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Was ist Autismus-Spektrumstörung? Autistische Störungen berühren die Fähigkeiten eines Menschen in den Bereichen: Sozialverhalten, Kommunikation, Verhalten, Interessen und der Wahrnehmung. Die Beeinträchtigungen im Sozialverhalten äußern sich folgendermaßen: Blickkontakt, Körperhaltung und Mimik werden nicht zur Aufnahme sozialer Beziehungen eingesetzt. Es fehlt das in "sich hineinversetzen" in den anderen, die Vorstellungskraft für eine von der eigenen Person abweichenden Indentität und die Berücksichtigung dessen in der Gestaltung von 1 Autismus Klientenzentrierte Interaktion und Beratung bei Menschen mit Autismus RATGEBER 18. MÄRZ 2017 Wenn Schüler Autismus haben Ein Fallbeispiel aus dem Schulalltag S. 7 Wenn Frauen mit Autismus sich schminken möchten Ein Fallbeispiel aus dem Leben einer berufstätigen Frau S. 8 Wenn autistis- tische Kinder anders spielen Ein Fallbeispiel eines vier-jährigen Jungen S. 9 RATGEBER Eltern und Geschwister, Erzieher und Lehrer S. 3 1 FALLBEISPIELE Aus dem Alltag S. 7 2 ERGOTHERAPIE Wie sich Glück und Lebenszufriedenheit erreichen lassen S. 10 3

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Was ist Autismus-Spektrumstörung? Autistische Störungen berühren die Fähigkeiten eines Menschen in den Bereichen: Sozialverhalten, Kommunikation, Verhalten, Interessen und der Wahrnehmung.

Die Beeinträchtigungen im Sozialverhalten äußern sich folgendermaßen: Blickkontakt, Körperhaltung und Mimik werden nicht zur Aufnahme sozialer Beziehungen eingesetzt. Es fehlt das in "sich hineinversetzen" in den anderen, die Vorstellungskraft für eine von der eigenen Person abweichenden Indentität und die Berücksichtigung dessen in der Gestaltung von

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Autismus Klientenzentrierte Interaktion und Beratung bei Menschen mit Autismus

RATGEBER 18. MÄRZ 2017

Wenn Schüler Autismus haben Ein Fallbeispiel aus dem Schulalltag S. 7

Wenn Frauen mit Autismus sich schminken möchten

Ein Fallbeispiel aus dem Leben einer berufstätigen Frau S. 8

Wenn autistis-tische Kinder anders spielen Ein Fallbeispiel eines vier-jährigen Jungen S. 9

RATGEBER Eltern und

Geschwister, Erzieher und Lehrer

S. 3

1FALLBEISPIELE Aus dem Alltag

S. 7

2ERGOTHERAPIE

Wie sich Glück und Lebenszufriedenheit

erreichen lassen S. 10

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Beziehungen. Interessengruppen mit Gleichaltrigen sind kaum möglich. Geltende Normen der Interaktion werden nur schwer erkannt und umgesetzt. Auch im Bereich der Kommunikation sind Autisten oft beeinträchtigt. Die Bereiche reichen von gänzlich fehlender Kommunikation über Sprachstereotypien und Echolalien bis hin zu voll entwickelter nicht adäquat eingesetzter Sprache. Im Verhalten zeigen Autisten stereotype Verhaltensmuster wie z. B. repetitive Bewegungen. Bezeichnend für Autisten ist das zwanghafte Verfolgen eigener festgelegter Interessen. Auf Veränderungen von Handlungsabläufen oder Details der persönlichen Umgebung reagieren Autisten zum Teil sehr auffällig wie z. B. fremd- oder selbstverletzend. In der taktilen und visuellen Wahrnehmung können Betroffene über- oder unterempfindlich sein. Zusammengefasst stellt Autismus eine tiefgreifende Entwicklungsstörung dar.

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RATGEBER 18. MÄRZ 2017

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Wie sollte man einem Autisten in der

Kommunikation begegnen?

Nach dem Wiener Interaktions- und Kontakttrainingsprogramm sollte man die sogenannte Kontaktsprache anwenden. Dazu gehört es beispielsweise, den Autisten längere Zeit freundlich anzuschauen, auch wenn dieser nicht direkt darauf reagiert. Dies signalisiert freundliche Zuwendung ohne Zwang. Des Weiteren empfiehlt es sich, eine modulierte Sprechweise zu verwenden. Dies bedeutet, besonders betont, langsam, melodisch und gefühlvoll zu sprechen, um beim Autisten ein unmittelbares, emotionales Interesse für die Botschaft, die gesendet wird, zu wecken. Dies steigert auch dessen allgemeine Bereitschaft zuzuhören und sich vom Gegenüber in positivem Sinne beeinflussen zu lassen. Man sollte vom Autisten nicht erwarten, dass er auf alles sofort reagiert oder alles sofort umsetzen kann. Daher ist es wichtig ihm eine individuell variable und freundliche Wartezeit einzuräu-

men, die nicht von Ungeduld geprägt ist. Falls notwendig, ist es wichtig, Fragen spontan umzuformulieren bzw. Aufgaben leichter zu gestalten. Um Verhaltensweisen richtig einüben zu können, muss einerseits differenziertes Lob eingesetzt, andererseits freundliche Konsequenz angewendet werden. Das bedeutet nicht nur ein Lob auszusprechen, sondern genau zu formu-lieren, für was gelobt wird. Bei Kritik wird in freundlichem Ton auf einen Fehler hingewiesen und gleichzeitig Hilfestellung gegeben, um den Fehler auszubessern. Jegliche Kontaktangebote seitens des Autisten dürfen nicht abgewehrt oder unbeantwortet bleiben. Je nach Möglich-keit sollten diese „liebevoll“ beantwortet werden.

Wie verhält sich ein Autist innerhalb der Kommunikation und wie sollte die Kommu-nikationsfähigkeit gefördert werden?

Autisten sprechen viel in Ein- bis Dreiwort-sätzen. Dies wirkt oft abweisend und ist ungünstig für soziale Beziehungen. Um das Sprechen in ganzen Sätzen zu fördern, sollte man immer dazu auffordern und die Person dazu anhalten. Außerdem wichtig zu wissen ist, dass viele Autisten von sich in der „Du-Form“ sprechen. Dies sorgt in Zweiergesprächen oft für

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DAS IST EIN AUTISTISCHER HILFERUF UND KEINE SCHLECHTE ERZIEHUNG! „Manchmal bin ich total überfordert und weiß mir nicht anders zu helfen – dann schrei ich, damit das aufhört. Denn es fällt mir sehr schwer, meine Gefühle auszudrücken. Hier sind übrigens ein paar Links, die Symbole zur leichteren Kommunikation anbieten. Vielleicht helfen sie uns dabei, besser miteinander klar zu kommen!“

www.symbolworld.orgwww.do2learn.com/picturecards/printcards/www.pdictionary.com/german

Das ist ein autistischer Hilferuf ...

... und keine schlechte Erziehung!

RATGEBER Eltern und

Geschwister, Erzieher und Lehrer

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Verwirrung. Somit ist das Einüben der Personal-pronomen und die Stärkung des „Ich-Bewusst-seins“ bzw. die Festigung der Unterscheidung zwischen sich selbst und Anderen zu fördern. Vor allem bei Aufregung oder Unsicherheit sprechen Autisten sehr monoton und hölzern. Daher ist es ein weiterer Bestandteil des Kommunikationstrainings, die Intonation zu üben und dazu aufzufordern, moduliert zu sprechen. Dies kann durch Nachsprechen von betonten Sätzen oder durch Lesen von Sätzen, die ein Gefühl ausdrücken, trainiert werden. Viele Autisten sprechen zu laut, was oft aggressiv wirken kann. Ein Ziel ist somit das Einüben angemessener Lautstärke. Einige Autisten zeigen Echolalien, Sprachstereotypien oder Selbstgespräche in einer Kommunikations-situation. Damit ist vor allem das ständige Wiederholen von Wörtern oder Phrasen gemeint. Zunächst muss geklärt werden, welche Funktion diese Stereotypien für den einzelnen Autisten haben. Manche tun dies, da sie etwas Gesagtes nicht richtig verstehen konnten. Hier sollte das leise Wiederholen von Aussagen in geringem Maße geduldet werden. Wichtig ist aber eine konkrete Aufklärung darüber, was mit der Aussage gemeint war. Dient die Stereotypie der Erzeugung von Aufmerksamkeit oder der Selbststimulation, sollte diese durch konsequen-tes Ignorieren „gelöscht“ werden. Oft gehen Autisten davon aus, dass der Gesprächspartner alles weiß, was sie selbst auch wissen. Hier sollte man sie darauf hinweisen, dass es auch noch andere Perspektiven gibt, indem man zum Beispiel sagt:„Glaubst du, dass ich diese Person kenne?“, „Denk mal nach, ob ich auch an dieser Veranstaltung teilgenommen habe!“.

Wie kann das Sprachverständnis und der Umgang mit anderen Personen gefördert und verbessert werden?

Autisten lernen am besten am Modell, das heißt durch Nachahmung. Es ist leichter, ein angemes-senes Verhalten zu formen und einzuüben, als umfangreiche Techniken zu entwerfen, die der Autist gar nicht umsetzen kann. Dies ist z. B. möglich durch Sequenzkarten und andere visuelle Hilfen. Am Modell kann auch die Interpretation von Gesichtsausdrücken besonders gut trainiert werden. Die Bedeutung von Redewendungen oder gängigen Witzen sollte wie Faktenwissen gelehrt werden, da eine Entwicklung von Verständnis beispielsweise für eine Redewendung kaum möglich ist. Es sollten täglich Situationen geschaffen werden, in denen soziale und kommunikative Strategien trainiert werden können. Dazu sollten Sprachsequenzen ausgewählt werden, die der Person und ihrem individuellen Alltag entsprechen und die auf andere Situationen leicht übertragen werden können. Generell sollten Autisten lernen, Kommunikation zu akzeptieren und sich darüber zu freuen. Der Gesprächspartner sollte seine Sprache dem Autisten anpassen, die Kom-munikation immer wieder initiieren und auf jegliche Kommunikationsangebote eingehen. Um den Wunsch nach Kommunikation zu schaffen ist es wichtig, keine Bedürfnisse des

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Autisten zu antizipieren oder nicht voreilig seiner Bitte nachzukommen, bevor er diese kommuniziert hat. Außerdem sollte funktionale Sprache verwendet werden. Dies bedeutet, Wörter und Bilder zu verwenden, die der Autist in seinem Alltag benötigt. Sprache sollte auch in funktionalen Situationen, sozusagen „im Tun“, gelehrt werden. Der Gesprächspartner hilft dem Autisten zu verstehen, indem er einfache Sprache verwendet und immer nur eine Idee formuliert bzw. nur eine bestimmte Geste auf einmal einsetzt. Obsessives und repetitives Sprachverhalten wird limitiert, indem Gesprächsregeln aufgestellt und keine Dominanz dieses Verhaltens geduldet werden. Um den Umgang mit sich selbst und anderen Personen innerhalb einer Kommunikations-situation zu verbessern, können Höflichkeits-gesten, wie das Begrüßen und Verabschieden, während Rollenspielen am Modell eingeübt werden. Weiterhin ist es wichtig, mit dem Autisten zu trainieren, Blickkontakt herzustellen und diesen aufrechtzuerhalten. Beispielsweise sollte erst ein Gespräch begonnen werden, wenn der Autist von sich aus den Blickkontakt initiiert hat. Ebenso ist es unerlässlich mit der autis-tischen Person eine angemessene Gestaltung des Körperkontakts zu anderen einzuüben. Um Vorstellungen über das unterschiedliche Wissen von anderen Personen aufzubauen, können Experimente durchgeführt werden, die diesen Umstand verdeutlichen. Beispielsweise wird eine Person vor die Tür geschickt und anschließend ein Gegenstand aus dem Raum an einem anderen Platz im Raum versteckt. Dann wird der Autist gefragt, was er vermutet, wo die Person den Gegenstand suchen wird. Er vermu-tet, dass er dort sucht, wo der Gegenstand nun versteckt ist, da er es ja gesehen hat. Später sieht der Autist, dass die Person vor der Tür natürlich an der Stelle sucht, wo der Gegenstand vorher war. Dies wird mit dem Autisten besprochen und der Autist selbst spielt im nächsten Experiment die Person vor der Tür. Die Vorstellung über die unterschiedlichen Sicht-weisen von Personen wird somit durch das

Erleben eigener Erfahrungen aufgebaut. Ein weiterer Bestandteil des Arbeitens mit Autisten ist der adäquate Umgang mit Aggressionen und das Entspannungstraining. Hierbei geht es darum, aggressives Verhalten und Autoaggressionen zu reduzieren und den Autisten zu lehren, sich bewusst zu entspannen.

Tipps für Eltern und Geschwister

‣ täglich mit dem Kind am gleichen Platz zu Hause spielen

‣ beachten, dass das autistische Kind in kleinen Schritten lernt

‣ differenziertes Lob und positive Verstärker einsetzen

‣ fester Tagesablauf, klare Absprachen, Rituale ‣ Erfolgserlebnisse schaffen

‣ flexibel die Anforderungen anpassen ‣ geduldig und ausdauernd bleiben

‣ Austauschmöglichkeiten mit anderen betroffen Eltern aufsuchen

‣ ausreichende Vorbereitung auf neue Situationen anhand von Fotos etc.

‣ Zufriedenheit und Ausgeglichenheit gegenüber dem Geschwisterkind ausstrahlen

‣ alle Kinder gleichermaßen in Aufgaben einbinden

‣ für alle Kinder gleiche Regeln schaffen ‣ dem Geschwisterkind die Möglichkeit bieten,

jederzeit einen Elternteil für sich zu beanspruchen

‣ das Geschwisterkind über das Autismus-Bild aufklären

‣ dem Geschwisterkind keine Verantwortung für das autistische Kind übergeben

‣ Wünsche und Bedürfnisse des Geschwisterkindes unabhängig vom autistischen Kind zulassen

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Tipps für Erzieher und Lehrer

‣ Geräuschkulisse reduzieren

‣ Strukturen, konkrete Regeln und Rituale etablieren und umsetzen

‣ Lerntempo des autistischen Kindes berücksichtigen und individuelle Lernschritte beachten

‣ Möglichkeiten zur Entspannung und zum Rückzug anbieten

‣ Mitschüler über Krankheitsbild aufklären, um Verständnis zu schaffen

‣ Enge Zusammenarbeit mit Eltern

‣ Verhaltensänderung und Verhaltensverträge erstellen

‣ Verwendung eines Gefühlswürfels ‣ Visualisierungshilfen z. B. Piktogramme

einsetzen ‣ das Kind Ziele und Wünsche nach Bedarf

schriftlich oder bildlich fixieren lassen ‣ abwertende Äußerungen über das autistische

Kind thematisieren und damit entkräften ‣ das Kind in alle Gruppenaufgaben einbe-

ziehen, dabei jedoch weder unter- noch überfordern

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Wenn Schüler Autismus haben

Ich heiße Lena und kurz vor meinem Schuleintritt wurde bei mir Asperger festgestellt. In der Grundschule bin ich zu Beginn nicht richtig mitgekommen und so fingen meine Probleme an. Ich mochte nicht gerne letzte sein und konnte nicht gut verlieren. Ich wurde wütend auf die anderen Kinder, die besser und schneller waren. Aber mich hat nie einer verstanden. Die Lehrerin sagte immer nur, dass ich ruhig sein soll. Die Schulbegleitung musste dann mit mir den Klassenraum verlassen und mit mir sprechen. Sie dachte, das Schreiben wäre zu schwer für mich und sagte, dass ich ab jetzt nicht mehr schreiben muss. Das machte mich noch wütender! Ich musste schon oft nach Hause, bevor der Unterricht zu Ende war.

Nach den Sommerferien bekamen wir eine neue Lehrerin, die viel mehr Ahnung

von Autismus hatte. Sie gab mir einen

Würfel mit verschiedenen

Gesichtsausdrücken wie traurig, wütend,

müde, fröhlich usw. Jetzt kann ich während es Unterrichts den Würfel einfach so hindrehen, wie ich mich fühle und alle wissen Bescheid!

Jetzt kann ich immer in meiner Klasse sein und alles gut mitmachen.

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FALLBEISPIELE Aus dem Alltag

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„Gib mir einfach einen

Gefühlswürfel, dann kann ich Dir zeigen,

wenn ich wütend bin!“

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Wenn Frauen mit Autismus sich schminken möchten

Ich heiße Christina, bin 28 Jahre alt und arbeite erfolgreich als Informatikerin in einem großen IT-Unternehmen. Ich bin jetzt schon zweimal angesprochen worden, dass ich doch mehr aus meinem Typ machen könnte. Das hat mich verunsichert, denn ich wusste gar nicht, was die Leute meinten. Anscheinend muss man als erfolgreiche Frau auch so aussehen wie die Frauen in den Magazinen. Aber woher sollte ich das können? Eigentlich ist mir mein Aussehen nicht so wichtig, aber die Kommentare der anderen stören mich. Mich hat schminken und Mode noch nie so richtig interessiert – auch nicht in der Pubertät. Diese Thema überfordert mich. Ich bekam den Tipp in diesem Zusammen-hang eine Ergotherapeutin aufzusuchen, weil die sich angeblich mit solchen Dingen auskennt.

Meine Ergotherapeutin brachte ihren Schmink-koffer mit und schminkte sich vor meinen Augen, damit ich zusehen konnte, wie so etwas funktioniert.

Ich finde es als Autistin sehr wichtig, ganz besonders die Dinge zu üben, die mir schwer fallen. Es hilft mir nicht weiter, wenn ich unklare oder ungenaue Kommentare erhalte.

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Wenn autistische Kinder anders spielen

Ich bin die Mutter von Samuel, der viere Jahre alt ist. Er spielt besonders gerne mit Autos, weil er die Räder so schön drehen kann. Oft macht er das stundenlang. Er denkt sich dabei kein Spiel aus. Samuel sieht auch gern zu, wenn die Wäsche in der Waschmaschine dreht. Er mag Ventilatoren und kann sehr böse werden, wenn er nicht in Geschäfte gehen darf, die Ventilatoren haben. Ich wusste nicht mehr weiter, weil mein Kind im Vergleich zu anderen Kindern zwanghaft immer nur das Gleiche spielte. Ich ging mit ihm zum Kinderarzt, der eine Autismus-Spektrums-Störung feststellte.

Hilfe erhielt ich schließlich in der Autismus-Ambulanz, wo man mir riet, ihm einen Autoteppich mit Straßen zu besorgen. Nun zeige ich ihm immer, wie man mit Autos auch anders spielen kann. Wenn unser gemeinsames Spiel vorbei ist, darf er für eine begrenzte Zeit noch an den Rädern drehen. Langsam macht er Fortschritte. Es ist dabei wichtig, dass ich sehr geduldig bleibe.

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Um was dreht sich die Ergo-therapie allgemein?

Die ergotherapeutische Unterstützung hilft dabei, eine eigene Identität zu entwickeln, die eigenen Schwierigkeiten und Besonderheiten zu akzeptieren und besser damit umgehen zu lernen. Die bestehenden Ressourcen werden deutlich gemacht. Dies macht es den autis-tischen Menschen möglich, ihr eigenes Leben bestmöglich entsprechend der eigenen Wünsche und Bedürfnisse gestalten zu können. Es geht dabei nicht darum, den autistischen Menschen „normal“ oder „salonfähig“ zu machen, sondern um die Anleitung zum

selbstbestimmten und glücklichen Leben.

Personenzentriertes Arbeiten

Personenzentriert arbeiten heißt bei Menschen mit Autismus:

‣ sie in ihrer persönlichen Eigenart ernst zu nehmen

‣ sie zu unterstützen, neue Wege zu finden, um realistisch und konstruktiv mit ihren Eigen-arten umgehen zu können

‣ mit ihnen, nicht für sie, die Probleme zu lösen

‣ ihnen Selbstverantwortung zuzutrauen ‣ ihre Ressourcen wahrzunehmen und, wenn sie

das möchten, zu fördern ‣ nicht zu interpretieren, sondern zu versuchen,

sich bestmöglich in ihr Erleben und ihre Welt zu versetzen

Lange hat man den Autismus hauptsächlich durch eine Aufzählung von Defiziten definiert. In den letzten Jahren ist die Sicht auf diese „andere“ Seite des Autismus hinzu gekommen.

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ERGOTHERAPIE Wie sich Glück und

Lebenszufriedenheit erreichen lassen

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Therapieziele

Die Therapieziele bestehen aus einer Verbes-serung der Selbständigkeit und vor allem der Lebensqualität der Betroffenen. Das wichtigste Behandlungsziel ist die Lebenszufriedenheit.

Rolle und Geschlecht des Therapeuten

Entscheidend für den Erfolg einer ergotherapeutischen Intervention bei Menschen mit Autismus ist das Vertrauensverhältnis. Erst wenn dieses aufgebaut ist, öffnet sich der Klient und traut sich, für ihn bedeutungsvolle Themen anzusprechen. Hierfür kann es hilfreich sein, dass der Therapeut dasselbe Geschlecht hat, wie der Klient.

So fällt es einem Menschen mit Autismus sicher leichter, Themen wie Partnerschaft, Sexualität oder Hygiene zu thematisieren. Noch wichtiger aber ist die Tatsache,dass in vielen Bereichen nicht auf eigene Erfahrungen zurückgegriffen werden kann. Daher ist es hilfreich, wenn der Therapeut seinen Erfahrungsschatz teilt. Die Rolle, die der Therapeut dabei einnimmt, ist nicht selten die eines großen Bruders, einer Schwester oder Freundin. Die Aufgabe des Therapeuten besteht darin, Wünsche und Unsicherheiten des Klienten aufzuspüren und ernst zu nehmen. Der Therapeut übernimmt schließlich eine Vorbildfunktion.

Therapeutische Distanz

Wenn der Therapeut am Denken und Fühlen des Klienten teilhaben kann, gelingt es ihm besser, die eigenen Gedanken und Gefühle einzusor-tieren. Daher ist es notwendig, die sonst so dringend einzuhaltende therapeutische Distanz ein wenig aufzuweichen. Da Autisten als Heranwachsende oft sehr isoliert sind, fehlen Gespräche und Rückmeldungen von Gleich-altrigen. Somit sollte der Therapeut die Funktion eines Spiegels für den Autisten übernehmen, um damit den Aufbau eines Selbstbildes zu unterstützen.

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Sensorische Diät

Bei der „sensorischen Diät“ geht es darum, Reize, die für den Klienten Stress bedeuten, im Alltag zu reduzieren. Dies gelingt, indem man z. B. an der Wohnsituation oder am Arbeitsplatz Änderungen vornimmt. Autisten sind in ihrem Alltagsgeschehen in hohem Maße reizüberflutet. Die Aufgabe des Therapeuten ist es, zu analy-sieren, welche Wahrnehmungsbereiche beson-ders betroffen sind. Manche Schwierigkeiten lassen sich ganz einfach lösen wie z. B.

‣ eine getönte Brille bei Lichtempfindlichkeit ‣ das Streichen der Wände in einer gedeckten

Farbe ‣ das Herausschneiden der Etiketten aus

Kleidungsstücken ‣ den Einkauf am frühen Morgen erledigen,

wenn es noch nicht so voll ist ‣ über das Internet bestellen ‣ im Home-Office arbeiten Für den Therapeuten ist es sinnvoll, mit dem Klienten seine eventuell angeeigneten Vermei-dungsstrategien gemeinsam zu beleuchten, um die zielführenden Strategien als Kompetenz beizubehalten. So wird ein herausgeschnittenes Kleidungsetikett als Vermeidungsstrategie vom Klienten nicht als Zwang empfunden. Es ist vielmehr die Möglichkeit, konstante Ablenkung und Stress zu vermeiden. Der Klient erlebt sich als kompetent und kann Strategien auch auf andere Bereiche übertragen.

Den Alltag selbständig bewältigen

Hierbei geht es um den Alltag des Betroffenen, um lebenspraktische Aspekte auf ganz unter-schiedlichen Gebieten wie Schule und Beruf, Mobilität, Selbstversorgung, Teilhabe am sozialen Leben, Hobbys oder Hygiene. Im therapeutischen Vorgehen kann man folgende Möglichkeiten unterscheiden:

‣ ausprobieren in der Praxis z. B. Haushaltstätigkeiten wie kochen, putzen, bügeln, backen etc.

‣ konkrete Hilfe in unterschiedlichen Situationen z.B. passende Kleidung für einen bestimmten Anlass finden durch Zeitschriften, Fotos etc.

‣ theoretisches Aufarbeiten z. B. soziale Geschehnisse besprechen

‣ selbständiges Erproben z. B. Beine rasieren, schminken etc.

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Facharbeit: GGSD Nürnberg, März 2017Neugebauer, Verena; Schmoll, Julia; Wieberg-Preising, Sibylle

Quellenverzeichnis

Literatur

Bernard-Opitz, V. (2007): Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS). Ein Praxishandbuch für Therapeuten, Eltern und Lehrer. 2. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer.

Dodd, S. (2007): Autismus. 1. Auflage. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.

La Brie Norall, C.; Wagner Brust, B. (2012): Kinder mit Asperger einfühlsam erziehen. Wie Sie Sozialverhalten und Kommunikation ihres Kindes fördern. 1. Auflage. Stuttgart: TRIAS.

Matthews, J.; Williams, J. (2011): Ich bin besonders! Autismus und Asperger: Das Selbsthilfebuch für Kinder und ihre Eltern. 1. Auflage. Stuttgart: TRIAS.

Miller, M. (2013). Ergotherapie bei Frauen mit Autismus. In Preißmann, C. (Hrsg): Überraschend anders: Mädchen und Frauen mit Asperger (S.171-182). Stuttgart: TRIAS.

Preißmann, C. (2016): Glück und Lebenszufriedenheit für Menschen mit Autismus. Stuttgart: Kohlhammer.

Rollett, B.; Kastner-Koller, U. (2007): Praxisbuch Autismus für Eltern, Erzieher, Lehrer und Therapeuten. 3. Auflage. München. Jena: Urban & Fischer.

Schirmer, Dr., B. (2006): Elternleitfaden Autismus. Wie ihr Kind die Welt erlebt. Mit gezielten Therapien wirksam fördern. Schwierige Alltagssituationen meistern. 1. Auflage. Stuttgart: TRIAS.

Internetquellen

Autismus Deutschland e.V. (Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus). Informationen des Bundesverbandes autismus Deutschland e.V.: Elternratgeber Autismus-Spektrum-Störungen. http://www.autismus.de/fileadmin/user_upload/Elternratgeber_final.pdf

Deutscher Verband der Ergotherapeuten e.V.: Ergotherapeutisches Coaching bei Autismus: Davon profitieren Kinder, Eltern und das Umfeld.https://www.dve.info/service/presse/427-ergotherapeutisches-coaching-bei-autismus

Deutscher Verband der Ergotherapeuten e.V.: Schule heute: So gelingt Inklusion mit Ergotherapeuten.https://dve.info/service/presse/792-schule-heute-so-gelingt-inklusion-mit ergotherapeuten

Freitag, C. u. Cholemkery, H. (2016): Gruppentherapie hilft autistischen Kindern, im Alltag besser zurecht zu kommen.http://www.muk.uni-frankfurt.de/59706559/011?

Zentrum für Lehrerbildung und Bildungsforschung (Universität Würzburg): Was tun, wenn Schüler Autismus haben.http://www.zfl.uniwuerzburg.de/fileadmin/06000060/03_Projekte_des_ZfL/Inkl_SiKri/Broschuere_kjp_autismus15f.pdf Fotos: https://pixabay.com/de/

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