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Bei den Wahlen in einem nicht genannten demokratischen Landgeben über 70% der Wähler leere Stimmzettel ab. Die

Regierenden sind verwundert, schließlich gab es vorher keineAnzeichen größerer Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Alsdaraufhin erneut Wahlen angesetzt werden, fällt das Ergebnis

noch schlechter aus. Der Premierminister wittert einen Angriffauf die Demokratie – und verhängt den Ausnahmezustand: Die

Grundrechte werden aufgehoben, Versammlungen verboten,und man hört von willkürlichen Verhaftungen. Bald artet die

»Krisenbekämpfung« in eine regelrechte Diktatur aus, dieunausweichlich der Katastrophe entgegensteuert …

José Saramago, geboren am 16. November 1922 in Azinhagain der portugiesischen Provinz Ribatejo, entstammt einerLandarbeiterfamilie. Nach dem Besuch des Gymnasiums

arbeitete er als Maschinenschlosser, technischer Zeichner undAngestellter. Später war er Mitarbeiter eines Verlags und

Journalist bei verschiedenen Lissabonner Tageszeitungen. Seit1966 widmete er sich verstärkt der Schriftstellerei. Der

Romancier, Erzähler, Lyriker, Dramatiker und Essayist erhielt1998 den Nobelpreis für Literatur. José Saramago verstarb am

18. Juni 2010 auf Lanzarote.

José Saramago bei btbDie Reise des Elefanten. Roman (74287)

Kain. Roman (74286)Der Doppelgänger. Roman (74531)

Das Zentrum. Roman (74530)

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José Saramago

DiE STADT DERSEhENDEN

Roman

Aus dem Portugiesischenvon Marianne Gareis

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Verlagsgruppe Random house fSc® N001967Das für dieses Buch verwendete fSc®-zertifizierte

Papier Lux Cream liefert Stora Enso, finnland.

1. AuflageGenehmigte Taschenbuchausgabe April 2015

btb Verlag in der Verlagsgruppe Random house Gmbh, Münchencopyright © 2004 by the Estate of José Saramago, Lisboa

copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 beihoffmann und campe Verlag, hamburg

By arrangement with Literarische Agentur Mertin,inh. Nicole Witt e.K., frankfurt am Main, Germany

Erstmals auf Deutsch erschienen 2006 im Rowohlt VerlagUmschlaggestaltung: semper smile, MünchenUmschlagmotiv: © plainpicture / Millennium

Druck und Einband: cPi – clausen & Bosse, LeckMP · herstellung: scPrinted in Germany

iSBN 978-3-442-74528-9

www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

Besuchen Sie auch unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de!

Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem TitelEnsaio sobre a lucidez im Verlag Editorial caminho, SA,

Lissabon.

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Für Pilar, alle TageFür Manuel Vázquez Montalbán,

der weiterlebt

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Lasst uns heulen, sagte der Hund.Buch der Stimmen

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Schlechtes Wetter zum Wählen, schimpfte der Vorsteher desWahllokals Nummer vierzehn, klappte ungestüm den klatsch-nassen Schirm zu und zog den Regenmantel aus, der ihm we-nig genützt hatte auf seinem atemlosen Spurt vom Auto bis zurTür, durch die er gerade mit hängender Zunge eingetreten war.Ich hoffe, ich bin nicht der Letzte, sagte er zum Schriftführer,der ihn aus sicherer Entfernung begrüßte, um sich vor den Was-sermassen zu schützen, die, vom Wind hereingepeitscht, denBoden überschwemmten. Ihr Stellvertreter fehlt noch, aber wirhaben Zeit, beruhigte ihn der Schriftführer, Bei diesem Regengrenzt es wirklich an ein Wunder, wenn wir hier alle heil an-kommen, sagte der Wahlvorsteher auf dem Weg in den Raum,in dem die Wahl stattfinden sollte. Zunächst begrüßte er dieKollegen am Tisch, die als Wahlhelfer fungieren würden, da-nach die Parteienvertreter und ihre jeweiligen Stellvertreter. Erbemühte sich, alle gleich zu behandeln und weder durch seineMimik noch durch seinen Tonfall die eigenen politischen undideologischen Neigungen preiszugeben. Ein Wahlvorsteher,selbst der eines so unbedeutenden Wahllokals, muss in jeder Si-tuation strengste Neutralität oder zumindest den Schein wah-ren.

Neben der Feuchtigkeit, die die ohnehin stickige Luft indem nach innen gelegenen Raum mit den zwei schmalen, aufeinen selbst an sonnigen Tagen dunklen Innenhof blickenden

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Fenstern noch drückender machte, war es die Unruhe, die dazuführte, dass die Luft im wahrsten Sinne des Wortes zumSchneiden war. Man hätte die Wahl verschieben sollen, sagteder Vertreter der Partei der Mitte, der PDM, seit gestern regnetes ununterbrochen, überall gibt es Überschwemmungen undErdrutsche, die Zahl der Nichtwähler wird diesmal drastisch an-steigen. Der Vertreter der Partei der Rechten, der PDR, nicktezustimmend, meinte jedoch, sich mit einem behutsamen Kom-mentar ebenfalls in das Gespräch einbringen zu müssen, Ichwill dieses Risiko natürlich keineswegs herunterspielen, den-noch glaube ich, dass der bei so zahlreichen Gelegenheiten be-wiesene Gemeinsinn unserer Mitbürger unser volles Vertrauenverdient, zumal sie sich der außerordentlichen Bedeutung die-ser Kommunalwahlen für die Zukunft unserer Hauptstadt be-wusst sind, jawohl, sehr bewusst. Nach diesem Ausspruchwandten sich die Vertreter von PDM und PDR, beide mit halbskeptischem, halb ironischem Gesichtsausdruck dem Vertreterder Partei der Linken, der PDL, zu, gespannt, was für eine An-sicht dieser wohl vertreten werde. Just in diesem Augenblickplatzte jedoch, nach allen Seiten Wasser verspritzend, der stell-vertretende Wahlvorsteher zur Tür herein und wurde erwar-tungsgemäß, schließlich war die Wahlmannschaft nun kom-plett, überaus herzlich, ja, begeistert begrüßt. Dadurch ist unsder Standpunkt des PDL-Vertreters entgangen, doch aufgrundfrüherer Erfahrungen können wir vermuten, dass er sich aufjeden Fall im Sinne eines klaren historischen Optimismus ge-äußert hätte, wie etwa, Die Wähler meiner Partei lassen sichnicht so leicht abschrecken, gehören nicht zu denen, die wegenvier lächerlicher Wassertropfen zu Hause bleiben. In Wahrheitwaren es jedoch keine vier lächerlichen Wassertropfen, sondernEimer und Krüge voll, es waren ganze Nile, Iguazus und Jang-

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tses, doch der Glaube, gesegnet sei er für alle Zeit, lässt jene, dieihn haben, nicht nur Berge versetzen, sondern auch trockenenFußes aus reißenden Strömen hervorgehen.

Sie setzten sich an den Tisch des Wahlvorstands, jeder anseinen Platz, der Wahlvorsteher unterschrieb die Wahlbekannt-machung und trug dem Schriftführer auf, sie wie gesetzlichvorgeschrieben an der Eingangstür anzubringen, doch der An-gesprochene gab, praktischen Sachverstand beweisend, zu be-denken, dass das Papier dort keine Minute halten werde, nachzwei Sekunden wäre bereits die Tinte verlaufen und nach dreihätte der Wind es abgerissen. Dann hängen Sie es eben drin-nen auf, wo der Regen nicht hinkommt, das Gesetz hat sich indieser Hinsicht nicht festgelegt, wichtig ist nur, dass der Aus-hang für alle sichtbar angebracht wird. Er fragte in die Runde,ob alle einverstanden seien, was bejaht wurde, nur der Vertreterder PDR forderte zur Vorbeugung späterer Anfechtungen, dieEntscheidung in der Akte zu vermerken. Als der Schriftführervon seiner feuchten Mission zurückkehrte, fragte der Wahlvor-steher, was das Wetter mache, worauf dieser achselzuckend ant-wortete, Nichts Neues an der Wetterfront, Irgendwelche Wäh-ler in Sicht, Kein einziger weit und breit. Der Wahlvorstehererhob sich und forderte Wahlvorstand und Parteienvertreterauf, mit ihm die Wahlkabine zu inspizieren, die sich als freivon Elementen, welche die Makellosigkeit der an diesem Tagstattfindenden Wahlen hätten beeinträchtigen können, erwies.Nach diesem förmlichen Ritual kehrten sie an ihre Plätze zu-rück, um das Wählerverzeichnis zu kontrollieren, das seiner-seits keinerlei Unregelmäßigkeiten, Lücken oder Verdachtsmo-mente aufwies. Jetzt war der gewichtige Augenblick gekommen,da der Wahlvorsteher den Deckel der Urne abnimmt und denWählern zeigt, dass sie leer ist, damit diese später nötigenfalls

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bezeugen können, dass nicht zu nächtlicher Stunde irgendwel-che illegalen Handlungen stattgefunden haben, falsche Stimm-zettel abgegeben wurden, die den freien und souveränen poli-tischen Willen der Bürger unterlaufen könnten, und dass sichan diesem Ort nicht jener historische Wahlbetrug wiederholt,dem man den malerischen Namen Hütchenfüllen gegeben hatund der, das dürfen wir nicht vergessen, sowohl vor als auchwährend oder nach einer Wahl stattfinden kann, je nach Gele-genheit und Geschick seiner Betreiber. Die Urne war leer, reinund unbefleckt, doch gab es im ganzen Saal keinen Wähler,keinen einzigen Vorzeigewähler, dem man sie hätte vorführenkönnen. Vielleicht irrt ja doch einer draußen herum, kämpftgegen die Wassermassen an, stellt sich dem peitschendenWind, das Dokument, das ihn als wahlberechtigten Bürger aus-weist, fest ans Herz gepresst, aber so, wie der Himmel aussieht,kann es noch lange dauern, bis er hier ankommt, falls er nichtgar lieber nach Hause zurückkehrt und die Geschicke der Stadtdenen überlässt, die in einer schwarzen Limousine zum Wahl-lokal befördert und dort auch wieder abgeholt werden, wenndie Bürgerpflicht des im Fond Sitzenden erfüllt ist.

Nach erfolgten Prüfungen, so schreibt das Gesetz dieses Lan-des vor, wählen der Wahlvorsteher, die Wahlhelfer und die Par-teienvertreter sowie deren jeweilige Stellvertreter, vorausgesetztnatürlich, sie sind für das Wahllokal, in dem sie am Tisch desWahlvorstands sitzen, eingetragen, was hier der Fall ist. Ob-wohl sie nach Kräften Zeit zu schinden versuchten, dauerte esnur vier Minuten, bis die Urne ihre ersten elf Stimmen in Emp-fang nahm. Und das Warten, das unvermeidliche Warten be-gann. Es war noch keine halbe Stunde vergangen, da schlug derunruhig gewordene Wahlvorsteher einem der Wahlhelfer vor,doch einmal nachzusehen, ob nicht doch jemand käme, viel-

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leicht seien ja bereits Wähler aufgetaucht und schimpfend wie-der gegangen, weil sie eine vom Wind verschlossene Tür vorge-funden hatten, Man hätte ja wenigstens so freundlich sein kön-nen, die Bevölkerung davon in Kenntnis zu setzen, dass dieWahl verschoben wurde, über Radio oder Fernsehen, für derleiInformationen sind sie schließlich da. Der Schriftführer sagte,Wir wissen doch alle, dass eine Tür, die der Wind zuschlägt,einen Höllenlärm macht, und hier war nichts zu hören. DerWahlhelfer zögerte, Geh ich oder geh ich nicht, doch der Wahl-vorsteher insistierte, Gehen Sie schon, tun Sie mir den Gefal-len, und seien Sie vorsichtig, machen Sie sich nicht nass. DieTür stand offen, der Bremsklotz saß ganz fest. Der Wahlhelferstreckte den Kopf hinaus, einen Augenblick nur, sah kurz in dieeine, dann in die andere Richtung und zog ihn tropfnass, alshätte er ihn unter die Dusche gehalten, wieder ein. Er wollteein guter Wahlhelfer sein, es seinem Vorgesetzten recht ma-chen, und da er zum ersten Mal zu dieser Aufgabe herangezo-gen worden war, wollte er für seine Schnelligkeit und Effizienzbelobigt werden, wer weiß, vielleicht käme ja einmal, wenn ermehr Erfahrung hätte, der Tag, an dem er selbst einem Wahl-lokal vorstand, es soll schon höhere Flüge am Zukunftshimmelgegeben haben, wundern tut das keinen mehr. Als er in denSaal zurückkam, rief der Wahlvorsteher halb bekümmert, halbbelustigt aus, Aber mein Lieber, so nass hätten Sie sich dochnicht machen müssen, Halb so wild, Herr Wahlvorsteher, sagteder Wahlhelfer und fuhr sich mit dem Ärmel seiner Jacke übersKinn, Haben Sie jemanden entdeckt, So weit meine Augenreichten, war niemand zu sehen, die Straße ist eine einzigeWasserwüste. Der Wahlvorsteher stand auf, spazierte unent-schlossen vor dem Tisch auf und ab, trat an die Wahlkabine,blickte hinein und kam wieder zurück. Der PDM-Vertreter er-

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griff das Wort, um erneut zu bemerken, dass die Zahl derNichtwähler drastisch ansteigen würde, der PDR-Vertreterschlug abermals einen beschwichtigenden Tonfall an, die Wäh-ler hätten doch den ganzen Tag Zeit zum Wählen, bestimmtwarteten sie nur, bis das Unwetter sich legte. Nur der PDL-Ver-treter zog es vor zu schweigen, er dachte daran, wie er sich bla-miert hätte, wäre ihm in dem Moment, als der stellvertretendeWahlvorsteher den Saal betrat, tatsächlich dieser Kommentarherausgerutscht, Von vier lächerlichen Wassertropfen lassensich die Wähler meiner Partei doch nicht abschrecken. DerSchriftführer, den nun alle erwartungsvoll anblickten, ent-schied sich für einen praktischen Vorschlag, Es wäre vielleichtkeine schlechte Idee, mal beim Ministerium anzurufen undnachzufragen, wie denn die Wahl sonst verläuft, hier in derStadt und auch in anderen Regionen, so erführen wir, ob diesepatriotische Kurzschlussreaktion allgemeiner Natur ist oder obwir die Einzigen sind, die die Wähler nicht mit ihrer Stimmab-gabe beehrt haben. Da erhob sich der PDR-Vertreter, Als Ver-treter der Partei der Rechten möchte ich aufs Energischste ge-gen diese respektlose Wortwahl und den unzulässig spöttischenTonfall protestieren, in dem sich der Herr Schriftführer soebenüber unsere Wähler geäußert hat, und dies auch im Protokollvermerkt wissen, denn die Wähler sind die größten Stützen derDemokratie, ohne sie hätte längst die Tyrannei, eine der vielen,die es auf dieser Welt gibt, von der Heimat, die wir unser Eigennennen, Besitz ergriffen. Der Schriftführer fragte achselzu-ckend, Soll ich den Antrag des Herrn Vertreters der PDR auf-nehmen, Herr Wahlvorsteher, Ich glaube, das wird nicht nötigsein, wir sind einfach alle nervös, betroffen, verwirrt, und be-kanntermaßen sagen wir, wenn wir in einer solchen Gemüts-verfassung sind, leicht etwas, das wir gar nicht so meinen, ich

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bin mir sicher, der Herr Schriftführer wollte niemanden belei-digen, ist er doch selbst ein verantwortungsbewusster Wähler,was sich allein darin zeigt, dass er wie wir alle diesem Unwettergetrotzt hat und gekommen ist, seine Pflicht zu tun, dennochhindert mich diese aufrichtige Anerkennung nicht daran, denHerrn Schriftführer zu ersuchen, sich streng auf die Erfüllungder ihm übertragenen Aufgabe zu konzentrieren und Kom-mentare, die persönliche oder politische Empfindlichkeiten an-wesender Personen verletzen könnten, zu unterlassen. DerPDR-Vertreter reagierte mit einer wegwerfenden Handbewe-gung, die der Wahlvorsteher wohlwollend als Zustimmung in-terpretierte, wodurch sich der Konflikt nicht ausweitete, was inhohem Maße auch dem PDM-Vertreter zu verdanken war, derauf den Vorschlag des Schriftführers zurückkam, Eigentlichsind wir hier so etwas wie Schiffbrüchige im Ozean, ohne Segelund Kompass, ohne Mast und Ruder und ohne Treibstoff imTank, Sie haben vollkommen Recht, sagte der Wahlvorsteher,ich werde im Ministerium anrufen. Auf dem Nebentisch standein Telefon, und dorthin begab er sich nun, das Blatt mit denvor einigen Tagen erhaltenen Instruktionen in der Hand, dieneben vielen nützlichen Hinweisen auch die Telefonnummerndes Innenministeriums enthielten.

Das Gespräch dauerte nicht lange, Hier spricht der Wahlvor-steher des Wahllokals Nummer vierzehn, ich bin sehr beunru-higt, hier tut sich etwas höchst Merkwürdiges, bis zum gegen-wärtigen Zeitpunkt ist noch kein einziger Wähler erschienen,obwohl wir seit über einer Stunde geöffnet haben, keine Men-schenseele hat sich blicken lassen, ja natürlich, das Unwetterwill kein Ende nehmen, Regen, Wind, Überschwemmungen, janatürlich harren wir hier standhaft und geduldig aus, deshalbsind wir ja gekommen, das ist doch selbstverständlich. Von da

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an trug der Wahlvorsteher nur noch mit mehrmaligem Kopf-nicken, ein paar unterdrückten Ausrufen und drei oder vier an-gefangenen und nicht beendeten Sätzen zu dem Gespräch bei.Als er den Hörer auflegte, blickte er seine Tischkollegen an,doch in Wirklichkeit sah er sie gar nicht, es war, als hätte er einBild mit lauter leeren Sälen vor Augen, mit unberührten Wäh-lerverzeichnissen, wartenden Wahlvorstehern und Schriftfüh-rern, Parteienvertretern, die sich misstrauisch beäugten undausrechneten, wem wohl die Situation zum Vorteil und wemzum Nachteil gereichte, und im Hintergrund ein durchnässter,diensteifriger Wahlhelfer, der gerade von der Eingangstür zu-rückkommt und verkündet, es sei niemand in Sicht. Was hatdas Innenministerium gesagt, fragte der PDM-Vertreter, Siewissen auch nicht, was sie davon halten sollen, natürlich blei-ben bei dem schlechten Wetter viele zu Hause, aber dafür, dassüberall in der Stadt praktisch das Gleiche passiert wie hier, ha-ben sie keine Erklärung, Warum sagen Sie praktisch, fragte derPDR-Vertreter, In einigen Wahllokalen, allerdings nur in ganzwenigen, sind Wähler erschienen, aber der Zulauf ist äußerstgering, so etwas hat es noch nie gegeben, Und im übrigenLand, fragte der Vertreter der Linken, es regnet doch nicht nurin der Hauptstadt, Das ist ja das Beunruhigende, an manchenOrten regnet es genauso stark wie hier, und trotzdem gehen dieMenschen wählen, natürlich sind es in Gegenden, wo schönesWetter herrscht, mehr, und wenn wir schon beim Thema sind,es heißt, der Wetterbericht hat eine Besserung für den spätenVormittag vorausgesagt, Trotzdem kann es auch noch schlim-mer kommen, denken Sie nur an das Sprichwort, Am Mittagzieht’s sich zu, oder es klart auf, warf der zweite Wahlhelfer ein,der bis dahin noch nicht den Mund aufgemacht hatte. Eswurde still. Da fasste der Schriftführer in die Außentasche sei-

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nes Jacketts, holte ein Mobiltelefon heraus und wählte eineNummer. Während er auf die Verbindung wartete, sagte er, Dasist ungefähr so wie die Geschichte vom Berg und dem Prophe-ten, da wir die Wähler, die wir nicht kennen, nicht fragen kön-nen, warum sie nicht wählen kommen, fragen wir eben die Fa-milienangehörigen, die wir kennen, Hallo, Liebes, ich bin’s, dubist also zu Hause, warum bist du noch nicht wählen gekom-men, dass es regnet, weiß ich wohl, meine Hosenbeine sind im-mer noch nass, ja, das stimmt, entschuldige, ich habe verges-sen, dass du mir gesagt hast, du würdest nach dem Mittagessenkommen, natürlich, ich ruf dich an, weil das hier ganz schönvertrackt ist, wenn ich dir sage, dass bisher kein einziger Wählererschienen ist, um seine Stimme abzugeben, dann glaubst dumir womöglich gar nicht, ist gut, dann warte ich hier auf dich,Küsschen. Er legte auf und bemerkte süffisant, Zumindest eineStimme ist gesichert, meine Frau kommt heute Nachmittag.Der Wahlvorsteher und die übrigen Mitglieder des Wahlvor-stands sahen einander an, es war klar, dass sie dem Beispiel fol-gen mussten, doch keiner von ihnen wollte der Erste sein, denndamit hätten sie indirekt zugegeben, dass der Schriftführer hin-sichtlich Einfallsreichtum und Beherztheit in diesem Wahllo-kal den Sieg davongetragen hatte. Dem Wahlhelfer, der zur Türgegangen war, um nachzusehen, ob es noch regnete, fiel dieEinsicht nicht schwer, dass er noch viel lernen musste, um aneinen Schriftführer wie diesen hier heranzureichen, der mit dergrößten Selbstverständlichkeit der Welt einem Mobiltelefoneine Stimme abringt, so wie ein Zauberkünstler ein Kaninchenaus dem Hut zaubert. Als er sah, dass der Wahlvorsteher sich ineine Ecke zurückgezogen hatte und mit seinem Mobiltelefonzu Hause anrief und dass die anderen es ihm in diskretem Flüs-terton mit wiederum eigenen Telefonen gleichtaten, würdigte

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der Wahlhelfer von der Tür insgeheim den Anstand seiner Kol-legen, nicht die dort installierten, für den offiziellen Gebrauchbestimmten Festnetzapparate zu benutzen und somit demStaat Geld zu sparen. Der Einzige, der, da er kein Mobiltelefonbesaß, wohl oder übel darauf warten musste, was die anderenerzählten, war der PDL-Vertreter, wobei noch hinzugefügt wer-den muss, dass der arme Mann allein in der Hauptstadtwohnte, seine Familie hingegen auf dem Land, und er daherniemanden hatte, den er hätte anrufen können. Eins nach demanderen wurden die Gespräche beendet, am längsten dauertdas des Wahlvorstehers, der offensichtlich die Person, mit derer spricht, zwingen will, auf der Stelle zu kommen, was soll dasnoch werden, eigentlich hätte ja er als Erster anrufen müssen,doch da der Schriftführer ihm nun einmal zuvorgekommen ist,sei es auch recht, schließlich haben wir bereits gesehen, dassdieser zum Schlag der forschen Menschen zählt, hätte er dieHierarchie gewahrt, so wie wir das tun, hätte er die Idee einfachan seinen Vorgesetzten weitergegeben. Der Brust des Wahlvor-stehers entrang sich ein tiefer Seufzer, er steckte das Telefon einund fragte, Nun, haben Sie etwas erfahren. Die Frage war nichtnur überflüssig, sondern auch, wie sollen wir sagen, ein kleinbisschen unfair, erstens, weil man, so wie das Wort Erfahren zuverstehen ist, immer etwas erfährt, selbst wenn es uns nichtsnützt, und zweitens, weil der Fragende eindeutig seine Amtsau-torität missbrauchte, um von seiner eigenen Pflicht, nämlichhöchstpersönlich den Informationsaustausch einzuleiten, ab-zulenken. Wenn wir also diesen Seufzer und den forderndenNachdruck, den wir zu einem bestimmten Zeitpunkt aus demTelefongespräch herauszuhören meinten, noch nicht vergessenhaben, müssen wir folgerichtig annehmen, dass das Gesprächmit der betreffenden Person, vermutlich einem Familienmit-

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glied, nicht so angenehm und ergebnisreich verlaufen ist, wie esseinem berechtigten Staatsbürger- und Wahlvorsteherinteressegebührte, und dass er sich nun, da er nicht die Nerven hat, aufdie Schnelle etwas zu erfinden, aus der Affäre zieht, indem erseine Untergebenen auffordert, sich zu äußern, was, wie wirebenfalls wissen, eine andere, moderne Art ist, den Chef zuspielen. Die Wahlvorstandsmitglieder und Parteienvertreter,mit Ausnahme des Vertreters der PDL, der in Ermangelungeigener Neuigkeiten nur zuhörte, erklärten, dass ihre Familien-angehörigen keine Lust hätten, nass zu werden, und lieber dar-auf warteten, dass der Himmel endlich aufklarte und das Volkzum Wählen animierte, oder dass sie, wie die Frau des Schrift-führers, ohnehin vorgehabt hätten, am Nachmittag wählen zugehen. Der Wahlhelfer von der Tür wirkte als Einziger zufrie-den, man sah seinem gefälligen Gesichtsausdruck an, dass erauf seine Verdienste stolz sein konnte, was in Worte übersetztFolgendes ergab, Bei mir hat niemand abgenommen, und daskann nur bedeuten, dass sie bereits unterwegs sind. Der Wahl-vorsteher setzte sich auf seinen Platz, und das Warten begannvon neuem.

Eine knappe Stunde darauf erschien endlich der erste Wäh-ler. Entgegen der allgemeinen Erwartung und zum Bedauerndes Wahlhelfers von der Tür war es ein Unbekannter. Er stellteden triefnassen Regenschirm am Eingang ab und trat, miteinem nass glänzenden Plastikregencape und Gummistiefelnbekleidet, an den Tisch. Mit einem Lächeln auf den Lippenhatte der Wahlvorsteher sich erhoben, dieser Wähler, ein Mannin fortgeschrittenem Alter, indes noch rüstig, kündigte dieRückkehr zur Normalität an, zur üblichen Schlange pflichtbe-wusster Bürger, die langsam und ohne Ungeduld vorwärtsschritten und sich der außerordentlichen Bedeutung dieser

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Kommunalwahlen bewusst waren, wie der PDR-Vertreter esausgedrückt hatte. Der Mann reichte dem Wahlvorsteher sei-nen Personal- und Wählerausweis, dieser las mit zitternder, re-gelrecht glücklicher Stimme Ausweisnummer und Name desBesitzers vor, die für das Ankreuzen zuständigen Wahlhelferblätterten die Wählerverzeichnisse durch, wiederholten, als siesie gefunden hatten, Namen und Nummer und machten ihrKreuz, anschließend ging der Mann, noch immer triefend, mitseinem Stimmzettel in die Wahlkabine, kam kurz darauf mitdem doppelt gefalteten Zettel wieder, reichte ihn dem Wahl-vorsteher, der ihn mit feierlicher Miene in die Urne steckte, derMann erhielt seine Papiere zurück und ging hinaus, den Re-genschirm in der Hand. Der zweite Wähler tauchte erst zehnMinuten später auf, doch von da an fielen die Stimmzettel re-gelmäßig, wenngleich tröpfchenweise und ohne große Begeis-terung in die Urne, wie Herbstblätter, die sich nur langsam vonden Zweigen lösen. Sosehr der Wahlvorsteher und die Wahl-helfer auch die einzelnen Schritte der Wahl in die Länge zogen,es wollte sich einfach keine Schlange bilden, es waren höchs-tens drei bis vier Personen, die anstehen mussten, und aus dreibis vier Personen lässt sich, sosehr diese sich auch anstrengen,nie im Leben eine Schlange bilden, die diesen Namen auch ver-dient. Ich hatte doch Recht, bemerkte der PDM-Vertreter, dieZahl der Nichtwähler wird immens sein, absolut extrem, unddanach wird es nur Uneinigkeit geben, die einzige Lösung wirdsein, die Wahl zu wiederholen, Vielleicht lässt der Sturm janach, sagte der Wahlvorsteher mit Blick auf die Uhr und mur-melte, als wollte er beten, Es ist fast zwölf. Entschlossen standder, dem wir den Namen Wahlhelfer von der Tür gegeben ha-ben, auf, Wenn Sie gestatten, Herr Wahlvorsteher, sehe ich malnach dem Wetter, jetzt, wo wir niemanden zum Wählen hier

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haben. Es dauerte nur einen Augenblick, mit dem linken Fußwar er losgegangen, mit dem rechten wieder zurückgekehrt,und glücklich verkündete er die gute Nachricht, Es regnet kaumnoch, und der Himmel klart schon ein wenig auf. Es fehltenicht viel, und Wahlvorstand und Parteienvertreter hätten ineiner Umarmung zusammengefunden, doch die Freude warnur von kurzer Dauer. An dem gleichförmigen, tröpfelndenEintreffen der Wähler änderte sich nichts, es kam einer, es ka-men zwei, es kamen die Frau, die Mutter und eine Tante desWahlhelfers von der Tür, es kam der ältere Bruder des PDR-Ver-treters, es kam die Schwiegermutter des Wahlvorstehers, dieihren niedergeschlagenen Schwiegersohn ohne den gebühren-den Respekt gegenüber der Wahlhandlung wissen ließ, dassihre Tochter erst gegen Abend käme, Sie will vielleicht noch insKino, fügte sie unbarmherzig hinzu, es kamen die Eltern desstellvertretenden Wahlvorstehers, es kamen andere, nicht zudiesen Familien zählende Personen, gleichgültig kamen sie her-ein, gleichgültig gingen sie wieder hinaus, die Stimmung hobsich erst, als zwei PDR-Politiker und wenige Minuten spätereiner der PDM erschienen und zur allgemeinen Freude auchnoch eine Fernsehkamera aus dem Nichts auftauchte und spä-ter ins Nichts zurückkehrte, ein Journalist bat, eine Frage stel-len zu dürfen, Wie läuft die Wahl, und der Wahlvorsteher ant-wortete, Es könnte besser laufen, aber jetzt, da sich das Wetteroffensichtlich bessert, wird der Wählerzustrom sicherlich zu-nehmen, Wir haben in den übrigen Wahllokalen der Stadt denEindruck gewonnen, dass die Wahlbeteiligung diesmal sehr ge-ring ausfallen wird, bemerkte der Journalist, Ich sehe die Dingelieber optimistisch, verlasse mich auf den positiven Einfluss desWetters auf das Wählerverhalten, es braucht nur am Nachmit-tag nicht zu regnen, und schon haben wir das, was der Sturm

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uns heute Morgen zu rauben versucht hat, wieder aufgeholt.Der Journalist zog zufrieden von dannen, der Ausspruch warhübsch gewesen und würde zumindest den Untertitel für eineReportage abgeben. Und da es an der Zeit war, dem Magen et-was Gutes zu tun, teilten sich Wahlvorstand und Parteienver-treter in Schichten ein, um an Ort und Stelle, ein Auge auf dasWählerverzeichnis, das andere auf das Sandwich gerichtet, zuMittag zu essen.

Es hatte aufgehört zu regnen, doch nichts deutete daraufhin, dass die patriotischen Hoffnungen des Wahlvorstehers aufeine volle Urne in Erfüllung gehen würden, bedeckten dochderzeit die Stimmzettel kaum deren Boden. Alle Anwesendendachten das Gleiche, nämlich dass die Wahl bereits ein riesigerpolitischer Misserfolg war. Die Zeit verging. Die Turmuhr hattegerade halb vier geschlagen, als die Frau des Schriftführers zumWählen kam. Ehemann und Ehefrau lächelten sich diskret,doch auch irgendwie verschwörerisch zu, ein Lächeln, das demWahlvorsteher einen Stich versetzte, vielleicht war es dieschmerzliche Erkenntnis, dass er niemals an einem solchen Lä-cheln teilhaben würde. Mit irgendeiner Faser seines Körpers, inirgendeinem Winkel seines Geistes schmerzte es ihn immernoch, als er dreißig Minuten später auf die Uhr sah und sichfragte, ob seine Frau wohl tatsächlich ins Kino gegangen sei.Bestimmt taucht sie erst in allerletzter Minute auf, wenn über-haupt, dachte er. Es gibt viele Arten, das Schicksal zu beschwö-ren, und fast alle sind müßig, doch diese hier, eine der gängigs-ten, nämlich vorsätzlich das Schlimmste anzunehmen in derHoffnung, dass das Beste eintrifft, könnte ein ernst zu nehmen-der Versuch sein, nur wird er im vorliegenden Fall nicht zumErfolg führen, da wir aus äußerst zuverlässiger Quelle wissen,dass die Frau des Wahlvorstehers tatsächlich ins Kino gegangen

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ist und sich zumindest bis jetzt noch nicht sicher ist, ob sieüberhaupt wählen geht. Glücklicherweise bestimmt das bereitsfrüher erwähnte Gleichgewichtsstreben, welches das Univer-sum in den Fugen und die Planeten in den Bahnen hält, dass,wann immer auf der einen Seite etwas weggenommen wird, aufder anderen etwas in Menge, Qualität und Größe annäherndEntsprechendes hinzugefügt wird, und das möglicherweise, da-mit die Beschwerden über Ungleichbehandlung nicht über-hand nehmen. Sonst würde man auch nicht verstehen, weshalbum vier Uhr nachmittags, zu einer Zeit, die nicht früh undnicht spät, nicht Fisch und nicht Fleisch ist, die Wähler, die bisdahin lieber in ihrem stillen Zuhause geblieben waren und dieWahl offen zu ignorieren schienen, plötzlich auf die Straße gin-gen, die meisten von ihnen eigenständig, andere mit der ver-dienstvollen Hilfe von Feuerwehrleuten und Freiwilligen, daihre Wohnorte noch überschwemmt und unbegehbar waren,und alle, alle, die Gesunden wie die Kranken, Erstere eigenstän-dig, Letztere in Rollstühlen, auf Tragen oder in Krankenwagen,wie Flüsse, die einzig den Weg zum Meer kennen, zu ihren je-weiligen Wahllokalen strömten. Die skeptischen oder auch nurmisstrauischen Geister, jene, die nur an Wunder glauben, ausdenen sie irgendwie Profit schlagen können, werden den Ein-druck gewinnen, dass das zuvor erwähnte Gleichgewichtsstre-ben hier schamlos verfälscht wurde, dass der fiktive Zweifel, obdie Frau des Wahlvorstehers wohl wählen kommt oder nicht,vom kosmischen Standpunkt aus betrachtet in jeder Hinsichtzu unbedeutend ist, um dadurch aufgewogen zu werden, dassin einer der vielen Städte dieser Erde plötzlich Tausende undAbertausende von Menschen jeglichen Alters und sozialer Her-kunft beschließen, das Haus zu verlassen, um wählen zu gehen,ohne sich vorher über ihre politischen und ideologischen Dif-

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ferenzen zu verständigen. Wer so argumentiert, vergisst, dassdas Universum für die unterschiedlichen Träume und Sehn-süchte der Menschheit nicht nur seine eigenen, befremdlichenGesetze hat und dass wir zu deren Formulierung lediglich mitden Begriffen beitragen, mit denen wir diese mehr schlecht alsrecht belegen, sondern dass es diese Gesetze auch allem An-schein nach für Ziele einsetzt, die unser Verständnis überstei-gen und von jeher überstiegen haben, und fällt es uns imAugenblick auch schwer, das eklatante Missverhältnis zwischendem, was der Urne vielleicht, vorläufig nur vielleicht, geraubtwird, nämlich der Stimme der vermeintlich unsympathischenGattin des Wahlvorstehers, und der Flut von Männern undFrauen, die sich bereits auf den Weg gemacht haben, als ele-mentare statistische Gerechtigkeit zu akzeptieren, so verlangtdoch die Klugheit, dass wir uns eine Zeit lang jeglichen endgül-tigen Urteils enthalten und mit zuversichtlicher Aufmerksam-keit der Entwicklung der Dinge harren, die sich gerade erst ab-zuzeichnen beginnen. Und genau das tun, von professionellerBegeisterung und unstillbarem Informationsdurst gepackt, ge-rade die Journalisten von Presse, Rundfunk und Fernsehen, sierennen hin und her, halten den Menschen ihre Aufnahmege-räte und Mikrophone unter die Nase, fragen, Was hat sie dazuveranlasst, um vier Uhr das Haus zu verlassen und wählen zugehen, finden Sie es nicht unglaublich, dass alle zur gleichenZeit auf die Straße gegangen sind, sie müssen sich harsche odergar aggressive Antworten anhören wie zum Beispiel, Weil dasgenau die Uhrzeit ist, zu der ich gehen wollte, Als freie Staats-bürger verlassen und betreten wir unser Haus, wann es unspasst, wir schulden niemandem eine Erklärung für unsereHandlungen, Wie viel bezahlt man Ihnen für diese dummenFragen, Wen geht es etwas an, um welche Uhrzeit ich das Haus

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verlasse, In welchem Gesetz steht geschrieben, dass ich ver-pflichtet bin, auf diese Frage zu antworten, Ich rede nur im Bei-sein meines Anwalts. Es gab auch wohlerzogene Menschen, dienicht in diesem scharfen Ton antworteten, doch nicht einmalsie konnten die unersättliche journalistische Neugier befriedi-gen, zuckten doch auch sie nur die Achseln und sagten, Ichhabe den größten Respekt vor Ihrer Arbeit und würde Ihnenliebend gern zu einer guten Reportage verhelfen, aber leiderkann ich Ihnen nur sagen, dass ich auf die Uhr geschaut und ge-sehen habe, dass es vier ist, und zu meiner Familie gesagt habe,Los, wir gehen, jetzt oder nie, Jetzt oder nie, warum, Das ist ge-nau der springende Punkt, der Satz ist mir einfach so heraus-gerutscht, Denken Sie nach, strengen Sie sich an, Das bringtnichts, fragen Sie jemand anders, vielleicht weiß der ja mehr,Ich habe bereits fünfzig Personen befragt, Und, Niemand kannes mir beantworten, Da sehen Sie’s, Aber halten Sie es nicht füreinen merkwürdigen Zufall, dass Tausende von Menschen ge-nau gleichzeitig ihre Häuser verlassen haben, um wählen zu ge-hen, Sicher war es ein Zufall, aber vielleicht kein merkwürdiger,Warum, Ach, was weiß ich. Die Kommentatoren der verschie-denen Fernsehanstalten, die den Wahlhergang begleiteten undmangels klarer Bewertungskriterien wagten, aus Flug und Ge-sang der Vögel ihre Schlussfolgerungen zu ziehen, die beklag-ten, dass Tieropfer, mittels derer man in den noch warmen Ge-därmen die Geheimnisse von Zeit und Schicksal lesen konnte,nicht mehr erlaubt waren, erwachten plötzlich aus der Starre, indie sie die mehr als düsteren Aussichten für diese Wahl versetzthatten, und stürzten sich, ohne sich weiter mit Zufällen aufzu-halten, die sie als unvereinbar mit ihrem erzieherischen Auftragerachteten, wie Löwen auf dieses außergewöhnliche Exempelfür Gemeinsinn, das die Hauptstadtbevölkerung dem Land

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darbot, indem sie zuhauf an die Urnen strömte, wo doch ge-rade noch das Schreckgespenst einer in der Geschichte der De-mokratie nie da gewesenen Wahlenthaltung die Stabilität desRegimes und, was weitaus schwerwiegender war, die des Sys-tems ernsthaft bedroht hatte. Die vom Innenministerium abge-gebene offizielle Erklärung klang nicht ganz so dramatisch,doch auch bei ihr war aus jeder Zeile die Erleichterung der Re-gierung herauszuhören. Was die drei konkurrierenden Parteienbetraf, die der Rechten, der Mitte und der Linken, so rechnetensich diese bereits die Gewinne oder Verluste aus, die diese un-erwartete Bürgerbewegung ihnen einbringen würde, sprachenöffentlich Gratulationen aus, in denen es, neben anderen Stil-blüten, zum Beispiel hieß, die Demokratie sei zu beglückwün-schen. In ähnlicher Manier äußerten sich, die Nationalflaggeim Rücken, zunächst der Staatschef in seinem Palast und dannder Premierminister in seinem Palästchen. Vor den Türen derWahllokale bildeten sich dreireihige Wählerschlangen, dieganze Häuserblocks umrundeten und deren Ende gar nichtmehr zu erkennen war.

Wie alle anderen Wahlvorsteher der Stadt war sich der desWahllokals Nummer vierzehn sehr wohl bewusst, dass ereinem einzigartigen historischen Augenblick beiwohnte. Zufortgeschrittener Stunde, als das Innenministerium bereits einezweistündige Verlängerung der Wahlzeit zugestanden hatte, diespäter noch einmal um eine halbe Stunde ausgedehnt werdenmusste, damit all die Wähler, die sich in dem Gebäude dräng-ten, ihr Wahlrecht ausüben konnten, als der erschöpfte undhungrige Wahlvorstand zusammen mit den Parteienvertreternendlich vor dem Berg von Stimmzetteln stand, die der Inhaltder beiden Urnen ergeben hatte, wobei die zweite auf dieSchnelle beim Ministerium hatte angefordert werden müssen,

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ließ sie die Dimension der bevorstehenden Aufgabe erzittern,in einem Gefühl, das wir ohne Scheu als episch oder heroischbezeichnen wollen, als seien die guten Geister der Heimat aufmagische Weise in diesen Zetteln wiedererstanden. Einer dieserZettel stammte von der Frau des Wahlvorstehers. Ein Impulshatte sie bewogen, das Kino zu verlassen und wählen zu gehen,zwei Stunden brachte sie in einer Schlange zu, die im Schne-ckentempo voranschritt, und als sie endlich vor ihrem Mannstand, als sie ihn ihren Namen aussprechen hörte, verspürte siein ihrem Herzen etwas, das vielleicht der Hauch eines altenGlücks war, lediglich der Hauch, dennoch dachte sie, dass sichallein deswegen das Kommen gelohnt hatte. Es war bereitsnach Mitternacht, als die Auszählung abgeschlossen war. Diegültigen Stimmen machten nicht einmal fünfundzwanzig Pro-zent aus und verteilten sich auf die Partei der Rechten mit drei-zehn, auf die der Mitte mit neun und die der Linken mit zwei-einhalb Prozent. Es gab nur sehr wenige ungültige Stimmen,sehr wenige Nichtwähler. Alle anderen Stimmzettel, über sieb-zig Prozent, waren leer und weiß.

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Verunsicherung, Bestürzung, aber auch Spott und Sarkasmus feg-ten über das Land. Die ländlichen Gemeinden, in denen dieWahl, von gelegentlichen wetterbedingten Verzögerungen ab-gesehen, ohne Zwischenfälle oder Überraschungen verlaufenwar und Ergebnisse ähnlich denen früherer Jahre gebrachthatte, nämlich soundso viele gültige Stimmen, soundso vieleeingefleischte Nichtwähler, unbedeutend wenige ungültige undleere Stimmzettel, diese Gemeinden, die der zentralistische Tri-umph so gedemütigt hatte, als die Hauptstadt sich vor demganzen Land als Beispiel wahren Bürgersinns hervorgetanhatte, konnten nun die Ohrfeige zurückgeben und sich überden albernen Hochmut einiger Herren lustig machen, die sichfür etwas Besseres hielten, bloß weil sie durch irgendeinen Zu-fall in der Hauptstadt gelandet waren. Die Bezeichnung DieseHerren, hervorgebracht mit einem leichten Schürzen der Lip-pen, das bei jeder Silbe, um nicht zu sagen jedem Buchstaben,Verachtung ausdrückte, galt nicht jenen Menschen, die bis vierUhr zu Hause geblieben und dann plötzlich, als hätten sieeinen unwiderruflichen Befehl erhalten, zur Wahl geströmt wa-ren, sondern der Regierung, die vorzeitig triumphiert hatte,den Parteien, die bereits mit den leeren, weißen Stimmzettelnzu pokern begonnen hatten, als seien sie ein zu erntenderWeinberg und sie die Winzer, den Zeitungen und anderen Me-dien, die so leichtfertig von Beifall für die Sieger auf Verdam-

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mung der Verlierer umschalteten, als trügen sie selbst gar nichtszum Zustandekommen derartiger Katastrophen bei.

Gewiss waren die Spötter aus der Provinz irgendwie imRecht, doch wiederum auch nicht so sehr, wie sie glaubten.Hinter dieser ganzen politischen Aufregung, die sich wie eineihre Zündschnur suchende Bombe durchs Land zieht, ist aucheine Unruhe wahrzunehmen, die man nicht laut zu benennenwagt, außer man ist unter seinesgleichen, ein Mensch unter in-timsten Freunden, eine Partei mit ihrem Apparat, die Regie-rung unter sich, Was passiert, wenn die Wahl wiederholt wird,das ist die Frage, die alle mit leiser, verhaltener Stimme stellen,heimlich, um keine schlafenden Hunde zu wecken. Es kursiertauch die Meinung, am besten sei es, nicht zu viel Staub aufzu-wirbeln, sondern lieber alles beim Alten zu lassen, die PDR inder Regierung, die PDR im Rathaus, so zu tun, als sei nichtsgeschehen, sich vorzustellen, der Ausnahmezustand sei in derHauptstadt ausgerufen und damit auch die verfassungsmäßi-gen Rechte aufgehoben worden, um dann, nach einiger Zeit,wenn Gras über die Sache gewachsen ist, wenn das unheilvolleEreignis sich in die Liste vergessener Vergangenheitsformeneinreihen kann, endlich Neuwahlen vorzubereiten, beginnendmit einer ausgefeilten Kampagne voller Schwüre und Verspre-chungen, wobei gleichzeitig mit allen Mitteln verhindert wer-den muss, und zwar ohne über harmlose bis mittelschwereUnregelmäßigkeiten die Nase zu rümpfen, dass sich dieses Phä-nomen, dem ein namhafter Fachmann bereits den unbarmher-zigen Namen politisch-soziale Teratologie gegeben hat, wieder-holt. Natürlich gibt es auch Gegenstimmen, die einwenden, dieGesetze seien heilig und das dort Festgelegte müsse eingehaltenwerden, auch wenn es für einige schmerzlich ist, und die Pfadeder Verstohlenheit und Geheimabkommen führten geradewegs

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zu Chaos und Moralverlust, sprich, wenn das Gesetz besagt,im Falle einer Naturkatastrophe seien die Wahlen eine Wochespäter zu wiederholen, dann würden sie auch eine Woche spä-ter wiederholt, also bereits am nächsten Sonntag, Gottes Willegeschehe, denn dafür hat man ihn schließlich. Es lässt sich je-doch beobachten, dass die Parteien bei der Darlegung ihrerStandpunkte lieber nicht zu viel riskieren, sich zweideutig ver-halten, ja sagen und gleichzeitig aber. Die führenden Köpfe derPartei der Rechten, welche die Regierung bildet und auch imRathaus sitzt, sind davon überzeugt, dass dieser unbestritteneTrumpf, wie sie sagen, ihnen den Sieg auf dem Silbertablett ser-vieren wird, und so haben sie sich für eine Taktik der Gelassen-heit, gepaart mit diplomatischem Feingefühl, entschieden, ha-ben sich ganz auf das gesunde Urteilsvermögen der Regierungverlassen, der es obliegt, für die Einhaltung der Gesetze zu sor-gen, Was ja in einer so gefestigten Demokratie wie der unserennur folgerichtig und selbstverständlich ist, schlossen sie. DieMitglieder der Partei der Mitte wollen ebenfalls, dass das Ge-setz eingehalten wird, doch fordern sie von der Regierung et-was, das, wie sie von vornherein wissen, unmöglich zu errei-chen ist, nämlich die Ergreifung strikter Maßnahmen, die eineabsolute Normalität des Wahlvorgangs und insbesondere, mandenke nur, der Ergebnisse garantieren sollen, Damit sich nichtdas schändliche Schauspiel wiederholt, das diese Stadt der Hei-mat und der Welt soeben dargeboten hat. Die Partei der Linkenhingegen hat nach einer Zusammenkunft ihrer obersten Füh-rungsgremien und langer Debatte ein Kommuniqué erarbeitetund veröffentlicht, in dem die feste Hoffnung zum Ausdruckkommt, dass die bevorstehende Wahl endlich die erforderlichepolitische Grundlage für den Beginn einer neuen Ära der Ent-wicklung und des sozialen Fortschritts schaffe. Zwar schwören

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sie nicht, dass sie die Wahlen gewinnen und ins Rathaus einzie-hen werden, doch lässt sich dies zwischen den Zeilen heraus-lesen. Am Abend sprach der Premierminister im Fernsehen,um dem Volk zu verkünden, die Kommunalwahlen würdenwie gesetzlich vorgeschrieben am kommenden Sonntag wieder-holt, und daher werde um null Uhr des folgenden Tages eineneuerliche viertägige Wahlkampagne eingeleitet, die am Freitagum vierundzwanzig Uhr ende. Die Regierung vertraue darauf,fuhr er mit ernster Miene fort, wobei er bewusst die starken Sil-ben betonte, dass die erneut zur Wahl aufgerufene Hauptstadt-bevölkerung ihre Bürgerpflicht mit der Würde und dem An-stand auszuüben wisse, die sie früher stets an den Tag gelegthabe, um so jenes bedauerliche Ereignis vergessen zu machen,das aus nicht vollständig geklärten, jedoch weitgehend unter-suchten Gründen plötzlich die gewohnte Klarsicht der Wählerdieser Stadt getrübt hat. Die Botschaft des Staatschefs soll erstam Ende der Wahlkampagne, am Freitagabend, ausgestrahltwerden, doch steht der Satz, mit dem sie enden wird, bereitsfest, Der Sonntag, meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbür-ger, wird ein schöner Tag.

Es war wirklich ein schöner Tag. Gleich am frühen Morgen,als der schützende Himmel über uns in vollem Glanz er-strahlte, mit einer goldenen Sonne auf kristallblauem Grund,wie ein inspirierter Fernsehreporter es nannte, begannen dieWähler aus ihren Häusern zu den Wahllokalen zu strömen,nicht in blinden Massen, wie angeblich vor einer Woche, dochzahlreich genug, um, obwohl jeder für sich loszog, zielstrebigund voller Eifer, lange Schlangen wartender Bürger vor den Tü-ren der Wahllokale entstehen zu lassen, bevor diese überhauptöffneten. Leider ging jedoch nicht alles ehrlich und sauber zubei diesen friedlichen Menschenansammlungen. Es gab keine

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

José Saramago

Die Stadt der SehendenRoman

Taschenbuch, Broschur, 384 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-442-74528-9

btb

Erscheinungstermin: März 2015

Stell dir vor, es sind Wahlen und keiner geht hin. Bei den Wahlen in einem nicht genannten demokratischen Land geben über 70% der Wählerleere Stimmzettel ab. Die Regierenden sind verwundert, schließlich gab es vorher keineAnzeichen größerer Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Als daraufhin erneut Wahlen angesetztwerden, fällt das Ergebnis noch schlechter aus. Der Premierminister wittert einen Angriff aufdie Demokratie – und verhängt den Ausnahmezustand: Die Grundrechte werden aufgehoben,Versammlungen verboten, und man hört von willkürlichen Verhaftungen. Bald artet die»Krisenbekämpfung « in eine regelrechte Diktatur aus, die unausweichlich der Katastropheentgegensteuert …