ranciere aufteilung des sinnlichen
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5/11/2018 Ranciere Aufteilung Des Sinnlichen - slidepdf.com
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b_baaks . Reihe PoLYpeN
Jacques RanciereDie Aufteilung des Sinnlichen
Die Politik der Kunst
und ihre Paradoxien
Herausgegeben von Maria Muhle
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Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
EinTiteldatensatz fur diese Publikationist bei der Deutschen Bibliothek erhaltl ich.
Dieses Buch erscheint im Rahmen des Forderpro-
gramms des franzosischen AuBenministeriums,
vertreten durch die Kulturabteilung der franzosischen
Botschaft in Berlin.
Reihe PolYpeN bei bbooks,
herausgegeben von Sabeth Buchmann, Helmut Draxler,
Clemens KrUmmel und Susanne Leeb
Aus dem Franzosischen von Maria Muhle
sowie Susanne Leeb und JUrgen Link
Originalausgabe des Textes "Die Aufteilung des
Sinnlichen. Asthetik und Politik": Le Partage
du sensible. Esthetique et polit ique © La Fabrique
Editions, 2000, Paris
Gestaltung: Michael Dreyer
Satz, Reinzeichnung: Kim Hannah Horbe
Coverbild: "Cinerary Urn of an Imperial Slave", aus: Jim
Harter, Images of World Architecture, New York 1990
Druck: Albdruck, Berlin
1. A uflage, 2006 b_books Verlag, BerlinISBN 3-933557-67-4 . www.bbooks.de
Inhalt
Einleitung
von Maria Muhle 7
Die Aufteilung des Sinn lichen.Asthetik und Pol it ik 21
1 Von der Aufteilung des Sinnlichen
und den daraus folgenden Beziehungen
zwischen Pol it ik und Asthetik 25
2 Von den Regimen der KUnste
und der maBigen Relevanz des Begriffs
der Moderne 35
3 Von den technisch reproduzierbaren
KUnsten und dem asthetischen und
wissenschaftlichen Aufstieg der anonymenIndiv iduen 50
4 Ob daraus zu schlieBen ware, dass
die Geschichte eine Fiktion ist. Von den
verschiedenen Weisen der Fiktion 56
5 Von der Kunst und der Arbei t. Warum
die Praktiken der Kunst eine Ausnahme von
den anderen Praktiken bilden und warum
nicht 65
Die Politik der Kunstund ihre Paradoxien 75
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Die Aufteilung des Sinnlichen.
Asthetik und Politik
Vorwort
Die folgenden Seiten antworten auf eine zweifacheAnfrage. Zwei junge Philosophen, Muriel Combes und
Bernard Aspe, haben mir fur die Rubrik "Die Fabrik des
Sinnlichen" ihrer Zeitschrift Alice einige Fragen gestellt.
Diese Rubrik beschaftiqt sich mit asthetischen Handlun-
gen, insofern sie Erfahrung gestalten und neue Weisen
des Fuhlens sowie neue Formen der politischen Subjekti-
vitat hervorbringen. Ich wurde gefragt, welche Foigen
sich aus jenen Analysen in meinem Buch Das Unverneh-
men ergeben, die sich mit der Aufteilung des Sinn-
lichen 1 als Gehalt der Pol it ik und somit mit einer bestimm-
ten Asthetik der Politik beschaftiqt haben. Ihre Fragen,
die auch auf einer neuen Reflexion tiber die groBen Thee-
rien und Experimente der Avantgarde, Kunst und Lebenzu verschmelzen, beruhen, strukturieren den vorliegenden
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Text. Auf Anregung von Eric Hazan und Stephanie Gregoire
[Verlag La Fabrique, Anm. d. 0 .1 habe ich meine Antwor-
ten, so gut es ging, weiter ausgefUhrt und haben meine
Gesprachspartner ihre theoretischen Voraussetzungen
Doch diese konkrete Anfrage schreibt sich gleichzeitig
In einen allgemeinen Kontext ein. Die vermehrt auftreten-
den Stimmen, die die Krise der Kunst oder ihre verhanqnis-
vol le Vereinnahmung durch den Diskurs sowie die AII-gegenwartigkeit des Spektakels oder den Tod des Bildes
anprangern, zeigen nur allzu deutlich, dass auf dem Feld
des Asthetischen heute ein Kampf ausgetragen wird, der
gestern noch den Versprechungen der Emanzipation
und den Illusionen und Enttauschunqen der Geschichte
Mit Sicherheit symptomatisch fur das zeitqenos-
sische Hin und Her von Asthetik und Pol it ik sowie fur die
Umwandlung des avantgardistischen Denkens in Nos-
talgie ist die Entwicklung des situationistischen Diskurses,
der aus einer avantgardistischen kunstlerischen Bewe-
gung der Nachkriegszeit hervorgegangen war, in den sech-
Jahren zur radikalen Kri tik der Pol it ik wurde und
heute von der Gewohnlichkeit jenes Diskurses aufgeso-gen wird, der die bestehende Ordnung .kr it isch" ver-
doppelt. Am eindeutigsten zeigen jedoch die Texte von
Jean-Francois Lyotard auf, wie "die Asthetik" inden
letzten zwanzig Jahren zujenem privilegierten Ort werden
konnte, an dem sich die Tradition des kritischen Denkens
in Trauerarbeit verwandelt hat. Lyotard hat durch seine Neu-
interpretation des kantischen Erhabenen einen Begriff in
die Kunst eingefUhrt, den Kant auBerhalb von ihr verortet
hatte, urn dadurch die Kunst besser zu einer Zeugin fur
die das Denken Ubersteigende Begegnung mit dem Undar-
stellbaren machen zu konnen, zu einer Belastungszeugin
tur die Arroganz des groBen asthetisch-politischen Versuchs
der Weltwerdung des Denkens. Nach der Verkundiqunqdes Endes der pol it ischen Utopien wurde so die Kunst-
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theor ie zudem Ort, an dem sich die Dramaturgie des
ursprunqlichen Abgrunds des Denkens und der Katastro-
phe seiner Verkennung fortsetzte. Eine groBe Anzahl
zei tqenossischer Beitraqe, die die Abqrunde der Kunst
oder des Bildes denken, praqen mit ihrer noch durch-
schnittlicheren Prosa diese grundlegende Umkehr.
Diese wohlbekannte Landschaft des zeitqenossischen
Denkens definiert zwar den Kontext, inden sich die vor-
liegenden Fragen und Antworten einschreiben, ist jedoch
nicht ihr Angri ffsziel. Es geht hier nicht noch einmal
darum, entgegen einer postmodernen Ernuchterunq den
avantgardistischen Hang der Kunst oder den Elan
einer Moderne zu befUrworten, die die Errungenschaften
kunstlerischer Neuerungen mit den Errungenschaften
der Emanzipation verbanden. Dieser Text ist nicht in pole-
mischer Absicht entstanden, sondern ist Teil einer lang-
fristigen Arbeit, mit der ich versuche, die Bedingungen der
Verstandlichkeit einer bestimmten Debatte wieder herzu-
stellen. DafUr gilt es, als erstes die Bedeutung des Wortes
Asthetik herauszuarbeiten: Asthetik ist weder eine all-
gemeine Kunsttheorie noch eine Theor ie, die die Kunst
durch ihre Wirkungen auf die Sinne definiert, sonderneine spezifische Ordnung des Identifizierens und Denkens
von Kunst. Asthetik ist eine Weise, in der sich Tatiqkeits-
formen, die Modi, indenen diese sichtbar werden, und die
Arten, wie sich die Beziehung zwischen beiden denken
lasst, artikulieren, was eine bestimmte Vorstellung von der
Wirksamkeit des Denkens impliziert. Das gegenwartige
Ziel meiner Forschung und des Seminars, das ich sei t eini-
gen Jahren an der Universitat Paris VIII(Saint-Denis) und
College International de Philosophie abhalte, besteht
die inneren Zusarnrnenhanqe dieses asthetischen
<~<A("rYIA" der Kunste und die Formen des Moglichen, die
ihnen bestimmt werden, sowie die Art und Weise, in
sie sich verandern, zu untersuchen. Man wird in diesemkeine Ergebnisse finden, deren Ausarbeitung ihrer
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eigenen Zeit bedarf. Aber ich habe versucht, einige his-
torische und konzeptuelle Anhaltspunkte aufzuzeigen, die
helfen konnten, bestimmte Problemstellungen neu zu
betrachten, die unaufloslich durch Begriffe verwirrt worden
sind, die historische Bestimmungen mit konzeptuellen
Aprioris und konzeptuelle Bestimmungen mit zeitl ichen
Einteilungen verwechseln. An erster Stelle dieser Be-
griffe rangiert naturlich der der .Moderne", Ursache des
heutigen groBen Durcheinanders, das Holderlin oder
Cezanne, Mallarme, Malewitsch oder Duchamp in den gro-
Ben Strudel gerissen hat, in dem sich alles vermengt:
die cartesianische Wissenschaft mit dem revolutionaren
Vatermord, das Zeitalter der Massen mit dem romanti-
schen Irrationalismus, das Darstellungsverbot mit der tech-
nischen Reproduktion, das kantische Erhabene mit der
Urszene bei Freud, die Gotterflucht mit der Vernichtung der
europaischen Juden. Die fehlende Konsistenz dieser
Begriffe aufzuzeigen, bedeutet naturlich nicht, sich zeitge-
nossischen Diskursen zu verschreiben, die zur einfachen
Wirklichkeit kunstlerischer Praktiken und ihrer Beurteilungs-
kriterien zuruckkehren, Die Verbindung dieser .einfachen
Praktiken" mit Diskursarten, Lebensformen, Denkkonzeptenund Figuren der Gemeinschaft ist nicht die Foige einer
unheilvollen Abweichung. Vielmehr verpflichtet das Bernu-
hen, diese Verbindung zu denken, die armselige Drama-
turgie von Ende und Wiederkehr zuverlassen, die nicht
aufhort, den Bereich der Kunst, der Politik und jedes
Gegenstands des Denkens zu besetzen.
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1
Von der Aufteilung des Sinnlichen und
den daraus folgenden Beziehungen zwischen
Politik und Asthetik
In Das Unvemehmen? wird Pol it ik ausgehend von
dem befragt, was Sle die "Aufteilung des Sinnlichen"
nennen. Liegt Ihrer Ansicht nach in diesem Ausdruck das
notwendige Verbindungsg/ied zwischen iistnetischen
und politischen Praktiken?
"Aufte ilung des Sinnl ichen" nenne ich jenes System
sinnl icher Evidenzen, das zugleich die Existenz eines Ge-
meinsamen aufzeigt wie auch die Unterteilungen, durch die
innerhalb dieses Gemeinsamen die jeweiligen Orte und An-
tei le bestimmt werden. Eine Aufteilung des Sinnl ichen legt
sowohl e in Gemeinsames, das getei lt wird, fest a ls auchTeile, die exklusiv bleiben. Diese Verteilung der Anteile und
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Orte beruht auf einer Aufteilung der Raume, Zeiten und Ta-
t igkeiten, die die Art und Weise bestimmt, wie ein Gemein-
sames sich der Teilhabe offnet, und wie die einen und die
anderen daran teilhaben. Der Staatsblirger, sagt Aristoteles,
is! der jenige, der am Regieren und Regiertwerden tei/hat.
Doch dieser Teilhabe geht eine andere Form von Aufteilung
voraus, die bestimmt, wer daran tei lhaben kann. Das spre-
chende Tier, sagt Aristoteles, ist ein pol it isches Tier. Doch
der Sklave .besitzt" die Sprache nicht , obwohl er s ie ver -s teht . Nach Platon konnen s ich die Handwerker n icht um
die gemeinsamen Angelegenheiten klimmern, weil sie nicht
die Zeit haben, um sich etwas anderem als ihrer Arbeit zu
widmen. Sie konnen nicht anderswo sein, denn die Arbeit
wartet nicht. Die Aufteilung des Sinnlichen macht sichtbar,
wer, je nachdem, was er tut , und je nach Zei t und Raum, in
denen er etwas tut, am Gemeinsamen tei lhaben kann. Eine
bestimmte Betatiqunq legt somit fest, wer f iihig oder unfa-
hig zum Gemeinsamen ist. Sie definiert die Sichtbarkeit oder
Unsichtbarkeit in einem gemeinsamen Raum und bestimmt,
wer Zugang zu einer gemeinsamen Sprache hat und wer
nicht, etc. Der Pol it ik l iegt mithin eine Asthetik? zugrunde,
die jedoch nicht das Geringste mit jener "Asthetisierung derPol it ik" im "Zeital ter der Massen" zutun hat, von der Benja-
min spricht. Diese Asthetik soli nicht als perverser Zugriff ei-
nes Kunstwallens auf die Politik oder als die Auffassung der
Volksmasse als Kunstwerk verstanden werden. Wenn man
nach einer Analogie sucht, kann man diese Asthetik imSinne
Kants als System der Formen a priori auffassen - vielleicht
sagar wie sie von Foucault wieder aufgenommen wurde +,
insofern sie bestimmen, was der sinnlichen Erfahrung uber-
haupt gegeben ist. Die Unterteilung der Zeiten und Raume,
des Sichtbaren und Unsichtbaren, der Rede und des Larms
geben zugleich den Ort und den Gegenstand der Pol it ik als
Form der Erfahrung vor. Die Politik bestimmt, was man sieht
und was man dar liber sagen kann, s ie legt fest , wer fahigist, etwas zu sehen und wer quali fizier t ist, etwas zu sagen,
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sie wirkt sich auf die Eigenschaften der Raume und die der
Zeit innewohnenden Maglichkeiten aus.
Erst auf der Basis dieser urspr linglichen Asthetik lasst
sich die Frage nach "asthetischen Praktiken" irn l iblichen
Sinne stellen, das heifi t nach den Formen der Sichtbarkei t
klinstlerischer Praktiken, nach dem Ort, den sie einnehmen,
und danach, was sie im Hinblick auf das Gemeinsame "tun".
Bei den klinstlerischen Praktiken handelt es sich um "Tatig-
keitsforrnen'", die in die allgemeine Verteilung der Tatiqkei-ten sowie in deren Beziehung zu den Seinsweisen und den
Formen der Sichtbarkeit eingreifen. Platons Verbannung der
Dichter grlindet sich nicht erst auf den unmorali schen In-
hal t der Fabeln, sondern berei ts auf die Unfiihigkei t, zwei
Dinge gleichzei tig zu tun. Die Frage, was Fiktion ist, ist zu-
nachst die Frage nach der Verteilung von Orten. Aus plato-
nischer Sicht bringt die Theaterbl ihne - zugleich ein Raum
oftentl icher Tatiqkeit und ein Ort der Vorfl ihrung von "Trug-
b ildern" - d ie Aufteilung von ldenti taten, Tatiqkei ten und
Raumen durcheinander. Das Gleiche gil t fur die Schri ft : In-
dem das geschriebene Wort hin- und herschwankt ohne zu
wissen, zu wem es sprechen oder nicht sprechen sol i, wird
jede legit ime Basis fUr die Zirkulation der Worte sowie dieBeziehung zwischen der Wirkung der Sprache und der An-
ordnung der Korper im gemeinsamen Raum zerstort, Platon
benennt hier zwei Hauptmodelle, zwei maSgebliche Formen
der Existenz und der sinnl ichen Wirkung der Sprache, das
Theater und die Schri ft , die zugleich auch die Formen sind,
die im Aligemeinen das Regime der Klinste strukturieren.
Doch sind beide Modelle von Beginn an mit einem bestimm-
ten Regime der Poli tik verbunden, mi t einem Regime der
Unbestimmtheit der ldentitaten, des Legitimationsentzugs
der Sprecherpositionen, der Deregulierung der Aufteilungen
von Raum und Zeit. Dieses asthetische Regime der Pol it ik
ist die Demokratie, das heiSt das Regime der Versammlun-
gen der Handwerker, der unantastbaren schriftlichen Geset-ze und der Inst itut ion des Theaters . Oem Theater und der
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Schr if t setzt Platon eine dri tte Form entgegen: e ine gute
Kunstform, die choreographische Form der Gemeinschaft,
die singend und tanzend ihre Einheit sti ftet. Demnach be-
nennt Platon drei Weisen, wie Rede- und Korperpraktiken
Figuren des Gemeinschaftlichen erschaffen konnen. Erstens
die Ober flache der stummen Zeichen, d ie, so Platon, wie
Gernalde sind; zweitens den Bewegungsraum der Kerper,
der sich in zwei antagonistische Modelle aufteilt: zum einen
in die Bewegung der Trugbi lder auf der BUhne, mit denensich das Publikum identif iz ieren kann, und zum anderen in
die authentische Bewegung, das heiBt die Bewegung der
Karper der Gemeinschaft selbst.
Die Oberflache der "gemalten" Zeichen, die Dopplung
des Theaters und der Rhythmus des tanzenden Chors sind
drei Formen der Aufteilung des Sinnl ichen, welche die Art
und Weise strukturieren, in der die KUnste gleichzei tig als
KUnste und als Formen der Einschre ibung des Sinns der
Gemeinschaft wahrgenommen und gedacht werden kon-
nen. Diese Formen legen fest, wie Werke oder kUnstlerische
AuffUhrungen .Politik machen", unabhanqiq von den sie be-
stimmenden Intentionen, vorn Platz der KUnstler innerhalb
der Gesellschaft und davon, wie die kUnstlerischen Formendie sozialen Strukturen und Bewegungen reflektieren. Ais
Madame Bovary und Lehrjahre des Geiiibls erscheinen,
werden diese Werke trotz der aristokratischen Geste und
des politischen Konformismus' Flauberts augenblicklich als
.Dernokratie in literarischer Form" wahrgenommen. Flauberts
Weigerung, der Literatur eine Botschaft mitzugeben, wird
als Zeugnis tur demokratische Gleichheit aufgefasst. Sei-
ne Gegner nennen ihn einen Demokraten, da er l ieber be-
schreibt als belehrt. Diese Gleichheit der GleichgUltigkeit
ist die Konsequenz einer dichterischen Parteinahme. Denn
die Gleichheit aller Geqenstande verneint jegliche notwen-
dige Beziehung zwischen einer bestimmten Form und einem
bestimmten Inhalt. Doch diese GleichgUltigkeit ist letztlichnichts anderes als die Gleichheit all dessen, was auf einer
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gedruckten, allen zuqanqlichen Seite geschieht. Sie zerstort
sarntliche Hierarchien der Reprasentation und etabliert die
Gemeinschaft der Leser als i llegit ime Gemeinschaft, die
durch die Zufal liqkei t der Anordnung der Buchstaben vor-
gezeichnet wird.
Es gibt demnach eine sinnl iche Pol it izi ta t, d ie immer
schon mit den Hauptformen der asthetischen Aufteilung -
Theater, Buchseite, Chor - verbunden wurde. Solche .Poli-
tiken" folgen ihrer jeweiligen Eigenlogik und konnen in ganzverschiedenen Epochen und Kontexten in Erscheinung tre-
ten. Ein Beispiel ware die Art und Weise, wie jene Paradig-
men indem Knoten aus Kunst und Polit ik Ende des 19. und
Anfang des 20. Jahrhunderts gewirkt haben. Ich denke zum
Beispiel an die Rolle, die die Buchseite in ihren verschiede-
nen Auspraqunqen, die weit uber die reine Materialitat einer
beschriebenen Seite hinausgehen, gespielt hat: Es gibt eine
Demokratie des Romans, das heiBt die gleichgUltige Demo-
kratie der Schrift, so wie sie vom Roman imVerhaltnis zusei-
nem Publikum symbolisiert wird. DarUber hinaus gibt es die
typographische und ikonographische Kultur, jene Verflech-
tung der Macht des Buchstabens mit der Macht des Bildes,
d ie in der Renaissance so wicht ig war und mi t den Vignet-ten und anderen Textornamenten sowie den verschiedenen
sonstigen Neuerungen der romantischen Typographie wie-
dererweckt worden ist. Dieses Modell verwischt die Regeln
der entfernten Zuordnung von Sagbarem und Sichtbarem,
wie sie der Logik der Reprasentation eigen ist. Und es ver-
wischt die Aufteilung zwischen den Werken der reinen und
den Ornamenten der angewandten Kunst. Daher hat dieses
Modell eine so wichtige und im Aligemeinen unterschatzte
Rol le beim Umsturz des Reprasentationsparadigmas und
seiner politischen Konsequenzen gespielt. Ich denke insbe-
sondere an seine Rol le fUr die Arts and Crafts-Bewegung
mi t a llen ihren Verzweigungen (Ar t Deco, Bauhaus, Kon-
struktivismus), in der die Idee eines ( im weitesten Sinne).Mobi liars" der neuen Gemeinschaft entstand, die auch ein
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neues Verstandnis der Bildoberflache als Oberflache einer
gemeinsamen Schrift angeregt hat.
Der Diskurs der Moderne versteht die Revolution der
abstrakten Malerei als die Entdeckung des ureigensten "Me-
diums" der Malerei: die zweidimensionale Oberflache. Der
Widerruf der perspektivischen Illusion einer dritten Dimen-
sion sol i demnaeh der Malerei die Herrschaft Uber ihre ei-
gene Oberflache zurUckgegeben haben. Aber genau diese
Oberf lache hat niehts Eigenes. Eine .Oberflache" ist nichteinfaeh nur eine geometrische Komposition von Linien. Sie
ist eine Form der Aufteilung des Sinnl ichen. Schri ft und Ma-
lerei waren tur Platon Oberf lachen, gleichbedeutend mit
s tummen Zeichen. Ihnen fehl te der Atem, der das leben-
d ige Wor t beseel t und ubert raqt , Nach dieser Logik s teht
die Hache nieht im Gegensatz zur Tiefe im Sinne des Drei-
dimensionalen, sondern im Gegensatz zum .Lebendiqen",
Das heiBt, die stumme Oberflache der gemalten Zeichen
steht im Gegensatz zum .Jebendiqen" Sprechakt, den der
Redner an den richtigen Adressaten richtet. Dernqemaf war
auch die Aneignung der dritten Dimension durch die Malerei
eine Antwort auf diese Aufteilung. Die Wiedergabe der opti-
sehen Tiefe war mit dem Privi leg der Geschichte verbundenund hat inder Renaissance zur Aufwertung der Malerei bei-
getragen - zu ihrem Anspruch, einen lebendigen Spreehakt,
den entseheidenden Augenbl ick einer Handlung und einer
Bedeutung erfassen zu konnen, Gegen die platonisehe Ab-
wertung der mimesis wollte die klassische Poetik der Repra-
sentation die .Flachiqkei t" des Wortes oder des Gemaldes
mit Lebendigkei t und einer spezi fischen Tiefe ausstatten,
in der sich eine Handlung manifestieren, eine Innerlichkeit
ausdrUcken oder eine Bedeutung mitteilen wUrde. Sie hat
zwischen Wort und Malerei, zwischen Sagbarem und Sicht-
barem ein Verhaltnis loser Entsprechung etabl iert und so
der .Nachahrnunq" einen spezifisehen Raum eroffnet,
Um diese Zuor dnung geht es bei dem angenomme-nen Unterschied von Zwei- und Dreidirnensionalitat als dem
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.Eiqenen" dieser oder jener Kunst. Die "anti-reprasentati-
ve Revolution" der Malerei bereitet sich dementspreehend
groBtenteils auf der Hachiqkei t der Schri ftseite, im Funkti-
onswandel der literarisehen .Bilder" oder im Diskurswech-
sel Uber die Malerei vor, aber auch in den Verflechtungen
der Typographie, des Plakats und der dekorativen KUnste.
Jene so unzutreffend .abstrakt" genannte und vorgebl ich
auf ihr ureigenstes Medium zurUckgefUhrte Malerei ist in
Wirklichkeit ein integraler Bestandteil der Gesamtvision ei-
nes neuen Menschen, der in neuen Bauten wohnt, umgeben
von neuen Geqenstanden. Die Hachiqkeit der Malerei steht
im Zusammenhang mit der Flachheit der Schri ftseite, des
Plakats und des Wandteppichs. Es ist die Flaehheit einer
Schnittstelle. Die anti-reprasentative .Reinheit" dieser Male-
rei schreibt sich in den Kontext der VerknUpfung von reiner
mit angewandter Kunst e in, was ihr automatisch eine po-
litische Bedeutung verleiht. Nicht das revolution are Fieber
seiner Umgebung hat aus Malewitsch gleichzeitig den Maler
des Schwarzen Quadrats auf weiBem Grund und den revo-
lutionaren Vorsanqer .neuer Lebensformen" gemacht; und
auch nicht irgendein theatrales Ideal vom neuen Menschen,
das den zeitweil igen Bund zwischen revolutionaren Pol it i-kern und KUnstlern besiegelt hat. Vielmehr entsteht diese
.Neuartiqkeit", die den KUnstler, der die Gegenstandlichkeit
abschafft , mit dem Revolutionar zusammenbringt, der das
neue Leben erfindet, zuallererst an der Schnittstelle von ver-
schiedenen "Tragern": durch neu geknUpfte Faden zwischen
dem Gedicht und seiner Typographie oder seiner i llustra-
t ion; zwischen dem Theater und seinen BUhnenbildnern
oder Plakatgestaltern; zwischen einem dekorativen Objekt
und einem Gedieht. Diese Schnittstelle ist insofern politisch,
als sie die doppelte Politik der reprasentativen Logik wider-
ruft. Zum einen hatte diese Logik die Welt der kUnstlerischen
Nachahmungen von der Welt der vitalen Interessen und der
groBen politlsch-sozialen Taten getrennt. Zum zweiten standihre hierarchische Organisation - insbesondere der Primat
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l ebendiger Rede und Handlung uber das gemalte Bild - in
einer Analogie zur politisch-sozialen Ordnung. Mit dem Sieg
der Romanseite uber die TheaterbUhne, mit der gleichran-
gigen VerknUpfung von Bildern und Zeichen auf der rnaleri-
schen oder typographischen Oberflache, mit dem Aufstieg
der handwerkli chen zur hohen Kunst und dem neuen An-
spruch, das Leben eines jeden mit Kunst anzureichern, ge-
riel eine gesamte wohlgeordnete Aufteilung der sinnlichen
Erfahrung ins Wanken.So kam es, dass das .Flache" der Ober tlache der ge-
malten Zeichen, jene von Platon verdammte Form eqali ta-
rer Aufteilung des Sinnl ichen, zugleich als das Prinzip der
.forrnalen" Revolution der Kunst und als das Pr inzip der
politischen Neuverteilung der gemeinsamen Erfahrung auf
den Plan tri tt . Entsprechend konnte man uber die weiteren
erwahnten Hauptformen wie Chor oder Theater nachden-
ken. Eine Geschichte der asthetischen Poli tik in d iesem
Sinne muss sich damit beschaftiqen, wie diese Hauptfor-
men sich einander entgegensetzen oder vermischen. Ich
denke zum Beispiel daran, wie das Paradigma der Oberfla-
che von Zeichen und Formen mit dem theatralen Paradigma
der Prasenz en!weder in Konfl ikt getreten oder mit ihm ver-schmolzen is! und an die verschiedenen Formen, die die-
ses theatrale Paradigma selbst angenommen hat, von der
symbolistischen Darstellung der kollektiven Legende bis hin
zum Chor als Realisierung des neuen Menschen. Die Politik
spiel ! s ich hier inder Beziehung von BUhne und Saal, in der
Bedeutung des Korpers des Schauspielers, im Spie l von
Nahe und Dislanz abo Die kritischen Prosaschriften Mallar-
rnes inszenieren auf exemplarische Weise das Spie l der
Verweise, Geqensatze und Angleichungen zwischen diesen
Formen, vom intimen Theater einer Papierseite oder der kal-
ligraphischen Choreographie bis zum neuen .Hochamt", zu
dem Konzerte geworden sind.
Demnach erscheinen diese Formen einerseits als Tra-ger von Figuren der Gemeinschaft , d ie sich unabhanqiq
vom Kontext immer selbst gleich bleiben. Umgekehrt aber
konnen sie mit gegensatzlichen pol it ischen Paradigmen
assoziiert werden. Nehmen wir das Beispiel der tragischen
BUhne. FUr Platon offnet sie sowohl dem Syndrom der
Demokrat ie als auch der Macht der I llusion TUr und Tor.
Indem Aristoteles dagegen die mimesis auf e inen eige-
nen Raum beschrankt und die Traqodie in eine Gattungs-
logik mi t e inbezieht, hat er, ohne es zu wol len, den pol it i-
schen Charakter der tragischen BUhne definiert. Innerhalb
des klassischen Reprasentationssystems wird die Traqodie
dann zur BUhne der Sichtbarkeit einer geordneten Welt, die
von der Hierarchie der Gegenstande sowie der Anpassung
von Si tuationen und Redeweisen an diese Hierarchie re-
g iert wird. Auf d iese Weise hat sich das demokratische in
ein monarchisches Paradigma verkehrt. Erinnert sei auch
an die lange und widersprUchliche Geschichte der Rhetorik
und des Modells des "guten Redners" . Wahrend des ge-
samten monarchischen Zeitalters stand die demokratische
Rhetorik des Demosthenes fur einen auBerordentlichen
Grad von Beredsamkei t, d ie zwar der hochs ten Macht a ls
imaqinares Attribut zugeschrieben wurde, jedoch immer
bereit war, zu ihrer demokratischen Funktion zuruckzufin-
den, indem sie ihre kanonischen Formen und topischen
Bilder dem transgressiven Auftr it t von nicht autor is ierten
Sprechern auf der offentlichen BUhne lieh. Man denke auch
an die widersprUchlichen Geschicke des choreoqraphi-
schen Modells . Neuere Studien erinnern an die Wi rkung
der von Laban im Kontext der Korperbefreiung entwickel-
ten Bewegungsschr if t, d ie spater a ls Modell der groBen
Naziaufrnarsche diente, bevor sie im rebellischen Kontext
der Performance Art subversive Frische zurUckgewann.
Benjamins Erklarunq einer fatalen Asthetisierung der Po-
l it ik im .Zeital ter der Massen" vergisst vielleicht das sehr
alte Band zwischen der EinmUtigkeit der freien BUrger und
der Verherrlichung der freien Korperbewegungen. In seinerdem Theater und dem geschriebenen Gesetz feindlichen
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Gesel lschaft empfahl Platon, die Babys ohne Unter iass zu
schaukeln.
Ich habe diese drei Formen ausqewahlt, weil Platon sie
konzeptuell in den Vordergrund gestell t hatte und sie sich
uber die Zeit hinweg gehalten haben. NaWrl ich umfassen
sie nicht die Gesamthei t der Spielar ten, durch die Figuren
der Gemeinschaft asthetisch entworfen werden. Mir geht es
aber vor a llem darum zu zeigen, dass die Frage nach dem
Verhaltnis zwischen Asthetik und Pol it ik auf dieser Ebene
anzusiedeln ist, das heiBt auf der Ebene der sinnl ichen Auf-
teilung des Gemeinsamen der Gemeinschaft, ihrer Formen
der Sichtbarkei t und ihres Aufbaus." Erst auf dieser Basis
lassen sich die pol it ischen Eingr if fe der KOnst ler/ lnnen
denken, angefangen von den literarischen Formen der Ent-
zifferung der Gesel lschaft in der Romantik, uber die syrn-
bol istische Poetik des Traums oder die dadaist ische oder
konstruktiv istische Abschaffung der Kunst bis hin zu den
heutigen Verfahren von Performancekunst und Installation.
Erst auf dieser Basis konnen etliche Phantasiegeschichten
uber die .Modernitat" der Kunst und die mOBigen Debat-
ten uber ihre Autonomie oder ihre Unterwerfung unter d ie
Pol it ik infrage gestell t werden. Die KOnste leihen den Un -
ternehmungen der Herrschaft oder der Emanzipation immer
nur das, was sie ihnen leihen kennan, also das, was sie mit
ihnen gemeinsam haben: Positionen und Bewegungen von
Korpern, Funktionen des Worts, Verteilungen des Sichtba-
ren und des Unsichtbaren. Die Autonomie, derer s ich die
KUnste erfreuen, und die Subversion, die sie sich zuschrei-
ben konnon, beruhen auf derselben Basis.
34
2
Von den Regimen der Kunste und der maBigen
Relevanz des Begriffs der Moderne
Einige der maBgeblichen Kategorien, um das kiinst-
lerische SchaHen des 20. Jahrhunderts zu denken,
wie zum Beispiel Moderne, Avantgarde sowie seit gerau-
mer Zeit Postmoderne, besitzen auch eine politische
Bedeutung. Halten Sie so/che BegriHe iiir relevant, wenn
es darum geht, die Verbindung von "Asthetischem" und
.Politiscnetn" moglichst prezise zu erfassen?
Ich glaube nicht, dass Begriffe wie Moderne oder Avant-
garde sonderli ch aufschlussreich gewesen s ind, um die
neuen Kunstformen seit dem vergangenen Jahrhundert oder
die Beziehung zwischen dem Asthetischen und dem Pol it i-
schen zu denken. Tatsachlich vermischen diese Begriffe zwei
sehr unterschiedliche Aspekte: Zum einen die spezifische
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Geschichtlichkeit eines Regimes der KOnste im Aligemei-
nen, zum anderen die Entscheidungen fOr einen Bruch oder
eine Antizipation innerhalb eines solchen Regimes. Ohne es
bereits inhaltl ich zu bestimmen, bezieht sich der Begriff der
asthetischen Moderne auf die Einzigartigkeit eines beson-
deren Regimes der KOnste, das heiBt auf einen spezifischen
Typ der Verbindung zwischen den Herstellungsweisen von
Werken oder Praktiken, den Formen der Sichtbarkeit dieser
Praktiken und den Arten wie beide - Herstel lungsweisen
und Formen der Sichtbarkeit - konzeptualisiert werden.
Um den Begr if f der asthetischen Moderne zu k laren
und das Problem zu situieren, bietet sich folgender Umweg
an: Wir konnen innerhalb der westlichen Tradition drei groBe
Regime der Identifizierung dessen, was wir Kunst nennen,
unterscheiden. Ers tens gibt es das , was ich als das eth i-
sche Regime der Bilder zu bezeichnen vorschlagen wOrde.
In diesem Regime wird "Kunst" a ls solche nicht def in ier t
sondern unter das Problem der Bilder subsumiert. Es gib~
einen Seinstypus, gemeint sind die Bilder, an den sich eine
doppelte Frage r ichtet: zum einen die Frage nach seinem
Ursprung und daraus folgend die nach seinem Wahrhei ts-
gehalt; zum anderen die Frage nach seiner Bestimmung:
Welchem Gebrauch unterliegen die Bilder, und welche Wir-
kungen rufen sie hervor? Auch unterstehen diesem Regime
das Problem der Dars tel lung der Gotthei t und die Frage
des Rechts oder des Verbots, solche Bilder Oberhaupt zu
produzieren, sowie die Frage nach dem Status und der Be-
deutung der Bilder , d ie man sich von der Gottheit macht.
Die Polemik Platons gegen die Trugbilder der Malerei , der
Dichtung und des Theaters ist nicht zuletzt auch Tei!dieses
Regimes. Platon ordnet nicht, wie man es haufig har t, d ie
Kunst der Politik unter. Diese Unterscheidung ist fOr ihn be-
deutungslos. Kunst existiert fOr ihn nicht, er kennt nur Kuns-
te im Sinne von Tatigkeitsformen. Und genau diese KOnste
unter teil t er in wahrhafte KOnste, das heiBt in Kenntnisse,
die auf der Nachahmung eines Modells zu bestimmten Zwe-
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cken basieren, und inTrugbilder der Kunst, die einen bloBen
auBeren Schein nachahmen. Diese zunachst nach ihrem Ur-
sprung unterschiedenen Nachahmungen werden dann auch
nach ihrer Bestimmung unterschieden: nach der Art und
Weise, wie die Bilder der Poesie Kindern und zuschauen-
den StaatsbOrgern eine gewisse Erziehung Obermitteln und
sich in die Aufteilung der Beschaftiqunqen" innerhalb der
Pol is einschreiben. In diesem Sinne spreche ich vom ethi-
schen Regime der Bi lder . Bei d iesem Regime geht es um
die Frage, wie die Seinsweise der Bilder das ethos, also die
Seinsweise der Individuen und der Kollektive, betrifft. Diese
Frage macht es der "Kunst" unmoqlich, als solche eine Ein-
heit zu bilden."
Von diesem ethischen Regime der Bi lder ist das poe-
t ische - oder reprasentat ive - Regime der KOnste zu un-
terscheiden. Dieses Regime siedelt das Faktum der Kunst
(oder besser das Faktum der Kunste) innerhalb des Be-
griffspaars poiesis / mimesis an. Das mimetische Prinzip ist
seinem Wesen nach kein normatives Prinzip, das besagen
wOrde, die Kunst rnusse Kopien herstellen, die ihren Model-
len ahneln, Es ist vielmehr ein pragmatisches Prinzip, das
aus dem allgemeinen Feld der KOnste(der Tatigkeitsformen)
bestimmte KOnste isoliert, die spezifische Dinge herstellen,
namlich Nachahmungen. Diese Nachahmungen sind von
der Obl ichen Legit imierung der Kunstprodukte durch ihre
Gebrauchsfunktion wie auch von der Rechtssprechung der
Wahrheit t iber d ie Diskurse und Bilder bef re it . Das is t d ie
groBe Neuerung, d ie auf der aristotel ischen Idee der mi-
mesis und der Privi legierung der tragischen Handlung be-
ruht. Das Verfertigte des Gedichts', die Herstel lung einer
Intrige aus Handlungen, die ihrerseits handelnde Menschen
darstellen, ruck t nun in den Vordergrund - auf Kosten des
Seins des Bildes und der auf ihr Original hin befragten Ko-
pie. Darin liegt das Prinzip jenes oben erwahnten Funktions-
wechsels des dramat ischen Model ls . Auf d iese Weise istdas Prinzip der auBeren Begrenzung eines Bereichs, der
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aus Nachahmungen besteht, gleichzei tig ein normatives
Prinzip des Einschlusses. Dieses entwickelt sich in Gestalt
von Normen, die die Bedingungen festlegen, nach denen
die Nachahmungen als rechtens zu einer Kunst zuqehor iq
anerkannt und innerhalb des jewei ligen Rahmens dann als
gut oder schlecht, passend oder unpassend bewertet wer-
den konnen. Dazu qehoren die Aufteilungen zwischen Dar-
stellbarem und NichtdarsteHbarem, die Unterscheidung der
Gattungen je nach Dargestelltem, die Kriterien, nach denen
die Ausdrucksformen den Gattungen und mithin den darge-
slellten Geqenstanden zugewiesen werden, die Verteilung
der Ahnlichkeiten nach den Kriterien der Wahrscheinlichkeit,
Angemessenheit oder Entsprechung, die Unterscheidungs-
und Vergleichskriterien zwischen den KOnsten etc.
Ich nenne dieses Regime insofern poetisch, als es die
KOnste- im klassischen Zeitalter dann die .schonen KOns-
le" genannt - innerhalb einer Klassifizierung der Tatiqkeits-
formen definiert und folg lich auch die Ar t und Weise, wie
eine Nachahmung als gelungen beurteilt und qeschatzt wer-
den kann. lch nenne es insofern reprssentetiv oder darstel-
lend, als der Begri ff der Reprasentation oder der mimesis
diese Sehweisen, Tatiqkeits- und Urteilsformen ordnet. Aber
nochmal: Mimesis is t n icht das Gesetz, das die Kunst dem
Gebot der Ahnlichkeit unterwirft. Mimesis ist vor aHemdie
Faile innerhalb der Verteilung der Tatiqkeitsforrnen und der
sozialen Beschaftiqunqen, die die Kunste sichtbar macht.
Sie ist kein kOnstlerisches Verfahren, sondern ein Sichtbar-
keilsregime der KOnste. Ein solches Sichtbarkeitsregime
der KOnsle ist das, was den KOnsten Autonomie ver leiht,
aber im gleichen Zug die Autonomie nur imZusammenhang
mit einer generellen Ordnung der Tatiqkeitsformen und der
Beschaftiqunqan formuliert. Es ist das, was ich weiter oben
in Bezug auf die Logik der Reprasentation angedeutet habe.
Diese Logik bildet nun ein sehr allgemeines Analogiever-
hal tnis zu einer ebenfal ls sehr allgemeinen Hierarchie derpolitischen und sozialen Betatiqunqen aus. Diese Hierarchic
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bestimmt den reprasentativen Primat der Handlung Ober
die Charaktere genauso wie denjenigen der Erzahlunq Ober
die Beschreibung. Sie bestimmt auch die Rangordnung der
Gattungen gemaB der WOrde ihrer Geqenstande und den
Primat der Kunst des Wor ts i rn Sinne der gesprochenen
und damit Handlung implizierenden Sprache: All diese Hie-
rarchisierungen stehen in Analogie zu einer umfassenden
hierarchischen Auffassung von Gemeinschaft.
1mGegensatz zu diesem reprasentativen Regime steht
eines, das ich das asthetische Regime der KOnste nenne.
Asthetisch, wei l die Identif iz ierung der Kunst als Kunst hier
nicht mehr durch die Unterscheidung der Tatiqkeitsforrnen
erfolgt, sondern durch die Unterscheidung einer fOr Kunst-
werke charakteristischen sinnlichen Seinsweise. Das Wort
asthetisch verweist nicht auf eine Theorie der sinnlichen Er-
fahrung, des Geschmacks oder der Freuden der Kunstlieb-
haber. Es verweist im eigentlichen Sinne auf die spezifische
Seinsweise dessen, was der Kunst zuqehor iq ist, also auf
die Seinsweise ihrer Objekte, 1masthetischen Regime der
KOnstewerden die Dinge, die der Kunst zugerechnet sind,
durch ihre Zuqehoriqkeit zu einem spezifischen Regime des
identifiziert. Dieses Sinnliche, aus seinen Oblichen
indungen qelost, wird von einer heterogenen Macht be-
von der Macht eines Denkens, das sich selbst fremd
en ist: ein Produkt, das kein Produkt ist, ein Wissen,
in Nichtwissen verwandelt wurde, ein logos, der zu-
pathos ist, die Intention des Nichtintendierten etc. Die
eines sich selbst fremd gewordenen Sinnlichen als Sitz
sich ebenso fremd gewordenen Denkens bildet den
!"r'vpr;;rlrl~>rl,,~h~'n ern all jener Identifizierungen von Kunst,
das asthetische Denken ursprOnglich ausmachten: Vicos
des .wahren Homer" als Dichter wider Wil len;
"Genie", das jenes Gesetz, das es produzier t, nicht
; Schillers .asthetischer Zustand'", der auf der dop-
Suspendierung der Aktivitat des Verstandes und derdes Sinnl ichen beruht; Schel lings Definit ion der
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Kunst als ldentitat eines bewussten und eines unbewuss-
ten Prozesses etc. Diese Vorstellung findet sich auch in den
Selbstdefinit ionen der modernen Kunste wieder: Prousts
Idee von einem Buch, das einerseits qanzl ich geplant und
andererseits dem Willen vollkommen entzogen ist: Mallar-
rnes Idee eines Gedichts, das von einem Zuschauer-Dichter
verfasst wird, der .losqelost von allem ROstzeug des Schrei-
bers'" mit den Schri tten einer analphabetischen Tanzerin
schreibt; die surreal istische Praxis des Werks, in dem das
Unbewusste des KOnstlers durch die aus der Mode gekom-
menen IIlustrationen in Katalogen und Fortsetzungsromanen
des vergangenen Jahrhunderts ausgedrOckt wird; Bressons
Idee des Kinos als das Denken eines Regisseurs, das sich
nur von den Korpern der .Modelle" ablesen lasst, wenn sie
gedanken los die Worte und Gesten, d ie er ihnen dik tiert ,
wiederholen und so, ohne sein und ihr Wissen, d ie ihren
Wor ten und Gesten eigene Wahrheit zum Ausdruck brin-
gen etc.
Es ware OberflOssig, weitere Definitionen und Beispiele
anzufOhren. Stattdessen soli der Kern des Problems aufge-
zeigt werden. Das asthetische Regime der KOnste identifi-
z iert die Kunst als Kunst und befreit diese Kunst von jederspezifischen Regel und Hierarchie der Geqenstande, Gat-
tungen und Kunste, Auf diese Weise wird jedoch die Gren-
ze del' mimesis gesprengt, die die kOnstlerischen von den
ubriqen Tatiqkeitsforrnen und die Regeln der Kunst von den
sozialen Beschaftiqunqen trennte. Das asthetische Regime
der KOnste bestatiqt die absolute Besonderhei t der Kunst
lind zerstort zuqleich jedes pragmatische Kriterium dieser
Besonderhei t. Es begrOndet die Autonomie der Kunst und
zugleich die ldentitat ihrer Formen mit jenen, durch die sich
das Leben selbst ausbildet. Schillers "asthetischer Zustand"
ist die erste und in gewisser Hinsicht unObertroffene Mani-
festation dieses Regimes lind zeigt die grundlegende Iden-
t itat der Geqensatze auf. Der asthetische Zustand ist reineSuspendierung, ein Augenblick, in dem die Form als solche
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wahrgenommen wird. Esist der Augenbl ick, indem eine be-
sondere Menschheit gebildet wird.
Von hier aus lassen sich die Funktionen des Begriffs der
Moderne verstehen. Man konnte sagen, dass .astnetisches
Regime der Kunste" der wahre Name dessen ist , was der
konfuse Begriff der Moderne bezeichnen soli. Doch ist .Mo-
derne" mehr als nur ein konfuser Begri ff . In ihren verschie-
denen Spielarten ist die "Moderne" jenes Konzept, das dazu
dient, die Besonderheit des asthetischen Regimes der Kuns-
te, die Bedeutung eines Regimes der KOnste Oberhaupt zu
verdecken. Dieses Konzept zieht, ob begeistert oder bedau-
ernd, eine einfache Uberqanqs- oder Bruchlinie zwischen
dem Alten und dem Modernen, dem Gegenstandl ichen und
dem Nicht-Geqenstandlichen oder Anti-Gegenstandlichen.
GestOtzt hat sich diese vereinfachende Historisierung auf
den Uberqanq zur nichtgegenstandlichen Malerei, der durch
eine pauschale Gleichsetzung mit dem umfassenden antimi-
metischen Schicksal der kunstlerischen "Mod erne" zum the-
oretischen Paradigma gemacht wurde. Ais die Propheten
dieser "Moderne" mitansehen mussten, dass jene Orte, an
denen sich das weise Schicksal der Moderne hatte entfal-
ten sollen, von allen moqlichen unerkenntlichen Geqenstan-den, Maschinen und Disposi tiven eingenommen wurden,
f ingen sie an, die "Tradit ion der Neuen" als reinen Wi llen
zur Innovation zu kritisieren, der angeblich die kOnstlerische
Moderne auf die Leere ihrer Selbstproklamierung reduzieren
wOrde. Doch der Ausgangspunkt dieser Kritik ist falsch. Der
Sprung aus der mimesis heraus ist keine Ablehnung der
Geqenstandlichkeit. Sein entscheidender Moment hat sich
oft genug selbst als Realismus bezeichnet, womit in keiner
Weise gemeint ist, die Ahnlichkeit aufzuwerten, sondern die
Rahmenbedingungen zu zerstOren, innerhalb derer die Ahn-
lichkeit bis dahin funktionierte. Der Realismus des Romans
bedeutet in erster Linie, die Hierarchien der Reprasentation
umzustOrzen (der Primat der Erzahlunq uber die Beschrei-bung oder die Hierarchie der Geqenstande) und eine frag-
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mentarische und direkte Naheinstellung zu wahlen, die die
rohe Prasenz an die Stelle der rationalen Verkettungen der
Geschichte setzt. Das asthetische Regime der Kunste stellt
n icht das Alte gegen das Moderne. Es setzt auf e iner t ie-
feren Ebene zwei Regime der Geschichtlichkeit einander
entgegen. Der Gegensatz von alt und modern qehort ins-
gesamt zum mimetischen Regime. 1masthetischen Regime
hingegen wird die Vergangenheit der Kunst ununterbrochen
durch die Zukunft der Kunst, das heiBt durch ihre Absetzung
von der Gegenwart der Nicht-Kunst, neu inszeniert.
Wer die "Tradit ion des Neuen" lobt oder verurteil t, ver-
gisst, dass ihr eine .Neuheit der Tradi tion" entspricht. Das
asthetische Regime der Kunste fing nicht mit Entscheidun-
gen fur kuns tler ische Bruche an, vielmehr begann es mi t
Entscheidungen, die bewirkten, das, was die Kunst macht,
und die, die sie machen, neu zu interpretieren: als Vico den
.wahren Homer " entdeckt - n icht a ls Er finder fabelhaf ter
Geschichten und Charak tere, sondern als Zeuge fur das
bildliche Sprechen und Denken der antiken Volker; als Hegel
den wahren Gegenstand der hollandischen Genremalerei
bestimmt nicht eine Reihe von Wir tshausgeschichten und
Interieurbeschreibungen, sondern die Freiheit eines Volks,die sich in den Lichtreflexen abzeichnet; als Holderl in die
griechische Traqodie neu erfindet; als Balzac die Poesie des
Geologen, der auf der Basis einiger Spuren und Fossi lien
ganze Welten rekonstruiert, jener Poesie entgegensetzt, die
bloB seelischen Aufruhr reproduziert; als Mendelssohn die
Matthiiuspassion wieder auffuhrt etc. Das asthetische Re-
gime der Kunste ist inerster Linie ein neues Regime der Be-
zugnahme auf das Alte. Es hat genau jenen Ausdruck einer
Zeit oder eines Zivil isationsstands zurn kunstlerischen Prin-
zip schlechthin erklart, der zuvor als der .nicht-kunstlerische"
Teil der Werke galt ( jener Teil, den man mit dem Hinweis
auf die primitiven Zeiten, in denen der Kunstler gelebt hat-
Ie, zu entschuldigen pflegte). Dieses Regime erfindet seineRevolutionen auf der Grundlage derselben Vorstellung, die
auch das Museum und die Kunstgeschichte, den Begri ff
der Klassik und die neuen Techniken der Reproduktion hat
er finden lassen . .. Und es widmet sich der Er findung neu-
er Lebensformen, in dem es ausgeht von einer Vorstel lung
dessen, was die Kunst gewesen ist und was sie bette sein
kenner: Wenn die Futur isten oder die Konstruktiv isten das
Ende der Kunst verkunden und die kunstlerischen Praktiken
mit jenen anderen Praktiken gleichsetzen, die die Raurne
und Zeiten des gemeinschaftl ichen Lebens aufbauen, rhyth-
misieren oder verzieren, meinen sie damit, dass die Kunst im
Leben der Gemeinschaft aufgeht - und diese Vorstel lung
verdankt sich der Lesart , d ie Schi ller und die Romant iker
von der griechischen Kunst als Lebensform einer Gemein-
schaft entwickelt hatten. Die Futuristen und Konstruktivisten
schlossen hierbei an die neuartigen Formen der Reklame
an, deren Erfinder ihrerseits mitnichten eine Revolution im
Sinn hatten, sondern lediglich eine neue Weise, zwischen
Wor tern, B ildern und Waren zu leben. Die Moderne ist e in
zweischneidiger Begriff, der gerne das komplexe Ensemble
des asthetischen Regimes der Kunste zer te ilen, an den
Formen des Bruchs und der ikonoklastischen Gesten etc.
festhal ten wurde, indem er diese von jenem Kontext trennt,der sie allererst legitimiert: die allgegenwartige Reproduk-
t ion, die Interpretation, die Geschichte, das Museum, das
Kulturerbe ... Die Moderne rnochte, dass es nur eine einzige
zeitl iche Richtung gibt, wahrend die Zeitl ichkeit des astheti-
schen Regimes der Kunste gerade aus dem Nebeneinander
von heterogenen Zeitlichkeiten besteht.
Es scheint geradezu, dass der Begri ff der Moderne ei-
gens erfunden wurde, um das Verstandnis fUr die Verande-
rungen der Kunst und fur ihre Beziehung zu den anderen
Bereichen der kollektiven Erfahrung zu erschweren. Es gibt,
scheint mir , zwei Hauptformen dieser Storunq. Beide sti lt-
zen sich, ohne dass sie ihn analysiert batten, auf jene konsti-
tutive Paradoxie des asthetischen Regimes der Kunste, diedie Kunst zu einer autonomen Form des Lebens macht und
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daher sowohl die Autonomie der Kunst als auch ihr Aufgehen
im Leben gleichsetzt mit einer Stufe im Prozess der sponta-
nen Selbstherausbildung des Lebens. Beide Hauptvarianten
des Diskurses uber "die Moderne" leiten sich hiervon aboDie
erste Variante behauptet, dass die Moderne, die schlicht mit
der Autonomie der Kunst gleichgesetzt wird, auf einer "anti-
mimetischen" Revolution der Kunst, auf der Eroberung der
endlich freigesetzten reinen Form der Kunst beruhe. Jede
Einzelkunst konne so die reine Kraft der Kunst behaupten,
indem sie jewei ls die besondere Macht ihres spezi fischen
Mediums erforscht. Die poetische oder literarische Moderne
bestUnde in der Erkundung der Macht einer ihrer kornmu-
nikativen Gebrauchsfunktionen enthobenen Sprache. Die
moderne Malerei ware die RUckkehr der Malerei zu ihrem
.Eiqensten": zum Farbpigment und zur zweidimensionalen
Hache; die musikalische Moderne ware gleichzusetzen mit
der Zwolftonmusik, die von jeder Analogie mit einer Sprache
des Ausdrucks befreit ware, etc. Diese spezifischen Moder-
nen stUnden dann in einer entfernten Analogiebeziehung zu
einer politischen Moderne, die je nach Zeitkontext als revo-
lutionare Radikalitat auftritt oder als nUchterne, entzauberte
Moderni tat der guten Regierung einer Republik. Was manals "Kr ise der Kunst" bezeichnet, is t im Wesent lichen die
Auflosunq dieses einfachen Paradigmas der Moderne, das
sich immer weiter von den Mischungen der Gattungen und
Bildtraqer sowie von den politischen Polyvalenzen zeitge-
nossischer Kunstformen entfernt hat.
Diese Auflosunq wird nun von der zweiten Hauptform
des modernist ischen Paradigmas Uberlagert, die man als
Modemitarismus bezeichnen konnte. Darunter verstehe ich
die Gleichsetzung der Formen des asthetischen Regimes
der KUnste mit den Weisen, eine besondere Aufgabe oder
ein besonderes Schicksal der Moderne zu erfOl len. Dieser
Gleichsetzung liegt eine spezifische Interpretation des ken-
stitutiven Widerspruchs der asthetischen "Form" zugrunde.Dabei wird die Bestimmung der Kunst als Lebensform und
44
Form einer spontanen Selbstherausbildung des Lebens be-
tont. Am Beginn dieses Verstandnisses von Moderne steht
die grundlegende Referenz auf Schillers Konzept der asthe-
tischen Erziehung des Menschen. Damit wurde erstmalig
die Vorstellung artikuliert, dass Herrschaft und Knechtschaft
in erster Linie ontologische Verteilungen sind (Aktivitat des
Denkens vs. Passivitat der sinnlichen Materie). Und es wur-
de ein neutraler Zustand definiert, ein Zustand der doppel-
ten Aufhebung, in dem die Akt ivi ta t des Denkens und die
sinnliche Ernpfanqlichkeit zu einer einzigen Wirklichkeit und
einem neuen Bereich des Seins werden - den des selb-
standiqen Scheins und freien Spiels - , wodurch es rnoql ich
wird, jene Gleichheit zu denken, deren unmoqliche direk-
te Verwirklichung die Franzosische Revolution in Schillers
Augen bewiesen hat. Es handel t s ich um eine bestimmte
Weise, die sinnl iche Welt zu bewohnen, die durch die "as-
thetische Erziehung" entwickelt werden soil, um Menschen
zuformen, die fahig sind, in einer freien politischen Gemein-
schaft zu leben. Auf diesem Fundament ist die Vorstel lung
von der Moderne als e iner Zeit entstanden, in der s ich die
sinnliche ErfUliung einer noch latenten Menschlichkeit des
Menschen vollzieht. Dazu lasst sich sagen, dass die "asthe-tische Revolution" eine neue Vorstellung von der politischen
Revolution hervorgerufen hat und zwar als sinnl iche ErfOl-
lung einer gemeinsamen Menschl ichkei t, die bis dahin nur
Idee existierte. So ist Schillers .asthetischer Zustand"
zum "asthetischen Programm" der deutschen Romantik ge-
worden, so wie es indem gemeinsam von Hegel, Holderl in
Schelling konzipierten Entwurf zusammengefasst ist:
sinnliche ErfOllung der unbedingten Freiheit des reinen
kens in den Formen des Volkslebens und des Volks-
Dieses Paradigma der asthetischen Autonomie
spater zum neuen Paradigma der Revolution und
schlieBlich die kurze, aber entscheidende Begegnung
den Architekten der marxistischen Revolution und
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Das Scheitern dieser Revolution hat - inzwei Phasen - das
Schicksal des Moderni tarismus bestimmt. In einer ersten
Phase wurde der kUnstlerische Modernismus in seinem au-
thentischen revolutionaren Potential aus Verweigerung und
VerheiBung der Entartung der politischen Revolution entqe-
gengesetzt. Der Surreal ismus und die Frankfurter Schule
waren die wichtigsten Bewegungen dieser Geqen-Moder-
ne. In einer zweiten Phase wurde das Schei tern der pol i-
tischen Revolution als Scheitern ihres ontoloqisch-astheti-
schen Model ls gedacht. Die Moderne wurde dadurch zu so
etwas wie einem Verhanqnis, das auf einem grundlegenden
Vergessen beruht: Heideggers Wesen der Technik; die re-
volut ionare Enthauptung des Koniqs und der Bruch mit der
Tradi tion der Menschl ichkei t; schlieBlich die UrsUnde der
menschlichen Kreatur, die ihre Schuldigkeit gegenUber dem
Anderen sowie ihr Unterworfensein unter die heterogenen
Machte des Sinnlichen vergisst.
Was man als Postmoderne bezeichnet, ist genau der
Prozess einer Wende. In einer ersten Phase hat d ie Post -
moderne all das in den Vordergrund gerUckt, was innerhalb
der jUngsten Entwicklung der KUnste und ihrer rnoql ichen
Denkformen das theoretische Gebaude der Moderne zumEinsturz gebracht hat: die Uberqanqe und Verflechtungen
zwischen den Kunsten, die die lessingsche Orthodoxie der
Trennung der Kunste zerstort hat; der Zusammenbruch des
Paradigmas der funktionalen Architektur und die RUckkehr
zur geschwungenen Lin ie und zum Ornament; das Ende
des zweidimensional-abstrakten Bildkonzepts durch die
RUckkehr der Geqenstandlichkeit und der Bedeutung sowie
die schleichende Besetzung der fur die Malerei gemachten
Raume und Wande durch die dreidimensionalen und narra-
t iven Formen der Pop Art und der Installat ionskunst bis hin
zu den "Kammern"l0 der Videokunst; die neuen Kombinati-
onen von Wort und Bild, von Monumentalskulptur und Pro-
jektion von Licht- und Schattenspielen; das Zerbrechen derTradi tion der Ser iali tat aufgrund der neuen musikal ischen
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ngen von Gattungen, Zeiten und Systemen. Das
teleologische Modell der Moderne ist im selben Moment
unhaltbar geworden wie seine Aufteilungen in das jewei ls
"Eigene" der unterschiedlichen KUnste oder die Abspaltung
eines reinen Gebiets der Kunst. In gewisser Weise war die
Postmoderne lediglich der Name, unter dem sich eine Reihe
von KUnstlern und KUnstlerinnen, Denkern und Denkerinnen
bewusst gemacht haben, was die Moderne war: der ver-
Versuch, das .Eiqene der Kunst" auf einer simp-
len Teleologie der Evolution und der historischen BrUche
begrUnden. Aus dieser verspateten Anerkennung einer
Gegebenheit des asthetischen Regimes der
nste einen faktischen zei tl ichen Einschnitt und das tat-
.,;;;"hli,,~,oEnde einer historischen Epoche zu machen, ware
wirklich notig gewesen.
Doch hat sich in der Foige gezeigt , dass die Post rno-
mehr war als nur das. Sehr bald verwandelte sich die
trXhlli"',,, postmoderne Freiheit und ihre Verherrlichung des
der Trugbilder, der Mischformen und Hybridisie-
aller Art in eine Infragestel lung eben jener Freihei t
Autonomie, deren Verwirklichung das rnodernitare
nzip zur Aufgabe der Kunst gemacht hatte oder gemacht
soil. Yom Karneval war man also zur Urszene zuruck-
gekehrt. Doch die Urszene hat eine zweifache Bedeutung:
inn eines Prozesses und ursprUngl iche Trennung. Der
der Moderne hat te s ich an die Idee jener "asthe-
Erziehung des Menschen" geklammert, die Schil -
aus Kants Analy tik des Schon en entwickel t hat te . Die
Basis der postmodernen Wende ist dagegen
Analyse des kantischen Erhabenen, neu interpre-
als Schauplatz einer grundlegenden Trennung von Idee
jeglicher sinnlichen Darstellung. Seitdem hat die Post-
>"",.,,10"'" das groBe Konzert der Trauerarbei t und der Reue
das rnodernitare Denken angestimmt, und der Schau-
dieser erhabenen Trennung konnte schlieBlich die ver-
.",,..h;,,.rlon,,,,fon Szenarien des SUndenfalis oder der ursprunq-
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l ichen Trennung auf sich vereinen: Heideggers Flucht der
Gorter; das freudsche Nichtreduzierbare des Todestriebs
und des nicht symbol is ierbaren Objekts; die Stimme des
absolut Anderen, die das Verbot der Darstellung ausspricht;
den revolutionaren Vatermord. Die Postmoderne ist dadurch
zu einem groBen Trauergesang uber das Undarstel lbare /
das Nicht-Behandelbare / das Nie-wieder-Gutzumachende
geworden, der den modernen Irrsinn der Idee von der
Selbstbefreiung der Menschl ichkei t des Menschen und ihr
unvermeidliches und unabwendbares Ende in den Vernich-
tungslagern anprangert.
Der Begr if f der Avantgarde definier t den Typus von
Sujet , der zur Vis ion der Moderne pass t und dieser Vision
qernaf Asthetik und Pol it ik miteinander verbinden kann.
Seinen Erfolg verdankt er weniger der von ihm angebote-
nen bequemen Kopplung der kunstlerischen Vorstel lung
des Neuen mit der Vorstel lung der pol it ischen Motivation
der Bewegung, als vielmehr der nicht so offensichtl ichen
Verbindung zweier Vorstel lungen von .Avantqarde", Zum
einen ist Avantgarde das topoqraphisch-rnilitarische Kon-
zept einer Kraft, die vorne an der Spitze marschier t, die die
Intelligenz der Bewegung auf sich vereint, deren Krafte bun-
del t, die Richtung der historischen Entwicklung bestimmt
und die subjektiven pol it ischen Orientierungen auswahlt,
Kurz, eine Vorstellung, die politische Subjektivitat mit einer
bestimmten Form verbindet: die Partei als Vorhut, die ihren
Fuhrunqsanspruch aus ihrer Fahiqkeit ableitet, die Zeichen
der Geschichte lesen und interpretieren zu konnen, Zum an-
deren gibt esjene andere Idee der Avantgarde, die imschi l-
lerschen Modell der asthetischen Antizipation der Zukunft
wurzelt . Wenn der Begrif f der Avantgarde innerhalb des
asthetischen Regimes der Kunste eine Rolle spiel t, dann
in Form dieser zweiten Vorstel lung: nicht als Vorhut einer
kunstlerischen Neuerung, sondern als Erfindung sinnlicher
Formen und mater ieller Rahmenbedingungen fur ein kunf-t iges Leben. Genau das hat die .asthetische" Avantgarde
48
der "poli tischen" Avantgarde mitgegeben oder wol lte oder
glaubte, es ihr mitzugeben, als sie aus der Politik ein totales
Programm des Lebens machte. Die Geschichte der Bezie-
hungen zwischen Parteien und asthetischen Bewegungen
ist zunachst die einer tei ls berei twil lig unterhaltenen, tei ls
wUtend autqekundiqten Verwechslung dieser beiden Vor-
stellungen von Avantgarde, die eigentlich zwei verschiedene
Vorstel lungen von pol it ischer Subjektiv itat sind: die archi-
politische Idee der Partei, das heiSt die Vorstellung von einer
nr.hhQ"'t\t:ln Intelligenz, die die wesentlichen Bedingungen
Veranderunq auf sich vereint, und die meta-politische
von einer umfassenden politischen Subjektivitat,
Idee von der Virtualitat der neuen sinnlichen Erfahrungs-
die die kommende Gemeinschaft antizipieren. Doch
Verwechslung ist kein Zufall. Nur verhalt es sich nicht
wie die heutige Doxa es will, dass der Anspruch der
auf eine totale Revolution der sinnl ichen Welt dem
i den Weg geebnet harte. Vielmehr ist die Idee
pol it ischen Avantgarde selbst in ein strategisches und
asthetisches Verstandnis von Avantgarde gespalten.
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Von den technisch reproduzierbaren Kunsten
und dem asthetischen und wissenschaftl ichen Aufstieg
der anonymen Individuen
In einem Ihrer Texte stellen Sie einen Zusammenhang
zwischen der Entwicklung der .iechnisch reproduzier-
beren" Kiinste, Fotografie und Film,und dem Aufkommen
einer .neuen Geechichte'"' her. Konnen sie diesen
Zusammenhang erleutern? Und wie verhiilt sich dazu
die These Benjamins, dass zu Beginn des 20. Iehr-
hunderts mit Hilfe dieser Kiinste die Massen als solche
sichtbar geworden seien?
Was die .technisch reproduzierbaren Kunste" angeht,
muss vielleicht zuerst ein Missverstandnis beseitigt werden.
Ich habe einen Zusammenhang zwischen einem wissen-schaftl ichen und einem iisthetischen Paradigma behauptet.
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Die These Benjamins nimmt etwas anderes an, das mir zwei-
felhaft erscheint, namlich dass sich die asthetischen und po-
litischen Eigenschaften einer Kunst aus ihren technischen
Eigenschaften ableiten lassen. Die technisch reproduzierba-
ren KOnste wOrden also allein dadurch, dass sie technisch
reproduzierbar sind, einen kOnstlerischen Paradigmenwech-
sel und eine neue Beziehung der Kunst zu ihren Geqenstan-
den hervorrufen. Diese Behauptung entspricht e iner der
grundlegenden Thesen der Moderne, der zufolge der Un-
terschied zwischen den KOnsten in Zusammenhang mit der
Unterschiedlichkeit ihrer technischen Bedingungen, ihrer
Trager oder spezi fischen Medien zu bringen ist. Man kann
diesen Zusammenhang in der einfachen Art der Moderne
oder in ihrer modernitaren Obertreibung verstehen. Der an-
haltende Erfolg von Benjamins Thesen uber das Kunstwerk
im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit beruht
zweifel los darauf, dass sie eine BrOcke zwischen dem rna-
terialistischen, marxistischen Erklarunqsrnodell und der hei-
deggerschen Ontologie zu schlagen erlauben, indem sie
die Ent fal tung des Wesens der Technik dem Zeitalter der
Moderne zuweisen. Tatsachlich ist der Beziehung zwischen
dem Asthetischen und dem Onto-Technologischen dassel-
be Schicksal wie allen Kategor ien der Moderne widerfah-
renoZur Zeit Benjamins, Duchamps und Rodtschenkos ging
diese Beziehung einher mit dem Glauben an die Macht der
Elektrizi tat und der Maschine, des Eisens, Glases und Be-
tons. Seit der so genannten .postmodemen" Wende geht
sie einher mit der ROckkehr zur Ikone, die im SchweiBtuch
der Veronika das Wesen der Malerei , des Films und der Fo-
tografie erblickt.
Meiner Ansicht nach solite man die Dinge von der ande-
ren Seite betrachten. Damit die technisch reproduzierbaren
KOnste den Massen, oder genauer dem anonymen Individu-
um, zur Sichtbarkeit verhelfen konnen, mOssen sie erst ein-
mal als KOnsteanerkannt werden. Das heiBt, dass sie ersteinmal als etwas anderes ausgeObt und anerkannt werden
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denn als Techniken der Reproduktion und massen-
haften Verbreitung. Es ist mithin das gleiche Prinzip, das je-
dem Beliebigen Sichtbarkeit verleiht und der Fotografie und
dem Film die Moqlichkeit eroffnet, Klinste zu sein. Man kann
diese Formulierung sogar umkehren. Nur weil das anonyme
Individuum zu einem Gegenstand der Kunst geworden ist,
kann auch seine nAufzeichnung" eine Kunst sein. Dass das
anonyme Individuum nicht bloB kunsttahiq ist, sondern auch
eine spezifische Schonheit birgt - genau das charakterisiert
das asthetische Regime der Klinste. Der Anfang dieses Re-
gimes liegt nicht nur lange vor den Kunsten der technischen
Reproduktion, vielmehr hat es diese durch seine neue Wei-
se, die Kunst und ihre Geqenstande zu denken, l iberhaupt
erst moqlich gemacht.
Das asthetische Regime der Klinste bedeutet zunachst
einmal die Zerst6rung des Systems der Reprasentation, das
heiBt eines Systems, in dem die Wlirde der Geqenstande
die Wl irde der Gattungen best immt (Traqodie fur d ie Dar-
stellung von Adl igen, Komodie fOr die von einfachen Leu-
ten; Historienmalerei vs. Genremalerei etc.) . Das System
der Reprasentaticn definierte zugleich mit den Genres die
Situationen und Ausdrucksformen, die der Niedrigkeit oder
der Hohe des jewei ligen Gegenstands entsprachen. Das
asthetische Regime der Klinste lost diese Verknlipfung von
Gegenstand und Darstellungsweise auf. Diese Revolution
ereignet sich zuerst in der Literatur . Dass, wie bei Balzac,
eine Epoche und eine Gesellschaft in den Gesichtszligen,
der Kle idung oder den Gesten eines bel iebigen lndiv idu-
ums abiesbar wi rd; dass , wie bei Hugo, e in Abwasserka-
nal den Zustand einer Zivil isation offenbart; dass, wie bei
F lauber t, d ie Bauerntochter und die Bankiersgat tin der
gleichen Macht des Sti ls als ..absolute Sichtweise auf die
Dinge" unterliegen - all diese Formen der Tilgung oder
Umkehrung des Gegensatzes von Oben und Unten gehen
nicht nur der Macht der technischen Reproduktion voraus.Sie machen es allererst moqlich, dass diese mehr ist als nur
eine technische Reproduktion. Damit eine technische Tatiq-
keitsfor m - ob es sich nun um den Gebrauch von Worten
oder einer Kamera handelt - der Kunst zugerechnet wer-
den kann, muss zunachst ihr Gegenstand kunstfahig sein.
Die Fotografie ist nicht aufgrund ihrer technischen Natur zur
Kunst geworden. Der Diskurs uber die Oriqinali tat der Fo-
tografie als einer ..ndexikalischen" Kunst ist neu und qehort
weniger zur Geschichte der Fotografie als zur postmoder-
nen Wende, die ich oben erwahnte." Auch ist die Fotografie
nicht dadurch zur Kunst geworden, dass sie andere Formen
der Kunst nachgeahmt hat. Das hat Benjamin schll issig am
Beispiel von David Octavius Hill gezeigt, der der Fotografie
mit dem Bild des kleinen namenlosen Fischermadchens aus
New Haven und nicht mit seinen groBen Bildkompositionen
Eintr it t in die Welt der Kunst verschaffte. Genauso wenig
sind es die atherischen Sujets und kunstvollen Unscharfen
des Piktorial ismus, die den Kunststatus der Fotografie qa-
rantieren, sondern vielmehr das Interesse am Beliebigen: die
Auswanderer von Alfred Stieglitz' Zwischendeck, die Brust-
portrats von Paul Strand oder von Walker Evans.Zum einen
kommt die technische nach der asthetischen Revolution;
zum anderen ist d iese vor a llem durch den Ruhm des Be-liebigen charakterisiert, der zunachst ins Gebiet der Malerei
und Literatur fallt, bevor er Fotografie und Film erfasst.
Es sei hinzugefOgt, dass der Ruhm des Beliebigen dem
Wissen der Schriftsteller anqehorte, bevor die Geschichts-
wissenschaft ihn fOr sich entdeckte. Weder Film noch Foto-
grafie haben die Themen und Fokussierungen der ..neuen
Geschichte" qepraqt, Vielmehr folgen die neue Geschichts-
wissenschaft und die Klinste der technischen Reproduk-
tion der Logik der asthetischen Revolution. Von den groBen
Ereignissen und Personlichkeiten liberzugehen zum Leben
der anonymen Individuen, die Symptome einer Epoche, ei-
ner Gesel lschaft oder einer Kultur in den winzigen Detai ls
des Alltagslebens zuentdecken, die Oberflache von den un-sichtbaren Tiefenschichten herzu erklaren und ganze Welten
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auf der Basis einiger weniger Spuren zu rekonstruieren - all
das war zuerst e in l iterar isches Programm, bevor es ein
wissenschaft liches wurde. Ich meine damit nicht nur, dass
die Geschichtswissenschaft eine literarische Vorgeschichte
hat. Vielmehr konstituier t s ich die Literatur selbst als eine
Art Symptomatologie der Gesellschaft und setzt diese dem
Geschrei und den Fiktionen der offentl ichen BUhne entge-
gen. Inseiner Vorrede zuCromwell versteht Victor Hugo die
Literatur als Sittengeschichte im Gegensatz zur Ereignis-
geschichte der Historiker. In Krieg und Frieden kontrastiert
Toistoi die Dokumente der Literatur , die den Ber ichten und
Zeugnissen der Taten unzahliqer anonymer Akteure entnom-
men sind, mit den Dokumenten der Histor iker , die aus den
Archiven - und den Fiktionen - derer stammen, die glauben,
sie wUrden Schlachten lenken und Geschichte machen. Die
gelehrte Geschichte hat ihrerseits diese Entgegensetzung
wieder aufgenommen, indem sie der alten, auf der Chronik
der Hofe und diplomatischen Ber ichten basierenden Ge-
schichte der Fursten, Schlachten und Vertraqe eine andere
Geschichte folgen l ieB: die auf der LektUre und Interpreta-
tion jener .stummen Zeugen" beruhende Geschichte der
Lebensweisen der Massen und der Zyklen ihrer materiellen
Ex is tenz. Das Auftauchen der Massen auf der Buhne der
Geschichte oder auf den .neuen" Bildern ist nur zweitrangig
mit der Beziehung zwischen dem Zeitalter der Massen und
dem der Wissenschaft und Technik verbunden. Vor allem
grUndet es auf der asthetischen Logik einer Sichtbarkeits-
weise, die sowohl die Grofienrnabstabe der Tradi tion der
Representation widerruft als auch ein auf der offentl ichen
Rede beruhendes Model l von Sprache durch das Lesen der
Zeichen auf dem Kerper der Dinge, Menschen und Gesel l-
schaften ersetzt.
Dieses Erbe tritt die gelehrte Geschichte an. Doch
rnochte s ie die Entstehungsbedingung ihres neuen Ge-
genstands (das Leben der anonymen Individuen) von ihremeigenen l iterar ischen Ursprung und von der Pol it ik der Lite-
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ratur , in die sie sich einschreibt, trennen. Was die gelehrte
Geschichte aufgibt - und Fi lm und Fotograf ie wieder auf -
nehmen - ist jene Logik, die sich in der Tradition des Ro-
mans von Balzac bis zu Proust und dem Surrealismus zeigt,
und es is t jenes Denken des Wahren, dessen Erbe Marx,
Freud, Benjamin und die Tradition des .kritiechen Denkens"
angetreten haben: Schon wird das All tagl iche als Spur des
Wahren, und es wird zur Spur des Wahren, wenn man das
Alltagliche aus seiner Selbstverstandlichkeit herausreiBt
und zu einer Hieroglyphe, zu einer mythologischen oder
phantasmagorischen Figur macht. Diese phantasmagori-
sche Dimension des Wahren, die zum asthetischen Regime
der KUnste qehor t, hat e ine wesent liche Rolle bei der Be-
grUndung des kritischen Paradigmas der Geistes- und Sozi-
alwissenschaften gespielt. Die marxistische Fetisch-Theorie
bezeugt das am deutl ichsten: Man muss die Ware aus ihrer
trivialen Erscheinung herausreiBen und sie in ein phantas-
magor isches Objekt verwandeln, um in ihr den Ausdruck
der gesellschaftl ichen WidersprUche lesen zu konnen, Die
gelehrte Geschichte wollte aus der asthetisch-politischen
Konfiguration, die ihr Gegenstand ist, bestimmte Aspekte
herausgreifen. Sie hat diese Phantasmagorie des Wahren
auf die positivistischen, soziologischen Konzepte von Men-
talitat IAusdruck und Glauben INichtwissen reduziert.
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Ob daraus zu schlieBen ware, dass die
Geschichte eine Fiktion ist. Vo n den verschiedenen
Weisen der Fiktion
Sie gehen von einem grundsiitzlich positiven Begriff
von Fiktion aus. Was genau ist darunter zu verstehen?
Welche Beziehungen herrschen zwischen der Geschichte
in die wir .verwickelt" sind, und den Geschichten, wie .sie
von den narrativen Kiinsten erziihlt (oder dekonstruiert)
werden? Und wie ist es zu verstehen, dass die poetischen
oder literarischen Aussagen sich eher .verkbrpern",
"Gestalt annehmen" und Auswirkungen auf die Wirklich-
keit haben, anstatt bloSe Widerspiegelungen der
Wirklichkeitzu sein? Sind Ideen wie die von .poiltischen
Korpern"oder .Korpem der Gemeinschaft" mehr als
blotie Metaphern? Folgt aus solchen Oberlegungen eineNeudefinition der Utopie?
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Hier liegen zwei Probleme, die bisweilen vermischt wer-
um daraus das Gespenst einer historischen Wirklichkeit
konstruieren, die angeblich nur aus .Fiktionen" besteht.
Das erste Problem betri ff t den Zusammenhang zwischen
Geschichte und Geschichtlichkeit, das heiBt die Beziehung
zwischen dem historischen Akteur und dem sprachbegab-
ten Wesen. Das zweite Problem betri ff t die Idee der Fiktion
und die Beziehung zwischen fiktionaler Rationalitat und den
Weisen, die historische und soziale Wirklichkeit zu erklaren,
zwischen der Ratio der Fiktionen und der Ratio der Fakten.
Am besten beginnen wir mit dem zweiten Problem, mit
jener .Positivitat" der Fiktion, wie sie in dem Text analysiert
wird, auf den Sie sich beziehen." Diese Positivitat wirft ihrer-
seits eine doppelte Frage auf: Erstens stellt sie die allgemei-
ne Frage nach der Rationalitat der Fiktion, das heiBt danach,
wie die Unterscheidung zwischen Fiktion und Unwahrhei t
zu t reffen is t. Und zwei tens s te ll t s ie die Frage nach dem
Unterschied - oder dem fehlenden Unterschied - zwischen
den Weisen des Verstehens, die die Konstruktion von Ge-
schichten betreffen, und solchen, die dazu dienen, histori -
sche Phanornene zu verstehen. Fangen wir mit der ersten
Frage an: Die Besonderhei t des reprasentativen Regimes
der KUnste besteht dar in , d ie Vors te llung der Fik tion von
der Vorstellung der LUge getrennt zu haben. Dieses Regime
sonder t d ie Formen der KUnste ab von der Okonornie der
gemeinsamen Beschaftiqunqen und von der Geqen-Okono-
mie der Trugbilder, die unter das ethische Regime der Bilder
fal len. Genau darum geht es in der Poetik des Aristoteles.
Aristoteles entzieht die Formen der poetischen mimesis
Platons Verdacht gegenUber der Beschaffenheit und der
Bestimmung der Bilder und behauptet so, dass Handlun-
gen in Form eines Gedichts anzuordnen nicht bedeutet, ein
Trugbild herzustellen. Vielmehr handelt es sich dabei um ein
Wissensspiel, das sich auf einen bestimmten Zeit-Raum be-
schrankt, Fingieren bedeutet nicht, Illusionen hervorzurufen,
sondern verstandliche Strukturen zu entwickeln. Die Poesie
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braucht iiber die "Wahrheit" dessen, was sie sagt, keine Re-
chenschaft abzulegen, weil sie prinzipieli nicht aus Bildern
und Aussagen besteht, sondern aus Fik tionen, das heiBt
aus dem Anordnen von Handlungen. Daraus leitet Aristote-
les ferner die These von der Oberlegenheit der Poesie uber
die Geschichte ab, insofern erstere eine Abfolge von Ereig-
nissen in einen kausallogischen Zusammenhang bringen
kann, wahrend die zweite dazu verdammt ist, die Ereignisse
entsprechend ihrer empir ischen Unordnung wiederzuge-
ben. Anders gesagt - und das ist etwas, das die Histor iker
ungern naher bet rachten - bedeutet e ine klare Trennung
zwischen Wirklichkeit und Fiktion, dass eine Rationalitat der
Geschichte und ihrer Wissenschaft unrnoqlich ist.
Die asthetische Revolution mischt die Karten neu, in-
dem sie zwei Dinge miteinander verbindet: die Verwischung
der Grenzen zwischen der Rat io der Fakten und der Ratio
der Fiktionen einerseits und die neue Art von Rationatitat der
Geschichtswissenschaft anderseits. Indem die Romantik be-
hauptet, das Prinzip der Poesie sei nicht die Fiktion sondern
eine bestimmte Anordnung der Sprachzeichen, verwischt
sie die Trennungslinie, die die Kunst aus dem Hoheitsbe-
reich der Aussagen und Bilder ausgeschlossen hat, sowie
jene Linie, welche die Ratio der Fakten und der Geschichten
voneinander trennte. Das bedeutet nicht, dass die Romantik,
wie man es zuweilen hart, eine realitatsferne "Selbstreferen-
tialitat" der Sprache proklamiert hatte, Ganz im Gegenteil:
Die Romantik verankert die Sprache in der Materialitat jener
Merkmale, mit denen die historische und soziale Welt sich fur
sich selbst zu erkennen gibt - sei es in Form der stummen
Sprache der Dinge, sei es inder chiffrierten Sprache der Bil-
der. Die neue Fiktionalitat bewegt sich in dieser Landschaft
aus Zeichen: sie ist eine neue Art, Geschichten zu erzahlen,
das heiSt zunachst die .empirische" Welt der undurchsichti-
gen Handlungen und unscheinbaren Geqenstande mit Sinn
auszustatten. Die fiktionale Anordnung hat nichts mehr mit
der kausalen Verkettung von Handlungen .entsprechend
Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit" zutun, wie noch bei
Aristoteles, sondern sie ist eine Anordnung von Zeichen.
Doch diese l iterar ische Anordnung von Zeichen bedeutet
keinesfalls eine einsame Selbstreferentialitat der Sprache.
Vielmehr handelt es sich um eine Gleichsetzung von fiktio-
nalen Konstruktionsweisen mit Lesarten jener Zeichen, die
der Gestalt eines Ortes, einer Gruppe, einer Mauer, einem
KleidungsstOck oder einem Gesicht eingeschr ieben sind.
Die fiktionale Anordnung ist die Gleichsetzung der Mittel
der Beschleunigung oder Ver langsamung der Sprache, ih-
rerzusammengebrauten Bilder und Tonwechsel, der ganzen
Spannungsdifferenz zwischen dem Unbedeutenden und
dem Oberdeterminier ten mit jenen Modal itaten der Reise
durch die Landschaft der bezeichnenden Merkmale, wie sie
in der Topographie der Raurne, in der Physiologie der sozia-
len Kreise oder indem stummen Ausdruck der Kerper ange-
ordnet sind. Die spezifische .Fiktionalitat" des asthetischen
Zeitalters entfaltet sich demnach zwischen zwei Polen: zwi-
schen der Macht der Bedeutung, die jedem stummen Ding
inharent ist, und der Feinabstimmung der Sprachmodi und
Bedeutungsebenen.
Die asthetische Souveranitat der Literatur ist also nicht
die Herrschaft der Fiktion. Sie ist im Gegenteil ein Regime
der tendenziellen Unbestimmtheit zwischen der Ratio der
deskr iptiven und narrativen Anordnungen der Fiktion und
der Beschreibung und Deutung der sozialhistorischen Pha-
nomene. Wenn Balzac den Leser vor die verschlungenen
Hieroglyphen auf der wackligen und zusammengeflickten
Fassade des Hauses zur ballspie/enden Katze stellt, oder
ihn zusammen mi t dem Heiden des Chagrinleders in den
Antiqui tatenladen eintreten lasst, in dem sich wahllos pro-
fane und hei lige, wilde und zivil is ierte, antike und moderne
Gegenstande anhaufen, von denen jeder eine ganze Welt
enthalt, wenn er aus Cuvier den einzig wahr en Dichter
macht, der aus einem Fossi l eine Welt rekonstruiert, dann
errichtet er ein Entsprechungssystem zwischen den Zeichen
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des neuen Romans und jenen Zeichen, anhand derer die
Phanornene einer Zivilisation beschrieben oder interpretiert
werden. Balzac beqrundst jene neue Rationali tat des Ba-
nalen und Obskuren, die den groBen aristotelischen Anord-
nungen entgegen gesetzt ist und die zur neuen Rationali -
tat der Geschichte des mater iellen Lebens wird, die selbst
wiederum den Geschichten von groBen Taten und groBen
Personlichkeiten entgegensteht.
Damit ist die aristotel ische Trennlinie zwischen zwei
.Geschichten" - die der Historiker und die der Dichter -
aufgehoben. Sie hatte nicht bloB die Wirkl ichkeit von der
Fiktion getrennt, sondern auch die empir ische Abfolge von
~er konstruierten Notwendigkeit. Aristoteles beqrundet die
Uber legenhei t der Dichtung uber d ie Geschichte dami t,
dass die Dichtung das, was "geschehen konnte" , gemaB
der Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit der Anordnung
von dichterischen Handlungen erzahlt, wahrend Geschich-
te lediglich als empirische Abfolge von Ereignissen, wie sie
"geschehen s ind" , g ilt . Mit d ieser Trennung br icht d ie as-
thetische Revolution: Zeugnis und Fiktion unterstehen ein
und demselben Sinnstiftungsregime. Einerseits tragt .das
Empir ische" die Merkmale des Wahren, das in Gestalt von
Spuren und Abdrucken erscheint, und damit untersteht das,
"was geschehen ist", direkt einem Wahrheitsregime, einem
Regime, das seine eigene Notwendigkeit sehen lasst: ande-
rerseits besitzt das, "was geschehen konnte", nicht lanqer
die autonome und lineare Form der Handlungsanordnung.
Kunft ig wird die poetische .Geschichte" den Realismus mit
der Kunstlichkeit verbinden und damit die der Wirkl ichkei t
direkt eingeschriebenen Spuren mit der Konstruktion korn-
plexer Maschinen des Verstehens.
Diese Verbindung ist dann von der Literatur zur neuen
Erzahlunqskunst - dem Kino - uberqeqanqen, Das Kino
fuhrt jene beiden Mittel, die stumme und vielsagende Spur
und die Konst rukt ion, d ie die Bedeutungsmacht und den
Wahrheitswert berechnet, auf die Hohe ihrer Moglichkeiten.
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Dabei ist der Dokumentarfilm als der Film, der sich dem .Re-
alen" verschrieben hat, sogar eher zu einer starkeren fiktio-
nalen Erfindung fahig als das Kino der .Fiktionen", das leicht
einer gewissen Stereotypie von Handlungen und Charakte-
ren unterliegt. Der FilmAlexanders Grab von Chris Marker,
um den es in dem von Ihnen angesprochenen Artikel geht,
Obersetzt die Geschichte Russlands von der Zarenzeit bis
zum Postkommunismus anhand des Schicksals eines Re-
gisseurs, Alexander Medwedkin, in Dichtung. Weder wird
deshalb Medwedkin zu einer erfundenen Figur, noch wer-
den erfundene Geschichten uber die Sowjetunion erzahlt.
Marker spielt mit der Kombination verschiedener Typen von
Spuren (interviews, aussaqekraftiqe Gesichter, Archivdoku-
mente, Ausschnitte aus dokumentarischen und fiktionalen
Filmen etc.), um Moglichkeiten vorzuschlagen, wie man die-
se Geschichte denken kann. Das Reale muss zur Dichtung
werden, damit es gedacht werden kann. Dieser Vorschlag
hat nichts mit jenem (posi tiven oder negativen) Diskurs zu
tun, der besagt, alles sei .Erzahlunq" - egal ob "groBe" oder
.kleine" Erzahlunqen. Der Begriff der .Erzahlunq" sperrt uns
in den Gegensatz zwischen Wirkl ichem und KOnstlichem
ein, in dem sich Posit iv isten und Dekonstruktiv isten glei-
chermaBen ver lieren. Es geht nicht um die Behauptung, al-
les sei Fiktion. Vielmehr gilt es festzustellen, dass die Fiktion
des asthetischen Zeitalters Model le geschaffen hat, die es
erlauben, die Darlegung von Fakten mit Formen des Verste-
hens zu verbinden, die die Trennung zwischen der Ratio der
Fakten und der Ratio der Fiktion gerade aufgehoben haben.
Diese Verbindungsmodelle werden dann von Historikern so-
wie von Analytikern der sozialen Wirklichkeit wieder aufge-
griffen. Geschichte schreiben und Geschichten schreiben
qehoren zu demselben Wahrhei tsregime. Das hat nichts
mit i rgendeiner These uber die Wirkl ichkei t oder Unwirk-
l ichkeit der Dinge zu tun. Ebenso klar i st a llerd ings auch,
dass ein bestimmtes Model l, Geschichten zu verfert igen,
an eine bestimmte Auffassung von Geschichte als gemein-
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samem Schicksal sowie an eine Vorstel lung davon, wer die
.Geschichte rnacht", gebunden ist, und dass jene enge Ver-
knOpfung zwischen der Ratio der Fakten und der Ratio der
Geschichten spezifisch ist fur eine Epoche, in der potentiell
aile an der Aufgabe, Geschichte zu .rnachen", beteiligt sind.
Es geht also nicht darum zu sagen, dass "die Geschichte"
bloB aus den Geschichten bestOnde, die wir uns erzahlen,
sondern schlicht um die Feststellung, dass die "Ratio der
Geschichten" und die Fahiqkeiten, als historische Akteure
zu handeln, zusammenqehoren, Politik, Kunst, Wissen - sie
aile konstruieren .Fiktionen", das heiBt materielle Neuanord-
nungen von Zeichen und Bildern, und sti ften Beziehungen
zwischen dem, was man sieht, und dem, was man sagt, zwi-
schen dem, was man tut und tun kann.
Wir f inden hier die andere Frage wieder, jene nach der
Beziehung zwischen l.iterarizitat und historischer Wahrheit.
Politische oder literarische Aussagen wirken sich auf die Re-
ali tat aus, und sie definieren Model le des Sprechens oder
des Handelns, aber auch Regime sinnl icher lntensi tat. Sie
zeichnen Karten des Sichtbaren, ziehen Bahnen zwischen
Sicht- und Sagbarem und stellen Beziehungen zwischen
Seinsweisen, Tatigkeitsformen und Redeweisen her. Sie de-
finieren Variationen von sinnlichen lntensitaten, korperlichen
Wahrnehmungen und Fahiqkeiten. Sie bernachtiqen sich
auf diese Weise irgendwelcher Menschen, schaffen Abstan-
de, zeigen Nebenwege auf, verandern die Arten, Geschwin-
digkeiten und Bahnen, in denen diese Menschen mit ihren
Lebensurnstanden verhaftet sind, auf Situationen reagieren
und sich zu ihren Bildern bekennen. Sie gestalten die Karte
des Sinnlichen neu, indem sie die Funktionalitat jener Ges-
ten und Rhythmen in Frage stellen, d ie an die natOr lichen
Kreislaufe von Produktion, Reproduktion und Unterwerfung
angepasst sind. Der Mensch ist ein pol it isches Tier, wei l er
ein literarisches Tier ist, das sich durch die Macht der Worte
von seiner .naturlichen" Bestimmung ablenken lasst. Diese
t.itererizitet ist gleichzei tig Ursache und Wirkung der Zirku-
lation von im .wortwortlichen Sinne" literarischen Aussagen.
Aber d iese Aussagen besetzen die Kerper und lenken sie
in dem MaBe von ihrer Best immung ab, in dem sie selbst
keine Kerper - imSinne von Organismen -, sondern Quasi-
Kerper - Wortblecke - s ind, d ie ohne legi timen Vater, der
sie bis zueinem adaquaten Adressaten begleiten wOrde, zir-
kulieren. Sie stellen auch keine Kollektivkorper her, vielmehr
versehen sie die irnaqinaren Kollektivkorper mit Bruchlinien,
Linien der .Entkorperunq", Bekanntlich war genau dies die
Zwangsvorstel lung der Regierenden und Theoretiker der
"guten Regierung", d ie t iber d ie yom Umlauf der Schr if t
hervorgerufene .Deklassierunq" sehr beunruhigt waren. 1m
19.Jahrhundert wurde es dann zur Zwangsvorstel lung der
veritablen .Schrittsteller", die mit ihren Schriften jene Litera-
rizitat denunzierten, die Ober die Grenzen der Institution Lite-
ratur hinausgeht und deren Produktionen vom wahren Weg
abbringt. Es ist r ichtig, dass die Verbrei tung dieser Quasi-
Kerper die sinnliche Wahrnehmung des Gemeinsamen und
das Verhaltnis zwischen dem Gemeinsamen der Sprache
und der sinnlichen Aufteilung der Raurne und Betatigungen
verandert, Sie skizzieren aleatorische Gemeinschaften, die
zur Bildung neuer Aussage-Kollektive beitragen, welche die
bestehende Verteilung der Rollen, Territorien und Sprachen
infrage stellen - kurz: die Verteilung alljener politischen Sub-
jekte, die die bestehende Aufteilung des Sinnl ichen auSer
Kraft setzen. Doch ist ein politisches Kollektiv eben gerade
kein Organism us oder gemeinschaftlicher Kerper. Die Wege
der politischen Subjektbildung sind nicht die der irnaqinaren
Identifikation, sondern der "Iiterarischen" Entkorperunq."
Ich bin mir n icht s icher , ob der Begrif f der Utopie die-
ser Arbeit gerecht wird. Das definitorische Potential dieses
Wortes ist vollstandiq von seinen Konnotationen aufgezehrt
worden: zum einen der wahnsinnige Traum, der in die tota-
litare Katastrophe rnundet, zum anderen das Gegenteil, die
unendliche Eroffnunq des Meglichen, die allen totalisieren-
den Einfriedungen widersteht. Aus unserer Sicht, das heiSt
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aus Sicht der Neuverteilung eines gemeinsamen Sinnlichen,
hat das Wort Utopie zwei sich widersprechende Bedeutun-
gen. Die Utopie ist zum einen der Nicht-Or t, der auBerste
Punkt einer konfliktreichen Neuverteilung des Sinnlichen,
die die Kategorien der Evidenz sprengt. Zum anderen ist die
Utopie die Gestaltung eines guten Ortes, einer reibungs-
losen Aufteilung des sinnlichen Universums, in dem das,
was man macht, was man sieht und was man sagt, genau
zu einander passen. Die Utopien und die utopischen So-
zialismen haben dank dieser Doppeldeutigkeit funktioniert:
einerseits als Widerruf evidenter sinnlicher Gegebenheiten,
in denen die Norrnal itat der Herrschaft verwurzel t ist, und
anderseits als Vorschlag eines Zustands, in dem die Idee
des Gemeinsamen ihre adaquate Verkorperunqsforrnen
besitzen wUrde, in dem also die Auseinandersetzung Uber
die Beziehung zwischen Wortern und Dingen, die Ausein-
andersetzung, die das Herz der Politik ausmacht, aufgeho-
ben ware. Aus dieser Perspektive habe ich in meinem Buch
La Nuit des proleteires die komplexe Begegnung zwischen
den Ingenieuren der Utopie und den Arbei tern analysier t.
Die saint-simonistischen Ingenieure propagierten einen neu-
en, wahren Gemeinschaftskorper, bei dem die inden Boden
eingelassenen Wasser- und Schienenwege die Illusionen
des geschr iebenen und gesprochenen Wortes ersetzen
soll ten. Die Antwort der Arbeiter bestand nicht dar in , d ie
Utopie mit der Praxis zu konfrontieren, sondern der Utopie
ihren .unwirklichen" Charakter zurUck zu geben, den einer
Montage aus Wortern und Bildern, die das Terri torium des
Sichtbaren, Denkbaren und Moglichen neu gestalten. Ent-
sprechend waren die .Fikt ionen" der Kunst und der Pol it ik
eher Heterotopien als Utopien.
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Von der Kunst und der Arbeit. Warum die
Praktiken der Kunst eine Ausnahme von den anderen
Praktiken bilden und warum nicht
FOr die Hypothese einer .Febrik des Sinnlichen" spielt
die Verbindung zwischen der kOnstlerischen Praxis und
ihrem scheinbaren AuBen, also der Arbeit, eine wesent-
l iche Rol le. Wie begreifen Sie aus Ihrer Sicht eine solche
Verbindung: als Ausschluss, Unterscheidung, Gleich-
gOltigkeit ... ? Kann man vom "menschlichen Tun" im AII-
gemeinen sprechen und die kOnstlerischen Praktiken
als dazugehorig ansehen oder bilden sie eine Ausnahme?
Unter dem Konzept einer .Fabr ik des Sinnl ichen" kann
man zunachst einmal den Aufbau einer gemeinsamen sinn-
l ichen Welt, eines gemeinsamen Ort des Aufenthal ts mit-
tels der Verflechtung einer Vielzahl menschlicher Tatiqkeiten
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verstehen. Doch impliz iert d ie Idee einer .Aufteilunq des
Sinnl ichen" noch etwas mehr. Eine "gemeinsame" Welt ist
niemals bloBes ethos im Sinne eines gemeinsamen Aufent-
haltsortes, der sich aus der Sedimentierung einer bestirnrn-
ten Anzahl verflochtener Handlungen ergibt. Sie ist immer
auch eine konfl iktreiche Verteilung von Seinsweisen und
"Beschaft igungen" in einem Moglichkeitsraum. Erst unter
dieser Voraussetzung kann man die Frage nach dem Ver-
hal tnis zwischen der .Gewohnlichkeit" der Arbei t und der
.Besonderheit" der Kunst stellen. Auch hier kann ein Rekurs
auf Platon dabei behil fl ich sein, das Problem zu benennen.
1mdrit ten Buch des Staats wird der nachahmende Kunst-
ler nicht mehr wegen der Unwahrhei t und des schadlichen
Charakters seiner Bilder verurteilt, sondern aufgrund eines
Prinzips der Arbeitsteilung, das bereits die Handwerker aus
jedem gemeinsamen pol it ischen Raum ausschloss: Der
nachahmende KOnstler ist per Definition ein Doppelwesen.
Ertut zwei Dinge gleichzeitig, wahrend das Prinzip der wohl-
geordneten Gemeinschaft dar in besteht, dass jeder aus-
schl ieBli ch ein Ding tut , zu dem er durch seine .Natur" be-
stimmt ist. In gewisser Hinsicht ist damit schon alles gesagt.
Die Vorstel lung von Arbei t ist nicht in erster Linie die einer
bestimmten Tatiqkeit, eines materiellen Transformationspro-
zesses. Sie liegt vielmehr in einer Aufteilung des Sinnlichen:
inder Unmoglichkeit aufgrund des "Zeitmangels", .etwas an-
deres" zu tun. Diese .Unrnoqllchkeit" gehort zu der verinner-
lichten Vorstellung der Gemeinschaft. Sie bestimmt Arbeit
als notwendige Abschiebung des Arbei ters in den privaten
Zeit-Raum seiner Beschaftiqunq und schlieBt ihn dadurch
von der Teilnahme am Gemeinsamen aus. Der nachahmen-
de KOnstler bringt diese Aufteilung durcheinander: Er ist ein
Doppelwesen, ein Arbeiter, der zwei Dinge gleichzeitig tut.
Das Entscheidende dabei ist vielleicht die Zuordnung: Der
nachahmende KOnstler gibt dem .privaten" Prinzip der Ar-
bei t eine offentl iche BOhne. Er stell t einen Schauplatz des
Gemeinsamen mittels dessen her, was eigentl ich die Ver-
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bannung eines jeden auf seinen Platz hatte herbeifOhren
sollen. Mehr noch als auf der Gefahr, dass seine Trugbi l-
der die Seelen verweichlichen, beruht seine Schadlichkeit
auf dieser Neuaufteilung des Sinnlichen. Die kOnstlerische
Praxis is t a lso nicht das AuBen der Arbeit , sondern deren
deplazierte" Form der Sichtbarkeit. Die demokratische Auf-
teilunq des Sinnl ichen macht aus dem Arbeiter ein Doppel-
wesen. Sie befreit den Handwerker von .semern" Platz, dem
hausl ichen Arbei tsraum und qewahrt ihm die "Zeit", s ich im
Raum der offentl ichen Debatten aufzuhalten und die lden-
titat eines beschlussfahigen BOrgers anzunehmen. Die rni-
metische Dopplung im Raum des Theaters bestatiqt diese
Dopplung und macht sie sichtbar. Dementsprechend qehort
aus der Sicht Platons der Ausschluss des nachahmenden
KOnstlers zum Aufbau einer Gemeinschaft, in der die Arbeit
an "ihrem" Platz ist.
Das Prinzip der Fiktion, das im reprasentativen Regime
der KOnste herrscht, ist dagegen eine Weise, die kunstleri-
sche Ausnahme zu stabilisieren, sie einer techne zuzuwei-
sen, was zweierlei bedeutet: Die Kunst der Nachahmungen
ist eine Technik und keine LOge. Sie ist kein Trugbild mehr,
aber auch nicht lanqer die deplazierte Sichtbarkeit der Arbeit
als Aufteilung des Sinnl ichen. Der nachahmende KOnstler
ist nicht lanqer das Doppelwesen, dem man die Pol is, inder
jeder b loB eine Sache macht, entgegen setzen muss. Die
Kunst der Nachahmungen kann ihre eigenen Hierarchien
und Ausschlusskriterien in die groBe Aufteilung der .freien"
und der technisch reproduzierbaren KOnsteeinbringen.
Das asthetische Regime der KOnste stOrzt diese Ver-
tei lung der Raume um. Es stell t nicht bloB die mimetische
Dopplung zugunsten der Immanenz eines sinnlich verfass-
ten Denkens infrage, sondern darOberhinaus auch den neu-
tralen Status einer techne - die Vorstellung von der Technik
als Pragung einer leblosen Materie durch eine gedankliche
Form. Das heiBt, dass es die Aufteilung der Beschiiftigun-gen, auf der d ie Ver te ilung der Bere iche beruht, in denen
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bestimmte Handlungen moqlich sind, wieder ans Tageslicht
bringt. Diese theoretische und politische Operation steht im
Zentrum von Schillers Briefe tiber die esthetiscne Erziehung
des Menschen. 1mHinblick auf die kantische Definition des
asthetischen Urtei ls als Urtei l ohne Begri ff , das heiBt ohne
die Unterordnung der Intuition unter die begriffliche Bestim-
mung, legt Schil ler die pol it ische Aufteilung frei, vor deren
Hintergrund Kant operiert: die Aufteilung zwischen denjeni-
gen, die handeln, und denjenigen, die erleiden; zwischen den
kultivierten Klassen, die Zugang haben zur Totalitat des Le-
bens, und den wilden Klassen, die inder ZerstUckelung der
Arbeit und der sinnlichen Erfahrungen versinken. Schillers
"asthetischer" Zustand will mit einer bestimmten Vorstellung
von Kunst die Vorstellung von einer Gemeinschaft zerstoren
die auf dem Gegensatz zwischen denen beruht, d ie den-
ken und entscheiden, und denen, die zur materiellen Arbeit
bestimmt sind, indem er den Gegensatz zwischen aktivem
Verstand und passiver Sinnlichkeit aussetzt.
Diese Aussetzung der negativen Wertung der Arbei t
ist im 19. Jahrhundert zur Affirmation ihres positiven Wertes
geworden, als der Form, in der sich die gemeinschaftl iche
Effektivitat des Denkens und des Gemeinwesens vollzieht.
Dieser Wandel erfolgte dadurch, dass diese Schwebe des
.asthetischon Zustands" in die posit ive Behauptung eines
asthetischen Willens transformiert wurde. Die Romantik ver-
kUndet das Sinnlich-Werden jedes Gedankens und das Ge-
danken-Werden jeder sinnlichen Materie als das eigentliche
Ziel jeglicher Gedankentatigkeit. Dadurch wird die Kunst
wieder zu einem Symbol der Arbeit . Die Kunst ant izipiert
jenes Ziel, das die Arbeit noch nicht aus eigener Kraft und
fur sich selbst erreichen kann: die Abschaffung der Gegen-
satze, Doch der Kunst ist dies in dem MaBe moqlich, als
sie Produktion ist. Das heiBt der Prozess mater ieller Rea-
l is ierung ist damit identisch, dass die Gemeinschaft ihren
eigenen Sinn vorfUhrt. Die Produktion erweist sich als dasPrinzip einer rieuen Aufteilung des Sinnlichen, insofern sie
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die traditionell gegensatzlichen Begriffe von herstellender
Tatiqkeit und Sichtbarkeit in einem Konzept vereinigt. Her-
stellen bedeutete frUher, in einem privaten und dunklen Zeit-
Raum dem Nahrungserwerb nachzugehen. Produzieren fOgt
der Handlung, etwas herzustellen, eine Handlung hinzu, die
etwas sichtbar macht und definiert so ein neues Verhaltnis
zwischen tun und sehen. Die Kunst antiz ipiert die Arbei t,
weil sie deren Prinzip verwirklicht, narnlich die Umwandlung
der sinnlichen Materie in die Selbstdarstellung der Gemein-
schaft . Die Schri ften des jungen Marx, d ie die Arbeit zum
Ausweis des Menschen als Gattungswesen machen, sind
einzig auf der Basis des asthetischen Programms des deut-
schen Ideal ismus moglich: Kunst als Umwandlung des Ge-
dankens in die sinnliche Erfahrung der Gemeinschaft. Und
dieses ursprUngl iche Programm liegt dem Denken und der
Praxis der .Avantqarden" der 1920er Jahre zugrunde: die
Kunst als getrennte Tatiqkeit abschaffen und sie der Arbeit,
und das heiBt dem Leben, das sich seinen eigenen Sinn er-
arbeitet, wieder zuri..ickgeben.
Damit wil l ich nicht behaupten, dass die moderne Auf-
wertung der Arbeit das einzige Ergebnis des neuen Ver -
s tandnisses der Kunst sei. Zum einen is t d ie iisthetische
Denkweise erheblich mehr als ein Gedanke zur Kunst. Sie
ist eine Idee des Denkens, die an die Idee einer Aufteilung
des Sinnl ichen gebunden ist. Zum anderen gil t es auch, die
Art und Weise zu bedenken, in der d ie Kunst der KUnst ler
im Anschluss an eine zweifache Aufwertung der Arbei t neu
definiert wurde: die okonomische Aufwertung der Arbeit als
Name fOr die grundlegende Tatiqkeit des Menschen, aber
auch der Kampf der Proletarier, umdie Arbeit aus ihrer Nacht,
das heiBt aus ihrem Ausschluss von gemeinsamer Sichtbar-
kei t und Rede, zu befreien. Wir mi..issendas denkfaule und
absurde Schema aufgeben, nach dem der asthetische Kult
des .L'ar t pour l'ar t" der aufs trebenden Kraft der pro leta-
r ischen Arbeit entgegensetzt i st . Nur a ls Arbeit kann die
Kunst den Charakter einer exklusiven Tatiqkeit annehmen.
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Die Kritiker zur Zeit Flauberts zeigen die Verbindung auf zwi-
schen dem Kult des Satzes und der Aufwertung der bloBen
Arbeit, die vermeintlich jenseits aller Sprache liegt, und sind
somit weitsichtiger als die Entmystifizierer des 20, Jahrhun-
derts: Der flaubertsche Asthet ist ein Steineklopfer. Zur Zeit
der russischen Revolution konnten sich Kunst und Produk-
tion miteinander identifizieren, denn sie folgten beide dem-
selben Prinzip der Neuaufteilung des Sinnlichen, derselben
Tugendhaftigkei t einer Handlung, die mit der Herstel lung
von Gegenstanden zugleich Sichtbarkeit qeneriert, Der Kult
der Kunst setzt eine Aufwertung der Fahiqkeiten voraus, die
mit der Vorstel lung vom Wesen der Arbei t verbunden sind.
Doch ist d iese Aufwertung weniger d ie Entdeckung des
Wesens menschlicher Tatiqkeit, als dass sie die Landschaft
des Sichtbaren, das Verhaltnis von Tun, Sein, Sehen und
Sagen, neu zusammensetzt. Welche spezifische Form auch
immer die okonornischen Kreislaufe annehmen, in die die
kUnstlerischen Praktiken sich einfUgen: Diese sind niemals
eine .Ausnahrne" gegenUber den anderen Praktiken. Die
kUnstlerischen Praktiken reprasentieren oder gestalten die
Aufteilungen dieser anderen Tatiqkeiten neu.
Anmerkungen
Aus dem Frenziisischen von Maria Muhle und Susanne
Leeb, basierend auf einer Ubersetzunq von Jilrgen Link
Beim Begriff der .Aufteilunq" ist die Doppelbedeutung
von .partaqe" im Sinne von Teilung und Teilhabe rnitzu-
lesen. (Anm.d. 0. )
2 Jacques Ranciere, Das Unvernehmen, a.d.Franz. von
Richard Steurer, Frankfurt am Main 2002. Orig.: La Me-
sentente, Paris 1995.
3 .Manieres de faire" bedeutet in der genauen Uberset-
zung "die Weisen, etwas zu tun" und ist h ier durchge-hend mit Tatigkeitsformen Ubersetzt. Ebenso wurde fUr
"activite" der Begriff Tatiqkeiten qewahlt, (Anm. d.0. )
4 Unter "Gemeinschaft des Sinnl ichen" verstehe ich keine
Kollektivitat, die auf einem gemeinsamen GefUhl beruht.
Gemeint ist ein Rahmen der Sichtbarkei t und Intel ligi -
bil itat, der Dinge oder Praktiken unter einer Bedeutung
vereint und so einen bestimmten Sinn fur Gemeinschaft
entwirft. Eine Gemeinschaft des Sinnl ichen entsteht,
wenn Raum und Zeit auf eine bestimmte Weise einge-
tei lt und dadurch Praktiken, Formen der Sichtbarkei t
und Verstehensmuster miteinander verknUpft werden.
Dieses Ausschneiden und VerknUpfen nenne ich eine
Aufteilung des Sinn lichen.
5 "Occupation" wird hier mit Beschaftiqunq Ubersetzt,
da der Begr iff si ch an die platonische Auf te ilung der
Beschaftiqunqen innerhalb der Gemeinschaft anlehnt;
mitgedacht werden sol lte aber auch der Aspekt der In-
besitznahme (occuper = besetzen) eines Individuums
durch eine Beschaftigung. (Anm. d.0. )
6 Von hier ausgehend kann man den Trugschluss ver-
stehen, der in jedem Versuch, die charakter istischen
Merkmale der Kunste aus dem ontologischen Status
der Bilder abzuleiten, enthalten ist (zum Beispiel die un-
aufhorlichen Versuche, aus der theologischen Konzep-
t ion der Ikone die Vorstel lung von dem der Malerei , der
Fotografie oder des Films .Eiqenen" zu ziehen). Dieser
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Versuch setzt zwei sich ausschlieBende Denkregime in
eine Beziehung von Ursache und Wirkung. Das gleiche
Problem stell t s ich bei der benjaminschen Analyse der
Aura ein. Benjamin le itet auf zweifelhafte Weise den
einzigartigen Wert des Kunstwerks aus dem Ritualwert
des Bildes her: .Es ist nun von entscheidender Bedeu-
tung, dass diese auratische Daseinsweise des Kunst-
werks niemals durchaus von seiner Ritualfunktion sich
lost. Mit anderen Worten: Der einzigartige Wert des
,echten' Kunstwerks hat seine Fundierung im Ritual, indem es seinen oriqiniiren und ersten Gebrauchswert
hatte." (Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter
seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am
Main 1996, S. 16.) Diese .entscheidende" Tatsache ist
in Wirkl ichkei t nichts anderes als die problematische
Annaherunq zweier Grundmuster der Transformation:
das historisierende Schema der "Sakularisierung des
Heiligen" und das okonornische Schema der Verwand-
lung des Gebrauchswerts inTauschwert. Doch dort, wo
der Gottesdienst den Zweck der Statuen und Malereien
als Bilder definiert, kann die Vorstellung von einem Spe-
zifischen der Kunst und einer einzigartigen Eigenschaft
ihrer "Werke" nicht entstehen. Das Verschwinden des
ersteren ist notwendig fOr das Auftauchen des letzte-
renoDoch daraus folgt in keiner Weise, dass die zweite
die veranderte Form des ersten sei . Das "mit anderen
Worten" setzt zwei Behauptungen als gleichwertig vo-
raus, d ie es eigent lich gar n icht sind, und errnoqlicht
all die Uberqanqe von der materialistischen Erklarunq
der Kunst zu ihrer Verwandlung in profane Theologie.
Daraus erklart sich, dass die benjaminsche Auffassung
des Obergangs vom Kultwert zum Ausstel lungswert
heute drei konkurrierenden Diskursen unterliegt: jener
Diskurs, der die moderne Entmystifizierung des kunst-
ler ischen Mystizismus feier t, jener, der dem Werk und
dem Ausstellungsraum die heiligen Werte der Darstel-
lung des Unsichtbaren zuspricht,
den vergangenen Zeiten der
d ie Zeit der Ver lassenhei t und des
des Menschen entgegensetzt.
7 "Fait" ist als Vergangenheitspartizip von "faire" als d a's < \'
Verfertigte ubersetzt, kann auch als Substantiv verstan-
den und mit Faktum oder Tatsache wiedergegeben wer-
den. Der Autor spielt hier mit dieser Doppeldeutigkeit,
die sich auch auf das franzosische Wort fOrGedicht be-
zieht, denn die Etymologie von .poeme" verweist direktauf das griechische poiem«, wortlich das Gemachte.
(Anm.d.O.)
8 Schiller wird in den Briefen seine Kategorie des asthe-
tischen Zustands auf einen "asthetischen Staat" (franz.:
"etat" I "Etat") zuspitzen. (Anm.d. 0 .)
9 Stephans Mallarrne, .Bellette, Essays aus den Divaga-
tions", in:Kritische Schriften, hrsg. von Gerhard Goebel
und Bettina Rommel, a.d.Franz. von Gerhard Goebel
u.a. , Garlinqen 1998, S. 169. Or ig.: "Ballets, Divaga-
tions", in: Igitur,Divagations, Un coup de des, preface
d'Yves Bonnefoy, Paris 1976, S. 193.
10 Vgl. Raymond Bel lour, "La Charnbre", in: ders., CEntre-
images, 2 Bde., Par is 1999, Bd.2.11 .L'lnoubliable", in: Jean-Louis Comol li , Jacques Ran-
ciere, Arret sur histoire, Paris 1997.
12 Diese polemisch anti-modernistische Berufung der ver-
spateten Entdeckung des .Llrsprunqs" der Fotografie,
der dem Mythos von der Er findung der Malere i durch
Dibutades nachempfunden ist , kann man sowohl bei
Roland Barthes (Die helle Kammer) als auch bei Rosa-
lind Krauss (Das Photographische) nachlesen.
13 Jacques Ranciere, "La fiction de rnernoire, A propos du
Tombeau d'Alexandre de Chris Marker ", in: Trafic29,
FrUhjahr 1999, S.36 - 47.
14 Ich erlaube mir, in diesem Zusammenhang auf mein
Buch Die Namen der Geschichte zu verweisen.
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