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VERLAGSHAUS J. FRANK | BERLIN Edition Belletristik | Quartheft 27 ALEXA NDER G RAEFF MINK OWSKI S ZITR NEN

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Alexander Græff legt mit seinem zweiten Buch dreizehn neue Erzählungen vor. Dabei bleibt er seiner individuellen Ästhetik treu, wie er sie bereits in »Gedanken aus Schwerkraftland« (2007) mit Erzählungen und Prosafragmenten entwarf.

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Page 1: Q27 // Alexander Graeff // Minkowskis Zitronen // Erzählungen

Verlagshaus J. Frank | BerlinEdition Belletristik | Quartheft 27

isBn: 978-3-940249-45-6 | Preis: 13,90 € www.belletristik-berlin.de | 100% Independent ♥

Alexander Græff legt mit seinem zweiten Buch Minkowskis Zitronen dreizehn neue Erzählungen vor. Dabei bleibt er seiner individuellen Ästhetik treu, wie er sie bereits in Gedanken aus Schwerkraftland (20 07) mit Erzählungen und Prosafragmenten

entwarf.

Minkowskis Zitronen ist eine Sammlung von Erzählungen — klassische wie experimentelle. Die Geschichten exemplifizieren und reflektieren die Erinnerungen, Gedanken und Erfahrungen ihrer Protagonisten und Protagonistinnen. Ohne zu theoretisieren, gelingt es Græff, das immerzu gegenwärtig Musterhafte innerhalb von Bezie- hungen zwischen Menschen aufzuzeigen: Die verborgenen psychologischen wie mythischen Muster, die den zwischenmenschlichen Raum prägen, werden freigelegt. Die Geschichten zeigen mehr, als dass sie etwas aussagen. Sie sind Bei-spiele existentieller Lebensereignisse mit ihrer

mitunter surrealen Anziehungskraft.

»Wenn ich auf den Ring starre, sehe ich alles ganz, ich sehe eine Kugel. Und ich sehe die Zeit, die sich dehnt wie ein Gummiband, das über zwei Pfosten gespannt wurde, um eine glanzvolle Idee — einen Text über die Liebe — so weit, wie es irgend möglich ist, in die Welt hinaus zu schleudern.«

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Rückkehr nach Berlin schrieb er Tante Fabia nur noch einen letzten Brief. Er berichtete kurz von seinem Alltag als Leiter der Kreditab-teilung, doch der Brief war vielmehr ein Lebensrückblick. Er setzte Tante Fabia eine Philosophie der Freiheit auseinander. Ihm sei es, wie er in dem Brief betonte, immer nur um Freiheit gegangen. Doch bei jeder Entscheidung, die er traf, musste er feststellen, dass er dieser Freiheit immer nur nacheilte, sie trotz seines Eifers nie zu fassen bekam. Er verglich sich fortan mit einem Geiger, der ohne Arme geboren wurde, und gerade deshalb das Instrument virtuos beherrschte. Mit den Füßen. Sein Leben sei diese Geige, wie Theo-dor schrieb, und auch er spielte es virtuos.Theodors Brief löste in der Familie große Verwirrung aus. Seiner philosophischen Abhandlung fügte er eine Art Manifest bei. Es war unleserlich auf eine Papierserviette gekritzelt und bestand aus sieben Paragraphen, die beschrieben, wie ein Leben in Freiheit zu führen sei. Es ging um Genuss, Sexualität und ums Reisen. Was Theodor Taut heute macht, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur, dass während der Feier zum siebzigsten Geburtstag von Palentino Carraca, der mittlerweile Gustavio Abrami heißt, einige Gäste über Theodor sprachen. Bis heute interessieren sie sich für die Geschich-ten aus der Zeit, in der Theodor auf Sizilien lebte. Palentino, oder Gustavio, musste nach eigenen Angaben seinen Namen ändern, weil er, wie Bontempelli, mit der Stidda zu tun bekam. Was auch immer man über das intensive Leben von Theodor Taut sagen mag, ich für meinen Teil schätze ihn sehr, auch wenn ich nur kurz in den Genuss gekommen bin, mit ihm persönlich zu tun zu haben. Immer dann, wenn ich die Geschichte von Theodor Taut erzähle, löse ich mit ihr die unterschiedlichsten Reaktionen bei meinen Zuhörern aus. Die einen glauben mir nicht, behaupten, sie sei so unglaublich, dass sie einfach nicht wahr sein könne. Die anderen ziehen wohl in Betracht, dass die Geschichte im Kern zutrifft, doch

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haben sie meist mit Theodors Beruf als Bankangestellter das Problem, dass sie jemandem, der solch ordnungssinnige Tätigkeiten wie Post- oder Bankgeschäfte verrichtet, solch überstürzte Lebensentschei-dungen nicht zutrauen. Ganz gleich also, wie ihr die Geschichte von Theodor Taut bewertet, ich denke, sie passte ganz gut zu unserem heutigen Abend, wo wir doch über die Leben von Menschen spra-chen, die ihres ein wenig anders lebten, als man es sonst gewohnt ist.

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weltuntergangserinnerung

Die aktuellen Vorkommnisse in Lateinamerika sind pathologisch. Wir bedienen uns der Sprache der Mythen, um das Wetter, die schlechte Luft und das hohe Verkehrsaufkommen in Santiago de Chile zu erklären. Unter der Stadt vibriert das Magma, San Miguel sinkt bereits ab — wie Atlantis. Die Nachrichtendienste meldeten ein Erdbeben in Santiago. Aufklärungshubschrauber. Journalisten-scharen. Verwirrte Behörden. Vulkanisch bleckten die Meteorologen damals. Heute jammern sie. Genaue Informationen der Nachrichten- dienste blieben bis zur Stunde aus. Die Welt steht vor einem Rätsel.

„So ein Schwachsinn!“, fluchte Einsam.Endlich Abend. Zu häufig war es in der letzten Zeit vorgekommen, dass Einsam Überstunden machte. Das Bauvorhaben wurde all-mählich zu seinem Lebensmittelpunkt. Ein Punkt in Einsams Lebensmitte.Es klopfte.

„Du bist noch hier?“Freimut trat ein, einer der jüngeren Planungsmitarbeiter. Er kochte ausgezeichneten Kaffee, eine Familientradition aus Guatemala: braun, köstlich, frisch aufgebrüht und immer todschick gekleidet. Freimut war ein Mann von Welt, kein Soziopath hinter einem Schreib-tisch, ein der Welt und ihren Freuden zugewandter Mittdreißiger.

„Wieso klopfst du an, wenn es dich dann überrascht, dass ich noch hier bin?“, wollte Einsam wissen. Es sprach sich herum, dass auch er öfters abends noch arbeitete. Frei-mut legte behutsam eine frische Zitrone auf Einsams Schreibtisch. Er öffnete sein Herz.

Die Welt hat sich verändert. Als ich das letzte Mal in dieser Stadt war, gab es die östlichen Stadtviertel noch nicht. Sie hat es schon gegeben,

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nur waren es damals noch Wellblechslums eines inzestuösen Vor-ortes. Heute ziehen alle in den Osten. Auch die Wetterstation ist umgezogen. Die angestellten Arbeiter schlossen zum Millenium-wechsel alle Bauvorhaben komplett ab. Abends sitzen sie in ihren Büros, trinken aus mitgebrachten Ther-moskannen Wodka und arbeiten bis tief in die Nacht. Das mit dem Wodka hat es früher nicht gegeben. Bis spät in die Nacht arbeiteten wir auch, aber getrunken haben wir immer erst nach der Arbeit. Ich weiß das alles, Mnemosyne hat es mir verraten. Was für ein Name! Sie erinnert sich noch an die Zeit, als sie sich zum Künstlerinnen-dasein ein paar Pesos als Putzhilfe verdienen musste. Morgens malte sie, mittags putzte sie in der Wetterstation und abends biederte sie sich chauvinistischen Galeristen an. Die Bäckerei gibt es übrigens auch noch. Sie verkaufen jetzt Biskuitge-bäck in Form eines Kreisringes und stopfen es mit flüssigem Schinken.

Die Welt steht vor einem Kollaps. Die Menschen marschieren im faschistoiden Rhythmus. Fanfarenstöße. Ein verstimmter Grand- seigneur zählt einen unheilbringenden Countdown. Vulkane erheben sich aus der rissigen Erdkruste. Hagelstürme aus den Wolken. Die Meere treten über die Ufer und verwandeln sich in einen Cocktail aus Feuer, Gischt und Asche.Kein Gedanke, keine Ideologie, kein System hält diesem Fiasko stand: Alles wird kraftlos. Gespenstige Kosakenchöre erschallen im Universum, Düsenjets leiten die Endrunde ein, goldene Quadrigen mit kreidebleichen Pferden peitschen mit Windstärke neun über jene Schlachtfelder, die mit den Überresten der Flug-, Fahr- und Wohn-maschinen bespickt sind. Wie abgestorbene Zahnreihen ragen sie auf vom geschundenen Fleisch des Planeten —

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„Ich trinke für mein Leben gern Champagner“, gestand Mnemosyne.„Das Schönste ist, wenn man sich Champagner leisten kann!“, bestätigte Landläufig. Der Elsässer stieß letztes Jahr zum Vorhaben hinzu. Die Liga war mit ihm vollständig, das Vorhaben konnte angegangen werden. Natürlich war dies allen ein Anlass, sich eine gute Flasche Château de Bligny zu gönnen. Im geselligen Gespräch konnte man ohnehin meist mehr über die Teilnehmer der Liga herausfinden als während des Tagwerks.

„Trinken wir auf die Liga!“, ergriff Doktor Einsam das Wort. „Ja, trinken wir auf unser Bündnis und auf eine gute Zusammen- arbeit.“Gläser klirrten.

„Mein lieber Landläufig“, kam Freimut mit gelöster Zunge zum Gespräch zurück: „Am schönsten ist es doch, gerade Abstand zu nehmen von den Verlockungen dieser Welt“ Das passte so gar nicht zu ihm, dachte Einsam. Sein Kaffee war die Antithese zu diesem Ausspruch. „Wir müssen dagegen lernen“, fuhr Freimut fort, „Distanz zu wahren und die geistigen Erbauungen zu suchen“ Nervös blickte er in die Runde. Er war sich der Wirkung seiner Relativitätstheorie nicht sicher.

„Um schließlich im Beisein jener, die ausreichend geistig erbaut und gebildet sind, den Champagner genießen zu können“, kam er spitz-bübisch zum Ende.

„Circulus Virtuosus“, tönte Einsam.Erneutes Gläserklirren.

Woran denkt man, wenn man gewahr wird, dass es in zwei oder drei Minuten zu Ende ist? Nicht das Ende eines Menschenlebens, sondern das Ende von Allem. Das Ende der Zeit. Der Verlust aller vier Dimen-sionen im Minkowski-Raum.

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Zerreißt mich die Gewissheit, dass nicht einmal die hinterlassenen Werke zu unsterblicher Würde verhelfen können, da auch diese den Ort ihrer Präsenz mit einem Mal verlieren? Zerreißt diese Gewissheit die Gedanken, die Ideen und Empfindungen einer eitlen Menschheit? Wie fühlt sich das an: das Ende? Die letzte Wiederholung, die der Prediger ausspricht, dann — einmal angenommen — tritt er ein, der beschworene Sachverhalt, und alles verliert seinen Sinn. Das Ende zeigt, dass alles nie einen Sinn hatte. Mit jämmerlichen Ideen versuchten wir nur, den Dingen Sinn zu verleihen. So gesehen, hat auch das Ende keinen Sinn — wir können es nicht überprüfen. Wissenschaft am wenigsten.„Das ist das Ende …“, intonierte die Stimme des Radiopredigers.Mnemosyne gab nicht viel auf Endzeitstimmung. Sie hatte neun Kinder auf diese Welt gebracht, hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und versuchte sich als Künstlerin in einer Stadt, in der die Galeristen mit Einfluss nur sittenlose Kerle waren. Ihre Apokalypse war immer schon da: ihr Alltag.

„Man gewöhnt sich an alles“, teilte sie ihrem Radio mit.Seit sie Einsam, Landläufig und Freimut, der ihr besonders ans Herz gewachsen war, kennen gelernt hatte, gab es für sie neue Perspek-tiven im Leben, ein Hoffnungsschein auf ihrem — apokalyptischen — Alltag. Sie lernte die Liga an jenem Abend im Dezember kennen, als sie noch rasch die Büros der wissenschaftlichen Mitarbeiter durch-wischen wollte. Die Herren saßen in geselliger Runde, luden sie zu einem Glas Champagner ein.

„Finis coronat opus“, endete der Radioprediger.Das Ende ist anders.

Sie wussten es. Sie wussten es die ganze Zeit. Niemand schritt ein. Niemand setzte sich zur Wehr. Dabei ergaben die Kontrollen der Dienstaufsicht bereits vor über fünfzehn Jahren, dass sich das

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Vorhaben nur in diese Richtung entwickeln konnte. Am Ende ist auch der Gedankengang zu Ende. Wird zu einem brennenden Punkt, der noch einmal kurz aufleuchtet, wie eine Diode an Einsams Mess-geräten — dann verschwindet. Was zuvor eine Strecke war, eine scheinbar unendlich lange Episode im Kontinuum, ist plötzlich nur noch eine verflucht kurze Zeiteinheit. Das Universum macht keinen Unterschied zwischen lang und kurz.Wenn Einsamkeit und Freiheit wirken. Die Menschheit ist an dem Punkt angelangt, den sie selbst heraufbeschwor. Erinnerungen ver- zerren die Fakten. Gedanken neigen zu Punktbetrachtung und Eindimensionalität. Namen werden Phantasieprodukte. Man ist geneigt, in die Dinge zu schauen, um sie zu erkennen. Doch man for-dert damit nur die eigene Beschränktheit heraus. Verliert den Mut, die eigene Erfahrung einmal nicht zu verabsolutieren. Dieses Ende ist kein individuelles Finale, kein privater Impuls, umzukehren. Das muss auch den Personen der Liga klar geworden sein. Mit dem Ende versiegt auch die letzte Chance, Spuren zu hinterlassen.

„Zum Wohle der Liga!“, sprach Landläufig einen Toast. Jetzt sind endlich Andere an der Reihe: solche wie Mnemosyne. Was sie tun, zeigt der apokalyptische Alltag.

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