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26 | Bauwelt 23 2004 Architekten: OMA|LMN Joint Venture, Rotterdam, Seattle Rem Koolhaas und Joshua Ramus (verantw. Partner OMA); John Nesholm (verantw. Partner LMN) Projektarchitekten OMA: Mark von Hof-Zogrotzki, Natasha Sandmeier, Meghan Corwin, Bjarke Ingels, Carol Patterson Mitarbeiter OMA: Keely Colcleugh, Rachel Doherty, Sarah Gibson, Laura Gilmore, Anna Little, John McMorrough, Kate Orff, Beat Schenk, Saskia Simon, Anna Sutor, Chris van Duijn, Victoria Willocks, Dan Wood und: Florence Clausel, Thomas Dubuisson, Erez Ella, Achim Gergen, Eveline Jürgens, Antti Lassila, Hannes Peer, João Ribeiro, Kristina Skoogh, Sybille Waeltli, Leonard Weil Projektarchitekten LMN: Robert Zimmer, Sam Miller (Projektlei- tung); Tim Pfeiffer, Steve DelFraino, Mary Anne Smith, Dave Matthews, Vern Cooley, Pragnesh Parikh Mitarbeiter LMN: Chris Baxter, Jim Brown, Wayne Flood, Thomas Gerard, Mette Greenshields, Cassandra Hryniw, Roy Kim, Ed Kranick, Ken Loddeke, Howard Liu, Damien McBride, Howard Meeks, Byron Rice, Kathy Stallings, Page Swanberg Tragwerksplanung: Arup/Magnusson Klemencic Associa- tes, London, Seattle Arup: Cecil Balmond, Atila Zekioglu, Anders Carlson, Chris Carroll Magnusson Klemencic: Jon Magnusson, Jay Taylor, Derek Beaman, Hans Blomgren, Nathalie Boeholt Fassadenkonstruktion: Dewhurst Macfarlane & Partners Grafik: Bruce Mau Design, Toronto Bettina Schürkamp Seattle Central Library „When buildings attack...“, umschreibt Rem Koolhaas in seinem Buch „Content“ mit humo- ristischen Cartoons die Reaktion einer aufge- brachten Öffentlichkeit auf die ersten Zeich- nungen der „Seattle Central Library“ vor fünf Jahren. Die anfängliche Befremdung über das jüngste Wahrzeichen der Stadt ist angesichts des fertig gestellten Gebäudes einer allgemei- nen Begeisterung gewichen. Kokett behauptet sich der Neubau mit seinen unkonventionellen Vor- und Rücksprüngen inmitten der Straßen- schluchten von Downtown. Der in den sechzi- ger Jahren erbaute „International Business District“ bietet mit seinen typisch amerikani- schen Hochhäusern der Schule von Mies eine ideale Kulisse für die futuristisch anmutende Raumskulptur, die sich aus der zur Elliott Bay hin abfallenden Topographie mit drei Sichtbe- tongeschossen und einer gewagten achtstöcki- gen Stahlkonstruktion spannungsvoll heraus- faltet. Drei markant mit gekreuzten Diagonalen ausgesteifte Funktionscontainer umhüllen die kompakt gefüllte Buchspirale, die Hauptverwal- tung sowie die Veranstaltungsräume und sind in Bezug auf die Straßenfluchten, Sichtachsen und den Sonneneinfall orthogonal gegeneinan- der verschoben. Eingefasst durch eine gefal- tete Rautengitterfassade, befinden sich in den Zwischenräumen das repräsentative 27 Meter hohe Foyer, die höher liegende, 1750 Quadrat- meter große Informationszentrale und der Le- sesaal mit einem pittoresken Ausblick auf die Elliott Bay als krönende Skylobby. Seattle, das mit Ablehnung auf Venturi Scott Browns „Seattle Art Museum“ und Frank Gehrys „Ex- perience Music Project“ reagierte, feiert die Eröffnung einer eleganten Raumskulptur. Mit ihrem Wechselspiel von intensiven Farben, kostengünstigen Industriedetails und maleri- schen Pflanzenteppichen spiegelt sie die wi- dersprüchliche Identität der Heimatstadt von Microsoft und Boeing zwischen Bodenständig- keit und Zukunftsbegeisterung treffend wider. Die Bibliothek als „Herzensangelegenheit“, das hätte man in der „City of Bites“, die jahrelang die Komprimierung von Büchern auf Mikro- chips propagierte, am allerwenigsten erwartet. Angefeuert durch die „Library for all“-Kampa- gne der Bibliotheksleiterin Deborah L. Jacobs, investierte die Stadt 196 Millionen Dollar, da- von 78 Millionen private Spenden, in den Neu- bau von fünf und die Renovierung von zwei- undzwanzig ihrer öffentlichen Bibliotheken. Glanzstück dieser ehrgeizigen „Informations- matrix“ ist die Central Library für 156 Millio- nen Dollar von OMA in Projektpartnerschaft mit LMN Architects aus Seattle. 1998, wenige Monate vor dem Börsen-Crash, votierten 70 Prozent der Bürger, die sich an der Abstim- mung beteiligt hatten, für die Finanzierung dieses zukunftsweisenden Bibliothekskonzep- tes. Sechs Jahre später stimmt die realisierte „Hymne des Lesens“ durch die kontrastvolle Gegenüberstellung von hohen und flachen, dunklen und hellen sowie farbigen und neu- tralen Räumen in einer kontinuierlich aufstei- genden Spiralbewegung die Besucher nahezu euphorisch. Die Herausforderung, sinnliche Architektur mit der rationalen Weiterentwicklung der Bi- Bauwelt 23 2004 | 27 Das zentral in Downtown gelegene Grundstück weist ein starkes Gefälle auf. Die Zugänge erfolgen von zwei unterschiedlichen Geschossen. Im Bild unten verdeckt eine Limousine den Haupteingang auf der 5th Avenue. In Anlehnung an die Kleidungsindus- trie bezeichneten Anwohner den Ent- wurf im Vorfeld als „pre-earthquaked“. Angesichts der bühnenartigen Umge- bung mit Hochhäusern wirkt der Bau im fertigen Zustand eher wie eine ge- nau ausgetüftelte Komposition. Der Kritiker der New York Times, Herbert Muschamp, fiel bereits auf die Knie: „In more than 30 years of writing about architecture, this is the most exciting building it has been my honor to review.“ bliothekstypologie zu verbinden, kennzeichnet das Projekt. Für die Rotterdamer Architekten begann es 1998 nicht mit einem klassischen Architekturwettbewerb, sondern mit der Reak- tion auf einen „open call“ durch die „Seattle Public Library Organisation“. Von 45 Architek- turbüros forderte sie zehn zu einer konkreten Bewerbung auf. Im Mai 1999 stellten die drei Finalisten ZGT Architects, Seattle, Steven Holl, New York, und OMA vor 1700 Zuschauern die Ergebnisse eines Workshops zur Diskussion. OMA überzeugte das „Library Board“ mit sei- nen konzeptionellen Ideen für eine neuartige Bibliothekstypologie. Ausgangspunkt des Ent- wurfskonzepts war der das Werk von Rem Koolhaas prägende, aber nicht gebaute Wett-

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Page 1: Seattle - Bauwelt · 2018-10-18 · Ergebnisse eines Workshops zur Diskussion. OMAüberzeugte das „Library Board“ mit sei-nen konzeptionellen Ideen für eine neuartige Bibliothekstypologie

26 | Bauwelt 23 2004

Architekten:

OMA|LMN Joint Venture, Rotterdam,

Seattle

Rem Koolhaas und Joshua Ramus

(verantw. Partner OMA);

John Nesholm (verantw. Partner LMN)

Projektarchitekten OMA:

Mark von Hof-Zogrotzki, Natasha

Sandmeier, Meghan Corwin, Bjarke

Ingels, Carol Patterson

Mitarbeiter OMA:

Keely Colcleugh, Rachel Doherty, Sarah

Gibson, Laura Gilmore, Anna Little,

John McMorrough, Kate Orff, Beat

Schenk, Saskia Simon, Anna Sutor,

Chris van Duijn, Victoria Willocks, Dan

Wood und: Florence Clausel, Thomas

Dubuisson, Erez Ella, Achim Gergen,

Eveline Jürgens, Antti Lassila, Hannes

Peer, João Ribeiro, Kristina Skoogh,

Sybille Waeltli, Leonard Weil

Projektarchitekten LMN:

Robert Zimmer, Sam Miller (Projektlei-

tung); Tim Pfeiffer, Steve DelFraino,

Mary Anne Smith, Dave Matthews,

Vern Cooley, Pragnesh Parikh

Mitarbeiter LMN:

Chris Baxter, Jim Brown, Wayne Flood,

Thomas Gerard, Mette Greenshields,

Cassandra Hryniw, Roy Kim, Ed Kranick,

Ken Loddeke, Howard Liu, Damien

McBride, Howard Meeks, Byron Rice,

Kathy Stallings, Page Swanberg

Tragwerksplanung:

Arup/Magnusson Klemencic Associa-

tes, London, Seattle

Arup: Cecil Balmond, Atila Zekioglu,

Anders Carlson, Chris Carroll

Magnusson Klemencic: Jon Magnusson,

Jay Taylor, Derek Beaman,

Hans Blomgren, Nathalie Boeholt

Fassadenkonstruktion:

Dewhurst Macfarlane & Partners

Grafik:

Bruce Mau Design, Toronto

Bettina Schürkamp

SeattleCentral Library

„When buildings attack.. .“, umschreibt RemKoolhaas in seinem Buch „Content“ mit humo-ristischen Cartoons die Reaktion einer aufge-brachten Öffentlichkeit auf die ersten Zeich-nungen der „Seattle Central Library“ vor fünfJahren. Die anfängliche Befremdung über dasjüngste Wahrzeichen der Stadt ist angesichtsdes fertig gestellten Gebäudes einer allgemei-nen Begeisterung gewichen. Kokett behauptetsich der Neubau mit seinen unkonventionellenVor- und Rücksprüngen inmitten der Straßen-schluchten von Downtown. Der in den sechzi-ger Jahren erbaute „International Business District“ bietet mit seinen typisch amerikani-schen Hochhäusern der Schule von Mies eineideale Kulisse für die futuristisch anmutendeRaumskulptur, die sich aus der zur Elliott Bayhin abfallenden Topographie mit drei Sichtbe-tongeschossen und einer gewagten achtstöcki-gen Stahlkonstruktion spannungsvoll heraus-faltet. Drei markant mit gekreuzten Diagonalenausgesteifte Funktionscontainer umhüllen diekompakt gefüllte Buchspirale, die Hauptverwal-tung sowie die Veranstaltungsräume und sindin Bezug auf die Straßenfluchten, Sichtachsenund den Sonneneinfall orthogonal gegeneinan-der verschoben. Eingefasst durch eine gefal-tete Rautengitterfassade, befinden sich in denZwischenräumen das repräsentative 27 Meterhohe Foyer, die höher liegende, 1750 Quadrat-meter große Informationszentrale und der Le-sesaal mit einem pittoresken Ausblick auf dieElliott Bay als krönende Skylobby. Seattle, das mit Ablehnung auf Venturi Scott Browns„Seattle Art Museum“ und Frank Gehrys „Ex-

perience Music Project“ reagierte, feiert dieEröffnung einer eleganten Raumskulptur. Mitihrem Wechselspiel von intensiven Farben,kostengünstigen Industriedetails und maleri-schen Pflanzenteppichen spiegelt sie die wi-dersprüchliche Identität der Heimatstadt vonMicrosoft und Boeing zwischen Bodenständig-keit und Zukunftsbegeisterung treffend wider.Die Bibliothek als „Herzensangelegenheit“, dashätte man in der „City of Bites“, die jahrelangdie Komprimierung von Büchern auf Mikro-chips propagierte, am allerwenigsten erwartet.Angefeuert durch die „Library for all“-Kampa-gne der Bibliotheksleiterin Deborah L. Jacobs,investierte die Stadt 196 Millionen Dollar, da-von 78 Millionen private Spenden, in den Neu-bau von fünf und die Renovierung von zwei-undzwanzig ihrer öffentlichen Bibliotheken.Glanzstück dieser ehrgeizigen „Informations-matrix“ ist die Central Library für 156 Millio-nen Dollar von OMA in Projektpartnerschaftmit LMN Architects aus Seattle. 1998, wenigeMonate vor dem Börsen-Crash, votierten 70Prozent der Bürger, die sich an der Abstim-mung beteiligt hatten, für die Finanzierungdieses zukunftsweisenden Bibliothekskonzep-tes. Sechs Jahre später stimmt die realisierte„Hymne des Lesens“ durch die kontrastvolleGegenüberstellung von hohen und flachen,dunklen und hellen sowie farbigen und neu-tralen Räumen in einer kontinuierlich aufstei-genden Spiralbewegung die Besucher nahezueuphorisch. Die Herausforderung, sinnliche Architekturmit der rationalen Weiterentwicklung der Bi-

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Das zentral in Downtown gelegeneGrundstück weist ein starkes Gefälleauf. Die Zugänge erfolgen von zweiunterschiedlichen Geschossen. Im Bildunten verdeckt eine Limousine denHaupteingang auf der 5th Avenue.

In Anlehnung an die Kleidungsindus-trie bezeichneten Anwohner den Ent-wurf im Vorfeld als „pre-earthquaked“.Angesichts der bühnenartigen Umge-bung mit Hochhäusern wirkt der Bauim fertigen Zustand eher wie eine ge-nau ausgetüftelte Komposition. DerKritiker der New York Times, HerbertMuschamp, fiel bereits auf die Knie:„In more than 30 years of writing about architecture, this is the most exciting building it has been my honorto review.“

bliothekstypologie zu verbinden, kennzeichnetdas Projekt. Für die Rotterdamer Architektenbegann es 1998 nicht mit einem klassischenArchitekturwettbewerb, sondern mit der Reak-tion auf einen „open call“ durch die „SeattlePublic Library Organisation“. Von 45 Architek-turbüros forderte sie zehn zu einer konkretenBewerbung auf. Im Mai 1999 stellten die dreiFinalisten ZGT Architects, Seattle, Steven Holl,New York, und OMA vor 1700 Zuschauern dieErgebnisse eines Workshops zur Diskussion.OMA überzeugte das „Library Board“ mit sei-nen konzeptionellen Ideen für eine neuartigeBibliothekstypologie. Ausgangspunkt des Ent-wurfskonzepts war der das Werk von Rem Koolhaas prägende, aber nicht gebaute Wett-

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bewerbsentwurf für die Universitätsbibliothekvon Jussieu in Paris von 1993. In der Biblio-thek von Seattle erinnert vor allem der aufstei-gende „urban walk“ an das damalige Konzept.Dieser verbindet mit gelb leuchtenden Rolltrep-pen gefaltete Ebenen und verschobene Platt-formen und transformiert so die sonst mono-tonen Geschosse und Erschließungskerne derHochhaustypologie in ein vertikales Raumkon-tinuum mit vielfältigen Blickbeziehungen.In einer dreimonatigen Researchphase wurdedas Konzept 1999 zusammen mit der SeattlePublic Library weiterentwickelt. Mit so promi-nenten Partnern wie der Microsoft Develop-ment Unit, dem Gates Center for TechnologyAccess und dem Konzern Boeing entstand ein500-seitiges Kompendium zum neuesten Standder Bibliothekstechnik. Diese Studie machte

deutlich, dass Bibliotheken als Orientierungs-hilfe und Überwindung der digitalen Kluft ineiner komplexen Wissensgesellschaft auch zu-künftig eine wichtige gesellschaftliche Funk-tion zukommen wird. Neue Bausteine des überarbeiteten Bibliotheks-modells sind die automatisierte Buchrückgabeund -sortierung und ein markantes visuellesOrientierungssystem. Das knapp 6000 Quadrat-meter große Informationszentrum, das die Ar-chitekten „mixing chamber“ nennen, und dieübersichtliche Anordnung der bis zu 1,4 Millio-nen Bände Sachliteratur auf einer vierstöcki-gen, kontinuierlichen Betonrampe vereinfachendie Suche nach den Medien. Hemmungen derBenutzer gerade auch hinsichtlich der Suchvor-gänge in einer Bibliothek werden so weit wiemöglich abgebaut. Nur sieben Minuten soll es

dauern, bis der Leser, geleitet durch die Bera-tung in der Buchspirale, punktgenau vor demangefragten Buch steht. Die amerikanischenDewey-Signaturen 000–999 sind in schwarzeGummistreifen im Betonboden eingelegt. Ähn-lich einer Internetsuchmaschine bedient das „mixing chamber“ alle Sachbereiche an einemzentralen Ort. Egal, ob man sich zu Hause oderin der Arbeit aufhält: per Telefon oder E-Mailbeantworten die Bibliothekare von hier aus dieLeserwünsche aus der ganzen Stadt. Im Sinneeiner heterotopen Verknüpfung koordinierensie die Zirkulation der Medien in den 26 Zweig-stellen und lassen so die Grenzen zwischenprivatem und öffentlichem Raum, zwischen di-gitaler und realer Begegnung verschwimmen.Die Informationssuche wird zu einem kommu-nikativen Ereignis, der Besucher ist nicht mehr

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angewiesen auf das alleinige Blättern in Kata-logbeständen. Diese funktionalen Verbesserungen waren fürdie Öffentlichkeit bei der Vorstellung des Vor-entwurfs im Dezember 1999 nur schwer zu er-kennen. „You don’t fit here“ war die spontaneReaktion vieler Zuschauer, als Rem Koolhaasein Projekt vorstellte, das auf den ersten Blickan ein bei einem Erdbeben zusammengesun-kenes Hochhaus erinnert. Unter der defor-mierten Hülle des amerikanischen Statussym-bols kommt eine Bibliothek als überdimensio-nale Such- und Rotiermaschine zum Vorschein.Auch auf den Fotos einer späteren „LibraryBoard“-Sitzung erkennt man die Fassungslo-sigkeit auf den Gesichtern der Jury. Dennochreichte die Vertrauensbasis der einjährigenZusammenarbeit für ein zaghaftes: „We don’tknow what it is, but we can see the design accomplishes what we agreed to.“ Die Stadt war dann bis zur Fertigstellung inden Entwicklungsprozess intensiv einbezogen,480 Mal wurde das Projekt vor Interessens-gruppen und Gremien vorgestellt, zehn großeöffentliche Entwurfspräsentationen wurdenbestritten. Eine Schlüsselrolle in diesem öffent-lichen Prozess spielten der in Seattle geboreneverantwortliche Partner des OMA-Büros NewYork, Joshua Ramus, und das ortsansässigeBüro LMN Architects, mit dem OMA eine Pro-jektpartnerschaft einging. Noch 1995 beschriebRem Koolhaas in seinem Buch „SMLXL“ seineambivalenten Erfahrungen mit einem globalenArchitekturmarkt als chaotisches Abenteuermit unüberschaubaren Randbedingungen auf

Verschiedene Funktionsebenen sindineinander verschoben, wie die bei-den Schemaskizzen deutlich machen.Die linke Skizze zeigt die „festen“ Nut-zungen, die in den teilweise mehrge-schossigen Betoncontainern unterge-bracht sind, die rechte Skizze die öffentlichkeitsintensiven Funktionenauf den Zwischenebenen.Während sich die einzelnen Containerbei Nacht deutlich abzeichnen, sindsie bei Tag hinter der rautenförmigenFassade fast verborgen.

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unbekanntem Terrain. Fast zehn Jahre späterbringt neben der Zentrale in Rotterdam unddem Büro in New York ein internationalesNetzwerk mit über 80 Partnern aus allen Be-rufssparten interdisziplinäre Entwurfskompe-tenz in die Projekte ein. Aufbauend auf diesen Erfahrungen überarbeite-ten die Architekten gemeinsam mit der Biblio-theksleiterin Deborah L. Jacobs das vielschich-tige Raumprogramm, das im Wesentlichen auf die Bibliotheken des Industriellen AndrewCarnegie (1835–1919) zurückgeht. Carnegie, derals Anthroposoph der Überzeugung war, seinimmenser, mit der Stahlproduktion verdienterReichtum verpflichte ihn gegenüber der Ge-meinschaft, organisierte u.a. ein Netz von über2500 Büchereien in der englischsprachigenWelt. In seinen Bibliotheken wurde schon Endedes 19. Jahrhunderts eine hybride Mischungaus Büchern, Nachbarschaftshilfe, Musik undBoxkampf geboten, die es bis dahin noch nichtgegeben hatte. Auch die „Central Library“ inSeattle bietet als „crossroad“ für Schulen undkulturelle Organisationen auf drei viertel ihrerFläche Aufenthaltsräume und Veranstaltungs-flächen an. Vom Eingang an der 4th Avenuegelangt man direkt in die Kinder- und Fremd-sprachenabteilung. Von hier aus führt eine dergelb leuchtenden Rolltreppen parallel zum Au-

ditorium – dieses verfügt über 245 Plätze undist variabel teilbar – hinauf in das verglasteFoyer. Viele Passanten nutzen diese transpa-rente Innenraumpiazza für eine kurze Kaffee-pause, bevor sie den Veranstaltungsbereichim unteren Teil des Gebäudes verlassen undüber die nächste Rolltreppe die Informations-zentrale „mixing chamber“ mit ihrer schwarzgestrichenen Stahldecke erreichen. Im hinte-ren Teil führt eine Treppe hinunter in die blut-rot gestrichenen Bereiche mit den kompakt angeordneten Besprechungs- und Seminarräu-men. Die meisten Besucher können es jedochkaum erwarten, auf der engen einläufigen Roll-treppe mehr als vier Geschosse hinauf in denlichtdurchströmten Lesesaal getragen zu wer-den. Für alle, die bei der Fahrt nach oben ihrBuch vergessen haben, führt eine strahlendgelbe Stahltreppe hinab in den von SMLXL-De-signer Bruce Mau gestalteten neutralen „Gra-phic Space“ der Buchspirale. Dem Aufbau ei-nes klassischen Dramas ähnelnd – Exposition,retardierendes Moment, Peripetie und als Hö-hepunkt das Finale –, führt die spannungsvolleRaumfolge der neuen Bibliothek den Besucherdurch alle Höhen und Tiefen des Lesens undendet abrupt am oberen Punkt der abfallendenBücherspirale, wo man überrascht 15 Meter indie Tiefe blickt.

Spring Street

In den Lufträumen zwischen den fes-ten Gebäudeteilen und der sich vonGeschoss zu Geschoss anders falten-den Fassade entwickelt das Entwurfs-konzept seinen dramaturgischen Eifer;Decken und Fußböden erscheinen da und dort versehentlich vertauschtzu sein.Nächste Doppelseite: die Freihand-bibliothek, Buchspirale genannt, istdurch die gelb gestrichene Erschlie-ßung und die durchgehende Numme-rierung charakterisiert. Bis zu 1,4 Mil-lionen Bände sollen in dieser Spiraleeinmal Platz finden.

Lageplan im Maßstab 1 : 3333Schnitt im Maßstab 1 : 750

5th Avenue4t

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Madison Street

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Level 11 Eingang zur 4th Avenue2 Childrens Center 3 Auditorium 275–425 Sitze4 Foyer5 Fremdsprachenbereich6 Sprachkabinen

Level 27 Einfahrt Tiefgarage8 Anlieferung3 Auditorium

Level 39 Haupteingang zur 5th Avenue

10 Offener Teil des Auditoriums11 Empfang12 Belletristik13 Teens Center14 Shop15 Büros

Level 416 Besprechungsräume für 29–209

Personen

Grundrisse im Maßstab 1 : 1000

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Level 517 Informationszentrale,

sog. Mixing Chamber mit 132 Computern

18 Interner Bereich

Level 619 Buchspirale

Level 7–920 Luftraum Atrium mit

Videoarbeit von Gary Hill21 Geschlossener Bereich

für Bibliothekare 19 Buchspirale

Level 1022 Lesesaal mit bis zu 400 Plätzen23 Endpunkt der Buchspirale24 „Boeing Collection”

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