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Prof. Dr. Dagmar Richter INP PAN Warszawa Institut für Rechtswissenschaften der Polnischen Akademie der Wissenschaften [email protected] Universität des Saarlandes, WS 2014/15 Vorlesung „Staatsrecht I“ Nr. 2: Demokratische Formation der Staatsorgane durch Wahlen 1

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Prof. Dr. Dagmar RichterINP PAN Warszawa

Institut für Rechtswissenschaften der Polnischen Akademie der [email protected]

Universität des Saarlandes, WS 2014/15

Vorlesung „Staatsrecht I“

Nr. 2: Demokratische Formation der Staatsorgane durch Wahlen

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Kernelemente demokratischer Wahlen:

� Prinzip der Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG):

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus Sie wird vom Volk in Wahlen und Abstim-mungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“

� Volk legitimiert zur Ausübung von Staatsgewalt. „Volk“ ist die Gesamtheit der Staatsangehörigen (Art. 116 GG).

� „Wahlen“ (repräsentative Demokratie) → Art. 38 I 1 GG; „Abs:mmungen“ (plebiszitäre Demokratie) → Art. 29, 118 GG.

� Mehrheitsprinzip→ Mehrheit von Wählers:mmen muss sich in Mehrheit der Mandate nieder-schlagen.

� Herrschaft auf Zeit→ Durchführung von Wahlen in angemessenen, regelmäßig wiederkehrenden Abständen, so dass die bisherige Minderheit zur Mehrheit werden kann (max. 5-6 Jahre). Die laufende Legislaturperiode darf nicht verlängert werden, allenfalls die folgende (in Maßen). 2

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Kernelemente demokratischer Wahlen (Fortsetzung):

� Geltung von Wahlprinzipien→ Wahlen müssen allgemein, frei, gleich und geheim sein (Demokratieprinzip aus Art. 20 I GG; Art. 3 ZP 1 EMRK). Enger Art. 38 I 1 GG: auch unmittelbar.

� Politische Grundrechte→ Volk muss freien Willen durch ungehinderten Gebrauch der Meinungs-, Informations-, Presse-, Rundfunk-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit bilden können.

� Parteienfreiheit→ Politische Parteien müssen ungehindert vom Staat gegründet und betrieben werden können. Sie müssen staatsfern bleiben, damit Willensbildung vom Volk zum Staat und nicht umgekehrt verläuft.

� Innerparteiliche Demokratie→ Politische Parteien müssen demokratische Binnenstruktur haben.

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Ziel der Wahlen:

� Formation der Staatsorgane→ BT → wählt BKanzler → schlägt BMin zur Ernennung vor → BReg entsteht.

� Demokratische Legitimation (ununterbrochene Legitimationskette)→ Hoheitliche Befugnisse werden nur von Funktionsträgern ausgeübt, die sich wenigstens mittelbar auf eine Legitimation durch das Volk (Wahlentscheidung des Volkes) stützen können.

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Rechtliche Grundlagen und Grundentscheidungen zum Wahlrecht:

� Das Grundgesetz regelt in Art. 38 GG nur BT-Wahlen, keine LT-Wahlen (→ siehe insoweit Landesverfassungen).

� Das GG gibt nur fundamentale Wahlprinzipien vor (Art. 38 I Satz 1 GG); es überlässt das Wahlsystem dem Gesetzgeber (Art. 38 III GG).

D.h.: Wahlsystem kann durch einfaches Bundesgesetz grundlegend verändert werden (z.B. Wechsel von der Verhältnis- zur Mehrheitswahl).

� Art. 38 GG wird (auf der Basis von Art. 38 III GG) konkretisiert durch� Bundeswahlgesetz (BWahlG), � Bundeswahlordnung (BWahlO) und� Wahlprüfungsgesetz (WahlprüfG).

� Aktuell wird „nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ (§ 1 II 2 BWahlG) – sog. personalisierte Verhältniswahl –gewählt. Die personalisierte Verhältniswahl legt die Verhältniswahl zugrunde und modifiziert sie durch Elemente der Mehrheitswahl.

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Wahlrechtsprinzipien (Art. 38 I 1 GG)

→ erfassen „Wahl“ im prozesshaLen Sinne, d.h. von der Wahlvorbereitung bis zur Er-mittlung des Wahlergebnisses.

� Allgemeinheit→ kein Ausschluss bes:mmter Gruppen anhand ungerechtfertigter Kriterien: z.B. Vermö-gen, ethnische Herkunft, etc. – vgl. Art. 3 III GG; gerechtfertigt: z.B. Mindestalter, Deut-scheneigenschaft, Mindestaufenthalt in Deutschland (Problem: Verlusts des Wahlrechts bei Aufenthalt innerhalb EU!), Einsichtsfähigkeit (Art. 38 II GG; §§ 12 f., 15 BWahlG).

Aktive Wahlberechtigung (Wahlrecht): Art. 38 II HS 1 GG, §§ 12 f. BWahlG;

Passive Wahlberechtigung (Wählbarkeit): Art. 38 II HS 2 GG, § 15 BWahlG.

� Unmittelbarkeit→ Keine Zwischenschaltung weiterer Entscheidungen (z.B. von „Wahlmännern“) zwischen Wählervotum und Gewählten.

� Wahlfreiheit→ Keine Beeinflussung der Stimmabgabe oder Kandidatur durch Druck oder Zwang, keine Beeinflussung der Wahlvorbereitung, freie Meinungsbildung, Mindestauswahl zwischen unterschiedlichen Parteien bzw. Wahlbewerbern. Erlaubt: Wahlkampf und Wahlwerbung, „Hirtenworte“ der Kirche.

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Wahlrechtsprinzipien (Art. 38 I 1 GG) - Fortsetzung

� Gleichheit→ verlangt gleichen Zählwert und gleichen Erfolgswert.

� gleicher Zählwert: jede wählende Person hat nur eine Stimme, jede Stimme wird gleich gezählt (Anders: preußisches Drei-Klassen-Wahlrecht).

� gleicher Erfolgswert: jede wählende Person hat mit ihrer Stimme den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis (Sitzverteilung im Parlament).

Abweichungen?

� vom gleichen Zählwert: NEIN!

� vom gleichen Erfolgswert: in engen Grenzen, wenn dies mit Blick auf die Besonderheiten des gewählten Wahlsystems (systemspezifisch) z.B. zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Volksvertretung erforderlich ist.

Hauptbeispiel : 5%-Sperrklausel bei der Verhältniswahl.

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Wahlrechtsprinzipien (Art. 38 I 1 GG) - Fortsetzung

� Geheimheit

→ sichert Wahlfreiheit ins:tu:onell ab. Verbot jeder Veranlassung zum Bekennt-nis der Wahlentscheidung vor, während oder nach der Wahl. Freiwillige Bekun-dung allenfalls vor oder nach der Wahl. Eigentlicher Wahlakt muss strikt geheim bleiben!

� Öffentlichkeit (Art. 38 i.V.m. 20 I, II GG)→ sichert Ordnungsgemäßheit und Nachvollziehbarkeit der Wahlvorgänge, schafft Vertrauen der Bürger in den korrekten Ablauf der Wahl; umfasst Wahl-vorschlagsverfahren, Wahlhandlung (durchbrochen durch Wahlgeheimnis) und Ermittlung des Wahlergebnisses.

Problem: Wahlcomputer (BVerfGE 123, 39 ff.)

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Wahlprüfung (Art. 41 GG i.V.m. WahlprüfungsG)

� Wahlrecht aus Art. 38 I 1 GG ist einklagbares „grundrechtsgleiches“ Recht (Art. 93 I Nr. 4 a GG).

� Aber: Behauptung von Unregelmäßigkeiten bei Wahldurchführung inkl. Ergebnisermittlung können nur im Wahlprüfungsverfahren (Art. 41 GG, WahlprüfungsG) geklärt werden.

� Wahlprüfung ist Sache des BT (Vorentscheidung durch Wahlprüfungs-ausschuss): Art. 41 I 1 GG, WahlprüfungsG.

� Gegen Entscheidung des BT ist Wahlprüfungsbeschwerde zum BVerfGeröffnet (Art. 93 I Nr. 5, Art. 41 II GG).

� Abzuwägen sind Art und Schwere des Verstoßes gegen das Bestandsinter-esse des gewählten BT. Ungültigerklärung der Wahl nur, wenn sich Verstoß auf das Wahlergebnis ausgewirkt haben kann!

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Fallbeispiel:

Sachverhalt:

Im Städtchen X sollen 2 345 Bürger (16,24 %) durch Briefwahl gewählt haben, von denen etwa ein Drittel sich die Briefwahlunterlagen von einigen wenigen Vertretern einer Partei ins Haus habe bringen lassen. Einer Aufstellung des Kreiswahlleiters zufolge befänden sich unter den 15 Personen, denen jeweils mehr als 10 Briefwahlunterlagen ausgehändigt worden seien, einzelne, die 155, 144, 121, 101, 72 und 63 Unterlagen in Empfang genommen hätten. Manipulationen seien nicht auszuschließen. Diese könnten von Einfluss auf die Sitzverteilung im Bundestag gewesen sein.

Aufgabe:

Lesen Sie bitte § 36 BWahlG.

Diskutieren Sie mit Ihren Kommilitonen, ob das geschilderte Vorkommnis zu einer Verletzung von Art. 38 I 1 GG führt.

Zum Nachlesen (Lösung): BVerfGE 59, 119, 125 ff.10

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Verhältniswahl (nach Parteilisten):

Wahlämter werden im Verhältnis zu den abgegebenen Stimmen besetzt.

Z.B.: Eine Partei, die 10% der Wählerstimmen erhält, erhält auch 10% der Parlamentssitze (Mandate).

Vorteile:

� Repräsentation möglichst aller politischer Strömungen;

� minderheitenfreundlich (i.d.R. gedämpft durch Sperrklausel!);

� politischer Wandel schlägt sich schneller im Parlament nieder;

� keine „Erdrutschsiege“ mit zu starkem Umschwungeffekt;

� Notwendigkeit von Koalitionen mit Zwang zur Kompromissfindung;

� keine Diskrepanz zwischen Wahlsieg und Gesamtstimmenzahl;

� etc. pp.

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Mehrheitswahl (in Wahlkreisen):

Die Abgeordneten werden in Wahlkreisen gewählt. Das Mandat gewinnt, wer mehr als 50% der Wählerstimmen (absolutes Mehrheitssystem) oder wer die meisten Stimmen (relatives Mehrheitssystem) erlangt.

Vorteile:

� Förderung stabiler Mehrheiten durch Verhinderung der Parteienzersplitterung im Parlament;

� Erleichterung des Machtwechsels;

� politische Mäßigung der Parteien, die breite Basis im Wahlvolk brauchen;

� stärkerer Einfluss der Wählerschaft statt „Ausklüngeln“ in Koalitionsrunden;

� stärkere regionale Verankerung;

� etc. pp.

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� In GB (England, Wales, Schottland) gilt für Wahlen zum House of Commons das Mehrheitswahlsystem (plurality system).

� Wahl von Direktkandidaten/-kandidatinnen in Wahlkreisen (constituencies) nach dem System der relativen Mehrheit (simple majority): Wer die meisten Stimmen im Wahlkreis erhält, gewinnt das Mandat (’first past the post’

principle).

� Ausnahme Nordirland: Verhältniswahlrecht (system of proportional represen-tation), um Repräsentanz sowohl der Mehrheit (Protestanten) als auch der Minderheit (Katholiken) sicherzustellen.

� Bei Beteiligung von mehr als zwei Parteien kann eine Partei die meisten Sitze im Parlament erringen, die insgesamt weniger Stimmen als die nächst erfolgreiche erhalten hat (so 1929 und 1974: Sieg von Labour; 1951: Sieg der Konservativen).

Grundlegend zur Idee der Mehrheitswahl:

“The principle of parliamentary representation is that we shall recognize each constituency[...] as being itself a community. We do not want to have represented in miniature particular shades of opinion [...] but the sense of the majority, which represents the whole community[...].“

William Ewart Gladstone (1809-1889) 13

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Zahl der zu wählenden Abgeordneten (§ 1 I 1 BWahlG):

→ 598 Mandate (§ 1 I BWahlG) plus x Überhangmandate (§ 6 V BWahlG). Derzeit: 631 Sitze.

Die Hälfte aller Abgeordneten (299) wird nach Kreiswahlvorschlägen in den Wahlkreisen, die andere Hälfte nach Landeslisten gewählt (§ 1 II BWahlG).

Die Wähler haben zwei Stimmen (§ 4 BWahlG):

Erststimme: Wahl von 299 Abgeordneten nach den Grundsätzen der Mehrheits-wahl in 299 Wahlkreisen (§ 5 BWahlG; zu den Anforderungen an Wahlkreise: § 3 BWahlG).

Zweitstimme: Wahl von 299 Abgeordneten nach den Grundsätzen der Verhältnis-wahl mittels Landes(partei)listen (§§ 6, 27 BWahlG).

Landeslisten können nur von Parteien aufgestellt werden (§ 27 BWahlG).

↔ In Wahlkreisen können auch unabhängige Bewerber(innen) direkt kandidieren (§§ 18 I, 20 III BWahlG).

Warum „personalisierte Verhältniswahl“?

Wegen der Verrechnung errungener Direktmandate mit der Landesliste der jeweiligen Partei (§ 6 IV BWahlG) handelt es sich um eine modifizierte Form der Verhältniswahl. 14

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Oktober 2013

© DBT

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Fraktion Direktmandate Landeslisten gesamt

CDU/CSU 236 75 311

SPD 58 135 193

Die Linke 4 60 64

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

1 62 63

Bundestag gesamt 299 332 631

29 Ausgleichsmandate (CDU 13, SPD 10, Die Linke 4, Bündnis 90/Die Grünen 2, CSU 0)

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Sitzzuteilungsverfahren: Umrechnung des Wahlergebnisses in BT-Mandate

Erste Verteilungsstufe: (1)-(5)

(1) Feststellung der Landessitzkontingente (§ 6 II BWahlG)→ nach Bevölkerung ohne Ausländer (§§ 6 I 1 i.V.m. 3 I BWahlG) und Minderjährige (BVerfG) anhand Divisorverfahren mit Standardrundung nach Sainte-Laguë/Schepers (§ 6 I 2-7 BWahlG).

Quelle: Statistisches Bundesamt

und Berechnungen der Autoren von

www.wahlrecht.de/bundestag/

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BundeslandDt. Bevölkerungam 31.12.2012

Sitzkontingent

Schleswig-Holstein 2.686.085 22

Mecklenburg-Vorpommern 1.585.032 13

Hamburg 1.559.655 13

Niedersachsen 7.354.892 59

Bremen 575.805 5

Brandenburg 2.418.267 19

Sachsen-Anhalt 2.247.673 18

Berlin 3.025.288 24

Nordrhein-Westfalen 15.895.182 128

Sachsen 4.005.278 32

Hessen 5.388.350 43

Thüringen 2.154.202 17

Rheinland-Pfalz 3.672.888 30

Bayern 11.353.264 92

Baden-Württemberg 9.482.902 76

Saarland 919.402 7

74.324.165 598

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(2) Ermittlung der von jeder Partei bundesweit errungenen Zweitstimmen und bundesweit gewonnenen Direktmandate in den Wahlkreisen aufgrund der Erst-stimmen. Ermittlung ist nötig wegen 5%-Klausel und Grundmandatsklausel (§ 6 III BWahlG).

� 5%-Klausel (§ 6 III BWahlG): Bei der Verteilung der BT-Sitze auf die Landes-listen werden nur Parteien berücksichtigt, die mindestens 5% der bundesweit abgegebenen gültigen Zweitstimmen erlangt haben. Klausel gilt nicht für Parteien nationaler Minderheiten!

� Grundmandatsklausel (§ 6 III BWahlG): Auch eine an 5%-Klausel gescheiterte Partei zieht in den BT ein, wenn sie mindestens drei Direktmandate errungen hat, und zwar auf der Basis ihres Zweitstimmenanteils (nicht nur mit den drei Direktmandaten!).

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(3) Ermittlung der landesweit mandatsrelevanten Zweitstimmen (§ 6 I 1 BWahlG). Nicht mandatsrelevant: insb. Zweitstimmen von Wählern, die Erststimme für erfolgreiche Einzelbewerber oder für eine nur per Grundmandatsklausel erfolgreiche Partei abgegeben haben, die als solche (mit Parteiliste) an der 5%-Klausel gescheitert sind (sog. Berliner Zweitstimmen/ bereinigte Zweitstim-menzahl, § 6 Abs. 1 Satz 2 BWahlG ).

Grund: Diese Wähler nehmen mit Erststimmen Einfluss, ohne dass Verhältnis-ausgleich (s.u.) sta\indet → Gefahr des ungleichen Erfolgswerts der S:mmen.

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(4) Landesbezogene Verteilung der mandatsrelevanten (s.o. zu 3) Zweitstimmen auf das jeweilige Landessitzkontingent (§ 6 II 1 Hs. 2 BWahlG). Dabei verringert sich das jeweilige Landessitzkontingent (s.o. zu 1) nach Maßgabe von § 6 I 3 BWahlG(insb. erfolgreiche parteiunabhängige Bewerber [§ 20 III BWahlG] oder solche, deren Partei an 5%-Klausel gescheitert ist).

Der Anteil jeder Partei am (verringerten) Landessitzkontingent richtet sich nach dem Verhältnis der für sie abgegebenen Zweitstimmen (sog. Parteienproporz).

Ermittlung im sog. Divisorverfahren (§ 6 II 2-7 BWahlG).

(5) Abzug der Direktmandate aufgrund des Erststimmenergebnisses von den unter (4) ermittelten Sitzen (vorläufiger Verhältnisausgleich, § 6 IV 1 BWahlG).

Erringt eine Partei mehr Wahlkreismandate, als ihr Sitze nach dem Parteien-proporz (s.o. zu 4) zustehen, bleiben ihr diese als sog. Überhangmandateerhalten (§ 6 IV 2 BWahlG).

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Probleme am Ende der 1. (vorläufigen) Sitzverteilungsstufe:

� Überhangmandate verzerren Parteienproporz.

� Landessitzkontingente bilden den Bevölkerungsanteil und nicht die Zahl der abgegebenen Zweitstimmen ab.

� Fazit: Wahlrechtsgleichheit (Art. 38 I 1 GG) erfordert Korrekturen → 2. Sitzverteilungsstufe!

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Zweite Verteilungsstufe (Feinjustierung und Korrektur [6]-[9])

(6) Gesamtzahl der Sitze des Bundestags wird so weit erhöht, bis sich alle Wahlkreis-mandate (Direktmandate) auf Listenmandate anrechnen lassen. Je nach Höchst-zahl der von einer Partei errungenen Überhangmandate werden die Sitze der anderen Parteien durch sog. Ausgleichsmandate erhöht → Verzerrungseffekt der Überhangmandate verschwindet (§ 6 V BWahlG – sog. Vollausgleich).

(7) Oberverteilung anhand der neu ermittelten (s.o. 6) Gesamtsitzzahl des Bundestags anhand des Divisorverfahrens. Maßgeblich ist das Verhältnis zwischen der Gesamtsitzzahl und den bundesweit für eine Partei abgegebenen mandatsrelevanten Zweistimmen (Bundesproporz, § 6 VI 1 BWahlG).

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Zweite Verteilungsstufe (Feinjustierung und Korrektur [6]-[9])

(8) Landesbezogene Unterverteilung anhand des Divisorverfahrens: Ermittlung der auf jede Partei entfallenden Sitze aufgrund der mandatsrelevanten Zweitstim-men (Landesproporz, § 6 VI 2 BWahlG).

(9) Von der Sitzzahl für jede Landesliste wird die Zahl der Direktmandate abgezogen (Verhältnisausgleich, § 6 VI 3 BWahlG). Vergabe der restlichen Sitze anhand der Reihenfolge der Kandidierenden auf der jeweiligen Landesliste (§ 6 VI 4 BWahlG). Erfolgreiche Wahlkreiskandidaten, die zugleich auf Parteiliste

„abgesichert“ sind, bleiben dabei unberücksichtigt (§ 6 VI 5 BWahlG).

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Dritte Verteilungsstufe (Mehrheitssicherung)

(10) Prüfung, ob eine Partei, die mehr als die Hälfte der Zweitstimmen erlangt haben sollte, auch die Mehrheit an den Gesamtsitzen im BT erhält. Falls nicht, werden dieser Partei weitere Sitze zugeteilt, bis auf sie ein Sitz mehr als die Hälfte der Gesamtsitze entfällt, wodurch sich die Gesamtsitzzahl des BT weiter erhöht

(Mehrheitssicherungsklausel, § 6 VII BWahlG).

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Warum ist das deutsche Wahlsystem so kompliziert?

� Mischsystem: Verhältniswahlsystem aus Gründen der politischen Integration, zugleich aber Versuch, Vorteile des Mehrheitswahlsystems zu nutzen. Folge: Erst-und Zweitstimmen müssen miteinander verrechnet werden.

� Elemente der Mehrheitswahl dürfen nur so in das Verhältniswahlsystem integriert werden, dass es zu keiner Verzerrung des Wahlergebnisses bzw. keiner Verletzung der Wahlrechtsgrundsätze (Art. 38 I 1 GG) kommt.

� 5%-Klausel und Grundmandatsklausel bewirken Unterschiede zwischen der Wahl von Wahlkreisbewerbern mit Zugehörigkeit zu einer erfolgreichen Listenpartei und solchen ohne Zugehörigkeit zu einer solchen Partei, die auszugleichen sind.

� Starke föderale Elemente (Landeslisten) erzeugen Erfordernisse der Koordinierung von Ergebnissen auf Bundes- und auf Landesebene.

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Umrechnung von Stimmen in Sitze bei der Verhältniswahl

Problem: Da es mehr Wählerstimmen als zu vergebende Sitze gibt, bedarf es

einer mathematischen Operation, um die Stimmen in Sitze umzurechnen. Das

mathematische Problem besteht darin, dass die Verteilung nicht „glatt“ aufgeht.

Anwendungsfelder:

� Ermittlung des Wahlergebnisses (Umrechnung von Stimmen in Mandate);

� Besetzung von Parlamentsausschüssen (Umrechnung von Anteilen der

Fraktionen im Plenum in Anteile an den einzelnen Ausschüssen).

Anwendung der verschiedenen Methoden in der BT-Geschichte:

1. BT-Wahlen ab 1949: Höchstzahlverfahren nach d’Hondt (Methode

Jefferson);

2. BT-Wahlen 1987-2005: Proportionsverfahren nach Hare/Niemeyer;

3. Seit BT-Wahl 2009: Divisorverfahren nach Sainte-Laguë/Schepers

(Methode Webster). Siehe § 6 II 2-7 BWahlG.25

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Höchstzahlverfahren nach d’Hondt:

(1) Die Gesamtzahl der Stimmen, welche jede Partei erreicht hat, wird nach-einander durch den Faktor 1, 2, 3, 4 u.s.w. geteilt.

(2) Teilungsergebnisse bilden für jede Partei eine Zahlenreihe.

(3) Parlamentssitze werden unter gleichzeitiger Betrachtung aller Zahlen-reihen in der Reihenfolge der jeweils nächsthöchsten Zahl auf irgend-einer der Reihen vergeben (siehe Platzziffer in Klammern vom 1. bis zum 10. Sitz).

Beispiel: 10 zu vergebende Sitze; 100.000 abgegebene gültige Stimmen

Partei A: 48.000 (1.), 24.000 (2.), 16.000 (5.) 12.000 (7.), 9.600 (9.), 8.000

Partei B: 20.000 (3.), 10.000 (8.), 6.666

Partei C: 18.000 (4.), 9.000 (10.), 6.000

Partei D: 14.000 (6.), 7.000

Ergebnis: A: 5 Sitze, B: 2 Sitze, C: 2 Sitze, D: 1 Sitz.

Bewertung: Einfache Handhabung, aber: Bevorzugung der größeren Parteien.26

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Proportionsverfahren nach Hare/Niemeyer:

(1) Zahl der Parlamentssitze wird multipliziert mit Zahl der Zweitstimmen für eine Partei.

(2) Ergebnis wird durch Gesamtstimmenzahl geteilt.

(3) Jede Partei erhält so viele Sitze, wie ganze Zahlen auf sie entfallen.

(4) Verbleibende Sitze werden in der Reihenfolge der jeweils höchsten Bruchteile (Zahlen nach dem Komma) vergeben.

Beispiel: 10 zu vergebende Sitze; 100.000 abgegebene gültige Stimmen (insgesamt)

Partei A: 48.000 Stimmen: 10 (Sitze) x 48.000 (Zweitstimmen für A) = 480.000; 480.000 : 100.000 Gesamtstimmen = 4,8

Partei B: 20.000 Stimmen: 2,0

Partei C: 18.000 Stimmen: 1,8

Partei D: 14.000 Stimmen: 1,4

Ergebnis: A: 4 Sitze (nach ganzen Zahlen) + 1 Sitz (nach Bruchteil), B: 2 Sitze, C: 1 Sitz + 1 Sitz, D: 1 Sitz.

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Divisorverfahren mit Standardrundung nach Sainte-Laguë/ Schepers

(§ 6 II 2-7 BWahlG):

(1) Ermittlung des Zuteilungsdivisors (Stimmen pro Sitz): Gesamtzahl der Zweitstimmen aller Landeslisten wird durch Gesamtzahl der Sitze geteilt.

(2) Stimmengewinn jeder Partei wird durch den Zuteilungsdivisor geteilt.

(3) Der errechnete Quotient wird zur nächstgelegenen Zahl gerundet. Ist der gebrochene Rest des Quotienten kleiner als 0,5 wird zur nächsten ganzen Zahl abgerundet, ist er größer, zur nächsten ganzen Zahl aufgerundet.

(4) Herabsetzung oder Heraufsetzung des Zuteilungsdivisors, wenn errechnete Sitzzahl und verfügbare Sitzzahl nicht übereinstimmen.

Beispiel: 10 zu vergebende Sitze; 100.000 abgegebene gültige Stimmen

Partei A: (1) 100.000 (Gesamtzahl Zweitstimmen) : 10 (Sitze) = 10.000 (Zuteilungsdivisor);

(2) 48.000 (Wählerstimmen für A) : 10.000 (Zuteilungsdivisor) = 4,8;

(3) 4,8 → 5 Sitze (gerundet).

Partei B: 20.000 (Wählerstimmen für B) : 10.000 (Zuteilungsdivisor) = 2,0 → 2 Sitze (glatt).

Partei C: 18.000 (Wählerstimmen für C) : 10.000 (Zuteilungsdivisor) = 1,8 → 2 Sitze (gerundet).

Partei D: 14.000 (Wählerstimmen für D) : 10.000 (Zuteilungsdivisor) = 1,4 → 1 Sitz (gerundet).

Ergebnis: A: 5 Sitze, B: 2 Sitze, C: 2 Sitze, D: 1 Sitz. Gesamt: 10 Sitze (stimmt!).

Bewertung: Genauestes Verfahren, gilt auch für Ausschüsse des BT (vgl. §§ 57 I, 12 GO-BT). 28

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Normen:→ Art. 21 GG; Parteiengesetz (PartG)

Was ist eine „Partei“?

→ Legaldefinition in § 2 PartG!

� Parteien sind frei gebildete Personenvereinigungen, d.h. gesellschaftlicheEinrichtungen, auf der Basis des Privatrechts. Errichtung als rechtsfähiger Verein (e.V.) ist bei Eintragung in das Vereinsregister möglich, wegen § 3 PartG aber unnötig.

� In der freiheitlichen Demokratie gibt es keine „Staatsparteien“ (Grundsatz der Staatsfreiheit).

� Parteien stehen als Mittler zwischen Volk und Staat. Deshalb verleiht ihnen Art. 21 GG eine hervorgehobene Stellung und garantiert sie als Institution (Institutionengarantie). Das Verfassungsprozessrecht nähert ihre Stellung derjenigen der Staatsorgane an (→ Parteien können „Organstreit“ vor BVerfG führen [Art. 93 I Nr. 1 i.V.m. Art. 21 GG]).

� Im Parlament gibt es keine Parteien (!), sondern nur Fraktionen (§ 45 Abgeordnetengesetz [AbgG] i.V.m. § 10 I GO-BT).

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Schutzbereich des Art. 21 I GG:

(1) Institutionelle Garantie→ garan:ert Existenz und Vielfalt der Parteien.

(2) Subjektiv-öffentliches Recht→ eigenes, einklagbares Recht der Parteien. Ob sich auch Einzelpersonen z.B. auf Parteigründungsfreiheit aus Art. 21 GG berufen können, ist str.; alternativ: Art. 9 i.V.m. Art. 21 GG.

Einzelgewährleistungen des Art. 21 I GG:

� Parteigründungsfreiheit;� Betätigungs- und Tendenzfreiheit (vgl. § 10 I 1, 2 PartG);� Rechts- und Prozessfähigkeit (§ 3 PartG);� Chancengleichheit (s.u.);� Freiheit zur Selbstauflösung.

Pflichtenstellung der Parteien:

� Ernsthaft betätigter Wille, an Wahlen teilzunehmen (§ 2 I PartG);� innere Struktur von Parteien muss „demokratischen Grundsätzen entsprechen“.

Siehe zur „innerparteilichen Demokratie“ Art. 21 I 3 GG, §§ 6 ff. PartG.30

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Chancengleichheit der Parteien:

� grundsätzlich: formale Chancengleichheit

� d.h. Gebot der strikten Gleichbehandlung; jede Partei ist genau so wie alle anderen zu behandeln. Anwendungsbereich: staatliche Eingriffe in die Rechte der Partei (Abwehrsituation).

� Ausnahme: materielle (abgestufte) Chancengleichheit (vgl. § 5 PartG)

� Anwendungsbereich: Vergabe staatlicher Leistungen. Grund für die Abstu-fung: Würde der Staat kleinen Parteien z.B. dieselbe Höhe an Parteienfinan-zierung zukommen lassen wie großen, würde er auf die Gewichtung und Bedeutung der Parteien in der Wählergunst Einfluss nehmen (speziell dazu: § 18 I 2 PartG).

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Doppelfunktion der Parteien:

1. Staatorganisationsrechtliche Stellung

� Art. 21 GG (lex specialis im Verhältnis zu Art.9 GG!) verleiht speziellen ver-fassungsrechtlichen Status, der Parteien Staatsorganen annähert, soweit Mitwirkung der Parteien an Willensbildung des Volkes betroffen (z.B. Partei fühlt sich durch Regelung im Wahlgesetz benachteiligt).

� Sie sind „verfassungsrechtlich notwendiger Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ (§ 1 I 1 PartG).

� Wahlsystem knüpft mit „Listenprivileg der Parteien“ (→ § 27 BWahlG) entscheidend an Parteien an.

� Prozessuale Konsequenz: Parteien können Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gegen andere Verfassungsorgane führen (Art. 93 I Nr. 1 i.V.m. Art. 21 GG.

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Doppelfunktion der Parteien (Fortsetzung):

2. Privatrechtliche Stellung

� Parteien sind immer in privater Rechtsform (i.d.R. als nicht-rechtsfähige Vereine des bürgerlichen Rechts) organisiert. Rechtsfähigkeit (Klagefähigkeit) verleiht § 3 PartG unabhängig davon.

� Sind Parteien wie Privatleute oder Privatunternehmen betroffen (z.B. Partei kauft ein Grundstück), ist Art. 21 GG nicht einschlägig! Partei kann dann Grundrechte geltend machen und ggfalls. Verfassungsbeschwerde erheben.

3. Mittlerfunktion

� Parteien gehören einerseits dem gesellschaftlichen Bereich an und haben an-dererseits die verfassungsrechtliche Aufgabe, an der Willensbildung des Volkes mitzuwirken.

� Sie sind Mittler zwischen Gesellschaft und Staat, für die der Grundsatz der Staatsfreiheit gilt.

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Parteienprivileg:

� Parteien können nur durch das BVerfG verboten werden (→ Entschei-dungsmonopol des BVerfG);

� BVerfG verbietet Parteien nur, wenn sie nach ihrer Gesamttendenz darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung (Folie 35) oder den Bestand des Staates zu beeinträchtigen oder zu gefährden.

Maßgeblich ist das Verhalten der Anhänger, sofern es der Partei zugerechnet werden kann.

� Solange das BVerfG die Verfassungswidrigkeit nicht förmlich festgestellt hat, darf eine Partei nicht wegen (angeblicher) Verfassungswidrigkeit in ihren Rechten beschränkt werden (Art. 21 II, 93 I Nr. 5 GG).

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„Freiheitliche Demokratische Grundordnung im Sinne des Art. 21 Abs. 2 GG ist

eine Ordnung, die unter Ausschluß jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine

rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des

Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit

darstellt.“

(BVerfGE 2, 1, 12 f. – SRP)

Die FDG umfasst:

� Achtung vor den Grund- und Menschenrechten (insbes. Recht auf Leben, freie Entfaltung der Persönlichkeit, Gleichheit);

� Volkssouveränität (Demokratische Legitimation von Herrschaft);

� Gewaltenteilung;

� Verantwortlichkeit der Regierung;

� Gesetzmäßigkeit der Verwaltung;

� Unabhängigkeit der Gerichte;

� Mehrparteienprinzip inkl. Chancengleichheit der politischen Parteien und Recht zur Opposition.

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Bisherige Parteiverbote:

(1.) SRP-Urteil betr. „Sozialistische Reichspartei“ (1952): BVerfGE 2, 1 ff.

(2.) KPD-Urteil (1956): BVerfGE 5, 85 ff.

Das NPD-Verbotsverfahren (2 BvB 1/01 u.a.) wurde am 18.3.2003 aus Ver-fahrensgründen eingestellt.

Fallbeispiel:

Partei P setzt sich dafür ein, dass Deutschland Teil eines europäischen Bun-desstaates wird und dem entsprechend die eigene Staatlichkeit verliert.

Kann sie verboten werden?

Beantworten Sie die Frage unter Berücksichtigung der Präambel des GG und von Art. 23 GG.

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Problem: Diskrepanz zwischen den Verbotsmaßstäben

Art. 21 GG

→ BVerfG prüL, ob die Partei sich in der Gesamttendenz gegen die FDGO (Folien 34 f.) richtet. Wie gefährlich die Partei ist, spielt keine entscheidende Rolle.

Art. 11 EMRK (Vereinigungs- und Parteienfreiheit):

� Strengerer Maßstab des Europ. Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR): Verbot muss „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“/ “necessary in a demo-cratic society“ (Art. 11 II EMRK) sein, d.h. Partei muss hinreichend gefährlich sein.

� Aber: Relativierung in Fällen des Art. 17 EMRK: Partei (oder sonstige Vereinigung) kann auch bei geringerem Gefährdungspotential verboten werden, wenn sie Art. 11 EMRK dazu missbrauchen will, EMRK-Rechte abzuschaffen (EGMR, Urt. v. 12.6.2012, Nr. 31098/08 – Hizb ut-Tahrir v. Germany).

Schlussfolgerung:

Wird Art. 21 II GG so ausgelegt, dass die bloße Absicht zur Beseitigung der FDGO genügt, entspricht ein Parteiverbot nicht den Anforderungen des Art. 11 EMRK, selbst wenn die feindselige Gesamttendenz in Äußerungen und Handlungen der Anhänger-schaft nachweisbar ist.

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