordentlichhoch war. So wurde etwa der von1937 bis 1944 durchgehend amtie-rende und nicht beamtete ärztlicheBeisitzer am Itzehoer „Erbgesund-heitsgericht“, Dr. Ernst Königsdorf,schon vor der „Machtergreifung“Mitglied der NSDAP und weitererNS-Organisationen und nahm aufOrts- und Kreisebene zahlreichegesundheitspolitische Ämter wahr.Auch seine drei Stellvertreter am

Sterilisationsgericht – ansonstenniedergelassene Ärzte unterschied-licher Fachrichtungen in Itzehoe –bekleideten hohe Ränge und Funk-tionen in Partei, SA und SS.

Marnau zufolge waren darüberhinaus mindestens zwei Drittel aller18 Itzehoer Ärzte an der Realisie-rung der Unfruchtbarmachungenihrer eigenen Patienten und Patien-tinnen beteiligt – als anzeigendeDenunzianten, als Richter überFortpflanzungswürdigkeit oder„Minderwertigkeit“ oder als Voll-strecker im Operationssaal.

Für die Zeit des Zweiten Welt-kriegs beschreibt Björn Marnauaußerordentlich detailliert die Be-ziehungen zwischen den Zwangs-sterilisierungen und den nationalso-zialistischen „Euthanasie“-Morden.Nachdem im August 1939 per Er-lass des Reichsinnenministeriumsdas Sterilisierungsprogramm auf dieFälle von „besonders großer Fort-pflanzungsgefahr“ eingeschränktwurde, sank auch im Kreis Stein-burg die Zahl der Sterilisierungenim Vergleich zur Vorkriegszeit deut-lich. Lediglich ein Fünftel aller Ein-griffe wurde in den Jahren des Krie-ges durchgeführt. Die aus erbbio-logischer Sicht der Eugeniker be-stehende Notwendigkeit zur Un-fruchtbarmachung psychisch Kran-ker trat nunmehr u. a. deshalb inden Hintergrund, weil auf derGrundlage des hinlänglich bekann-ten „Gnadentoderlasses“ Hitlersvom 1. September 1939 eben diesePatienten fortan Opfer sowohl

Juristen, die mittelbar oder un-mittelbar an den Planungen, Vorbe-reitungen oder Durchführungenvon Zwangssterilisationen beteiligtwaren, jemals straf- oder zivilrecht-lich belangt worden.

Trotz ihrer Überzeugungstäter-schaft – bekundet durch zahlreicheund dank dieser Studie offenkundi-ge Aktivitäten im Sinne des natio-nalsozialistischen Staates – sind diedargestellten Protagonisten des Ste-rilisationsprogramms in ihren Ent-nazifizierungsverfahren entweder indie Kategorie IV als „Mitläufer“oder gar in die Kategorie V als „ent-lastet“ eingestuft worden.

Aber nicht nur die Justiz, auchdie Politik der Bundesrepublik ar-beitete gegen die Opfer und für dieTäter. Das Gesetz, demzufolge min-destens 350.000 Menschen durchärztliche „Kunst“ verstümmelt undan Körper und Seele tiefgreifendtraumatisiert wurden, ist erst imJahre 1974 abgeschafft worden –seine Nichtigkeitserklärung stehtjedoch bis heute aus! Ebenfalls bis heute gilt das GZVEN nicht als ein nationalsozialistisches Un-rechtsgesetz; demzufolge gelten dieZwangssterilisierten auch nicht alsVerfolgte des NS-Terrorregimes.Angesichts dessen, was diesen Men-schen angetan wurde, wie BjörnMarnau eindrücklich und zugleichgeprägt von großem Respekt vorihnen zeigt, sind derartige Bewer-tungen beschämend und vollkom-men inakzeptabel!

Eckhard Heesch

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Erkenntnisse aus Provinzen

Mit diesem Band legen die Heraus-geber im Auftrag des SchleswigerInstituts für schleswig-holsteinischeZeit- und Regionalgeschichte dieErgebnisse einer wissenschaftlichenKonferenz vom November 2002vor, die aus Anlass des zehnjährigenBestehens des Instituts veranstaltetworden war. Eingeladen waren Wis-senschaftler, die sich thematischmehr oder weniger dicht am For-schungsprofil des Instituts inSchleswig-Holstein selbst oder an-deren „Regionen“ bewegen.

Der Herausgeber Karl HeinrichPohl resümierte in seinem Eröff-nungsbeitrag Die gesellschaftlicheBedeutung der regionalen Zeitge-schichte heute. Überlegungen zumzehnjährigen Jubiläum des Institutsfür schleswig-holsteinische Zeit- undRegionalgeschichte (S. 26–41) denregionalgeschichtlichen Ansatz beider Erforschung des Nationalsozia-lismus und warnte vor der Indienst-nahme für Regional-, Landes- oderStaatssolidarität. Das scheint mirnun in Anbetracht der negativenKonnotationen mit dem NS undseiner Aufarbeitung die geringsteSorge zu sein, denn die Forschungauf diesem Gebiet muss ja oft genuggegen die Wünsche der Bevölke-rungsmehrheit ihre Projekte voran-treiben und wird politisch nach wievor verunglimpft. Der aufkläreri-sche Impuls der NS-Forschung ver-bietet zusammen mit den Ressenti-ments der Bevölkerung eigentlich

eine „heimattümelnde“ Vereinnah-mung.

Mit Theoretisch-methodischenChancen und Problemen regionalge-schichtlicher Forschung zur NS-Zeitbefasst sich Claus-Christian W.Szejnman (S. 43–57). Er hebt ab aufdie nach wie vor virulente Frage-stellung: „Inwieweit und mit wel-chem Effekt variierte die Einstel-lung zum und das Verständnis vomNationalsozialismus – aber auch dieEntwicklung und der Stil der Natio-nalsozialisten – von einer Regionzur anderen?“ (S. 54). Mit der

Michael Ruck/Karl Heinrich Pohl (Hg.),Regionen im Nationalsozialismus. Bie-lefeld: Verlag für Regionalgeschichte2003. 268 S. (= IZRG-Schriftenreihe,Band 10).

Beantwortung dieser Frage kannsicher ein Generalbild für Deutsch-land nicht gezeichnet werden, weildie Regionen doch oft eine eigeneQualität besaßen; das Mosaik geltees nach wie vor zu entwerfen.

Michael Kißener beschreibt an-hand eines Projektes zur sozial-geschichtlichen Aufarbeitung derbaden-württembergischen Richter-schaft zwischen 1919 und 1952Chancen und Probleme regional-geschichtlicher Forschungen zur NS-Zeit in forschungspraktischerPerspektive (S. 58–65).

Theoretisch hochstehend – unddamit ein wenig den Rahmen desBandes sprengend – ist ThomasEtzemüllers Beitrag Die Form ‚Bio-graphie‘ als Modus der Geschichts-schreibung. Überlegungen zum The-ma Biographie und Nationalsozialis-mus (S. 71–90), die er bewusst als„erste Überlegungen“ gewertet wis-sen will. Seine Ausführungen zielengenerell auf eine Dekonstruktionherkömmlicher Biografiearbeit, dieer als extrem zeitgebunden einstuft.Er fragt nach dem „Individuum“und seiner Entstehung (wobei ihmdoch deutlich seine Herkunft alsZeithistoriker anzumerken ist, demZugänge zu älteren Zeiten ein wenigfremd sind) und nach den von neu-eren Theoretikern (Foucault/Bour-dieu/Fleck) angebotenen Lösungendes Problems der historischen Be-schreibung (u.a. von Individuen),um dann für das Verfahren dreiUntersuchungsebenen vorzuschla-gen: „1. Wollen: Intentionen, denen

man Schuld zuordnen kann. 2.Nichtsehen-Wollen: Handlungendie von den Handelnden mit Hilfeausgeklügelter Mechanismen ver-drängt wurden [...] 3. Nichtsehen-Können: Praktiken [...], die dieBeteiligten tatsächlich nicht sehenkonnten [...]“ (S. 89f.). Die letzteEbene hält Etzemüller für die wich-tigste: „Denn hier kann man beob-achten, wie von Betroffenen Hand-lungen in ein kognitives Systemeingefügt werden, so dass dieseHandlungen legitim erscheinen,während die Effekte abgespaltenund über eine intentional operie-rende Argumentation auf dezidierteNationalsozialisten abgeschobenwerden.“ (S. 90).

Von einem solchen Ansatz istder eher praktisch arbeitende Bio-grafiker Uwe Danker ziemlich weitentfernt. Mit Der schleswig-holstei-nische NSDAP-Gauleiter HinrichLohse. Überlegungen zu seiner Bio-grafie (S. 91–120) präsentiert er einweiteres Teilstück zu seinem schonlange angekündigten Werk, fragtnach der Relevanz des Themas undzeigt, in welcher Tiefe sich dieIrrungen und Wirrungen einesKleinbürgers nachvollziehen lassen.Dass Uwe Danker durchaus auchRespekt vor dem Aufsteiger hat,wird verschiedentlich deutlich.

Ganz ähnlich geht es Nils Köh-ler mit Otto Telschow – Hitlers Gau-leiter in Osthannover (S. 121–146).Telschow stieg ebenfalls aus kleinenVerhältnissen zum „Provinzfürs-ten“ – als der er sich auch stilisierte

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– auf und nutzte seine Position zupersönlicher Macht- und Vermö-gensakkumulation. Im Gegensatzzu Lohse machte er seinem Lebenbei Ergreifung durch die Engländerein Ende.

Die „Möglichkeiten eines sam-melbiografischen Ansatzes“ son-diert Sebastian Lehmann in seinemBeitrag Kreisleiter der NSDAP inSchleswig-Holstein (S. 147–156),über dem ja ein wenig der Schattendes tragischen Endes Detlef Kortesliegt, der an genau diesem Projektarbeitete, jedoch keine Resultatemehr vorlegen konnte. Auf die Er-gebnisse der Untersuchung darfman gespannt sein.

Sie werden sich unter andereman der von Werner Stelbrink durch-geführten Untersuchung zu Westfa-len zu messen haben, über die die-ser unter dem Titel Die Kreisleiterder NSDAP in den beiden westfäli-schen Parteigauen“ (S. 157–187)berichtete. Stelbrink macht deut-lich, dass es sich bei den Kreislei-tern durchaus nicht um „gescheiter-te Existenzen“ handelte, sondernzumeist um anerkannte Männer, diezum größten Teil nach dem Krieg –wenngleich ohne weitere politischeBetätigung – in ihren Heimatre-gionen verblieben und reintegriertwurden.

Beate Meyer beschreibt mitHans Weinert, (Rasse)Anthropologean der Universität Kiel von 1935 bis1955 (S. 193–203) einen mediokrenFachwissenschaftler, dem es gelang,stets „oben“ zu bleiben, obwohl er

sich eindeutig in den Dienst desNationalsozialismus gestellt hatte.

Kontinuierlicher Wandel. Archi-tekten in Schleswig-Holstein zwi-schen 1925 und 1955 überschreibtUlrich Höhns seinen Beitrag (S.204–218), in dem er fünf Beispiel-fälle dokumentiert, von denen erdurchweg sagen kann, dass dieseArchitekten „in den 1920er undfrühen 1930er Jahren wichtige unddurchaus gegen den Zeitgeschmackgerichtete Beiträge zur Baukulturdes Landes geliefert“ haben, dassihnen daraus jedoch in der NS-Zeitkeine Nachteile erwuchsen: „Siewurden als Angehörige eines tech-nisch orientierten, unpolitischenBerufsstandes wahrgenommen, alsDienstleister, die jede Gesellschaftbenötigt.“ (S. 218).

Die beiden abschließenden Bei-träge beschäftigen sich mit Projek-ten aus anderen Regionen. KatrinMinner zeigt in Zwischen Aufbruchund bürgerlicher Prägung. Ortsju-biläen in Sachsen-Anhalt und West-falen im Nationalsozialismus (S.219–233), dass sich überkommeneFormen von Jubiläumsveranstaltun-gen auch im NS hielten und keinradikaler Schnitt vorgenommenwurde; der Gestaltungsspielraumder Bevölkerung und die gemein-schaftsstiftende Wirkung der Festestanden im Vordergrund. Ein totali-tärer Zugriff fand – anders als beiden Maifeiern – nicht statt. Aller-dings wurden die Feste ganz im Sinne des NS-Geschichtsbildes vonden Agierenden ausgeführt.

Ralph Trost schildert LokaleVereinskultur am Niederrhein vomKaiserreich bis zur NS-Zeit – das Bei-spiel Xanten (S. 234–260). Ihn inte-ressieren Kontinuitäten, die beacht-lich sind. Noch am schwersteninstrumentalisieren ließen sich kon-fessionell geprägte Organisationen,die insbesondere im Kirchenkampf1934–1937 eine anti-nationalsozia-listische Haltung zeigten. Ansons-ten wurden ehemalige Nationalso-zialisten nach 1945 schnell wiederin die Vereine integriert.

Ob es der zusammenfassendenKommentare von Dirk Stegmann(S. 66–69), Frank Bajohr (S. 188–192) und Karl Ditt (S. 260–264)bedurfte, wage ich zu bezweifeln,zumal sie nicht viel mehr als dieKurzzusammenfassungen der Bei-träge enthalten, ohne weitere Per-spektiven anzudeuten.

Der recht gut redigierte undansprechend gestaltete Band derIZRG-Schriftenreihe kann für denVergleich der Regionen des Deut-schen Reiches vor, während undnach dem Nationalsozialismus neueImpulse geben. Es bedürfte aller-dings einer flächendeckenden Zu-sammenfassung der Resultate vonregionalhistorischen Forschungen,um ein differenziertes Bild derWirksamkeit und Akzeptanz desNS zu erhalten.

Dass dies eine fortwährendeAufgabe ist, die angesichts neuerhistorischer Fragestellungen nichtzu einem Abschluss kommen kann,wird auch an diesem Band deutlich.Auch für die schleswig-holsteini-sche Forschung gibt er einige neueAnregungen, die zu verfolgen seinwerden.

Klaus-J. Lorenzen-Schmidt