phaedrus, fabeln - vandenhoeck & ruprecht

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clara Kurze lateinische Texte Herausgegeben von Hubert Müller Heft 5 Phaedrus, Fabeln Bearbeitet von Michael Rachel Mit 12 Abbildungen Vandenhoeck & Ruprecht

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Page 1: Phaedrus, Fabeln - Vandenhoeck & Ruprecht

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claraKurze lateinische TexteHerausgegeben von Hubert Müller

Heft 5

Phaedrus, Fabeln

Bearbeitet von Michael Rachel

Mit 12 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Page 2: Phaedrus, Fabeln - Vandenhoeck & Ruprecht

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Liebe Schülerin, lieber Schüler!

Das clara-Heft, das du gerade aufgeschlagen hast, soll dir helfen einen Einstieg in die latei-nische Lektüre, insbesondere in die Dichtung zu finden. Du findest auf den folgenden Sei-ten Originaltexte des Dichters Phaedrus. Die einzelnen Fabeln sind nicht gekürzt. Damitdiese Texte auch von denjenigen bewältigt werden können, die gerade erst die Arbeit mitdem Lehrbuch abgeschlossen haben, unterstützen wir eure Arbeit folgendermaßen:

Die Zeichensetzung entspricht der der deutschen Sprache.In der rechten Spalte sind neben dem Text die Wörter angegeben, die in Lumina oder inLatinum, Ausgabe B, nicht vorkommen. Wörter aus dem Grund- und Aufbauwortschatzsind dabei rot hervorgehoben; sie sind als Lernvokabeln gedacht und werden nur bei ihremersten Vorkommen aufgeführt. Am Ende des Heftes sind sie noch einmal alphabetisch zu-sammengestellt.Auch die verschiedenen Informationstexte werden im weiteren Verlauf der Lektüre alsWissen vorausgesetzt.Informationstexte, Abbildungen, Fragen und Aufgaben helfen die Texte zu erschließenund zu verstehen.

Die Wortstellung ist in der Dichtung sehr viel freier als in der Prosa. Daher ist es oft sinn-voll sich zunächst einen Überblick durch Satzbilder oder Formenbestimmungen zu ver-schaffen.

Die Auswahl schreitet von – z.B. aus dem Deutschunterricht – bekannten zu eher unbe-kannten Fabeln voran, in denen nicht mehr nur Tiere vorkommen. Fabeln sind zeitlos: Siespielen immer auf das Verhalten von Menschen an. Es wird dir daher nicht schwer fallenihren Inhalt auf Geschehnisse und Menschentypen der heutigen Zeit zu übertragen.

ISBN 3-525-71704-0

© 2002, Vandenhoeck & Ruprecht in GöttingenInternet: http://www.vandenhoeck-ruprecht.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzesist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fürVervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung undVerarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany.Gestaltung: Markus Eidt, GöttingenSatz und Lithos: Dörlemann Satz, LemfördeDruck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen

Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier.

Abbildungsnachweis: Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig, Inv. BS 290, Foto:Dieter Widmer: S. 5 – Hubert Müller, Sasbach: S. 37 – Nicolás Piaggio, Göttingen: S. 33 –Michael Rachel, Lörrach: S. 11, 13, 18, 23, 25, 41 – Jutta Schweigert, Göttingen: Umschlag-abbildung u. S. 31– »Ulmer Aesop«: S. 4.

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Inhalt

Einleitung: Aesop und Phaedrus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

1 Prologus ad librum primum (prol. I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Phaedrus über einen Kritiker (aus IV 22) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

Fabeln

3 Vulpes et corvus (I 13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 De vulpe et uva (IV 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Cornix et ovis (App 26) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

Variationen über das Thema »Fuchs und Rabe« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12Verschiedene Dichter über »Der Fuchs und die Traube« . . . . . . . . . . . . . . . . 12

6 Vulpes et caper (IV 9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Vulpes et ciconia (I 26) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Lupus et gruis (I 8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Canis per fluvium carnem ferens (I 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

10 Lupus ad canem (III 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2011 Cervus ad fontem (I 12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2212 Pavo ad Iunonem de voce sua (III 18) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2413 Rana rupta et bos (I 24) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2614 Ranae ad Solem (I 6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2715 Muli duo et latrones (II 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2816 Equus et aper (IV 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3017 Taurus et vitulus (V 9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3118 Asinus ad lyram (App 14) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3219 Pullus ad margaritam (III 12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3220 Calvus et musca (V 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3421 Serpens: misericordia nociva (IV 20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3522 Aesopus respondet garrulo (III 19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3623 Aesopus et servus profugus (App 20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3824 Arbores in deorum tutela (III 17) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4025 De oraculo Apollinis (App 8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

Lernwortschatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

Page 4: Phaedrus, Fabeln - Vandenhoeck & Ruprecht

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Cervus ad fontem

Ad fontem cervus cum bibisset, restititet in liquore vidit effigiem suam.

Ibi dum ramosa mirans laudat cornuacrurumque nimiam tenuitatem vituperat,venantum subito vocibus conterritusper campum fugere coepit et cursu levicanes elusit. Silva tum excepit ferum,in qua retentis impeditus cornibuslacerari coepit morsibus saevis canum.

Tunc moriens vocem hanc edidisse dicitur:

»O me infelicem, qui nunc demum intellego,utilia mihi quam fuerint, quae despexeram,et, quae laudaram, quantum luctus habuerint!«

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cervus: Hirschfons, fontis m.: Quelle

bibere, bibi: trinkenresistere, sisto, stiti: hier : stehen(bleiben)liquor = aquaeffigies, ei f.: Bild, Abbildramosus: astreich, verzweigtmirari: sich wundern, bewunderncrus, cruris n.: Unterschenkel, Beintenuitas, atis f.: Dünnheitvituperare: tadelnvenari: jagenconterrere = terrerecursus, us m.: Lauflevis, e: leichteludere, lusi, lusum: verspotten,ausweichenexcipere, cipio, cepi, ceptum:aufnehmenferus: wild(es Tier)lacerare: zerfleischenmorsus, us m.: Bisssaevus: wild, wütendtunc Adv.: damals, dannmori, morior, mortuus sum: sterbenedere, didi, ditum: herausgeben, vonsich gebenTunc … dicitur: zum nci s. Informations-text S. 17demum Adv.: endlich, erstintellegere, lexi, lectum: bemerken,einsehenfuerint, habuerint: Konj. Perf.,s. Informationstextlaudaram = laudaveramluctus, us m.: Trauer

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Konjunktiv Perfekt im GliedsatzDic, quid feceris: Sag, was du getan hast.

Der Konjunktiv Perfekt bezeichnet im Gliedsatz die Vorzeitigkeit zu einem Präsens oderFutur 1. Im Aktiv werden die Endungen -erim, -eris, -erit, -erimus, -eritis, -erint an den Per-fektstamm gehängt: lauda–verim … lauda–verint. Die Passivform ist zusammengesetzt ausdem PPP (lauda–tus) und dem Konjunktiv Präsens von esse: lauda–tus (a, um) sim … lauda–tı-

(ae, a) sint.

vv. 13–15: intellego, quam utilia fuerint, quae despexeram, et, quae laudaram, quantumluctus habuerint: (a) Welches Stilmittel setzt Phaedrus hier ein? Welche Aussage hebt er da-mit hervor? – (b) Erkläre die Funktion der Konjunktive. – (c) Forme den quam- und denquantum- Satz in direkte Fragen um.

Forme den N. c. i. in v.12 in einen A. c. i. um (Hilfe: aus dicitur wird dicunt).

Welches Merkmal des Hirsches ist für den Ausgang der Geschichte verantwortlich?

Zeige an dieser Fabel auf, dass auchbei nur einem Hauptakteur Hand-lung und Gegenhandlung möglichsind.

(a) Sicher hast du bemerkt, dass die-ser Fabel eine allgemein formulierteMoral fehlt: Aus welchem Satz kannam besten eine passende Moralentnommen werden? Formulieresie allgemeingültig auf Deutsch. –(b) Diskutiert in Gruppen, welcheEigenschaften und Accessoires beiJugendlichen Ansehen genießenund worin deren möglicher Nutzenoder Schaden liegt. Tragt die Grup-penergebnisse der Gesamtklassevor.

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Pavo ad Iunonem de voce sua

Pavo ad Iunonem venit indigne ferens,cantus luscinii quod sibi non tribuerit;illum esse cunctis avibus admirabilem,se derideri, simulac vocem miserit.

Tunc consolandi gratia dixit dea:»Sed forma vincis, vincis magnitudine;nitor smaragdi collo praefulget tuopictisque plumis gemmeam caudam explicas.«

»Quo mi«, inquit, »mutam speciem,si vincor sono?«

»Fatorum arbitrio partes sunt vobis datae:tibi forma, vires aquilae, luscinio melos,augurium corvo, laeva cornici omina;omnesque propriis sunt contentae dotibus.«

Noli adfectare, quod tibi non est datum,delusa ne spes ad querelam recidat!

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pavo, onis m.: PfauIuno, Iunonis f.: Juno, Gattin Jupiters(s. Informatationstext »Iuno«)

indigne ferre: unwillig seincantus, us m.: Gesangluscinius: Nachtigallavis, is f.: Vogeladmirabilis, e: bewundernswertderidere: verlachenvocem mittere: seine Stimme ertönenlassenconsolari: tröstengratia + Gen.: wegen, um … willenmagnitudo, dinis f.: Größenitor, oris m.: Glanz, Schönheitsmaragdus: Smaragdpraefulgere: hell leuchtenpingere, pinxi, pictum: (be)malenpluma: (Flaum-)Federgemmeus: mit Edelstein verziert(gemeint sind die »Pfauenaugen«)cauda: Schweif (»Pfauenrad«)explicare: ausbreitenquo mi: wozu (erg. gab man) mirmutus: stummspecies, ei f.: Aussehen, Schönheitsonus: Laut, Klangfatum: Götterspruch, Schicksal;s. Informationstext »fatum«pars: hier : Aufgabe, Rolleaquila: Adlermelos Nom. u. Akk. Sg.: Lied, Gesangaugurium: Weissagekunstcorvus: Rabelaevus: links (bedeutet bei Prophezeiungengünstig)cornix, icis f.: Kräheomen, ominis n.: Wahrzeichen,Vorzeichenproprius: eigen(tümlich)contentus: zufriedendos, dotis f.: Gabe, Talentadfectare: streben nachdeludere: täuschenquerela: Klagerecidere: herabsinken, verfallen

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Iuno wurde schon früh mit der griechischen Göttin Hera, der Gattin des Zeus und Mutterdes Kriegsgottes Ares sowie des göttlichen Schmiedes Hephaistos, gleichgesetzt. Sie warals Tochter der Rhea und des Kronos eine Schwester Iuppiters und wurde zugleich seineGattin. Ein Hauptwirkungsbereich war der Schutz der Frauen und häufig wurde sie als Her-rin der Städte verehrt. Auf dem Kapitol in Rom gab es ein Heiligtum, das der Trias Minerva,Iuppiter und Iuno (s. auch Bild) heilig war: eine vorchristliche Götter-Dreiheit.

Das fatum (v.10) wird abgeleitet von fari (sprechen), bedeutet also wörtlich »Spruch«. DerBegriff wird im Sinn von »Schicksal, Notwendigkeit« gebraucht. Im Plural werden die Fatamit den griechischen Schicksalsgöttinnen, den drei Moiren, gleichgesetzt. Damit sind sievon den Parzen (Parcae) nicht mehr unterscheidbar. Selbst die olympischen Götter warendiesen Schicksalsgottheiten unterworfen und konnten im besten Falle Aufschub eines Ver-hängnisses erwirken.

(a) Erkläre, warum in v. 2 und 4 Konjunktiv und in vv. 3/4 A. c. i. steht. – (b) Forme diese Pas-sage in eine wörtliche Rede des Pfaus um; lasse dabei quod in v. 2 weg.Zu v. 5: Wiederhole die Übersetzungsmöglichkeiten des Gerundiums und gib jeweils dieSinnrichtung an: (a) Militibus facultas pugnandi datur. – (b) Parati sumus ad agendum. –(c) In navigando periculis terremur. – (d) Multi homines navigandi causa (gratia) litora(= oras) petunt. – (e) Legendo discimus.(a) Worin besteht die Besonderheit dieser Fabel im Vergleich zu den bisher gelesenen? –(b) Stelle den Beschwerden des pavo Iunos Argumente gegenüber; zitiere dabei die wich-tigsten Ausdrücke lateinisch. – (c) Die Göttin will offensichtlich auch rhetorisch überzeugen:Zeige dies an Vers 6 und 11/12. – (d) Sind Iunos Argumente auch inhaltlich überzeugend? –(e) Welche Verhaltensweise propagiert diese Fabel? Welche möglichen Vor- und Nachteilebringt sie dem einzelnen Menschen? Welche Bedeutung hat sie für das menschliche Zusam-menleben?

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Minerva, Iuppiter und Iuno mit ihren heiligen Vögeln Eule, Adler undPfau. Marmorskulptur, Museo Nazionale Archeologico Prenestino.