phnom e no logie
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HegelTRANSCRIPT
DIE “PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES“ VON GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL UND
DER MARXISMUS
Ich möchte in meinem Vortrag Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Hegels “Phänomenologie des
Geistes“ und der “Kritik der politischen Ökonomie“ von Karl Marx darstellen – und zwar anhand der
Beziehung von Theorie und Praxis (I.), Einzelnem und Allgemeinem und Erscheinung und Wesen (II.)
sowie Subjekt und Objekt (III.).
I.
Hegel und Marx gehen anfangs davon aus, dass nicht Theorie Praxis, sondern dass Praxis Theorie
schafft. Für beide sind Kategorien Handlungen, die durch millionenfache Wiederholungen im
menschlichen Bewusstsein den Charakter von Axiomen angenommen haben. Ihre Produzenten
wiederum handeln in einem geschichtlich vermittelten (Handlungs-)Rahmen, der ihr Denken und Tun
vorstrukturiert. Diesen Rahmen konstituieren sie aber selbst mit, auch wenn sich darüber nicht
bewusst sind. Auch die in dem Rahmen enthaltenen Kategorien, die unmittelbar als praxisunabhängig
und unveränderlich erscheinen, werden als Produkte menschlichen Handelns entlarvt und
dementsprechend im Zustand realer und potentieller Veränderung gezeigt.1 Der Praxisbegriff erfährt
also im Gegensatz zur üblichen Vorstellung (die sich auch in der Philosophiegeschichte niederschlägt)
eine bedeutende Erweiterungen: Wirklichkeit erscheint nicht mechanistisch vom menschlichen
Denken abgekoppelt, sondern letzteres wird als deren unentbehrlicher, konstitutiver Bestandteil
herausgearbeitet. Dabei werden vorrationale Erkenntnisformen wie Unmittelbarkeit und unbewusstes
Handeln2 nicht vom Erkenntnisprozess getrennt, sondern gehen diesem voraus und werden als dessen
Bestandteile zentral aufgenommen.3 „Sie wissen es nicht, aber sie tun es“4 – dieses Prinzip gilt bei
Hegel vor allem für die “Phänomenologie des Geistes“.5 Hier vollzieht der Geist die Erfahrungen, die
er in der menschlichen Gattungsgeschichte gemacht hat (anhand der Genese von bestimmten
Bewusstseinstypen) zeitlich abgekürzt und philosophisch konzentriert noch einmal nach und macht
sich damit seine unerkannte Struktur bewusst.6 Und das Prinzip gilt ebenso für die Marxsche Analyse
der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Die Menschen produzieren zwar auf molekularer Ebene ihre
Waren zwar planvoll-koordiniert für den Markt, der Gesamtprozess jedoch verläuft planlos und
chaotisch (und gehorcht dennoch einer unerkannten Ordnung: dem Wertgesetz).7 Doch zeigen sich im
Bezug auf Theorie und Praxis bei beiden Denkern auch Unterschiede. Hegel erkennt den Vorrang der
1 Vgl. John O´Neil, Kritik und Erinnerung, Frankfurt/M., S.29 u. 35f
2 Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1988, S.24 u. 28
3 Vgl. edb., S.21, vgl. auch: Otto Morf, Geschichte und Dialektik in der politischen Ökonomie, Frankfurt/M., S. 40f u. 79
4 MEW 23, S. 79
5 Vgl. G. W. F. Hegel, S. 261ff und Georg Lukàcs, Der junge Hegel, Berlin 1954, S. 550ff
6 Vgl. G. W. F. Hegel, S. 22ff
7 Vgl. John O´Neil, S. 40f
1
Praxis vor der Theorie letztendlich nur bedingt an: Er kommt zu dem Schluß, dass die (endliche)
Praxis Mängel hat, die erst im absoluten Wissen ( also in der Theorie) aufgehoben werden. Marx
hingegen arbeitet systematische und methodische Klarheit als Vorbedingung einer gelungenen Praxis
(als tätig eingreifendes Denken) heraus.
II.
Hegel wie Marx enthüllen den geschichtlichen Charakter von Kategorien und Verhältnissen, die
vermeintlich unmittelbar gegeben sind. Sie tun dies, indem sie beide das scheinbar unvermittelt
Gegebene und Objektive, als Gewordenes, als Teil eines umfassenderen, von Subjekten produzierten
Ganzen darstellen – mit den beiden Denkern eigenen Akzentuierungen.8 Dadurch wird nicht nur
dargelegt, wie ein Verhältnis entsteht, sondern zugleich auch, dass es veränderbar ist und auch durch
seine innere Widersprüchlichkeit auch zu einer Veränderung hintreibt. Hegel und Marx fassen damit
grundsätzlich das Sein einer „gewordenen Form“ nicht nur positiv, als etwas Bestehendes, sondern
auch negativ, im Übergang zu einer bestimmten anderen Form Befindliches, also als etwas
Vergängliches auf. Für Hegel wie Marx ist diese Darstellung des Gegenstands im Rahmen seiner
Entwicklung also gleichbedeutend mit seiner Kritik.
Während das „einfache Bewusstsein“ bei Hegel und die bürgerlichen Ökonomen bei Marx von
gegebenen Prämissen ausgehen, die nicht mehr eigens untersucht werden, versuchen die beiden
Dialektiker, den Produziertheits-Charakter genau dieser Prämissen aufzuzeigen. Dazu werden die in
Erscheinung tretenden Teile wie auch das wesentliche Ganze in eine Kreislaufbewegung gebracht:
Das Einfache wird erklärt, indem man auf das Zusammengesetzte, das Komplexe expliziert, indem
man auf das Einfache zurückgreift. Ein im Begründungszusammenhang stehendes Einzelnes ist
gleichfalls ein Allgemeines. Beide Kategorien sind also nicht statisch getrennt, sondern Pole eines
Wechselwirkungsverhältnisses. Gleichfalls ist das jeweils auftretende gesellschaftliche Allgemeine ein
mit Widersprüchen behaftetes geschichtliches Besonderes.
Dabei wird das in Kategorien Geronnene als vorläufiges Resultat einer Lösung innerer Widersprüche
begriffen, die aber nur temporär ist.9 Die Dynamik dieser Widersprüche weist bald über die einfachen
Kategorien hinaus und in einer aufsteigenden Metamorphosenbewegung werden sich diese sowohl mit
Inhalt anreichern als auch allgemeiner. Auf jeder Stufe dieses Prozesses legen Hegel10 und Marx dar,
dass die jeweiligen Kategorien sowohl adäquat wie auch inadäquat sind. Die darin vorwärtsweisenden
Momente wie die Mängel und Beschränktheiten werden aufgezeigt. Mit jeder Befriedung des
8 Vgl. Reinhard Meiners, Methodenprobleme bei Marx und ihr Bezug auf Hegel, München 1980, S.183f und Georg Lukács,
S. 420
9 Vgl. G. W. F. Hegel, S.25
10 Vgl. ebd., S.18
2
Widerspruchverhältnisses werden auch die Gründe für ihr erneutes Aufbrechen gegeben und damit
neue Formen des Widerspruchverhältnisses neu gesetzt: Die abstrakten Kategorien bedingen die
konkreten und die konkreten führen die abstrakten weiter. Diese verbinden sich zu einem einheitlichen
Ganzen, das anhand der in ihm selbst waltenden Widersprüche weiter entwickelt und konkretisiert
werden kann und in dem dennoch die vorangegangenen Resultate auf jeder komplexen Stufe
vorhanden sind.11 Nur durch die systematisch-logische Darstellung der einzelnen, scheinbar fixen
Kategorien im Zusammenhang ihrer Vermitteltheit, verschwindet der Schleier des unmittelbar und
ewig Gegebenen. 12
Hegel wie Marx geben am Anfang ihrer Darstellung keine Definition, die analog zur Mathematik13
eine starre Wesenheit beschreibt,14 sondern analysieren eine Ausgangsform, deren weiterer Verlauf die
widersprüchliche Momente das Wesen in der Entwicklung zeigt.15 Beide bringen in ihren
Ausführungen nicht einzelne Bilder dar, nach deren Struktur sich der Rest zu bequemen habe, sondern
präsentieren sozusagen den ganzen Film: Ihre Bilder gehen selber in andere Bilder über, der
Gegenstand wird im Fluss seiner Bewegung präsentiert.
Nehmen wir den Aufbau der “Phänomenologie des Geistes“: In der Rekonstruktion der notwendigen
Konstruktionsetappen des Geistes wird jede Gestalt des Bewusstseins auf ihren
Konstruktionscharakter hinterfragt und der jeweilige Wissensanspruch gezwungen, über sich selbst
dialektisch Auskunft zu geben.16 Dieser Weg des werdenden Wissens ist als ein ununterbrochenes
adäquater werdendes Erkennen des Gegenstandes und als Sich –Selbst-Fassen des Geistes zu
bewerten, das mit der Bewusstwerdung der Schranke im jeweiligen Erkenntnismodus als auch mit
ihrer Aufhebung einhergeht. Für Hegel gibt es keinen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen
endlichem Erkennen und der Erkenntnis des Absoluten.17 Im Gegenteil, alle Stufen des Erkennens sind
miteinander vermittelt.18 Diese strukturelle Beschaffenheit der objektiven Realität wird durch die
philosophische Reflexion freigelegt. Diese Grundlagen werden durch (geistige) Tätigkeit produziert
verstanden. Die erscheinende Wirklichkeit wird also nicht mehr als unhintergehbar angesehen,
sondern auf ihre Ursachen hin untersucht. Bei dieser Untersuchung verändert sich nicht nur das Bild
11 Vgl. Georg Lukács, S.326
12 Vgl. Hans Heinz Holz, Einheit und Widerspruch. Problemgeschichte der Dialektik der Neuzeit, Bd. 1, Stuttgart und
Weimar 1997, S.17
13 Vgl. G. W. F. Hegel, S.31ff
14 Vgl. Elmar Treptow, Theorie und Praxis bei Hegel und den Junghegelianern,
www.philosophie.uni-muenchen.de/fakultaet/lehreinheiten/philosophie_1/personen/e_ treptow /veroeffentlichungen/
habilarbeit.pdf, S.11
15 Vgl. Jindrich Zeleny, Die Wissenschaftslogik im >Kapital<, Frankfurt u. Wien 1969, S.55f
16 Vgl. G. W. F. Hegel, , S. 20ff und Georg Lukács, S. 535ff und 542ff
17 Vgl. Hegel, S.15
18 Vgl. ebd. S.16
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der scheinbaren Wirklichkeit, sondern auch das Erkennen selbst. Denn es begreift, dass die
Objektivität bereits durch den Geist vermittelt ist.
In der Phänomenologie stellt Hegel die notwendigen Durchgangsstationen des endlichen zum
absoluten Bewusstsein dar. Er legt dar, wie der Geist sich spiralförmig zu sich selbst bewegt und sich
dabei selbst verändert. Dementsprechend gehört dem Geist nicht nur das Resultat an sondern auch der
Weg dorthin: „Der Weg zur Wissenschaft ist selbst schon Wissenschaft.“19 Bei Hegel kommt es also
zu einer notwendigen Negation des natürlichen Wissens durch den „sich selbst vollbringenden
Skeptizismus“20, der mit der Sprengung der Beschränktheit der alten Bewusstseinsform und der
Darlegung der darin enthaltenen Widersprüche eine neue Gestalt des Wissens hervorbringt und somit
ein positives Resultat zeitigt.21 Dabei zeitigen falsche Prämissen auch falsche Schlüsse: Das
inadäquate Bewusstsein verrennt sich immer wieder in Sackgassen, diese Aporien liefern aber die
Mittel, mit welchen sie zu beheben sind.22
Ähnlich geht auch Karl Marx bei der Darstellung des verselbständigten Selbstverwertungsprozesses
des Kapitals vor. Er steigt von der abstraktesten und einfachsten Kategorie Ware aufgrund der
Darstellung der Verlaufsform des Widerspruchsverhältnisses von Gebrauchswert und Wert
stufenweise zu immer konkreteren Kategorien wie Geld, Kapital, Arbeitskraft, Mehrwert etc auf.
Diese basieren aber auf den allgemeineren und sind mit Notwendigkeit aus ihnen abgeleitet worden.
Analog zu Hegel sieht Marx die Mängel der Analyse, wie er sie z.B. in der klassischen bürgerlichen
Ökonomie findet, darin, dass hier keine vollständige Vermittlung der Formen stattfindet.
Die bürgerlichen Ökonomen kommen nicht zu den wesentlichen Formbestimmungen, und diese Fehler
wiederholen sich bei der anschließenden Synthese: falsch erarbeitete Ausgangspunkte zeitigen falsche
Resultate. Es kommt zu keiner genetischen Entwicklung des Gegenstandes, weil bestimmte Prämissen
und Voraussetzungen nicht weiter aufgelöst und reflektiert, sondern einfach hingenommen werden.
Anstatt die Erscheinungen aus den Wesensbestimmungen abzuleiten, werden ihre Kategorien mehr
oder minder empirisch gefasst und anschließend in ein ihnen äußerliches Verhältnis gebracht:
Erscheinungsphänomene werden somit für das Wesentliche gehalten.
Marx bringt hingegen die abstrakten Kategorien in einen genetisch-logischen
Entwicklungszusammenhang. Diesen ordnet er aber einer konkret zeitlichen Situation zu.
III.
19 Vgl. ebd. S. 68
20 Vgl. ebd. S. 61
21 Vgl. ebd. S. 44
22 Vgl. ebd. S. 66f
4
Eine weiterer Bereich, an dem sich sowohl zentrale Übereinstimmungen als auch Unterschiede zu
Hegel und Marx zeigen, ist das Problem der Entfremdung.23 Bei beiden kommt es unter bestimmten
Bedingungen zu einer Verkehrung der menschlicher Verhältnisse (der in Prämissen und Kategorien
der jeweiligen Bewusstseinsgestalten geronnen Handlungs- und Reflexionsstrukturen des in Natur und
Geschichte vergegenständlichten Geistes bei Hegel, der ökonomischen Kategorien und sozialen
Beziehungen bei Marx), von Subjekt und Objekt: Die Protagonisten dieser Verhältnisse beziehen sich
über von ihnen selbst produzierte Dinge, die scheinbar einen unabhängigen Charakter haben, auf sich
selbst als Fremdes.24 Die Hauptintention von Hegel und Marx ist nun zu zeigen, dass dies Fremde und
Objektive von den Subjekten selbst konstituiert wurde.
In Hegels “Phänomenologie des Geistes“ ist weder das Wesen des Menschen unmittelbar gegeben,
noch ist er unmittelbar frei, sondern der Mensch muss sich die Freiheit in einem langwierigen
Selbstwerdungsprozess erst abringen. Der Geist (also präzise gesprochen nicht der, sondern ein
reflektierendes Subjekt als „Bewusstsein“, „Geist“, „Ich“) erstreitet die Freiheit, indem er sich
praktisch und theoretisch mit der Umwelt und mit sich selbst auseinandersetzt und dabei mehr und
mehr den Subjekt-Objekt-Gegensatz auflöst: Das scheinbar Objektive und Selbständige ist der
jeweilige Stand der Unfreiheit des Geistes, der diese Schranken noch nicht als seine eigenen
Konstitutionsmomente erkannt hat. Diese Reise mit ihren vorläufigen Stationen verläuft auf drei
Ebenen: Im Modus des subjektiven (als individuelles und gegenständliches Wissen), objektiven
23 Elmar Treptow, Die Entfremdungstheorie bei Karl Marx (unter besonderer Berücksichtigung des Spätwerks), München
1978, S. 47f: „Die Keimzelle und Elementarform der Entfremdung – die zu entwickelnde widersprüchliche Einheit – ist für
Hegel: der Geist als Ding oder das Ding als Moment des Geistes (das “Gedankending“, “das Ding ist ich“), für Marx: die
Gesellschaft als Ding oder das Ding als Moment der Gesellschaft (das “Wertding“, das “gesellschaftliche Ding“). Die
“Phänomenologie des Geistes“ handelt nicht von Dingen, sondern von allgemein geistigen Beziehungen, die an Dinge
gebunden sind und als Dinge erscheinen. Die Politökonomie handelt nicht von Dingen, sondern von besonderen
gesellschaftlichen Beziehungen, die an Dinge gebunden sind und als Dinge erscheinen. Die Entwicklung der Keimzelle und
Elementarform führt auf beiden Wegen weg vom qualitativ bestimmten, sinnlich gewissen Ding, das unwesentlich wird, zum
unsinnlichen Allgemeinen. Auf der einen Seite aber bleibt das “Ich als allgemeines“, auf der anderen Seite der “allgemeine
Wert“, der sich verwertet. Auf der einen Seite wird ein unbestimmt abstrakt allgemeines zu einem bestimmt konkret
Allgemeinen, zu einem sich selbst bestimmenden Allgemeinen. Hiermit soll zugleich verdeutlicht werden, dass das “Kapital“
direkt nicht mit der Hegelschen “Logik“, sondern mit der “Phänomenologie des Geistes“ zu konfrontieren ist. Die
Universalität der Kategorien der Hegelschen “Logik“ widerstreitet der Besonderheit der Kategorien der kapitalistischen
Gesellschaft und entspricht vielmehr der Allgemeinheit der Struktur jeder Arbeit, wie Marx` Bezugnahme im “Kapital“ zeigt
(MEW 23, S.195). Wenn Marx andererseits davon spricht, dass ihm „in der Methode des Bearbeitens“ das Durchblättern der
Hegelschen Logik „einen großen Dienst geleistet“ habe (MEW 29, S. 260), so unter dem Aspekt, dass die Idee auch auf
dieser Ebene – abgesehen von der hier prätendierten an und fürsichseienden absoluten Subjekt-Objekt-Einheit – als
stufenweise sich selbst bestimmend und vermittels ihrer dialektischen Selbstunterscheidung (Sein, Nichts, Werden usw.) zu
sich kommend dargestellt wird, was der Darstellung der dialektischen Selbstbestimmung des Kapitals entspricht.“
24 Henri Lefebre, Probleme des Marxismus heute, Frankfurt/M. 1965, S.30
5
(gesellschaftliches Wissen in den einzelnen Epochen) und absoluten Geistes (Bewusstsein der Einheit
von subjektivem und objektivem Bewusstsein). In der stufenweise Erkenntnis über den
Konstitutionscharakter von Natur und Geschichte wird die Entfremdung durch Aufhebung der
Vergegenständlichung Schritt für Schritt zurückgenommen und am Ende, im Rahmen der unendlichen
Theorie, die absolute Vermitteltheit von Subjekt und Objekt in einem sich selbst bestimmendes
Allgemeinen begriffen, das im Laufe Entwicklung an Subjektcharakter gewinnt. Dabei erkennt der
Geist im Laufe der Reise zu sich selbst, dass nicht nur die Geschichte, sondern auch die Natur Geist
sind, nämlich Komponenten des entäußerten absoluten Geistes, die in ihn zurückgenommen werden
können.25 Bei Hegel ist somit am Endpunkt seiner Ausführungen, im absoluten Geist, der nun mit der
Erkenntnis seiner wesentlichen Struktur wieder bei sich selbst anlangt ist, der Höhepunkt
menschlicher Selbstbestimmung erreicht.26 Logisch geordnet stellt sich die Unmittelbarkeit neu her
und die Darstellung fängt in der “Wissenschaft der Logik“ systematisch neu geordnet mit dem „Sein“
wieder von vorn an.27
Bei Hegel besteht also die Entfremdung darin, dass sich der absolute Geist in Natur und Geschichte
entäußert, aber über das Begreifen dieser Vergegenständlichung als Erkenntnis seiner eigenen Struktur
wieder bei sich angelangt. Gerade dies kritisiert Marx an Hegel: Die absolute Subjekt-Objekt-Einheit
im absoluten Wissen, in welchem die Gegebenheit der Außenwelt aufgehoben wird. Bei Marx kann
die Objektivität des Gegebenen in Gestalt der Natur nicht wieder in ein Subjekt zurückgenommen
werden. Außerdem bemängelt Marx, dass Hegel in seiner idealistischen Darstellung der Entfremdung
nicht zu ihren realen Gründen vorstößt, sondern diese nur im Bewusstseinsprozess anerkennt, als
verschiedenen Etappen und Schranken des Geistes im Laufe seiner Selbstwerdung.28 Marx hingegen
kennzeichnet die Entfremdung als Subjekt-Objekt-Umkehr von Mensch und Arbeitsprodukt, für die
eine entfremdete Produktionsform Vorbedingung ist, also die isolierte Produktion von
Privatproduzenten, deren Güter nicht von vornherein gesellschaftlich sind, weil sie sich als Waren und
Geld erst über den Händewechsel im Markt realisieren müssen.
Die “Kritik der politischen Ökonomie“ ist eine genaue Analyse und radikale Kritik der zunehmenden
Verselbständigungstendenzen der kapitalistischen Ökonomie. Wenn Marx hier ein historisches
Subjekt beschreibt, dann das selbstbezügliche Kapitalverhältnis und nicht die Arbeiter- oder
Kapitalistenklasse, die sich beide ersterem unterzuordnen haben. Dabei ist das sich zunehmend selbst
bestimmende Kapitalverhältnis ein identisches Subjekt-Objekt in dem Sinne, dass es sich zwar aus der
Gesamtheit der Handlungen auf dem Markt konstituiert, aber unabhängig vom individuellen Willen ist
25 Bei Marx hingegen bleibt die Natur als Grundvoraussetzung menschlichen Tuns unaufhebbar.
26 Vgl. Georg Lukács, S. 444f
27 Vgl. Hegel, S. 524 u. 528ff, Hans Heinz Holz, Einheit und Widerspruch. Problemgeschichte der Dialektik der Neuzeit, Bd.
3, Stuttgart u. Weimar 1997, S.9 u. 25, Georg Lukács, S. 504, 509, 541ff
28 Vgl. Karl Marx/Friedrich Engels, Die heilige Familie, Berlin 1953, S. 75f, 637, Jindrich Zeleny, S. 203f
6
und sich die Individuen zunehmend unterordnet. Gleichwohl wird dieses Kapitalverhältnis von Marx
als eine soziale Beziehung, die an Dinge gebunden ist und als Ding erscheint, aber wesentlich
produziert und Ausdruck eines bestimmten Verhältnisses ist, dechiffriert: In allen menschlichen
Gesellschaften werden Güter produziert. Aber Marx hebt hervor, dass nur in den
Gesellschaftsformationen, in denen der Privataustausch der Produkte vorherrschend ist, die konkret-
nützliche Arbeit der Wertform untergeordnet wird, wobei die Verausgabung abstrakt menschlicher
Arbeit in zeitlich messbaren Einheiten der Maßstab ist. In der unkoordinierten Vermittlung der Waren
über Markt und Konkurrenz gewinnen die Waren und ihre Herstellungs- und
Verwertungsbedingungen – also Dinge und dingliche Beziehungen - eine zunehmende
Schicksalsmacht über die Menschen.29 Der eigentümliche Anteil der Menschen daran wird von den
unpersönlichen Verwertungsbewegungen verdeckt. Die menschlichen Beziehziehungen werden
versachlicht, sachliche Beziehungen gewinnen ein Eigenleben. Dies hat zur Folge, dass die
gesellschaftlichen Verhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft so erscheinen, als wären sie gar nicht
gesellschaftlich und die damit zusammenhängende Versachlichungen der menschlichen Beziehungen
naturgegeben.30 Diese Ontologisierung gesellschaftlicher Beziehungen nimmt nach Marxens
Darstellung der dialektische Selbstbewegung der Warenform zu.31 Sie geht im “Kapital“ von der Ware
zum Geld über das Kapital zum Zins und letztendlich zur Grundrente, bei welcher der Anteil
menschlicher Arbeit vollkommen ausgelöscht ist. Die gesellschaftlichen Eigenschaften von Dingen in
bestimmten historischen Verhältnisse sind hier voll und ganz zu Verhältnissen des Bodens
vernaturalisiert. Gleichzeitig nimmt im Fortgang der Entwicklung des Kapitalverhältnisses, welches
sich als automatisches Subjekt zunehmend sämtliche gesellschaftlichen Beziehungen unterordnet, für
die eigentlichen Subjekte dieses Prozesses, die Menschen, die Unfreiheit und die Fetischisierung ihrer
Beziehungen zu.32 Die von Menschen erzeugten gesellschaftlichen Verhältnisse erscheinen als
Selbständiges und die Menschen mit ihren Bedürfnissen als Anhängsel. Diese wachsende Subsumtion
des Menschen unter die von ihm selbst geschaffenen Strukturen und Produkte begreift Marx als
stufenweisen Zunahme der Entfremdung.33 – Gleichwohl produziert diese Entfremdung für Marx auch
das Rüstzeug für ihre Überwindung, da die bürgerliche Konkurrenzwirtschaft fortwährend
menschliche Arbeitskraft durch Technologie ersetzt und eine koordinierte Form der gesellschaftlichen
Produktion und Reproduktion objektiv möglich und für die Lohnabhängigen geboten macht.
29 Vgl. MEW 25, S. 826
30 Vgl. Moishe Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, Freiburg 2003, S. 392
31 Vgl. Helmut Reichelt, Zur logischen Struktur des Kapitalbergriffes bei Karl Marx,Frankfurt u. Wien 1970 S. 90
32 Vgl. Elmar Treptow, Die Entfremdungstheorie bei Karl Marx (unter besonderer Berücksichtigung des Spätwerks), S. 88
33 Vgl. ebd. S.108
7
Mit der Wertbeziehung entsteht eine Herrschaft neuen Typs34: Diese erscheint in naturalisierter Form,
da sie nicht direkt, persönlich und subjektiv ausgeübt wird und selbst den Nutznießer beherrscht.35
Dieses Verhältnis wird wiederum durch das Ineinssetzen von Arbeit als notwendige Vorbedingung
jeden gesellschaftlichen Seins und abstrakter Arbeit als Vermittlungsinstanz in der besonderen
Warenwirtschaft verschleiert und somit das Prinzip der abstrakten Arbeit ontologisiert.36 Dabei
produziert die in diesem Verhältnis dominante Form von Arbeit eben nicht nur die Ware, Lohn und
Profit, sondern das Verhältnis, dass diese Beziehungen erst generiert, ständig mit. Somit spielt sich die
Marxsche Analyse der verselbständigten Warenbewegung auf zwei Ebenen37 statt: Sie handelt nicht
nur von den ökonomische Kategorien, sondern zeigt diese als verfestigte und verdinglichte
menschliche Beziehungen auf, bringt also diese Kategorien wesenhaft auf ihre Erzeuger (und ihre
Klassenbeziehungen) zurück. Die zunehmende Verselbständigung des Wertschöpfungsprozesses und
deren dingliche Kategorien wie z. B. Ware, Geld, Kapital werden als Signum einer bestimmten
gesellschaftlichen und historischen Konstellation enttarnt.38 Denn die Verkehrung von Mensch und
Sache, liegt zwar daran, dass die Sachen die Vermittlung zwischen den Menschen herstellen, ist aber
nicht in den Sachen begründet, sondern in den besonderen Verhältnissen, in denen die abstrakte Arbeit
das gesellschaftliche Zentrum bildet und als Tausch von Dingen erscheint und in bestimmten
gesellschaftlichen Umständen, die diese Beziehung erst ermöglichen.39
Nach Marx werden aber nicht nur die sozialen Beziehungen der Menschen durch die gesellschaftliche
Warenform atomisiert und verkehrt, sondern auch ihr Bewusstsein: Während mit dem Grad der
gesellschaftlichen Funktionsteilung die Abhängigkeit der gesellschaftlichen Individuen wächst und
sich die Rationalität in Teilbereichen extrem steigert, nimmt mit wachsenden Konkurrenzdruck die
Unvorsehbarkeit des Zusammenspiels dieser Handlungen und somit die Irrationalität
gesamtgesellschaftlich zu.40 Es dominiert der Eindruck wachsender sozialer Isolation und
Machtlosigkeit, die durch Anpassung an die spätkapitalistische Realität perpetuiert und (scheinbar)
kompensiert wird. Die wachsende Fremdbestimmung erscheint also nicht automatisch als das, was sie
ist, sondern sogar eher als ihr Gegenteil, als wachsende Selbstbestimmung. Pausenlos werden die
Interessen der Menschen dem Interesse der Kapitalverwertung untergeordnet und diese
Sonderinteressen zur Norm erklärt.41 Paradoxe Folge dieser verkehrten Welt ist, dass die
34 Vgl. Moishe Postone, S. 331
35 Vgl. ebd., S. 127ff
36 Vgl. MEW 23, S.86
37 John O`Neil,S.112f
38 Vgl. Moishe Postone, S. 215
39 Vgl. Dieter Wolf: Der dialektische Widerspruch im Kapital. Ein Beitrag zur Marxschen Werttheorie, Hamburg 2002, S.
73f
40 Vgl. Robert Kurz, Die Welt als Wille und Design. Postmoderne, Lifestyle-Linke und die Ästhetisierung der Krise, Berlin
1999, S. 151
41 Vgl. Hans Heinz Holz, Niederlage und Zukunft des Sozialismus, Essen 1992, S.35
8
Unterordnung unter diese Verhältnisse den Charakter von Selbstbestimmung (im Sinne der bewussten
Unterordnung von Naturgesetzen) erscheint: Einerseits nehmen nach Marx die Kategorien des
gesellschaftlichen Austauschs, je fetischisierter und verdinglichter sie sind, immer mehr einen quasi-
natürlichen Charakter an und wirken immer leichter auf die Formen des Alltagsbewusstseins ein.
Andererseits werden die Menschen mit ihren Wünschen und Bedürfnissen auch real immer mehr zu
Variablen des Wirtschaftswachstums gemacht, was zur Folge hat, dass – falls die Individuen diese
Strukturen und Mechanismen internalisieren - das private mit dem öffentlichen Interesse scheinbar
völlig verschmilzt.42 Die Menschen werden zu „Charaktermasken“43, welche die völlige Subordination
individueller Freiheit unter die sachliche Macht des Kapitals mindestens solange als höchsten
Ausdruck persönlicher Freiheit feiern bis der Gerichtsvollzieher an die Tür klopft. Hier geraten wir in
eigentümliche Nähe zu Hegels philosophischen Idealismus, der gleichfalls die wachsende
Unterordnung unter sein identisches Subjekt-Objekt als Prozeß wachsender Selbstbestimmung der
Menschen fasst.44 Gleichwohl ist für Marx, wie wir gesehen haben, im Gegensatz zu Hegel das
Sichselbst-Erfassen seines identischen Subjekt-Objekts, des Kapitals, nicht der Höhepunkt, sondern
der Tiefpunkt menschlicher Selbstbestimmung. Er ist gerade nicht ewig, sondern historisch.45 Und die
freie Bewegung seiner Substanz – der Arbeit - würde gerade nicht die Realisation der Totalität,
sondern deren Abschaffung bedeuten.46
Diese Abschaffung kann aber selbst wieder das Produkt der Potenzen sein, die aus der Entfremdung
hervorwachsen. Denn diese forciert einerseits die Entwicklung der Produktivkräfte (und ermöglicht
somit die Emanzipation der menschliche Gattung auf materieller Basis) und ruft anderseits selbst
Krisen hervor in denen gesellschaftliche Konflikte positiv eskalieren können. Die Krisen sind nicht
eindeutig negativ, sondern auch potentiell positiv: Sie verweisen in entfremdeter Form auf das
Wirklichwerden menschlicher Potenzen, die erst die Möglichkeit hervorbringen, den
gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozess zu kontrollieren.
Würde dies geschehen, könnten wir in einer weiteren Analogie zu Hegel von einer Wiederherstellung
des aus einem Entfremdungsprozess neu gewonnen, Unmittelbaren sprechen.47 In der asiatischen
Produktionsweise und in der Familienagrikultur48 herrscht die unmittelbare Einheit von Produzenten
42 Hanfried Müller, In Ost und West gegen den deutschen Imperialismus IN: topos 2, Demokratie, San Abbondio 1993, S.117
43 Vgl. MEW 23, S.16 u. 85ff
44 Vgl. Vgl. Helmut Reichelt, S. 79f
45 Vgl. Moishe Postone, S. 243
46 Dennoch sind für beide Denker die Entfremdungsphänomene in der menschlichen Geschichte, die für Hegel aufgehoben
werden und nach Marx potentiell aufhebbar sind.
47 Vgl. Reinhard Meiners, S. 314
48 MEW 26.3. S.414: „Die ursprüngliche Einheit zwischen Arbeiter und Arbeitsbedingungen (...) hat zwei Hauptformen: das
asiatische Gemeinwesen (ursprünglicher Kommunismus) und die kleine Familienagrikultur. (...). Beide Formen sind
Kinderformen und gleich wenig geeignet, die Arbeit als gesellschaftliche Arbeit und die Produktivkraft der gesellschaftlichen
9
und Produktionsmitteln. Diese Einheit wurde in der Epoche des Kapitalismus zerbrochen. Doch es
entwickeln sich aus der entfremdeten kapitalistischen Produktionsweise selbst die Mittel, um diese
Trennung wiederaufzuheben49 und die Einheit nun nach einem gesellschaftlichen Plan auf höherer
Ebene50 wiederherzustellen.
Arbeit zu entwickeln. Daher die Notwendigkeit der Trennung, der Zerreißung, des Gegensatzes zwischen Arbeit und
Eigentum (womit zu verstehen Eigentum an den Produktionsbedingungen).“
49 Vgl. MEW 25, S.269, MEW 26.1., S.157
50 MEW 26.3. S.414f:„Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigene
Negation. Es ist Negation der Negation. Diese stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle
Eigentum auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und
der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmitteln.“
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