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2017

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2017

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Vertretung der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino

45-47 Rue de Pascale

B-1040 Bruxelles

Tel.: +32 (0)2 743 27 00 – 01

Fax: +32 (0)2 742 09 80

[email protected]

http://www.alpeuregio.org

Foto des Titelblatts: Cédric Puisney, « L'habit fait le magistrat « , CC BY-NC-ND 2.0

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CURIA-News Jahrbuch 2017

Seit September 2011, wird basierend auf dem gemeinsam durchgeführten Monitoring der

europäischen Gesetzgebung und des Rechtsetzungsprozesses, der Newsletter „Curia

News“ erstellt. Es handelt sich dabei um ein gemeinsames Projekt der Vertretung der

Europaregion Tirol - Südtirol - Trentino in Brüssel.

Gemeinsames Ziel ist es, die Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Gerichts zu

verfolgen, um eine periodische Sensibilisierung für das Recht der Europäischen Union zu

bewirken.

Dieses Jahrbuch ist neben dem periodischen Newsletter ein weiteres Instrument, um über

die Judikatur von 2017 zu informieren und als Nachschlagewerk die Erkenntnisse in den

bedeutendsten Sachbereichen aufzuzeigen.

Innsbruck, Bozen, Trient und Brüssel, Jänner 2018

Fritz Staudigl

Klaus Luther

Fabio Scalet

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i

INHALTSVERZEICHNIS

DER EUROPÄISCHE GERICHTSHOF (EuGH) ......................................................... 1

URTEILE 2017 .................................................................................................... 3

Arbeit ................................................................................................................. 3

Mitglieder des Flugpersonals können in Rechtsstreitigkeiten über ihre Arbeitsverträge das Gericht

des Ortes anrufen, von dem aus sie den wesentlichen Teil ihrer Verpflichtungen gegenüber ihrem

Arbeitgeber erfüllen............................................................................................................. 3

Auswärtige Beziehungen .................................................................................... 5

Das Gericht der Europäischen Union bestätigt die Rechtsgültigkeit der Antidumping- und

Antisubventionsmaßnahmen gegenüber Einfuhren von Solarpaneelen aus China ......................... 5

Freizügigkeit und Freizügigkeit der Arbeitnehmer ............................................. 7

Ein in einem Mitgliedstaat wohnhaften Arbeitnehmer ist nicht verpflichtet, in diesem Mitgliedstaat

ein Kraftfahrzeug zuzulassen, das in seinem Eigentum steht, jedoch bereits in einem anderen

Mitgliedstaat zugelassen ist .................................................................................................. 7

Der Ausschluss der außerhalb Deutschlands beschäftigten Arbeitnehmer eines Konzerns vom

aktiven und passiven Wahlrecht bei den Wahlen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der

deutschen Muttergesellschaft verstößt nicht gegen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer ................ 8

Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ................................................................. 9

Eine unternehmensinterne Regel, die das sichtbare Tragen jedes politischen, philosophischen oder

religiösen Zeichens verbietet, stellt keine unmittelbare Diskriminierung dar ............................... 9

Landwirtschaft und Fischerei ........................................................................... 11

Rein pflanzliche Produkte dürfen grundsätzlich nicht unter Bezeichnungen wie „Milch“, „Rahm“,

„Butter“, „Käse“ oder „Joghurt“ vermarktet werden, die das Unionsrecht Produkten tierischen

Ursprungs vorbehält .......................................................................................................... 11

Niederlassungsfreiheit und freier Dienstleistungsverkehr ................................ 12

Der Auftraggeber kann den Bieter nicht ersuchen, die geforderten Erklärungen und Unterlagen

vorzulegen, deren Übermittlung nach den Verdingungsunterlagen gefordert war ....................... 12

Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ............................................ 14

Ein Asylantrag kann abgelehnt werden, wenn der Antragsteller an den Aktivitäten einer

terroristischen Vereinigung beteiligt war .............................................................................. 14

Das Gericht der EU erklärt sich für unzuständig, über die Klagen von drei Asylbewerbern gegen die

„Erklärung EU-Türkei“ zur Bewältigung der Migrationskrise zu entscheiden............................... 16

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ii

Die nationalen Behörden können einer iranischen Staatsangehörigen, die Absolventin einer von

restriktiven Maßnahmen betroffenen Universität ist, zum Schutz der öffentlichen Sicherheit ein

Visum für ein Studium in einem sensiblen Bereich wie der IT-Sicherheit verweigern .................. 17

Die Pflicht, Barmittel in Höhe von 10.000 Euro oder mehr anzumelden, besteht auch in den

internationalen Transitzonen der Flughäfen, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats der EU liegen

...................................................................................................................................... 18

Ein Asylbewerber kann sich vor Gericht darauf berufen, dass ein Mitgliedstaat infolge des Ablaufs

der Frist von drei Monaten, binnen deren er einen anderen Mitgliedstaat um Aufnahme des

Asylbewerbers ersuchen kann, für die Prüfung des Asylantrags zuständig geworden ist ............. 19

Der Beschluss des Rates der EU zur Umsiedlung von Asylbewerbern war rechtmäßig ................. 21

Eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, kann sich vor einem Gericht auf den Ablauf

der für ihre Abschiebung in einen anderen Mitgliedstaat vorgesehenen Frist berufen ................. 23

Rechtsangleichung ........................................................................................... 24

Die Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr steht einer nationalen

Relung, die die sofortige Zahlung der fälligen Hauptschuld den Verzicht des Verzugzinsen und der

Entschädigung für Beitreibungskosten unterstellt, nicht entgegen ........................................... 24

Die Kosten eines Anrufs unter einer Kundendiensttelefonnummer dürfen nicht höher sein als die

Kosten eines gewöhnlichen Anrufs ...................................................................................... 26

Nach Ansicht des Gerichtshofs gibt es kein Recht auf Vergessenwerden für die im

Gesellschaftsregister eingetragenen personenbezogenen Daten .............................................. 27

SERV ................................................................................................................ 29

Die Mitgliedstaaten können den Notaren die Vornahme von Beglaubigungen der Echtheit von

Unterschriften auf Urkunden, die für die Schaffung oder Übertragung von Rechten an

Liegenschaften erforderlich sind, vorbehalten ....................................................................... 29

Sozialpolitik ..................................................................................................... 30

Die Rechte der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen können bei Vereinbarung eines

„Pre-packs“ infolge eines Konkurses anwendbar sein ............................................................. 30

Eine Regelung, die als Kriterium für die Zulassung zu einer Polizeischule unabhängig vom

Geschlecht eine Mindestkörpergröße vorsieht, kann eine unerlaubte Diskriminierung von Frauen

darstellen ......................................................................................................................... 32

Die wöchentliche Ruhezeit für Arbeitnehmer muss nicht notwendigerweise an dem auf sechs

aufeinanderfolgende Arbeitstage folgenden Tag gewährt werden............................................. 34

Staatliche Beihilfen .......................................................................................... 35

Die Steuerbefreiungen, in deren Genuss die katholische Kirche in Spanien kommt, können

verbotene staatliche Beihilfen darstellen, wenn und soweit sie für wirtschaftliche Tätigkeiten

gewährt werden ................................................................................................................ 35

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iii

Steuerrecht ...................................................................................................... 37

Der Grundsatz der Gleichbehandlung steht dem Ausschluss auf elektronischem Weg gelieferter

digitaler Bücher, Zeitungen und Zeitschriften von der Anwendung eines ermäßigten

Mehrwertsteuersatzes nicht entgegen .................................................................................. 37

Die Gerichte eines Mitgliedstaats dürfen kontrollieren, ob die Ersuchen eines anderen

Mitgliedstaats um Steuerinformationen rechtmäßig sind ......................................................... 39

Das Verbot missbräuchlicher Praktiken im Mehrwertsteuerbereich ist unabhängig von einer

nationalen Maßnahme zu seiner Durchsetzung in den Mitgliedstaaten anwendbar ..................... 41

Unionsbürgerschaft .......................................................................................... 43

Ein Staatsangehöriger eines Nicht-EU-Landes kann als Elternteil eines minderjährigen Kindes, das

die Unionsbürgerschaft besitzt, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht in der Union geltend machen .. 43

Verbraucher ..................................................................................................... 45

Werbung, die Preise zwischen Geschäften unterschiedlicher Art und Größe vergleicht, ist unter

bestimmten Umständen nicht zulässig ................................................................................. 45

Vergibt ein Kreditinstitut einen Kredit, der auf eine Fremdwährung lautet, muss es dem

Kreditnehmer Informationen zur Verfügung stellen, die eine umsichtige und besonnene

Entscheidung ermöglichen .................................................................................................. 47

Die Mitgliedstaaten dürfen keine Sofortmaßnahmen in Bezug auf genetisch veränderte Lebens- und

Futtermittel treffen, wenn nicht von einem ernsten Risiko für die Gesundheit oder die Umwelt

auszugehen ist ................................................................................................................. 48

Verkehr ............................................................................................................ 50

Die Stornierungsgebühren, die Luftfahrtunternehmen verlangen, können auf Missbräuchlichkeit

überprüft werden .............................................................................................................. 50

Wettbewerb ..................................................................................................... 51

Der Gerichtshof bestätigt die gegen Toshiba und Panasonic/MTPD wegen ihrer Beteiligung an

einem Kartell für Röhren für Fernsehgeräte gesamtschuldnerisch verhängte Geldbuße in Höhe von

82 Millionen Euro .............................................................................................................. 51

Der Gerichtshof bestätigt die im Zusammenhang mit dem Phosphat-Kartell gegen die Roullier-

Gruppe verhängte Geldbuße in Höhe von fast 60 Millionen Euro .............................................. 53

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1

DER EUROPÄISCHE GERICHTSHOF (EuGH)

Der EuGH ist das oberste Rechtsprechungsorgan der EU. Er gewährleistet, dass das EU-Recht in

allen Mitgliedstaaten einheitlich ausgelegt und angewendet wird und hat mit seinen Urteilen die

europäische Integration in vielen Bereichen vorangetrieben.

Aufgaben und Zuständigkeit

Die Regeln über die Errichtung und Tätigkeit des Gerichtshofs sind im Vertrag von Lissabon

enthalten. Das Verfahren wird hingegen in den Verträgen, dem Protokoll über die Satzung des

Gerichtshofs, der Verfahrensordnung und der zusätzlichen Verfahrensordnung des EuGH geregelt.

Der Gerichtshof kann in Rechtsstreitigkeiten zwischen Regierungen der EU-Mitgliedstaaten und den

EU-Organen entscheiden; aber auch Privatpersonen, Unternehmen oder Organisationen können

sich mit einer Rechtssache an den Gerichtshof wenden, wenn sie der Auffassung sind, dass ein

Organ der EU ihre Rechte verletzt hat.

Der Gerichtshof der Europäischen Union befasst sich vorwiegend mit:

1) Vorabentscheidungsersuchen, bei denen ein nationales Gericht, das Zweifel hinsichtlich

der Auslegung oder Gültigkeit einer Rechtsvorschrift der EU hat, den Gerichtshof zu Rate

zieht.

2) Vertragsverletzungsklagen, die von der Europäischen Kommission oder einem EU-

Mitgliedstaat eingeleitet werden, wenn ein (anderer) EU-Mitgliedstaat seinen

Verpflichtungen gemäß EU-Recht nicht nachkommt.

3) Nichtigkeitsklagen, die ein EU-Mitgliedstaat, der Rat, die Kommission oder auch das

Europäische Parlament gegen Rechtsvorschriften der EU beantragen können, wenn sie der

Ansicht sind, das diese rechtswidrig sind. Auch Privatpersonen haben die Möglichkeit die

Aufhebung eines bestimmten Rechtsakts zu fordern, wenn sie davon unmittelbar

beeinträchtigt werden. Für Nichtigkeitsklagen von Einzelpersonen, ist im ersten Rechtszug

das Europäische Gericht zuständig.

4) Untätigkeitsklagen, die zur Überprüfung der Untätigkeit eines Organs, einer Einrichtung

oder einer sonstigen Stelle der EU eingereicht werden können. Die Zuständigkeit für

Untätigkeitsklagen ist zwischen dem Gerichtshof und dem Gericht nach denselben Kriterien

aufgeteilt wie bei Nichtigkeitsklagen.

5) Rechtsmittel, die gegen Urteile und Beschlüsse des Gerichts eingelegt werden können.

Zusammensetzung

Der EuGH verfügt über 28 Richter (einen pro EU-Mitgliedstaat) sowie elf Generalanwälte. Diese

haben die Aufgabe, öffentlich und in voller Unparteilichkeit und Unabhängigkeit zu den Rechtsachen

Stellung zu beziehen, mit denen sich der Gerichtshof befasst. Die Regierungen der EU-

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2

Mitgliedstaaten ernennen sowohl die Richter als auch die Generalanwälte im gegenseitigen

Einvernehmen. Eine Amtsperiode dauert jeweils sechs Jahre und ist verlängerbar.

Verfahrenssprache

Um zu gewährleisten, dass jeder EU-Bürger Rechtshandlungen in seiner Sprache vornehmen kann,

kann der Kläger jede der 24 Amtssprachen der EU als Verfahrenssprache wählen. Bei

Vorabentscheidungsverfahren ist die Sprache des Mitgliedstaats des anfragenden Gerichts

Verfahrenssprache. Bei Verhandlungen gibt es je nach Bedarf Übersetzungen in die verschiedenen

Amtssprachen der EU. Die Richter beraten in einer gemeinsamen Sprache, traditionell dem

Französischen. Auch die Verfahrensdokumente werden zudem ins Französische übersetzt, das nach

wie vor die interne Amtssprache des EuGH ist.

Verfahrensspesen

Das Verfahren vor dem EuGH ist spesenfrei. Die Anwaltsspesen müssen hingegen von den

Prozessparteien selbst getragen werden. Falls eine Partei außerstande ist, die Spesen für das

Verfahren ganz oder teilweise zu bestreiten, kann sie Prozesshilfe in Anspruch nehmen.

Das Europäische Gericht (EuG) und das Gericht für den öffentlichen Dienst der

Europäischen Union

Das Gericht der Europäischen Union und das Gericht für den öffentlichen Dienst der EU bilden

gemeinsam mit dem EuGH das Gerichtssystem der EU.

Das Europäische Gericht (früher „Gerichtshof erster Instanz“) wurde 1988 – als Teil des Organs

„Gerichtshof“ – zur Entlastung des EuGH geschaffen. Jeder Mitgliedstaat stellt mindestens einen

Richter. Fälle, die keine besondere Komplexität aufweisen, können von einem Einzelrichter

entschieden werden. Das EuG entscheidet in Rechtsachen, die von Privatpersonen, Unternehmen

und bestimmten Organisationen vorgelegt wurden und Rechtsachen im Bereich des

Wettbewerbsrechts.

Für besondere Sachgebiete haben das Europäische Parlament und der Rat auch die Möglichkeit

Fachgerichte einzurichten.

Das 2005 geschaffene Gericht für den öffentlichen Dienst ist hingegen für Rechtsstreitigkeiten

zwischen der EU und ihren Bediensteten zuständig.

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URTEILE 2017

Arbeit

Mitglieder des Flugpersonals können in Rechtsstreitigkeiten über ihre

Arbeitsverträge das Gericht des Ortes anrufen, von dem aus sie den

wesentlichen Teil ihrer Verpflichtungen gegenüber ihrem Arbeitgeber erfüllen

(Urteil in den verbundenen Rechtssachen C-168/16 und C-169/16 Sandra Nogueira u. a. /

Crewlink Ltd und Miguel José Moreno Osacar / Ryanair)

Ryanair und Crewlink sind in Irland ansässige Gesellschaften. Ryanair ist im Bereich der

Personenbeförderung im internationalen Luftverkehr tätig. Crewlink ist auf die Einstellung und

Schulung von Flugpersonal für Fluggesellschaften spezialisiert. Zwischen 2009 und 2011 wurden

portugiesische, spanische und belgische Arbeitnehmer von Ryanair eingestellt und beschäftigt,

bzw. von Crewlink eingestellt und danach Ryanair als Kabinenpersonal zur Verfügung gestellt.

Alle Arbeitsverträge waren in englischer Sprache abgefasst, unterlagen irischem Recht und

enthielten eine Gerichtsstandsklausel zugunsten irischer Gerichte. Sie sahen vor, dass die von

den betroffenen Arbeitnehmern erbrachten Arbeitsleistungen als in Irland erbracht anzusehen

sind, da die jeweiligen Flugzeuge in Irland registriert sind. Allerdings wurde in den Verträgen der

Flughafen Charleroi (Belgien) als „Heimatbasis“ der Arbeitnehmer angegeben. Die Verträge

verpflichteten sie dazu, nicht weiter als eine Stunde vom Flughafen Charleroi entfernt zu

wohnen. Sechs Arbeitnehmer von Crewlink und Ryanair erhoben im Jahr 2011 Klage bei den

belgischen Gerichten, da sie der Auffassung waren, dass die belgischen Rechtsvorschriften

einzuhalten und anzuwenden seien.

Der Arbeitsgerichtshof von Mons (Belgien) hat im Rahmen der Prüfung seiner Zuständigkeit den

Europäischen Gerichtshof um Auslegung von zwei Begriffen ersucht. Einerseits soll der

Gerichtshof den Begriff des „Ortes, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit

verrichtet“1, im Zusammenhang mit dem Luftverkehrssektor auslegen. Andererseits ersucht das

belgische Gericht um Auslegung des Begriffs der „Heimatbasis“2, der in einer die Zivilluftfahrt

betreffenden Unionsverordnung3 vorkommt, und fragt, ob dieser Begriff mit dem anderen

gleichgesetzt werden kann.

Im Urteil vom 14. September 2017 bestätigt der Gerichtshof, dass den Arbeitnehmern eine

Gerichtsstandsklausel, die vor der Entstehung der Rechtsstreitigkeiten vereinbart wurde und

1 Art. 19 Nr. 2 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit

und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1). 2 Dieser Begriff wird definiert als der Ort, an dem das Flugpersonal systematisch seinen Arbeitstag beginnt und beendet sowie

seine tägliche Arbeit organisiert und in dessen Nähe es für die Dauer des Vertragsverhältnisses seinen tatsächlichen Wohnsitz

begründet hat und dem Luftfahrtunternehmer zur Verfügung steht. 3 Verordnung (EWG) Nr. 3922/91 des Rates vom 16. Dezember 1991 zur Harmonisierung der technischen Vorschriften und der

Verwaltungsverfahren in der Zivilluftfahrt (ABl. 1991, L 373, S. 4) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1899/2006 des

Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 (ABl. 2006, L 377, S. 1) geänderten Fassung.

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4

ihnen verbietet, die nach den einschlägigen Unionsvorschriften zuständigen Gerichte anzurufen,

nicht entgegengehalten werden könne.

Für die Bestimmung des Begriffs des „Ortes, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit

verrichtet“, verweist der Gerichtshof auf seine ständige Rechtsprechung, wonach damit der Ort

gemeint ist, an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer den wesentlichen Teil seiner

Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber tatsächlich erfüllt. Hierbei sei eine

indiziengestützte Methode anzuwenden, weshalb der Begriff des „Ortes, an dem oder von dem

aus der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet“, mit keinem Begriff aus einem

anderen Unionsrechtsakt, auch nicht mit dem der „Heimatbasis“ in der die Zivilluftfahrt

betreffenden Unionsverordnung, gleichgesetzt werden kann.

Trotzdem stellt der Begriff „Heimatbasis“ ein wichtiges Indiz für die Bestimmung des Ortes dar,

von dem aus ein Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet. Die Feststellung, dass der

Begriff des Ortes, an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit

verrichtet, mit keinem anderen Begriff gleichgesetzt werden kann, gilt auch in Bezug auf die

„Staatszugehörigkeit“ von Flugzeugen. Daher ist der Mitgliedstaat, von dem aus ein Mitglied des

bei einer Fluggesellschaft beschäftigten oder ihr zur Verfügung gestellten Flugpersonals

gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, auch nicht mit dem Mitgliedstaat gleichzusetzen, dessen

Staatszugehörigkeit die Flugzeuge dieser Fluggesellschaft haben.

Link zum vollständigen Urteil

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5

Auswärtige Beziehungen

Das Gericht der Europäischen Union bestätigt die Rechtsgültigkeit der

Antidumping- und Antisubventionsmaßnahmen gegenüber Einfuhren von

Solarpaneelen aus China

(Urteile in der Rechtssache T-157/14, JingAo Solar u. a. / Rat, in den verbundenen

Rechtssachen T-158/14, JingAo Solar u. a. / Rat, T-161/14, Yingli Energy (China) u. a./ Rat,

und T-163/14, Canadian Solar Emea u. a. / Rat, in der Rechtssache T-160/14, Yingli Energy

(China) u. a. / Rat, und in der Rechtssache T-162/14, Canadian Solar Emea u. a. / Rat)

Am 2. Dezember 2013 führte der Rat endgültige Antidumpingzölle auf Einfuhren von

Solarpaneelen und ihren Schlüsselkomponenten mit Ursprung in oder versandt aus China ein.4

Eine von der Kommission in den Jahren 2012 und 2013 durchgeführte Untersuchung hatte

nämlich ergeben, dass chinesische Solarpaneele in Europa deutlich unter ihrem normalen

Marktwert verkauft wurden. Die Zölle wurden zur Milderung des Schadens eingeführt, der dem

europäischen Wirtschaftszweig durch diese unlautere Wettbewerbspraxis des Dumpings

entsteht.

26 Unternehmen, die von diesen Zöllen (zum Satz von durchschnittlich 47,7 %) betroffen sind,

haben beim Gericht der Europäischen Union auf Nichtigerklärung der betreffenden

Antidumping- und Antisubventionsmaßnahmen geklagt.

Mit den Urteilen vom 28. Februar 2017 wies das Gericht alle Klagen ab und bestätigte sämtliche

vom Rat festgesetzten endgültigen Zölle.

Zunächst sind nach den Ausführungen des Gerichts die Unionsorgane zu Recht davon

ausgegangen, dass das „Ausfuhrland“ zur Ermittlung des dortigen Normalwerts des betroffenen

Erzeugnisses (Solarpaneele) nicht zwangsläufig für das Erzeugnis insgesamt, gleich welchen

Ursprungs, auf die gleiche Art und Weise bestimmt werden musste.

Sie konnten somit zulässigerweise annehmen, dass für die Zellen und Module mit Ursprung in

oder versandt aus China sowie für die aus dritten Ländern versandten Module mit Ursprung in

China das Ausfuhrland dem Ursprungsland entspricht (China), während für die aus China

versandten Module mit Ursprung in einem dritten Land das Ausfuhrland nicht dem

Ursprungsland, sondern dem Zwischenland (wiederum China) entspricht. Diese Entscheidung

der Organe kann mit deren Ziel gerechtfertigt werden, das Vorliegen etwaiger

Dumpingpraktiken in China und nicht in einem anderen Land zu untersuchen, was von ihrem

weiten Ermessensspielraum gedeckt ist.

Außerdem haben die Unternehmen, die sich gegen die Antidumping- und

Antisubventionsmaßnahmen wenden, vor dem Gericht weder Argumente noch Beweise

präsentiert, die sich für den Nachweis eignen, dass sich die vorgebrachten Faktoren in einem

4 Durchführungsverordnung (EU) Nr. 1238/2013 des Rates vom 2. Dezember 2013 zur Einführung eines endgültigen

Antidumpingzolls und zur endgültigen Vereinnahmung des vorläufigen Zolls auf die Einfuhren von Fotovoltaikmodulen

aus kristallinem Silicium und Schlüsselkomponenten davon (Zellen) mit Ursprung in oder versandt aus der Volksrepublik

China (ABl. 2013, L 325, S. 1).

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6

Maß ausgewirkt haben, dass ein Schaden für den Wirtschaftszweig der Union und der

Kausalzusammenhang zwischen diesem Schaden und den fraglichen Einfuhren nicht mehr

glaubhaft waren.

Link zum vollständigen Urteil (EN)

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7

Freizügigkeit und Freizügigkeit der Arbeitnehmer

Ein in einem Mitgliedstaat wohnhaften Arbeitnehmer ist nicht verpflichtet, in

diesem Mitgliedstaat ein Kraftfahrzeug zuzulassen, das in seinem Eigentum

steht, jedoch bereits in einem anderen Mitgliedstaat zugelassen ist

(Urteil in der Rechtssache C- 42015 Strafverfahren gegen U.)

In Belgien erlegt der Königlichen Erlass vom 20. Juli 2001 den in Belgien wohnafteten Personen

auf, Fahrzeuge, die sie in Belgien in Betrieb nehmen möchten, in das Fahrzeugverzeichnis

einzutragen, auch wenn diese Fahrzeuge bereits im Ausland zugelassen sind. Ein italienischer

Staatsangehöriger und Beamter der Europäischen Kommission wurde zu einer Geldbuße

verurteilt, weil er ein in Belgien nicht zugelassenes Fahrzeug auf einer öffentlichen Straße in

Betrieb genommen habe.

Das Tribunal de première instance francophone de Bruxelles hat dem Gerichtshof eine Frage zur

Vorabentscheidung vorgeleget, um zu herauszufinden, ob Art. 45 AEUV dahin auszulegen ist,

dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die einen dort wohnhaften

Arbeitnehmer dazu verpflichtet, ein Kraftfahrzeug, das in seinem Eigentum steht und in einem

anderen Mitgliedstaat zugelassen ist, im erstgenannten Mitgliedstaat zuzulassen, um dort, sei

es nur zeitweise, fahren zu dürfen.

In seinem Urteil von 31. Mai 2017 stellte der Gerichtshof fest, dass Art. 45 AEUV jeder

Maßnahme entgegensteht, die, auch wenn sie ohne Diskriminierung aus Gründen der

Staatsangehörigkeit gilt, geeignet ist, die Ausübung der durch den Vertrag garantierten

Grundfreiheiten durch die Unionsangehörigen zu behindern oder weniger attraktiv zu machen.

Der Gerichsthof hat zunächst festgestellt, dass der Königlichen Erlass vom 2001 einen in Belgien

wohnhaften Unionsbürger hindert, der seinen Herkunftsmitgliedstaat verlassen und als

Arbeitnehmer von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat, daran, das belgische

Straßennetz, sei es auch nur geringfügig, mit einem Kraftfahrzeug zu benutzen, das in seinem

Eigentum steht und in einem anderen Mitgliedstaat zugelassen ist. Eine solche Zulassungspflicht

kann die Ausübung der Grundfreiheit aus Art. 45 AEUV weniger attraktiv machen, auch wenn

sie, ohne nach der Staatsangehörigkeit zu unterscheiden, für alle in Belgien wohnhaften

Personen gilt. Sie stellt also eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit dar.

Eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren wäre also nur zulässig, wenn es sich um

eine aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit abweichende

Maßnahme handelte oder wenn sie einen mit dem Vertrag zu vereinbarenden berechtigten

Zweck verfolgte und aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt wäre. In

diesem Fall müsste ihre Anwendung aber außerdem geeignet sein, die Erreichung des verfolgten

Zwecks zu gewährleisten, und dürfte nicht über das hierzu Erforderliche hinausgehen.

Link zum vollständigen Urteil

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8

Der Ausschluss der außerhalb Deutschlands beschäftigten Arbeitnehmer eines

Konzerns vom aktiven und passiven Wahlrecht bei den Wahlen der

Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der deutschen Muttergesellschaft verstößt

nicht gegen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer

(Urteil in der Rechtssache C-566/15 Konrad Erzberger / TUI AG)

Ein Anteilseigner einer deutschen Aktiengesellschaft wandte sich vor den deutschen Gerichten

gegen die Zusammensetzung des Aufsichtsrats dieser Gesellschaft, der mit der Überwachung

des das Unternehmen leitenden Vorstands betraut ist. Nach dem deutschen Gesetz über die

Mitbestimmung der Arbeitnehmer werden die Mitglieder des Aufsichtsrats jeweils zur Hälfte

von den Anteilseignern und den Arbeitnehmern bestimmt.

Der Kläger machte geltend, dass das deutsche Gesetz über die Mitbestimmung der

Arbeitnehmer das Unionsrecht verletze, da es vorsehe, dass nur die in Deutschland

beschäftigten Arbeitnehmer des Konzerns die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat wählen

könnten und in den Aufsichtsrat wählbar seien.

In seinem Urteil vom 26. Juli 2017 stellte der Gerichtshof sodann fest, dass die Situation der

fraglichen Arbeitnehmer nicht unter die Freizügigkeit der Arbeitnehmer fällt. Die Bestimmungen

über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer sind nämlich nicht auf Arbeitnehmer anwendbar, die

nie von ihrer Freizügigkeit innerhalb der Union Gebrauch gemacht haben oder Gebrauch

machen wollen. Dass die Tochtergesellschaft, bei der die betreffenden Arbeitnehmer tätig sind,

von einer Muttergesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat (im vorliegenden Fall

Deutschland) kontrolliert wird, ist insoweit ohne Bedeutung.

Zu den in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmern der AG, die ihre Stelle aufgegeben haben,

um eine Stelle bei einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft dieses

Konzerns anzutreten, stellte der Gerichtshof fest, dass ihre Situation grundsätzlich unter die

Freizügigkeit der Arbeitnehmer fällt. Ihre Situation ist daher nicht anhand des allgemeinen

Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit zu prüfen.

Dennoch stellt der Verlust des aktiven und des passiven Wahlrechts für die Wahlen der

Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der deutschen Muttergesellschaft sowie gegebenenfalls

der Verlust des Rechts auf Ausübung oder weitere Ausübung eines Aufsichtsratsmandats keine

Behinderung der Freizügigkeit dar. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer garantiert einem

Arbeitnehmer nämlich nicht, dass ein Umzug in einen anderen Mitgliedstaat als seinen

Herkunftsmitgliedstaat in sozialer Hinsicht neutral sein wird. Ein solcher Umzug kann aufgrund

der Unterschiede, die zwischen den Systemen und den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten

bestehen, für den betreffenden Arbeitnehmer je nach Einzelfall Vorteile oder Nachteile in

diesem Bereich haben. Daher verschafft die Arbeitnehmerfreizügigkeit dem Arbeitnehmer nicht

das Recht, sich im Aufnahmemitgliedstaat auf die Arbeitsbedingungen zu berufen, die ihm im

Herkunftsmitgliedstaat nach dessen nationalen Rechtsvorschriften zustanden.

Link zum vollständigen Urteil

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9

Grundsätze des Gemeinschaftsrechts

Eine unternehmensinterne Regel, die das sichtbare Tragen jedes politischen,

philosophischen oder religiösen Zeichens verbietet, stellt keine unmittelbare

Diskriminierung dar

(Urteile in den Rechtssachen C-157/15, Achbita und Centrum voor Gelijkheid van kansen en

vorr rasismebestijding / G4S Secure Solutions, und C- 188/15, Bougnaoui und Association de

défense des droits de l’homme (ADDH) / Micropole Univers)

Es handelte sich hier um zwei sehr ähnlich gelagerte Fälle, bei denen sich die klagenden

Arbeitnehmerinnen im Laufe des aufrechten Arbeitsverhältnisses dazu entschlossen, während

der Arbeitszeit das islamische Kopftuch zu tragen. Der Betriebsrat im ersten Fall, der in Belgien

seinen Ausgangspunkt nahm, billigte am 29. Mai 2006 eine Anpassung an die Arbeitsanordnung

des Unternehmens, in der es heißt: „Es ist den Arbeitnehmern verboten, am Arbeitsplatz

sichtbare Zeichen ihrer politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugung zu tragen

und/oder jeglichen Ritus, der sich daraus ergibt, zum Ausdruck zu bringen“. Im zweiten Fall, der

sich in Frankreich ereignete, wurde die Arbeitnehmerin lediglich vom Arbeitgeber aufgrund

eines Kundenwunsches dazu aufgefordert, den Schleier nicht mehr zu tragen. Beide

Arbeitnehmerinnen widersetzten sich den Anordnungen und wurden daraufhin entlassen.

Im ersten Fall stellte der Gerichtshof fest, dass eine solche interne Regelung keine unmittelbar

auf der Religion oder Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung im Sinne der

Gleichbehandlungsrahmen-Richtlinie5 darstellt. Der Gerichtshof hält es jedoch nicht für

ausgeschlossen, dass das nationale Gericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die interne Regel eine

mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung

begründet, wenn sich erweisen sollte, dass die dem Anschein nach neutrale Verpflichtung

tatsächlich dazu führt, dass Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in

besonderer Weise benachteiligt werden. Eine solche mittelbare Diskriminierung kann jedoch

durch ein rechtmäßiges Ziel wie die Verfolgung einer Politik der politischen, philosophischen und

religiösen Neutralität durch den Arbeitgeber im Verhältnis zu seinen Kunden sachlich

gerechtfertigt sein, wenn die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich

sind.

Im zweiten Fall kommt es zunächst darauf an zu ermitteln, ob die Entlassung der Klägerin auf

eine interne Regelung gestützt wurde, die es verbietet, Zeichen politischer, philosophischer oder

religiöser Überzeugung zu tragen. Ist dies der Fall, muss wie in der belgischen Rechtssache

geprüft werden. Sollte die Entlassung der Klägerin nicht auf eine solche interne Regelung

gestützt sein, ist zu prüfen, ob der Wille des Arbeitgebers im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der

Gleichbehandlungsrahmen-Richtlinie gerechtfertigt ist. Insoweit weist der Gerichtshof darauf

hin, dass u. a. ein mit der Religion im Zusammenhang stehendes Merkmal nur unter sehr

begrenzten Bedingungen eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt.

Der Wille eines Arbeitgebers, den Wünschen eines Kunden zu entsprechen, seine Leistungen

nicht mehr von der Arbeitnehmerin ausführen zu lassen, die ein islamisches Kopftuch trägt, kann

5 Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die

Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (Abl. 2000, L 303).

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11

Landwirtschaft und Fischerei

Rein pflanzliche Produkte dürfen grundsätzlich nicht unter Bezeichnungen wie

„Milch“, „Rahm“, „Butter“, „Käse“ oder „Joghurt“ vermarktet werden, die das

Unionsrecht Produkten tierischen Ursprungs vorbehält

(Urteil in der Rechtssache C-422/16 Verband Sozialer Wettbewerb e. V. / TofuTown.com

GmbH)

Ein deutsches Unternehmen erzeugt und vertreibt vegetarische und vegane Lebensmittel.

Insbesondere bewirbt und vertreibt es rein pflanzliche Produkte unter den Bezeichnungen

„Soyatoo Tofubutter“, „Pflanzenkäse“, „Veggie-Cheese“, „Cream“ und unter anderen ähnlichen

Bezeichnungen. Ein deutscher Verein, zu dessen Aufgaben u. a. die Bekämpfung unlauteren

Wettbewerbs gehört, sieht in dieser Art der Absatzförderung einen Verstoß gegen die

Unionsvorschriften über die Bezeichnungen von Milch und Milcherzeugnissen6. Er hat daher das

deutsche Unternehmen vor dem Landgericht Trier auf Unterlassung verklagt. Das Unternehmen

ist hingegen der Auffassung, dass seine Werbung nicht gegen die in Rede stehenden Vorschriften

verstoße. Das Verbraucherverständnis in Bezug auf diese Bezeichnungen habe sich in den

letzten Jahren massiv verändert. Außerdem verwende das Unternehmen Bezeichnungen wie

„Butter“ oder „Cream“ nicht isoliert, sondern nur in Verbindung mit Begriffen, die einen Hinweis

auf den pflanzlichen Ursprung der in Rede stehenden Produkte enthielten, etwa „Tofu-Butter“

oder „Rice Spray Cream“.

In seinem Urteil von 14. Juni 2017 stellte der Gerichtshof fest, dass in Bezug auf die Vermarktung

und die Werbung nach den betreffenden Vorschriften die Bezeichnung „Milch“ grundsätzlich

allein Milch tierischen Ursprungs vorbehalten ist. Außerdem sind nach diesen Vorschriften – von

ausdrücklichen Ausnahmen abgesehen7 – Bezeichnungen wie „Rahm“, „Sahne“, „Butter“,

„Käse“ und „Joghurt“ ausschließlich Milcherzeugnissen, d. h. aus Milch gewonnenen

Erzeugnissen, vorbehalten.

Der Gerichtshof schloss daraus, dass die vorgenannten Bezeichnungen nicht rechtmäßig

verwendet werden können, um ein rein pflanzliches Produkt zu bezeichnen, es sei denn, es ist

in dem die Ausnahmen enthaltenden Verzeichnis aufgeführt, was weder bei Soja noch bei Tofu

der Fall ist. Die Verwendung klarstellender oder beschreibender Zusätze, die auf den

pflanzlichen Ursprung des betreffenden Produkts hinweisen, hat keine Auswirkungen auf dieses

Verbot.

Link zum vollständigen Urteil.

6 Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über eine

gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr.

922/72, (EWG) Nr. 234/79, (EG) Nr. 1037/2001 und (EG) Nr. 1234/2007 des Rates (ABl. 2013, L 347, S. 671). 7 Das Verzeichnis der Ausnahmen findet sich im Beschluss 2010/791/EU der Kommission vom 20. Dezember 2010 zur

Festlegung des Verzeichnisses der Erzeugnisse gemäß Anhang XII Abschnitt III Nummer 1 Unterabsatz 2 der Verordnung

(EG) Nr. 1234/2007 des Rates (ABl. 2010, L 336, S. 55).

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Niederlassungsfreiheit und freier Dienstleistungsverkehr

Der Auftraggeber kann den Bieter nicht ersuchen, die geforderten Erklärungen

und Unterlagen vorzulegen, deren Übermittlung nach den

Verdingungsunterlagen gefordert war

(Urteil in der Rechtssache C-131/16 Archus und Gama/ Polskie Górnictwo Naftowe i

Gazownictwo S.A.)

Im Rahmen eines Vergabeverfahrens in Polen wurde ein Angebot eines Wirtschatsteilnehmers

abgelehnt, da dieses nicht den Verdingungsunterlagen entsprach. Nach der Klage, möchte die

Krajowa Izba Odwoławcza (Nationale Beschwerdekammer, Polen) wissen, ob der in Art. 10 der

Richtlinie 2004/17 zum Ausdruck gebrachte Grundsatz der Gleichbehandlung der

Wirtschaftsteilnehmer dahin auszulegen ist, dass er im Rahmen einer Ausschreibung der

Aufforderung eines öffentlichen Auftraggebers an die Bieter entgegensteht, die erforderlichen

Erklärungen oder Unterlagen vorzulegen, die von diesen Bietern nicht innerhalb der Frist zur

Einreichung der Angebote vorgelegt worden sind, oder diese Erklärungen oder Unterlagen im

Fall von Fehlern zu korrigieren.

Im Urteil vom 10. Mai 2017 wies der Gerichtshof darauf hin, dass die Pflicht des öffentlichen

Auftraggebers zur Beachtung des Grundsatzes der Gleichbehandlung der Bieter bedeutet, dass

die Bieter sowohl zu dem Zeitpunkt, zu dem sie ihre Angebote vorbereiten, als auch zu dem

Zeitpunkt, zu dem diese vom öffentlichen Auftraggeber beurteilt werden, gleich behandelt

werden müssen. Dürfte nämlich der öffentliche Auftraggeber von einem Bewerber, dessen

Angebot seiner Auffassung nach ungenau ist oder nicht den in den Verdingungsunterlagen

enthaltenen technischen Spezifikationen entspricht, Erläuterungen verlangen, könnte nämlich,

wenn letztlich das Angebot dieses Bewerbers ausgewählt würde, der Eindruck entstehen, dass

der öffentliche Auftraggeber dieses Angebot insgeheim ausgehandelt hat – zum Nachteil der

anderen Bewerber und unter Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung.

Der Gerichtshof hat auch entschieden, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung nicht

untersagt, dass Angebote in einzelnen Punkten berichtigt oder ergänzt werden, wenn eine

Erläuterung des Angebots offensichtlich geboten ist oder offensichtliche sachliche Fehler

berichtigt werden, vorausgesetzt jedoch, dass eine Reihe von Erfordernissen beachtet wird. Der

öffentliche Auftraggeber hat bei der Ausübung des Ermessens, über das er in Bezug auf die

Möglichkeit verfügt, die Bewerber zur Erläuterung ihres Angebots aufzufordern, diese allgemein

gleich und fair zu behandeln, so dass am Ende des Verfahrens zur Auswahl der Angebote und im

Hinblick auf das Ergebnis dieses Verfahrens nicht der Eindruck entstehen kann, dass die

Aufforderung zur Erläuterung den oder die Bewerber, an den bzw. die sie gerichtet war,

ungerechtfertigt begünstigt oder benachteiligt hätte. Eine Aufforderung zur Erläuterung kann

jedoch das Fehlen eines Dokuments oder einer Information, deren Übermittlung durch die

Auftragsunterlagen gefordert war, nicht beheben, da der öffentliche Auftraggeber die von ihm

selbst festgelegten Kriterien strikt einzuhalten hat.

Der Gerichtshof entschied, dass der in Art. 10 der Richtlinie 2004/17/EG zum Ausdruck

gebrachte Grundsatz der Gleichbehandlung der Wirtschaftsteilnehmer dahin auszulegen ist,

dass er im Rahmen einer Ausschreibung der Aufforderung eines öffentlichen Auftraggebers an

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einen Bieter entgegensteht, die Erklärungen oder Unterlagen vorzulegen, deren Übermittlung

nach den Verdingungsunterlagen gefordert war und die nicht innerhalb der Frist zur Einreichung

der Angebote vorgelegt worden sind. Dieser Artikel steht hingegen der Aufforderung eines

öffentlichen Auftraggebers an einen Bieter, ein Angebot zu erläutern oder einen offensichtlichen

sachlichen Fehler, den dieses enthalten hat, zu berichtigen, unter der Voraussetzung nicht

entgegen, dass eine solche Aufforderung an alle Bieter gerichtet wird, die sich in derselben

Situation befinden, dass alle Bieter gleich und fair behandelt werden und dass diese Erläuterung

oder diese Berichtigung nicht der Einreichung eines neuen Angebots gleichgestellt werden kann,

was das vorlegende Gericht zu überprüfen hat.

Link zum vollständigen Urteil.

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Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

Ein Asylantrag kann abgelehnt werden, wenn der Antragsteller an den

Aktivitäten einer terroristischen Vereinigung beteiligt war

(Urteil in der Rechtssache C-573/14 Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides /

Mostafa Lounani)

Die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 legt Mindestnormen für die

Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder

als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und für den Inhalt des zu

gewährenden Schutzes fest. Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der

Anerkennung als Flüchtling insbesondere ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe zu der

Annahme berechtigen, dass er sich unter anderem Handlungen zuschulden kommen ließ, die

den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen.

In Belgien wurde ein marokkanischer Staatsangehöriger vom Tribunal correctionnel de Bruxelles

wegen Beteiligung an den Aktivitäten einer terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe

von sechs Jahren verurteilt. In der Folge beantragte dieser Mann bei den belgischen Behörden

Asyl. Er berief sich auf die Furcht vor Verfolgung für den Fall, dass er in sein Herkunftsland

zurückkehren müsste, da die Gefahr bestünde, nach seiner Verurteilung in Belgien von den

marokkanischen Behörden als radikaler Islamist und Dschihadist eingestuft zu werden. Der

Asylantrag wurde abgelehnt.

Der damit befasste Conseil dʼÉtat hat beschlossen, dem Gerichtshof Fragen zur

Vorabentscheidung vorzulegen. Er möchte insbesondere wissen, unter welchen

Voraussetzungen ein Antragsteller wegen „Handlungen, die den Zielen und Grundsätzen der

Vereinten Nationen zuwiderlaufen“, von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen werden

kann, wenn er wegen der Beteiligung an den Aktivitäten einer terroristischen Vereinigung

strafrechtlich verurteilt wurde, ohne selbst eine terroristische Handlung begangen zu haben.

Im Urteil vom 31. Januar 2017 hat der Gerichtshof betont, dass der Begriff „Handlungen, die den

Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen“ nicht auf terroristische

Handlungen beschränkt ist. Demzufolge ist die Anwendung des in der Richtlinie vorgesehenen

Ausschlusses von der Anerkennung als Flüchtling nicht auf diejenigen beschränkt, die tatsächlich

terroristische Handlungen begehen, sondern kann sich auch auf Personen erstrecken, die die

Anwerbung, Organisation, Beförderung oder Ausrüstung von Personen vornehmen, die in einen

Staat reisen, der nicht der Staat ihrer Ansässigkeit oder Staatsangehörigkeit ist, um insbesondere

terroristische Handlungen zu begehen, zu planen oder vorzubereiten.

Der Gerichtshof hat darauf hingewiesen, dass die endgültige Beurteilung des Antrags auf

internationalen Schutz den zuständigen nationalen Behörden unter der Kontrolle der nationalen

Gerichte obliegt. Der Gerichtshof betont jedoch, dass der Asylbewerber ein führendes Mitglied

einer terroristischen Vereinigung internationaler Dimension war. Seine Handlungen zur

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logistischen Unterstützung der Aktivitäten dieser Vereinigung können daher den Ausschluss von

der Anerkennung als Flüchtling rechtfertigen.

Link zum vollständigen Urteil

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Das Gericht der EU erklärt sich für unzuständig, über die Klagen von drei

Asylbewerbern gegen die „Erklärung EU-Türkei“ zur Bewältigung der

Migrationskrise zu entscheiden

(Beschlüsse des Gerichts in den Rechtssachen T-192/16, T-193/16 und T-257/16, NF, NG

und NM / Europäischer Rat)

Am 18. März 2016 wurde auf der gemeinsamen Website des Europäischen Rates und des Rates

der Europäischen Union eine Erklärung in Form einer Pressemitteilung8 veröffentlicht, in der

dargelegt wird, in welcher Weise die Mitgliedstaaten der Union und die Türkei die gegenwärtige

Migrationskrise bewältigen und die Schleusertätigkeit zwischen der Türkei und Griechenland

bekämpfen wollen („Erklärung EU-Türkei“).

Zwei pakistanische Staatsangehörige und ein afghanischer Staatsangehöriger hatten sich aus der

Türkei nach Griechenland begeben und dort Asylanträge gestellt. In ihren Anträgen brachten sie

vor, dass sie im Fall der Rückkehr in ihr jeweiliges Herkunftsland aus verschiedenen Gründen der

Gefahr der Verfolgung ausgesetzt seien. Angesichts dessen, dass bei einer Ablehnung ihrer

Asylanträge nach der „Erklärung EU-Türkei“ die Möglichkeit einer Rückführung in die Türkei

besteht, beschlossen sie, beim Gericht der Europäischen Union Klagen zu erheben, mit denen

die Rechtmäßigkeit der „Erklärung EU-Türkei“ in Frage gestellt wird. Ihrer Ansicht nach stellt

diese Erklärung eine internationale Übereinkunft dar, die der Europäische Rat als ein im Namen

der Union handelndes Organ mit der Republik Türkei abgeschlossen habe. Die Übereinkunft

verstoße aber u. a. gegen die Regeln des AEU-Vertrags über den Abschluss internationaler

Übereinkünfte durch die Union. Der Europäische Rat erhob daraufhin eine Einrede gemäß Art.

130 der Verfahrensordnung des Gerichts, mit der er geltend macht, dass das Gericht nicht für

die Entscheidung über die Klagen zuständig sei.

Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass weder der Europäische Rat noch ein anderes

Unionsorgan beschlossen hat, eine Übereinkunft mit der türkischen Regierung zur

Migrationskrise abzuschließen. Da keine Handlung eines Unionsorgans vorliegt, deren

Rechtmäßigkeit das Gericht gemäß Art. 263 AEUV prüfen könnte, erklärt es sich für unzuständig,

über die Klagen der drei Asylbewerber zu entscheiden.

Das Gericht führte aus, selbst wenn bei dem Treffen vom 18. März 2016 informell eine

internationale Übereinkunft geschlossen worden sein sollte – was im vorliegenden Fall vom

Europäischen Rat, vom Rat der Europäischen Union und von der Europäischen Kommission

bestritten wird –, würde es sich dabei um eine von den Staats- und Regierungschefs der

Mitgliedstaaten der Union und dem türkischen Ministerpräsidenten geschlossene Übereinkunft

handeln. Im Rahmen einer Klage nach Art. 263 AEUV ist das Gericht aber nicht befugt, über die

Rechtmäßigkeit einer von den Mitgliedstaaten geschlossenen internationalen Übereinkunft zu

entscheiden.

Link zum vollständigen Urteil

8 Pressemitteilung Nr. 144/16.

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Die nationalen Behörden können einer iranischen Staatsangehörigen, die

Absolventin einer von restriktiven Maßnahmen betroffenen Universität ist, zum

Schutz der öffentlichen Sicherheit ein Visum für ein Studium in einem sensiblen

Bereich wie der IT-Sicherheit verweigern

(Urteil in der Rechtssache C-544/15 Sahar Fahimian / Bundesrepublik Deutschland)

Die iranische Staatsangehörige verfügt über einen Master of science auf dem Gebiet der

Informationstechnologie, der ihr von der Sharif University of Technology (Iran) verliehen wurde.

Diese Universität unterliegt wegen ihres Engagements für die iranische Regierung, insbesondere

im militärischen Bereich, restriktiven Maßnahmen der Europäischen Union. Im Jahr 2012 erhielt

sie vom Center for Advanced Security Research Darmstadt der Technischen Universität

Darmstadt (Deutschland) ein Stipendium für ein Promotionsstudium. Ihr Forschungsvorhaben

betraf die Sicherheit mobiler Systeme, insbesondere Angriffserkennung auf Smartphones bis hin

zu Sicherheitsprotokollen.

Die Klägerin beantragte bei der deutschen Botschaft in Teheran ein Visum zu Studienzwecken,

das ihr aber nicht erteilt wurde. Daraufhin erhob sie Klage beim Verwaltungsgericht Berlin. Die

deutsche Regierung rechtfertigt die ablehnende Entscheidung mit der Befürchtung, dass die

Kenntnisse, die die Klägerin bei ihrer Forschung erwerben könnte, später im Iran missbräuchlich

eingesetzt werden könnten (etwa zur Verschaffung vertraulicher Information in westlichen

Ländern, zur internen Repression oder allgemein im Zusammenhang mit

Menschenrechtsverletzungen). Das Verwaltungsgericht Berlin hat den Gerichtshof vor diesem

Hintergrund ersucht, die Richtlinie 2004/114 über die Bedingungen für die Zulassung von

Drittstaatsangehörigen zur Absolvierung eines Studiums9 auszulegen.

Mit seinem Urteil vom 4. April 2017 antwortete der Gerichtshof, dass die nationalen Behörden

bei der Beurteilung des Sachverhalts über einen weiten Spielraum verfügen. Die Richtlinie

hindert die zuständigen nationalen Behörden auch nicht daran, einem Drittstaatsangehörigen

ein Visum zu verweigern, der a) einen Hochschulabschluss einer Universität besitzt, die (wegen

ihres umfangreichen Engagements gegenüber der iranischen Regierung in militärischen oder

militärisch relevanten Bereichen) restriktiven Maßnahmen der Union unterliegt, und der b) in

dem betreffenden Mitgliedstaat in einem für die öffentliche Sicherheit sensiblen Bereich

forschen möchte, wenn die Behörden aufgrund der ihnen vorliegenden Informationen Anlass zu

der Befürchtung haben, dass die Kenntnisse, die der Betreffende bei seiner Forschung erwerben

könnte, später zu der öffentlichen Sicherheit zuwiderlaufenden Zwecken eingesetzt werden

könnten.

Link zum vollständigen Urteil

9 Richtlinie 2004/114/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 über die Bedingungen für die Zulassung von

Drittstaatsangehörigen zur Absolvierung eines Studiums oder zur Teilnahme an einem Schüleraustausch, einer

unbezahlten Ausbildungsmaßnahme oder einem Freiwilligendienst (ABl. 2004, L 375, S. 12).

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Die Pflicht, Barmittel in Höhe von 10.000 Euro oder mehr anzumelden, besteht

auch in den internationalen Transitzonen der Flughäfen, die im Hoheitsgebiet

eines Mitgliedstaats der EU liegen

(C-17/16 Oussama El-Dakkak und Intercontinental SARL / Administration des douanes et

droits indirects)

Im Jahr 2010 beauftragte eine beninische Gesellschaft den Kläger, auf dem Luftweg

amerikanische Dollar (USD) von Benin nach Beirut zu befördern, mit Transit über den Flughafen

Roissy-Charles-de-Gaulle (Frankreich). Während dieses Transits wurde der Kläger von

Zollbeamten kontrolliert, die feststellten, dass er über eine Mio. USD und 3.900 Euro in bar bei

sich führte. Gegen den Kläger wurde ein Ermittlungsverfahren eröffnet, weil er gegen die

Anmeldepflicht verstoßen habe, der jede natürliche Person, die in die Europäische Union

einreist oder aus ihr ausreist, unterliegt, wenn sie Barmittel in Höhe von 10.000 Euro oder mehr

bei sich führt.10

Der mit dem Rechtsstreit befasste französische Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) wollte

vom Gerichtshof wissen, ob in diesem Fall angenommen werden kann, dass der Kläger in die

Union eingereist ist und dass er somit der in der Verordnung vorgesehenen Anmeldepflicht

unterliegt.

In seinem Urteil vom 4. Mai 2017 wies der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass der Begriff der

Einreise in die Union bedeutet, dass eine natürliche Person sich von einem Ort, der nicht zum

Unionsgebiet gehört, zu einem Ort, der zum Unionsgebiet gehört, fortbewegt. Sodann stellte er

fest, dass die Flughäfen der Mitgliedstaaten zum Hoheitsgebiet der Union gehören. Eine Person

ist in die Union eingereist und unterliegt der Anmeldepflicht, wenn sie, wie der Kläger, in einem

Flughafen auf dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aus einer Maschine mit Herkunft aus

einem Nicht-EU-Staat von Bord geht und in der internationalen Transitzone dieses Flughafens

verweilt, bevor sie an Bord einer anderen Maschine mit Ziel in einem anderen Nicht-EU-Staat

geht.

Link zum vollständigen Urteil

10 Verordnung (EG) Nr. 1889/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2005 über die

Überwachung von Barmitteln, die in die Gemeinschaft oder aus der Gemeinschaft verbracht werden (ABl. 2005, L 309, S.

9).

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Ein Asylbewerber kann sich vor Gericht darauf berufen, dass ein Mitgliedstaat

infolge des Ablaufs der Frist von drei Monaten, binnen deren er einen anderen

Mitgliedstaat um Aufnahme des Asylbewerbers ersuchen kann, für die Prüfung

des Asylantrags zuständig geworden ist

(Urteil in der Rechtssache C-670/16 Tsegezab Mengesteab/Bundesrepublik Deutschland)

Am 14. September 2015 suchte ein eritreischer Staatsangehöriger in München bei einer

Behörde des Freistaats Bayern um Asyl an. Die Behörde stellte ihm am selben Tag eine

Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender aus. Am 22. Juli 2016 wurde der Kläger vom

Bundesamt angehört und konnte einen förmlichen Asylantrag stellen.

Eine Abfrage des Eurodac-Systems ergab jedoch, dass in Italien die Fingerabdrücke des Klägers

genommen worden waren. Im Allgemeinen beweist dies, dass die betreffende Person eine EU-

Außengrenze illegal überschritten hat, was zur Folge haben kann, dass der Mitgliedstaat mit der

fraglichen Außengrenze (hier Italien) für die Prüfung des Asylantrags zuständig ist. Das

Bundesamt ersuchte daher am 19. August 2016 die italienischen Behörden, den Kläger gemäß

der Dublin-III-Verordnung11 aufzunehmen. Die italienischen Behörden beantworteten dieses

Gesuch nicht, was seiner Stattgabe gleichkommt.

Mit Bescheid vom 10. November 2016 lehnte das Bundesamt daher den Asylantrag des Klägers

ab und ordnete seine Überstellung nach Italien an. Der Kläger focht diesen Bescheid vor dem

Verwaltungsgericht Minden (Deutschland) an. Er machte geltend, dass nach der Dublin-III-

Verordnung die Zuständigkeit für die Prüfung seines Asylantrags auf Deutschland übergegangen

sei. Diese Verordnung sieht nämlich vor, dass das Aufnahmegesuch spätestens drei Monate nach

der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz unterbreitet werden muss und dass nach

Ablauf dieser Frist die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags auf den Mitgliedstaat übergeht,

in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde.

Mit seinem Urteil vom 26. Juli 2017 antwortete der Gerichtshof erstens, dass sich eine Person,

die internationalen Schutz beantragt, im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine ihr gegenüber

ergangene Überstellungsentscheidung auf den Ablauf der fraglichen Frist von drei Monaten

berufen kann, wobei dies auch dann gilt, wenn der ersuchte Mitgliedstaat bereit ist, diese Person

aufzunehmen. Zweitens stellte der Gerichtshof fest, dass es nicht möglich ist, ein

Aufnahmegesuch mehr als drei Monate nach Stellung des Antrags auf internationalen Schutz

wirksam zu unterbreiten. Drittens gibt der Gerichtshof folgende materielle Definition des

Antrags auf internationalen Schutz (dessen Stellung die Dreimonatsfrist auslöst): Ein Antrag auf

internationalen Schutz gilt als gestellt, wenn der mit der Durchführung der sich aus der Dublin-

III-Verordnung ergebenden Verpflichtungen betrauten Behörde ein Schriftstück zugegangen ist,

das von einer Behörde erstellt wurde und bescheinigt, dass ein Staatsangehöriger eines Nicht-

EU-Landes um internationalen Schutz ersucht hat, oder, gegebenenfalls, wenn ihr nur die

11

Gemäß Dublin III Verordnung; Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.

Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von

einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz

zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31).

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20

wichtigsten in einem solchen Schriftstück enthaltenen Informationen (und nicht das Schriftstück

selbst oder eine Kopie davon) zugegangen sind.

Link zum vollständigen Urteil

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Der Beschluss des Rates der EU zur Umsiedlung von Asylbewerbern war

rechtmäßig

(Urteil in den verbundenen Rechtssachen C-643/15 und C-647/15

Slowakei und Ungarn/Rat)

Als Reaktion auf die Flüchtlingskrise, die im Laufe des Sommers 2015 über Europa hereinbrach,

erließ der Rat der Europäischen Union am 22. September 2015 einen Beschluss12, um Italien und

Griechenland bei der Bewältigung des massiven Zustroms von Migranten zu unterstützen. Der

Beschluss sieht vor, dass 120.000 Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutzes

bedürfen, über einen Zeitraum von zwei Jahren aus diesen beiden Mitgliedstaaten in die

anderen EU-Mitgliedstaaten umgesiedelt werden.

Der angefochtene Beschluss erging auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV: „Befinden sich

ein oder mehrere Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von

Drittstaatsangehörigen in einer Notlage, so kann der Rat auf Vorschlag der Kommission

vorläufige Maßnahmen zugunsten der betreffenden Mitgliedstaaten erlassen. Er beschließt

nach Anhörung des Europäischen Parlaments.“

Die Slowakei und Ungarn beantragten beim Gerichtshof, den Beschluss für nichtig zu erklären.

Ihrer Ansicht nach leidet die Maßnahme an einem verfahrensrechtlichen Fehler. Zudem sei sie

weder geeignet, die Flüchtlingskrise zu bewältigen, noch zu diesem Zweck erforderlich gewesen.

Mit dem am 6. September ergangenen Urteil weist der Gerichtshof die Klagen der Slowakei und

Ungarns gegen die vorläufige obligatorische Regelung zur Umsiedlung von Asylbewerbern in

vollem Umfang ab. Der Gerichtshof stellt klar, dass Art. 78 Abs. 3 AEUV nicht das ordentliche

Gesetzgebungsverfahren auslöst, weil dieses nur im Falle eines ausdrücklichen Verweises darauf

anzuwenden wäre. Im vorliegenden Fall („nach Anhörung des Europäischen Parlaments“) sei

diese Voraussetzung nicht gegeben. Der Beschluss durfte deshalb außerhalb des

Gesetzgebungsverfahrens erlassen werden.

Der Gerichtshof stellt fest, dass Art. 78 Abs. 3 AEUV den Unionsorganen die Möglichkeit eröffnet,

sämtliche vorläufige Maßnahmen zu ergreifen, die notwendig sind, um wirksam und rasch auf

eine durch den plötzlichen Zustrom von Vertriebenen geprägte Notlage zu reagieren. Diese

Maßnahmen dürfen auch von Gesetzgebungsakten abweichen, sofern sie hinsichtlich ihres

sachlichen und zeitlichen Geltungsbereichs begrenzt sind und weder bezwecken noch bewirken,

dass solche Rechtsakte dauerhaft ersetzt oder geändert werden. Diese Voraussetzungen seien

im vorliegenden Fall erfüllt, da der zeitliche Geltungsbereich genau abgesteckt wurde (gültig

vom 25. September 2015 bis zum 26. September 2017).

Außerdem ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die angefochtene Umsiedlungsregelung

keine Maßnahme darstellt, die offensichtlich ungeeignet wäre, zur Erreichung des Ziels dieses

Beschlusses – die Unterstützung Griechenlands und Italiens bei der Bewältigung der Folgen der

12 Beschluss (EU) 2015/1601 des Rates vom 22. September 2015 zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen

im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Italien und Griechenland (ABl. 2015, L 248, S. 80).

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Flüchtlingskrise - beizutragen. Die Gültigkeit des Beschlusses kann nicht auf der Grundlage einer

rückschauenden Beurteilung seines Wirkungsgrads in Frage gestellt werden.

Link zum vollständigen Urteil

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Eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, kann sich vor einem

Gericht auf den Ablauf der für ihre Abschiebung in einen anderen Mitgliedstaat

vorgesehenen Frist berufen

(Urteil in der Rechtssache C-201/16 Majid Shiri / Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl)

Ein iranischer Staatsangehöriger wehrte sich gegen die Zurückweisung seines Antrags auf

internationalen Schutz in Österreich und seine Abschiebung nach Bulgarien vor den

österreichischen Gerichten. Bulgarien hatte zuvor seiner Wiederaufnahme zugestimmt, weil er

dort in die Europäische Union eingereist war und auch einen solchen Antrag gestellt hatte. Der

iranische Staatsbürger machte geltend, dass Österreich nach der Dublin III-Verordnung13 für die

Prüfung seines Antrags zuständig geworden sei, da er nicht innerhalb einer Frist von sechs

Monaten ab der Annahme des Wiederaufnahmeersuchens durch die bulgarischen Behörden

nach Bulgarien überstellt worden sei.

Der österreichische Verwaltungsgerichtshof möchte vom Gerichtshof wissen, ob der bloße

Ablauf der fraglichen sechsmonatigen Frist nach der Dublin III-Verordnung zu einem solchen

Zuständigkeitsübergang zwischen den Mitgliedstaaten führt. Bejahendenfalls möchte er auch

wissen, ob sich eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, vor einem Gericht auf

einen solchen Zuständigkeitsübergang berufen kann.

Mit seinem Urteil vom 25. Oktober 2017 antwortet der Gerichtshof, dass die Zuständigkeit von

Rechts wegen auf den aufnahmeersuchenden Mitgliedstaat (im vorliegenden Fall Österreich)

übergeht, sofern die Überstellung nicht innerhalb der sechsmonatigen Frist durchgeführt wird.

Der Zuständigkeitsübergang hänge nicht von irgendeiner Reaktion des zuständigen

Mitgliedstaats ab.

Diese Auffassung ergibt sich nicht nur aus dem Wortlaut der Dublin III-Verordnung, sondern ist

auch mit dem Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz im Einklang.

Dadurch wird bei einer verzögerten Durchführung des Aufnahme-oder

Wiederaufnahmeverfahrens gewährleistet, dass der Antrag auf internationalen Schutz in dem

Mitgliedstaat geprüft wird, in dem sich der Antragsteller aufhält. So soll die Prüfung nicht weiter

aufgeschoben werden.

Im Übrigen erkennt der Gerichtshof, dass sich eine Person, die internationalen Schutz beantragt

hat, auf den Ablauf der sechsmonatigen Frist berufen kann.

Link zum vollständigen Urteil

13 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der

Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen

oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S.

31).

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24

Rechtsangleichung

Die Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr steht

einer nationalen Relung, die die sofortige Zahlung der fälligen Hauptschuld den

Verzicht des Verzugzinsen und der Entschädigung für Beitreibungskosten

unterstellt, nicht entgegen

(Urteil in der Rechtssache C-555/14 IOS Finance EFC SA/Servicio Murciano de Salud)

Der spanische Gesetzgeber hat ein „außerordentliches Finanzierungsprogramm für die Zahlung

an Lieferanten“ mit begrenzter Laufzeit eingeführt, um den durch die Wirtschaftskrise bedingten

Zahlungsverzögerungen zu begegnen, die sich bei den Autonomen Gemeinschaften und den

lokalen Gebietskörperschaften gegenüber ihren Lieferanten angehäuft hatten. Dieses

Programm funktioniert so, dass an ihm teilnehmende Lieferanten im Gegenzug für die sofortige

Begleichung der Hauptforderung auf die infolge der Nichteinhaltung der Zahlungsfristen durch

die betroffenen Behörden entstandenen Nebenforderungen, insbesondere auf die Zahlung von

Verzugszinsen und die Entschädigung für Beitreibungskosten, verzichten.

Eine Reihe von Unternehmen versorgte verschiedene dem Gesundheitsdienst der Autonomen

Gemeinschaft Murcia angegliederte medizinische Einrichtungen mit Waren und

Dienstleistungen, die der Gesundheitsdienst jedoch nicht bezahlte. Die Unternehmen traten

dann einige der betreffenden Forderungen an eine Gesellschaft ab, die vom Gesundheitsdienst

Zahlung sowohl der Hauptforderungen als auch der Verzugszinsen und einer Entschädigung für

die aufgewendeten Beitreibungskosten verlangte. Da diese Gesellschaft nur die Zahlung ihrer

Hauptforderungen erreichen konnte, erhob sie Klage beim vorlegenden Gericht auf Verurteilung

des Gesundheitsdienstes zur Zahlung der Verzugszinsen und der Entschädigung für die

Beitreibungskosten.

Mit seiner Frage, wollte das Verwaltungsgericht Nr. 6 von Murcia wissen, ob Artikel 7 der

Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr14, dahin auszulegen ist, dass

er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht,

die es Gläubigern erlaubt, auf die Geltendmachung ihres Anspruchs auf Verzugszinsen und auf

Entschädigung für Beitreibungskosten im Gegenzug für die sofortige Zahlung der fälligen

Hauptschuld zu verzichten.

In seinem Urteil vom 16. Februar 2017, antwortet der Gerichtshof, dass Art. 7 Abs. 2 und 3 der

Richtlinie 2011/7 darauf abzielt, zu verhindern, dass Gläubiger auf Verzugszinsen und

Entschädigung für Beitreibungskosten bereits zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses verzichten,

in dem Moment also, in dem sie ihre Vertragsfreiheit ausüben und in dem die Gefahr eines

Missbrauchs dieser Freiheit durch den Schuldner zum Nachteil der Gläubiger besteht.

Wenn hingegen, wie im Ausgangsverfahren, die Voraussetzungen nach der Richtlinie 2011/7

vorliegen und ein Anspruch sowohl auf Verzugszinsen als auch auf Entschädigung für

Beitreibungskosten besteht, muss es dem Gläubiger aufgrund seiner Vertragsfreiheit freistehen,

14 Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von

Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr

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auf die Zahlung dieser Zinsen und dieser Entschädigung zu verzichten, insbesondere im

Gegenzug für die sofortige Zahlung der Hauptschuld.

Der Gerichtshof antwortete auf die vorgelegteFrage, dass die Richtlinie 2011/7, insbesondere

ihr Art. 7 Abs. 2 und 3, dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung wie der im

Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die es Gläubigern erlaubt, auf die Geltendmachung ihres

Anspruchs auf Verzugszinsen und auf Entschädigung für Beitreibungskosten im Gegenzug für die

sofortige Zahlung der fälligen Hauptschuld zu verzichten, nicht entgegensteht, unter der

Bedingung, dass dieser Verzicht freiwillig erklärt wurde, was zu prüfen Sache des nationalen

Gerichts ist.

Link zum vollständigen Urteil

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Die Kosten eines Anrufs unter einer Kundendiensttelefonnummer dürfen nicht

höher sein als die Kosten eines gewöhnlichen Anrufs

(Urteil in der Rechtssache C-568/15 Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs

Frankfurt am Main e. V. / comtech GmbH)

Ein deutsches Unternehmen wies auf seiner Website auf einen telefonischen Kundendienst hin,

dessen Telefonnummer eine sogenannte 0180 - Nummer ist, wie sie in Deutschland allgemein

für Service-Dienste verwendet wird und für die ein deutschlandweiter Tarif gilt. Die Kosten für

einen Anruf unter dieser (geografisch nicht gebundenen) Sondernummer sind höher als die

Kosten eines gewöhnlichen Anrufs unter einer (geografischen) Festnetz- oder einer

Mobilfunknummer.

Die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs Frankfurt am Main hat das Unternehmen

vor dem Landgericht Stuttgart auf Unterlassung dieser – ihrer Ansicht nach unlauteren –

Geschäftspraxis verklagt. In diesem Zusammenhang hat das Landgericht den Gerichtshof

ersucht, vorab die Richtlinie über die Rechte der Verbraucher15 auszulegen. Nach dieser

Richtlinie haben die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen, dass die Verbraucher nicht verpflichtet

sind, für Anrufe über eine Telefonleitung, die der Unternehmer eingerichtet hat, um im

Zusammenhang mit mit Verbrauchern geschlossenen Verträgen kontaktiert zu werden, mehr als

den Grundtarif zu zahlen. Der Begriff „Grundtarif“ wird in der Richtlinie jedoch nicht definiert.

Mit seinem Urteil vom 2. März 2017 antwortete der Gerichtshof, dass der Begriff „Grundtarif“

dahin auszulegen ist, dass die Kosten eines auf einen geschlossenen Vertrag bezogenen Anrufs

unter einer von einem Unternehmer eingerichteten Service-Rufnummer die Kosten eines Anrufs

unter einer gewöhnlichen geografischen Festnetznummer oder einer Mobilfunknummer nicht

übersteigen dürfen.

Nach Ansicht des Gerichtshofs entspricht der „Grundtarif“ im gewöhnlichen Sprachgebrauch

den Kosten für einen gewöhnlichen Anruf. Sowohl der Zusammenhang, in dem dieser Begriff in

der Richtlinie verwendet wird, als auch der Zweck der Richtlinie, der darin besteht, ein hohes

Verbraucherschutzniveau zu gewährleisten, bestätigen, dass der Begriff in diesem üblichen Sinn

zu verstehen ist.

Der Gerichtshof stellte im Übrigen klar, dass es, soweit die Grenze der Kosten eines

gewöhnlichen Anrufs beachtet wird, unerheblich ist, ob der betreffende Unternehmer mit der

Service-Rufnummer Gewinne erzielt.

Link zum vollständigen Urteil

15Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über die Rechte der

Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen

Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des

Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2011, L 304, S. 64).

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Nach Ansicht des Gerichtshofs gibt es kein Recht auf Vergessenwerden für die

im Gesellschaftsregister eingetragenen personenbezogenen Daten

(Urteil in der Rechtssache C-398/15 Camera di Commercio, Industria, Artigianato e Agricoltura

di Lecce / Salvatore Manni)

In Italien erhob der Geschäftsführer einer Baufirma Klage gegen die Handelskammer Lecce und

trug vor, dass er geschädigt worden war, da sich aus dem Unternehmensregister ergebe, dass

er alleiniger Geschäftsführer und Liquidator der Baufirma gewesen sei, die 1992 für insolvent

erklärt und nach einem Liquidationsverfahren am 7. Juli 2005 im Unternehmensregister gelöscht

worden sei. Der Kläger beantragte daher zum einen, der Handelskammer Lecce aufzugeben, die

Daten, die ihn mit der Insolvenz in Verbindung brächten, zu löschen, zu anonymisieren oder zu

sperren, und zum anderen, die Handelskammer Lecce zum Ersatz des Schadens zu verurteilen,

den er wegen der Rufschädigung erlitten habe.

Die Kassationsgerichtshof (Italien) hat den Gerichtshof gefragt, ob es die Richtlinie zum Schutz

der Daten natürlicher Personen16 und die Richtlinie über die Offenlegung von

Gesellschaftsurkunden17 verbieten, dass jede Person ohne zeitliche Beschränkung Zugang zu

natürliche Personen betreffenden Daten im Gesellschaftsregister haben kann.

Im seinen Urteil von 9. März 2017 wies der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass die

Offenlegung von Gesellschaftsregistern die Rechtssicherheit in den Beziehungen zwischen den

Gesellschaften und Dritten sicherstellen soll und u. a. dazu dient, die Interessen Dritter

gegenüber Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung zu schützen, da

diese zum Schutz Dritter lediglich ihr Gesellschaftsvermögen zur Verfügung stellen. Außerdem

können sich auch noch mehrere Jahre nach Auflösung einer Gesellschaft Fragen ergeben, die

einen Rückgriff auf im Gesellschaftsregister eingetragene personenbezogene Daten erfordern.

Nach der Meinung des Gerichtshofs können die Mitgliedstaaten natürlichen Personen, deren

Daten im Gesellschaftsregister eingetragen sind, nicht das Recht garantieren, nach einer

bestimmten Frist nach Auflösung der Gesellschaft die Löschung der sie betreffenden

personenbezogenen Daten verlangen zu können. Nach Ansicht des Gerichtshofs ist dieser

Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Personen nicht unverhältnismäßig, da erstens nur

eine begrenzte Zahl an personenbezogenen Daten im Gesellschaftsregister eingetragen werden

und es zweitens gerechtfertigt ist, dass die natürlichen Personen, die sich dafür entscheiden,

über eine Aktiengesellschaft oder eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung am

Wirtschaftsleben teilzunehmen, und die zum Schutz Dritter lediglich das Vermögen dieser

Gesellschaft zur Verfügung stellen, verpflichtet sind, die Daten zu ihren Personalien und

Aufgaben innerhalb der Gesellschaft offenzulegen.

16 Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher

Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. 1995, L 281, S. 31). 17 Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates vom 9. März 1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den

Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie

Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (ABl. 1968, L 65, S. 8) in der durch die

Richtlinie 2003/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Juli 2003 (ABl. 2003, L 221, S. 13)

geänderten Fassung.

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Der Gerichtshof schloss jedoch nicht aus, dass in besonderen Situationen überwiegende,

schutzwürdige, sich aus dem konkreten Fall der Person ergebende Gründe ausnahmsweise

rechtfertigen können, den Zugang zu den sie betreffenden personenbezogenen Daten nach

Ablauf einer hinreichend langen Frist nach der Auflösung der Gesellschaft auf Dritte zu

beschränken, die ein besonderes Interesse an der Einsichtnahme in die Daten nachweisen. Es ist

Sache jedes Mitgliedstaats, zu entscheiden, ob er eine solche Zugangsbeschränkung innerhalb

ihrer Rechtsordnung erwünscht ist.

Link zum vollständigen Urteil

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29

SERV

Die Mitgliedstaaten können den Notaren die Vornahme von Beglaubigungen der

Echtheit von Unterschriften auf Urkunden, die für die Schaffung oder

Übertragung von Rechten an Liegenschaften erforderlich sind, vorbehalten

(Urteil in der Rechtssache C-342/15, Leopoldine Gertraud Piringer)

Die Klägerin ist Eigentümerin eines Hälfteanteils an einer österreichischen Liegenschaft. Sie

unterfertigte in der Tschechischen Republik ein Gesuch um Eintragung der beabsichtigten

Veräußerung ihres Anteils an der fraglichen Liegenschaft in das österreichische Grundbuch. Die

Echtheit ihrer Unterschrift auf diesem Gesuch wurde von einem tschechischen Rechtsanwalt

beglaubigt. Dies steht im Einklang mit dem tschechischen Recht, das Rechtsanwälten die

Vornahme solcher Beglaubigungen gestattet.

Die Klägerin beantragte beim Bezirksgericht Freistadt die Bewilligung dieser Eintragung. Das

Bezirksgericht wies ihren Antrag ab, weil ihre Unterschrift entgegen dem österreichischen Recht

nicht gerichtlich oder notariell beglaubigt worden sei.

Der mit dem Revisionsrekurs von der Klägerin befasste Oberste Gerichtshof möchte vom

Gerichtshof nun wissen, ob der den freien Dienstleistungsverkehr betreffende Art. 56 AEUV es

einem Mitgliedstaat gestattet, den Notaren die Vornahme von Beglaubigungen der Echtheit von

Unterschriften auf Urkunden, die für die Schaffung oder Übertragung von Rechten an

Liegenschaften erforderlich sind, vorzubehalten.

In seinem am 9. März 2017 ergangenen Urteil stellte der Gerichtshof fest, dass die in Rede

stehende österreichische Regelung eine Beschränkung des durch Art. 56 AEUV garantierten

freien Dienstleistungsverkehrs darstellt. Zur Frage, ob diese Beschränkung gerechtfertigt

werden kann, stellte der Gerichtshof fest, dass dem Grundbuch vor allem in den Mitgliedstaaten,

die das lateinische Notariat kennen, u. a. im Rahmen von Grundstückstransaktionen

entscheidende Bedeutung zukommt. Insbesondere hat jede Grundbuchseintragung konstitutive

Wirkung, so dass das Recht der Person, die diese Eintragung beantragt hat, erst mit ihr entsteht.

Die Führung des Grundbuchs stellt somit insofern einen wesentlichen Bestandteil der

vorsorgenden Rechtspflege dar. Unter diesen Umständen tragen nationale Bestimmungen, die

vorschreiben, dass die Richtigkeit von Grundbuchseintragungen durch vereidigte

Berufsangehörige wie Notare überprüft werden muss, zur Gewährleistung der Rechtssicherheit

von Grundstückstransaktionen und zur Funktionsfähigkeit des Grundbuchs bei und stehen

allgemein mit dem Schutz der ordnungsgemäßen Rechtspflege im Zusammenhang. Letzteres

stellt einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses dar, der eine Beschränkung des

Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigt. Die Beschränkung ist auch

verhältnismäßig, da das Tätigwerden des Notars in Österreich für die Eintragung im Grundbuch

wichtig und notwendig ist.

Der Gerichtshof entschied, dass der Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs einer

Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende österreichische

Regelung nicht entgegensteht. Link zum vollständigen Urteil

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Sozialpolitik

Die Rechte der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen können bei

Vereinbarung eines „Pre-packs“ infolge eines Konkurses anwendbar sein

(Urteil in der Rechtssache C-126/16 Federatie Nederlandse Vakvereniging u. a. / Smallsteps

BV)

Am 5. Juli 2014 wurde der Konkurs über das Vermögen über das größte Unternehmen für

Kinderbetreuung in den Niederlanden eröffnet. Infolgedessen kam es zu einem

Betriebsübergang bei dem zwischen dem Verwalter des Unternehmens und dem Erwerber eine

„Pre-pack“-Vereinbarung das unterzeichnet wurde. Ein „Pre-pack“ soll die Modalitäten zur

Übertragung eines Unternehmens im Detail vorbereiten, um einen schnellen Neustart

bestandsfähiger Unternehmenseinheiten nach der Konkurseröffnung zu ermöglichen, in dem

Bestreben, so zu verhindern, dass die Geschäftstätigkeit dieses Unternehmens zum Zeitpunkt

der Konkurseröffnung abrupt beendet würde, damit der Unternehmenswert und die

Arbeitsplätze erhalten werden.

Am 7. Juli 2014 entließ der Verwalter alle Arbeitnehmer des in Konkurs geratenen

Unternehmens. Rund 2 600 Arbeitnehmern wurde vom Erwerber ein neuer Arbeitsvertrag

angeboten, während mehr als 1 000 entlassen wurden.

Eine niederländische Gewerkschaftsvereinigung, sowie vier Arbeitnehmerinnen, die beim

Unternehmen tätig waren, denen jedoch nach der Eröffnung des Konkurses über das Vermögen

des Unternehmens keine neuen Arbeitsverträge angeboten wurden, erhoben Klage bei der

Rechtbank Midden-Nederland (Gericht der zentralen Niederlande). Ihrer Ansicht nach ist eine

Richtlinie der Union18, die auf den Schutz der Arbeitnehmer abzielt, insbesondere dadurch, dass

sie die Wahrung ihrer Ansprüche bei einem Unternehmensübergang gewährleistet, auf das

zwischen dem in Konkurs geratenen Unternehmen und dem Erwerber vereinbarte Pre-pack

anzuwenden. Somit müsse davon ausgegangen werden, dass die vier Arbeitnehmerinnen nun

von Rechts wegen zu unveränderten Arbeitsbedingungen für den Erwerber arbeiteten.

In seinem Urteil von 22. Juni 2017 stellte der Gerichtshof zunächst fest, dass das Pre-pack zwar

vor dem Konkursantrag vorbereitet, aber danach vollzogen wird. Nach Ansicht des Gerichtshofs

kann ein solcher Vorgang, der tatsächlich einen Konkurs impliziert, unter den Begriff

„Konkursverfahren“ im Sinne der Richtlinie19 fallen.

Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass ein Pre-pack, wie das in Rede stehende, nicht alle

in der Richtlinie aufgestellten Voraussetzungen erfüllt und dass daher von der in ihr

vorgesehenen Schutzregelung nicht abgewichen werden kann.

18 Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über

die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder

Betriebsteilen (ABl. 2001, L 82, S. 16).

19 Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie.

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Eine Regelung, die als Kriterium für die Zulassung zu einer Polizeischule

unabhängig vom Geschlecht eine Mindestkörpergröße vorsieht, kann eine

unerlaubte Diskriminierung von Frauen darstellen

(Urteil in der Rechtssache C-409/16 Maria-Eleni Kalliri / Ypourgos Esoterikon und Ypourgos

Ethnikis Paideias kai Thriskevmaton)

Mit Entscheidung des Leiters der griechischen Polizei wurde ein Auswahlverfahren für die

Zulassung zur griechischen Polizeischule für das akademische Jahr 2007/2008 bekannt gegeben.

In dieser Bekanntmachung wurde eine Bestimmung des griechischen Rechts übernommen,

wonach alle Bewerber unabhängig von ihrem Geschlecht mindestens 1,70m groß sein müssen.

Einer griechischen Staatsangehörigen wurde die Teilnahme an dem Auswahlverfahren für den

Zugang zur Polizeischule verweigert, weil sie die vorgeschriebene Größe nicht erreichte.

Die Bewerberin war der Ansicht, dass sie aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert worden sei,

und erhob gegen diese Entscheidung Klage beim Dioikitiko Efeteio Athinon

(Verwaltungsberufungsgericht Athen). Dieses hob die Entscheidung auf und stellte fest, dass das

griechische Gesetz den in der griechischen Verfassung verankerten Grundsatz der Gleichheit

zwischen Männern und Frauen verletze.

Der Innenminister und der Minister für nationales Erziehungswesen und

Religionsangelegenheiten legten gegen diese Entscheidung Berufung beim Symvoulio tis

Epikrateias (Staatsrat) ein. Dieser fragt den Gerichtshof, ob das Unionsrecht20 einer nationalen

Regelung entgegensteht, die für alle Bewerber, männlichen oder weiblichen Geschlechts, für

das Auswahlverfahren für die Zulassung zur Polizeischule eine einheitliche Mindestkörpergröße

festsetzt.

In seinem Urteil vom 18. Oktober 2017 stellt der Gerichtshof fest, dass die Festsetzung einer

einheitlichen Mindestkörpergröße für alle Bewerber zu einer mittelbaren Diskriminierung führt,

da sie eine sehr viel höhere Zahl von Personen weiblichen Geschlechts als männlichen

Geschlechts benachteiligt. Eine solche Festsetzung kann sachlich gerechtfertigt sein, wenn ein

rechtmäßiges Ziel verfolgt wird – z.B. das Bemühen, die Einsatzbereitschaft und das

ordnungsgemäße Funktionieren der Polizei zu gewährleisten. Zudem müssen die Mittel zur

Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sein. Es sei Sache des nationalen Gerichts,

diese Voraussetzungen einer sachlichen Rechtfertigung zu überprüfen.

Der Gerichtshof merkt an, dass bestimmte Tätigkeiten der Polizei die Anwendung körperlicher

Gewalt erfordern und besondere körperliche Fähigkeiten notwendig machen. Aufgaben wie der

20 Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von

Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie

in Bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl. 1976, L 39, S. 40) in der durch die Richtlinie 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 (ABl. 2003, L 269, S. 15) geänderten Fassung (im Folgenden:

Richtlinie 76/207). Vgl. außerdem die Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006

zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits-

und Beschäftigungsfragen (ABl. 2006, L 204, S. 23) und die Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000

zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl.

2000, L 303, S. 16).

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Beistand für den Bürger und der Verkehrsdienst würden jedoch offenkundig keinen hohen

körperlichen Einsatz erfordern.

Auch wenn im Übrigen angenommen werden sollte, dass alle von der griechischen Polizei

ausgeübten Aufgaben eine besondere körperliche Eignung erfordern, ist eine solche Eignung

nicht zwangsläufig mit dem Besitz einer Mindestkörpergröße verbunden. Das Ziel, die wirksame

Erfüllung der Aufgabe der griechischen Polizei zu gewährleisten, könnte jedenfalls mit

Maßnahmen erreicht werden, die für Frauen weniger nachteilig sind, wie die Vorauswahl der

Bewerber zur Überprüfung ihrer körperlichen Fähigkeiten.

Link zum vollständigen Urteil

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Die wöchentliche Ruhezeit für Arbeitnehmer muss nicht notwendigerweise an

dem auf sechs aufeinanderfolgende Arbeitstage folgenden Tag gewährt werden

(Urteil in der Rechtssache C-306/16 Maio Marques da Rosa / Varzim Sol – Turismo, Jogo e

Animação, SA)

Nach der Arbeitszeitrichtlinie21 hat jeder Arbeitnehmer pro Siebentageszeitraum Anspruch auf

eine kontinuierliche Mindestruhezeit von 24 Stunden zuzüglich der täglichen Ruhezeit von elf

Stunden.

In Portugal war ein Bürger bei der Gesellschaft Varzim Sol – Turismo, Jogo e Animação (Varzim

Sol) beschäftigt und arbeitete manchmal an sieben aufeinanderfolgenden Tagen. Nach der

Beendigung seines Arbeitsvertrags erhob er Klage gegen seine frühere Arbeitgeberin, um im

Wesentlichen feststellen zu lassen, dass sie ihm die Pflichtruhetage, auf die er nach seiner

Auffassung Anspruch hatte, nicht gewährt habe.

Das Tribunal da Relação do Porto (Berufungsgericht Porto) möchte vom Gerichtshof wissen, ob

die kontinuierliche Mindestruhezeit von 24 Stunden, auf die ein Arbeitnehmer Anspruch hat,

spätestens an dem Tag gewährt werden muss, der auf einen Zeitraum von sechs

aufeinanderfolgenden Arbeitstagen folgt.

Der Gerichtshof stellt fest, dass die Wendung „pro Siebentageszeitraum“ ein autonomer Begriff

des Unionsrechts ist, der einheitlich ausgelegt werden muss. Im Zuge der Analyse des Wortlauts

der Richtlinie führt er aus, dass sich aus dem Text der Richtlinie selbst ergibt, dass die

Mitgliedstaaten verpflichtet sind, zu gewährleisten, dass jedem Arbeitnehmer während eines

Siebentageszeitraums eine kontinuierliche Mindestruhezeit von 24 Stunden (zuzüglich der

täglichen Ruhezeit von elf Stunden) zur Verfügung steht.Die Richtlinie lege allerdings nicht fest,

zu welchem Zeitpunkt diese Mindestruhezeit zu gewähren ist.

In seinem Urteil vom 9. November 2017 erklärt der Gerichtshof, dass das Unionsrecht nicht

verlangt, dass die wöchentliche Mindestruhezeit spätestens an dem Tag gewährt wird, der auf

einen Zeitraum von sechs aufeinanderfolgenden Arbeitstagen folgt, sondern nur, dass sie

innerhalb jedes Siebentageszeitraums gewährt wird.

Schließlich betont der Gerichtshof, dass die Richtlinie nur Mindestnormen für den Schutz des

Arbeitnehmers im Rahmen der Arbeitszeitgestaltung aufstellt. Den Mitgliedstaaten stehe es frei,

für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigere Rechts- und

Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen.

Link zum vollständigen Urteil

21 Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte

der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9). Diese Richtlinie kodifiziert mit Wirkung ab dem 2. August 2004 die

Bestimmungen der Richtlinie 93/104/EG des Rates vom 23. November 1993 über bestimmte Aspekte der

Arbeitszeitgestaltung (ABl. 1993, L 307, S. 18) in der durch die Richtlinie 2000/34/EG des Europäischen Parlaments und

des Rates vom 22. Juni 2000 (ABl. 2000, L 195, S. 41) geänderten Fassung.

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Staatliche Beihilfen

Die Steuerbefreiungen, in deren Genuss die katholische Kirche in Spanien

kommt, können verbotene staatliche Beihilfen darstellen, wenn und soweit sie

für wirtschaftliche Tätigkeiten gewährt werden

(Urteil in der Rechtssache C-74/16 Congregación de Escuelas Pías Provincia Betania /

Ayuntamiento de Getafe)

Ein vor dem Beitritt Spaniens zu den Europäischen Gemeinschaften geschlossenes Abkommen

zwischen Spanien und dem Heiligen Stuhl sieht verschiedene Steuerbefreiungen zugunsten der

katholischen Kirche vor. In der vorliegenden Rechtssache beruft sich eine religiöse Kongregation

der katholischen Kirche in ihrer Eigenschaft als Trägerin einer kirchlichen Schule in der Nähe von

Madrid auf dieses Abkommen, um die Erstattung einer Gemeindesteuer auf Bauwerke,

Einrichtungen und Baumaßnahmen zu erwirken, die sie auf Baumaßnahmen an einem

Schulgebäude, in dem die Aula der Schule untergebracht ist, entrichtet hat. Die fraglichen

Räumlichkeiten werden für staatlich reglementierten Primar- und Sekundarunterricht genutzt,

der dem Unterricht an öffentlichen Schulen gleichsteht und vollständig aus dem öffentlichen

Haushalt finanziert wird. Sie werden auch für freien Vorschulunterricht, außerschulischen

Unterricht und Unterricht im Anschluss an die Schulpflicht genutzt, der nicht aus dem

öffentlichen Haushalt subventioniert wird und für den Einschreibegebühren erhoben werden.

Der Erstattungsantrag wurde von der Steuerbehörde abgelehnt. Die Steuerbefreiung finde keine

Anwendung, da sie für eine Tätigkeit der katholischen Kirche begehrt werde, mit der kein strikt

religiöser Zweck verfolgt werde. Das mit der Klage der religiösen Kongregation befasste

Verwaltungsgericht von Madrid fragt den Gerichtshof, ob die streitige Steuerbefreiung, hier

angewandt auf ein Schulgebäude, als eine durch das Unionsrecht verbotene staatliche Beihilfe

zu betrachten sei. In der Rechtssache wird damit zugleich die grundsätzliche Frage aufgeworfen,

ob eine verbotene staatliche Beihilfe vorliegen kann, wenn ein Mitgliedstaat eine

Religionsgemeinschaft von bestimmten Steuern befreit, und zwar auch für Tätigkeiten, die

keinen strikt religiösen Zweck haben.

In seinem Urteil vom 27. Juni 2017 hat der Gerichtshof festgestellt, dass eine Steuerbefreiung

eine verbotene staatliche Beihilfe darstellen kann, wenn und soweit die in den fraglichen

Räumlichkeiten ausgeübten Tätigkeiten wirtschaftlicher Art sind, was das vorlegende Gericht zu

prüfen hat. Hierzu hat der Gerichtshof ausgeführt, dass nur die nicht vom spanischen Staat

subventionierten Unterrichtstätigkeiten wirtschaftlichen Charakter haben dürften, da sie im

Wesentlichen mittels privater finanzieller Beteiligungen an den Schulgebühren finanziert

werden.

Der Gerichtshof hat dazu ausgeführt, dass die Befreiung von der fraglichen Gemeindesteuer

zumindest zwei der vier Voraussetzungen für die Einstufung als verbotene staatliche Beihilfe zu

erfüllen scheint, da sie 1. der die Schule betreibenden Kongregation einen selektiven

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wirtschaftlichen Vorteil verschaffen würde und 2. zu einer Verringerung der Einnahmen der

Gemeinde und damit zum Einsatz staatlicher Mittel führt.

Link zum vollständigen Urteil.

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Steuerrecht

Der Grundsatz der Gleichbehandlung steht dem Ausschluss auf elektronischem

Weg gelieferter digitaler Bücher, Zeitungen und Zeitschriften von der

Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes nicht entgegen

(Urteil in der Rechtssache C-390/15 Rzecznik Praw Obywatelskich (RPO))

Nach der Mehrwertsteuerrichtlinie22 können die Mitgliedstaaten auf gedruckte Publikationen

wie Bücher, Zeitungen und Zeitschriften einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anwenden. Für

digitale Publikationen gilt hingegen der normale Steuersatz, mit Ausnahme digitaler Bücher, die

auf einem physischen Träger wie etwa einer CD-ROM geliefert werden.23 Das vom polnischen

Bürgerbeauftragten angerufene polnische Verfassungsgericht zweifelt an der Gültigkeit dieser

unterschiedlichen Besteuerung. Es wollte vom Gerichtshof wissen, ob diese Besteuerung mit

dem Grundsatz der Gleichbehandlung vereinbar ist.

In seinem Urteil vom 9. März 2017 stellte der Gerichtshof fest, dass durch die Regelung in der

Mehrwertsteuerrichtlinie, soweit mit ihr die Anwendung eines ermäßigten

Mehrwertsteuersatzes auf die Lieferung digitaler Bücher auf elektronischem Weg

ausgeschlossen wird, während sie bei der Lieferung digitaler Bücher auf jeglichen physischen

Trägern zulässig ist, zwei Sachverhalte ungleich behandelt werden, die in Anbetracht des vom

Unionsgesetzgeber mit der Gestattung der Anwendung eines ermäßigten

Mehrwertsteuersatzes bei bestimmten Arten von Büchern verfolgten Zwecks, und zwar dem der

Förderung des Lesens, vergleichbar sind.

Sodann prüfte der Gerichtshof, ob die Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist. Dies ist der Fall,

wenn sie im Zusammenhang mit einem rechtlich zulässigen Ziel steht, das mit der Maßnahme,

die zu einer solchen unterschiedlichen Behandlung führt, verfolgt wird, und wenn die

unterschiedliche Behandlung in angemessenem Verhältnis zu diesem Ziel steht.

In diesem Kontext wies der Gerichtshof darauf hin, dass der Ausschluss der Anwendung eines

ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf die Lieferung digitaler Bücher auf elektronischem Weg

die Konsequenz der für den elektronischen Handel geltenden Mehrwertsteuer-Sonderregelung

ist. In Anbetracht der fortwährenden Weiterentwicklungen, denen elektronische

Dienstleistungen als Ganzes unterworfen sind, wurde es nämlich als erforderlich angesehen, für

diese Dienstleistungen klare, einfache und einheitliche Regeln aufzustellen, damit der für sie

geltende Mehrwertsteuersatz zweifelsfrei ermittelt werden kann und so die Handhabung dieser

Steuer durch die Steuerpflichtigen und die nationalen Finanzverwaltungen erleichtert wird.

22 Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L

347, S. 1) in der Fassung der Richtlinie 2009/47/EG des Rates vom 5. Mai 2009 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG

in Bezug auf ermäßigte Mehrwertsteuersätze (ABl. 2009, L 116, S. 18). 23 In diesem Fall darf auch auf digitale Bücher ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz angewandt werden. Werden sie

hingegen per Download oder Streaming übermittelt, gilt der normale Steuersatz. Für digitale Zeitungen und Zeitschriften

gilt stets der normale Steuersatz, unabhängig davon, in welcher Form sie geliefert werden.

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Durch den Ausschluss der elektronischen Dienstleistungen von der Anwendung eines

ermäßigten Mehrwertsteuersatzes erspart es der Unionsgesetzgeber den Steuerpflichtigen und

den nationalen Finanzverwaltungen bei jeder Art solcher Dienstleistungen zu prüfen, ob sie

unter eine der Kategorien von Dienstleistungen fällt, die nach der Mehrwertsteuerrichtlinie in

den Genuss eines ermäßigten Satzes kommen können. Eine solche Maßnahme muss deshalb als

zur Verwirklichung des mit der Mehrwertsteuer-Sonderregelung für den elektronischen Handel

verfolgten Ziels geeignet angesehen werden. Würde man den Mitgliedstaaten die Möglichkeit

geben, auf die Lieferung digitaler Bücher auf elektronischem Weg einen ermäßigten

Mehrwertsteuersatz anzuwenden, würde überdies die Kohärenz der gesamten vom

Unionsgesetzgeber angestrebten Maßnahme beeinträchtigt, die darin besteht, alle

elektronischen Dienstleistungen von der Möglichkeit der Anwendung eines ermäßigten

Mehrwertsteuersatzes auszunehmen.

Link zum vollständigen Urteil

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Die Gerichte eines Mitgliedstaats dürfen kontrollieren, ob die Ersuchen eines

anderen Mitgliedstaats um Steuerinformationen rechtmäßig sind

(Urteil in der Rechtssache C-682/15 Berlioz Investment Fund SA / Directeur de l’administration

des contributions directes)

Bei der Prüfung der Steuerangelegenheiten einer französischen Gesellschaft richtete die

französische Steuerverwaltung im Jahr 2014 an die luxemburgische Steuerverwaltung ein

Informationsersuchen über die Muttergesellschaft einer Firma. Auf Ersuchen der

luxemburgischen Steuerbehörden teilte die Muttergesselschaft alle gewünschten

Informationen mit, außer den Namen und Anschriften ihrer Gesellschafter sowie der Höhe und

der Beteiligungsquote der von den einzelnen Gesellschaftern jeweils gehaltenen Kapitalanteile.

Weil sich die Gesellschaft weigerte, diese Auskünfte zu erteilen, verhängte die luxemburgische

Steuerverwaltung im Jahr 2015 gegen sie eine Geldbuße. Die Gesellschaft erhob daraufhin beim

luxemburgischen Verwaltungsgericht Klage auf Aufhebung der Geldbuße und der Anordnung (d.

h. der Entscheidung der luxemburgischen Behörden, mit der ihr gegenüber angeordnet wurde,

die streitigen Informationen mitzuteilen). Im ersten Rechtszug setzte das luxemburgische

Verwaltungsgericht die Geldbuße herab, ohne die Begründetheit der Anordnung prüfen zu

wollen.

In seinem Urteil von 16. Mai 2017 stellte der Gerichtshof fest, dass die Charta der Grundrechte

der Europäischen Union anwendbar ist, da die luxemburgischen Steuerbehörden die

Unionsrichtlinie über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der

Besteuerung24 durchgeführt haben und das nationale Gericht die Rechtmäßigkeit der

Anordnung prüfen darf, damit das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf

gewahrt ist.

Eine solche Anordnung kann nur dann rechtmäßig sein, wenn die erbetenen Informationen für

die Bedürfnisse der Steuerprüfung im ersuchenden Mitgliedstaat „voraussichtlich erheblich“

sind. Die Pflicht der Steuerbehörden eines Mitgliedstaats, mit den Steuerbehörden eines

anderen Mitgliedstaats zusammenzuarbeiten, erstreckt sich nach dem Wortlaut der Richtlinie

nur auf die Mitteilung „voraussichtlich erheblicher“ Informationen. Daher ist es den

Mitgliedstaaten nicht gestattet, sich an Beweisausforschungen („fishing expeditions“) zu

beteiligen oder um Informationen zu ersuchen, bei denen es unwahrscheinlich ist, dass sie für

die Steuerangelegenheiten des betreffenden Steuerpflichtigen erheblich sind.

Die Behörden des ersuchten Mitgliedstaats dürfen sich nicht auf eine summarische und formelle

Prüfung der Ordnungsmäßigkeit des Informationsersuchens beschränken, sondern müssen sich

auch vergewissern, dass den erbetenen Informationen angesichts der Identität des von der

Ermittlung betroffenen Steuerpflichtigen und deren Zweck die voraussichtliche Erheblichkeit

nicht völlig fehlt. Desgleichen muss das Gericht des ersuchten Mitgliedstaats die Rechtmäßigkeit

des Ersuchens kontrollieren dürfen. Es darf jedoch nur prüfen, ob sich die Anordnung auf ein

hinreichend begründetes Informationsersuchen stützt, das Informationen betrifft, denen für die

24 Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich

der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG (ABl. 2011, L 64, S. 1).

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betreffende Steuerprüfung die voraussichtliche Erheblichkeit nicht offenkundig völlig zu fehlen

scheint.

Link zum vollständigen Urteil

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Das Verbot missbräuchlicher Praktiken im Mehrwertsteuerbereich ist

unabhängig von einer nationalen Maßnahme zu seiner Durchsetzung in den

Mitgliedstaaten anwendbar

(Urteil in der Rechtssache C-251/16 Edward Cussens u. a. / T.G. Brosnan)

Drei Miteigentümer eines Projektstandorts in Irland haben 15 Ferienwohnungen errichtetet, die

verkauft werden sollten. Vor dem Verkauf tätigten sie 2002 mehrere Geschäfte mit einer mit

ihnen verbundenen Gesellschaft.

Im März 2002 schlossen sie mit dieser Gesellschaft zwei Mietverträge: einen langfristigen

Mietvertrag (20 Jahre) sowie einen Mietvertrag, mit dem die Gesellschaft diese Immobilien an

die Miteigentümer für zwei Jahre zurückvermietete.

Nach einem Monat wurden die beiden Mietverträge durch gegenseitigen Verzicht der jeweiligen

Mieter beendet, so dass die Miteigentümer vollumfängliches Eigentum an den Immobilien

wiedererlangten. Im Mai 2002 verkauften die Miteigentümer alle Immobilien an Dritte, die

daran das volle Eigentum erwarben.

Gemäß den irischen Mehrwertsteuervorschriften fiel auf diese Verkäufe keine Mehrwertsteuer

an, da die Immobilien zuvor Gegenstand einer der Mehrwertsteuer unterliegenden ersten

Lieferung im Rahmen des langfristigen Mietvertrags gewesen waren. Nur diese unterlag der

Mehrwertsteuer.

Mit Steuerbescheiden vom August 2004 verlangte die irische Steuerverwaltung von den

Miteigentümern die Zahlung zusätzlicher Mehrwertsteuer für die im Mai 2002 getätigten

Immobilienverkäufe. Sie war nämlich der Auffassung, dass die langfristigen Mietverträge eine

erste Lieferung darstellten, die künstlich konstruiert worden sei, um die

Mehrwertsteuerpflichtigkeit der späteren Verkäufe zu verhindern.

Die Miteigentümer erhoben gegen diese Entscheidung Klage. Der High Court (Hoher

Gerichtshof, Irland) entschied, dass die Mietverträge, da sie keinen wirtschaftlichen Gehalt

hätten, eine missbräuchliche Praxis im Sinne der sich aus dem Urteil des Gerichtshofs in der

Rechtssache Halifax25 ergebenden Rechtsprechung darstellten. Der anschließend angerufene

Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) fragt den Gerichtshof, ob dieser Grundsatz

unabhängig von einer nationalen Maßnahme zu seiner Durchsetzung in der innerstaatlichen

Rechtsordnung unmittelbar angewandt werden kann, um Immobilienverkäufen die Befreiung

von der Mehrwertsteuer zu versagen. Außerdem möchte der Supreme Court wissen, ob eine

solche Anwendung des Grundsatzes mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des

Vertrauensschutzes vereinbar ist, da die fraglichen Geschäfte vor dem Erlass des Urteils Halifax

getätigt wurden.

In seinem heutigen Urteil stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass der Grundsatz des Verbots

missbräuchlicher Praktiken, wie er im Urteil Halifax auf die Mehrwertsteuerrichtlinie angewandt

wurde, seine Grundlage in seiner ständigen Rechtsprechung hat. Danach ist zum einen eine

25 Urteil des Gerichtshofs vom 21. Februar 2006, Halifax u. a. (C-255/02, vgl. Pressemitteilung Nr. 15/06).

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betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt.Zudemkann die

Anwendung des Unionsrechts nicht so weit gehen, dass die missbräuchlichen Praktiken von

Wirtschaftsteilnehmern gedeckt werden.

Nach Ansicht des Gerichtshofs weist der fragliche Grundsatz somit den allgemeinen Charakter

auf, der den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts naturgemäß innewohnt. Folglich kann

er einem Steuerpflichtigen entgegengehalten werden, um ihm u. a. das Recht auf Befreiung von

der Mehrwertsteuer zu versagen, auch wenn das nationale Recht keine Bestimmungen enthält,

die eine solche Versagung vorsehen.

Schließlich bestätigt der Gerichtshof, dass eine solche Anwendung des Grundsatzes des Verbots

missbräuchlicher Praktiken mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des

Vertrauensschutzes vereinbar ist, auch wenn diese Anwendung Geschäfte betrifft, die vor dem

Erlass des Urteils Halifax getätigt wurden.

Link zum vollständigen Urteil

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Unionsbürgerschaft

Ein Staatsangehöriger eines Nicht-EU-Landes kann als Elternteil eines

minderjährigen Kindes, das die Unionsbürgerschaft besitzt, ein abgeleitetes

Aufenthaltsrecht in der Union geltend machen

(Urteil in der Rechtssache C-133/15 H. C. Chavez-Vilchez u. a. / Raad van bestuur van de Sociale

verzekeringsbank u. a.)

Eine venezolanische Staatsangehörige reiste mit einem Touristenvisum in die Niederlande ein.

Aus ihrer Beziehung mit einem niederländischen Staatsangehörigen ging im Jahr 2009 ein Kind

hervor, das die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt. Seit der Trennung zum Vater, nahm

sie alleine die Obsorge für das Kind wahr. Da die Frau in den Niederlanden keine

Aufenthaltsberechtigung besitzt, wurden dort ihre Anträge auf Sozialhilfe und Kindergeld von

den Behörden abgelehnt.

Der Centrale Raad van Beroep (Berufungsgericht für den Bereich der sozialen Sicherheit und des

öffentlichen Dienstes, Niederlande), der mit gerichtlichen Verfahren zu Sozialhilfe und

Kindergeld befasst ist, hat in dieser Sache ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof

gerichtet. Er möchte wissen, ob die Betroffene als Mutter eines Kindes, das Unionsbürger ist,

unter den Umständen ihres Einzelfalls ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht auf der Grundlage von

Art. 20 AEUV (Unionsbürgerschaft) geltend machen kann.

In seinem Urteil betonte der Gerichtshof vorab, dass die Lage der Klägerin und ihres Kindes, die

beide von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, zunächst an Art. 21 AEUV

(Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und

aufzuhalten) und der Richtlinie 2004/38126 (die die Wahrnehmung der Freizügigkeit und des

Aufenthaltsrechts erleichtern soll) zu messen ist. Insoweit erinnert der Gerichtshof an seine

Rechtsprechung, wonach Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen – einschließlich Entscheidungen,

mit denen Familienangehörigen eines Unionsbürgers ein Aufenthaltsrecht versagt wird –

entgegensteht, die bewirken, dass Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der

Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird. So könnte in dem

vorliegenden Fall eine etwaige Verpflichtung der Mutter, das Unionsgebiet zu verlassen, ihren

Kindern die Möglichkeit nehmen, den Kernbestand dieser Rechte tatsächlich in Anspruch zu

nehmen, weil sie selbst das Unionsgebiet verlassen müssten.

Hierüber zu befinden, ist Sache des niederländischen Gerichts. Um zu beurteilen, inwieweit

diese Gefahr besteht, ist zu ermitteln, welcher Elternteil die tatsächliche Sorge für das Kind

wahrnimmt und ob ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Kind und dem

26 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger

und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung

der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG,

73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, mit

Berichtigungen in ABl. 2004, L 229, S. 35, und ABl. 2007, L 204, S. 28).

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Elternteil aus einem Nicht-EU-Land besteht. Hierbei müssen die Behörden das Recht auf Achtung

des Familienlebens und das Kindeswohl berücksichtigen.

Link zum vollständigen Urteil

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Verbraucher

Werbung, die Preise zwischen Geschäften unterschiedlicher Art und Größe

vergleicht, ist unter bestimmten Umständen nicht zulässig

(Urteil in der Rechtssache C-562/15 Carrefour Hypermarchés SAS / ITM Alimentaire

International SASU)

Im Dezember 2012 lancierte ein franzosischer Betrieb eine Fernsehwerbekampagne, darin

wurden die in seinen Geschäften verlangten Preise für 500 Waren großer Marken mit denen in

Geschäften konkurrierender Handelsgruppen verglichen. Den Verbrauchern wurde angeboten,

ihnen die zweifache Preisdifferenz zu erstatten, falls sie die Waren anderswo günstiger fänden.

Ab dem zweiten Fernsehwerbespot waren die für den Vergleich ausgewählten Geschäfte

konkurrierender Handelsgruppen ausnahmslos Supermärkte, während die Geschäfte des

franzosischen Betriebs sämtlich Hypermärkte waren. Diese Information erschien nur in kleinerer

Schrift. Der für die Strategie und Geschäftspolitik der Geschäfte der konkurrierenden

Handelsgruppe zuständiges Unternehmen klagte bei den französischen Gerichten auf

Unterlassung dieser Werbung sowie auf Schadensersatz wegen irreführender Werbung.

Die mit der Rechtssache befasste Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich)

möchte vom Gerichtshof wissen, ob eine solche Werbung, in der die Preise für in Geschäften

unterschiedlicher Größe oder Art vertriebenen Waren verglichen werden, nach der Richtlinie

über irreführende und vergleichende Werbung27 zulässig ist. Das vorlegende Gericht möchte

weiter wissen, ob der Umstand, dass die betreffenden Geschäfte unterschiedlicher Größe und

Art sind, eine wesentliche Information ist, die gemäß der Richtlinie 2005/29 über unlautere

Geschäftspraktiken28 notwendigerweise den Verbrauchern zur Kenntnis zu bringen ist.

Mit seinem Urteil von 8. Februar 2017, weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass nach der

Richtlinie 2006/114 jede vergleichende Werbung die Preise objektiv vergleichen muss und nicht

irreführend sein darf: Die Preise gängiger Verbrauchsgüter können nämlich je nach der Art oder

Größe des Geschäfts variieren, so dass ein asymmetrischer Vergleich bewirken könnte, dass der

Preisunterschied zwischen dem Werbenden und den Mitbewerbern künstlich erzeugt oder

vergrößert wird, je nachdem, welche Geschäfte für den Vergleich herangezogen werden.

Eine Werbung ist zudem irreführend, wenn sie wesentliche Informationen vorenthält, die der

durchschnittliche Verbraucher je nach den Umständen benötigt, um eine informierte

geschäftliche Entscheidung zu treffen, oder die solche Informationen verheimlicht oder auf

unklare, unverständliche, zweideutige Weise oder nicht rechtzeitig bereitstellt und daher den

27 Richtlinie 2006/114/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über irreführende und

vergleichende Werbung (ABl. 2006, L 376, S. 21).

28 Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere

Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie

84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates

sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2005, L 149, S. 22,

berichtigt in ABl. 2009, L 253, S. 18).

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Durchschnittsverbraucher zu einer geschäftlichen Entscheidung veranlassen kann, die er

ansonsten nicht getroffen hätte.

Eine solche Werbung wird jedoch nur dann irreführend sein, wenn der Verbraucher nicht

darüber informiert wird, dass der Vergleich zwischen den Preisen, die in den Geschäften

größeren Umfangs oder größerer Art der Handelsgruppe des Werbenden verlangt werden, und

den Preisen stattfindet, die in Geschäften kleineren Umfangs oder kleinerer Art konkurrierender

Handelsgruppen ermittelt wurden. Diese Information muss dabei nicht nur auf klare Weise

bereitgestellt werden, sondern auch in der Werbebotschaft selbst enthalten sein.

Link zum vollständigen Urteil

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Vergibt ein Kreditinstitut einen Kredit, der auf eine Fremdwährung lautet, muss

es dem Kreditnehmer Informationen zur Verfügung stellen, die eine umsichtige

und besonnene Entscheidung ermöglichen

(Urteil in der Rechtssache C-186/16 Ruxandra Paula Andriciuc u. a. / Banca Românească SA)

In den Jahren 2007 und 2008 nahmen Frau Ruxandra Paula Andriciuc und weitere Personen, die

ihr Einkommen damals in Rumänischen Lei (RON) bezogen, bei der rumänischen Bank Banca

Românească Kredite auf. Nach den zwischen den Parteien geschlossenen Kreditverträgen waren

die Kreditnehmer verpflichtet, die Kreditraten in Schweizer Franken (CHF) zurückzuzahlen. Sie

übernahmen das Risiko, das mit möglichen Schwankungen des Wechselkurses des RON

gegenüber dem CHF verbunden war. Nach Abschluss des Kreditvertrags kam es jedoch zu einer

drastischen Wechselkursänderung zum Nachteil der Kreditnehmer.

Vor rumänischen Gerichten bekämpften sie die Vertragsklausel, der zufolge der Kredit ohne

Rücksicht auf den möglichen Verlust, der den Kreditnehmern wegen des Wechselkursrisikos

entstehen kann, in CHF zurückzuzahlen ist. Die Bestimmung stelle eine missbräuchliche Klausel

dar, die einer EU-Richtlinie29 zufolge nicht bindend sei.

Der Berufungsgerichtshof Oradea (Rumänien) wollte vom Europäischen Gerichtshof wissen, wie

weit die Aufklärungspflichten der Kreditinstitute über das mit Fremdwährungskrediten

verbundene Wechselkursrisiko gehen. In seinem Urteil vom 20. September 2017 stellt der

Gerichtshof zunächst fest, dass die beanstandete Klausel zum Hauptgegenstand des Vertrags

gehört, weil die Verpflichtung, einen Kredit in einer bestimmten Währung zurückzuzahlen, das

Wesen der Pflicht des Schuldners betrifft.

Sodann gibt der Gerichtshof vor, anhand welcher Kriterien und Umstände das nationale Gericht

die Missbräuchlichkeit einer solchen Klausel festzustellen oder zu verneinen hat. Der Vertrag

muss in einer derart transparenten Weise verfasst sein, dass der Verbraucher in der Lage ist, die

sich für ihn daraus ergebenden wirtschaftlichen Folgen auf der Grundlage genauer und

nachvollziehbarer Kriterien einzuschätzen. Dabei hat das nationale Gericht der Werbung und

den vom Kreditgeber im Rahmen der Aushandlung eines Kreditvertrags bereitgestellten

Informationen Beachtung zu schenken.

Insbesondere hat der nationale Richter zu prüfen, ob der Verbraucher über sämtliche Tatsachen

in Kenntnis gesetzt wurde, die sich auf den Umfang seiner Verpflichtung auswirken könnten und

ihm erlauben, die Gesamtkosten seines Kredits einzuschätzen. Dem Gerichtshof zufolge sind

Finanzinstitute verpflichtet, Kreditnehmern Informationen zur Verfügung zu stellen, die

ausreichen, um die Kreditnehmer in die Lage zu versetzen, umsichtige und besonnene

Entscheidungen zu treffen. Die potentiellen Kreditnehmer müssen nicht nur über die mögliche

Auf- oder Abwertung der Kreditwährung informiert werden, sondern auch über die

Auswirkungen von Kursschwankungen und der Erhöhung des Zinssatzes der Kreditwährung auf

die Ratenzahlungen. Link zum vollständigen Urteil

29 Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl.

1993, L 95, S. 29).

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Die Mitgliedstaaten dürfen keine Sofortmaßnahmen in Bezug auf genetisch

veränderte Lebens- und Futtermittel treffen, wenn nicht von einem ernsten

Risiko für die Gesundheit oder die Umwelt auszugehen ist

(Urteil in der Rechtssache C-111/16 Giorgio Fidenato u. a.)

Im Jahr 199830 ließ die Kommission das Inverkehrbringen von genetisch verändertem MON-810-

Mais zu. Dennoch erließ die italienische Regierung im Jahr 2013 ein Dekret, das ein Verbot des

Anbaus von MON-810-Mais in Italien vorsah.

Im Jahr 2014 bauten Herr Giorgio Fidenato und andere unter Verstoß gegen dieses Dekret MON-

810-Mais an. Daraufhin wurde ein Strafverfahren gegen sie eingeleitet. Im Rahmen dieses

Strafverfahrens möchte das Landgericht Udine (Italien) vom Europäischen Gerichtshof u. a.

wissen, ob im Lebensmittelbereich Sofortmaßnahmen auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips

getroffen werden dürfen. Nach diesem Prinzip können die Mitgliedstaaten Maßnahmen treffen,

um Risiken für die menschliche Gesundheit vorzubeugen, die aufgrund wissenschaftlicher

Unsicherheiten noch nicht vollständig erkannt oder erfasst worden sind.

In seinem Urteil vom 13. September 2017 weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass

sowohl das Lebensmittelrecht der Union31 als auch die Rechtsvorschriften der Union über

genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel32 ein hohes Schutzniveau für die

Gesundheit des Menschen und die Verbraucherinteressen bei gleichzeitig reibungslosem

Funktionieren des Binnenmarkts gewährleisten sollen. Der Gerichtshof betont, dass der freie

Verkehr mit sicheren und gesunden Lebensmitteln und Futtermitteln ein wichtiger Aspekt des

Binnenmarkts ist.

Der Gerichtshof stellt in diesem Kontext fest, dass, wenn nicht erwiesenermaßen davon

auszugehen ist, dass ein genetisch verändertes Erzeugnis wahrscheinlich ein ernstes Risiko für

die Gesundheit von Mensch oder Tier oder die Umwelt darstellt, weder die Kommission noch

die Mitgliedstaaten die Befugnis haben, Sofortmaßnahmen wie das Verbot des Anbaus von

MON-810-Mais zu ergreifen.

Des Weiteren stellt der Gerichtshof fest, dass das Vorsorgeprinzip für das Ergreifen solcher

Maßnahmen nicht ausreicht. Es setzt eine wissenschaftliche Unsicherheit hinsichtlich des

Bestehens eines bestimmten Risikos voraus und kann das Ergreifen vorläufiger

Risikomanagementmaßnahmen bei Lebensmitteln im Allgemeinen rechtfertigen. Das Prinzip

erlaubt es jedoch nicht, die Bestimmungen für genetisch veränderte Lebensmittel beiseite zu

30 Entscheidung der Kommission vom 22. April 1998 über das Inverkehrbringen von genetisch verändertem Mais (Zea

mays L., Linie MON 810) gemäß der Richtlinie 90/220/EWG des Rates (ABl. 1998, L 131, S. 32). 31 Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der

allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für

Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (ABl. 2002, L 31, S. 1). Art. 7

(„Vorsorgeprinzip“) dieser Verordnung gestattet den Mitgliedstaaten das Ergreifen von vorläufigen

Risikomanagementmaßnahmen „[i]n bestimmten Fällen, in denen … die Möglichkeit gesundheitsschädlicher Auswirkungen

festgestellt wird, wissenschaftlich aber noch Unsicherheit besteht“. 32 Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2003 über genetisch

veränderte Lebensmittel und Futtermittel (ABl. 2003, L 268, S. 1). Art. 34 gestattet den Mitgliedstaaten,

Sofortmaßnahmen zu treffen, wenn „davon auszugehen [ist], dass ein … zugelassenes [genetisch verändertes] Erzeugnis

wahrscheinlich ein ernstes Risiko für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder die Umwelt darstellt“.

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lassen oder zu ändern, da diese Lebensmittel vor ihrem Inverkehrbringen bereits einer

umfassenden wissenschaftlichen Bewertung unterzogen wurden.

Im Übrigen weist der Gerichtshof darauf hin, dass ein Mitgliedstaat, wenn er die Kommission

offiziell von der Notwendigkeit in Kenntnis gesetzt hat, Sofortmaßnahmen zu ergreifen, und

wenn die Kommission nicht gehandelt hat, solche Maßnahmen auf nationaler Ebene ergreifen

kann. Außerdem kann er diese Maßnahmen beibehalten oder verlängern, solange die

Kommission keinen Beschluss über ihre Verlängerung, Änderung oder Aufhebung erlassen hat.

Unter diesen Umständen sind die nationalen Gerichte für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit

der betreffenden Maßnahmen zuständig.

Link zum vollständigen Urteil

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Verkehr

Die Stornierungsgebühren, die Luftfahrtunternehmen verlangen, können auf

Missbräuchlichkeit überprüft werden

(Urteil in der Rechtssache C-290/16 Air Berlin plc & Co. Luftverkehrs KG / Bundesverband der

Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände – Verbraucherzentrale Bundesverband e. V.)

Ein deutsches Luftfahrtunternehmen nahm in seine Allgemeinen Geschäftsbedingungen eine

Klausel auf, nach der, wenn ein Reiseteilnehmer eine Buchung für einen Flug im Spartarif

storniert oder den Flug nicht antritt, von dem ihm zu erstattenden Betrag ein

Bearbeitungsentgelt von 25 Euro einbehalten wird. Der Bundesverband der

Verbraucherzentralen ist der Auffassung, dass diese Klausel nach deutschem Recht wegen

unangemessener Benachteiligung der Kunden unwirksam sei. Der Bundesverband erhob daher

gegen das Luftfahrtunternehmen eine Unterlassungsklage bei den deutschen Gerichten. Im

Rahmen dieser Klage geht der Bundesverband außerdem gegen die Praktiken von dem

Luftfahrtunternehmen bei der Preisdarstellung auf ihrer Website vor. Bei einer Online-

Probebuchung im Jahr 2010 stellte der Bundesverband nämlich fest, dass die ausgewiesenen

Steuern und Gebühren viel niedriger waren als die tatsächlich an die betreffenden Flughäfen

abzuführenden. Nach Ansicht des Bundesverbands kann diese Praxis die Verbraucher in die Irre

führen und verstößt gegen die in der Unionsverordnung über die Durchführung von

Luftverkehrsdiensten33 vorgesehenen Regeln über die Preistransparenz.

Vor diesem Hintergrund ersucht der Bundesgerichtshof den Gerichtshof um Auslegung dieser

Verordnung. Der Bundesgerichtshof ist der Meinung, dass die Klausel über die

Bearbeitungsgebühr bei stornierten Buchungen oder nicht angetretenen Flügen die Kunden

unangemessen benachteilige und daher nach den Bestimmungen des deutschen Rechts zur

Umsetzung der Unionsrichtlinie über missbräuchliche Klauseln34 unwirksam sei.

Mit seinem Urteil von 7. Juli 2017 antwortete der Gerichtshof, dass die den

Luftfahrtunternehmen durch die Verordnung über die Durchführung von Luftverkehrsdiensten

eingeräumte Preisfreiheit dem nicht entgegensteht, dass die Anwendung einer nationalen

Regelung zur Umsetzung der Richtlinie über missbräuchliche Klauseln zur Nichtigerklärung einer

Klausel in Allgemeinen Geschäftsbedingungen führen kann, nach der von Kunden, die eine

Buchung storniert oder einen Flug nicht angetreten haben, gesonderte pauschalierte

Bearbeitungsentgelte erhoben werden können. Der Gerichtshof stellte insoweit fest, dass die

allgemeinen Vorschriften zum Schutz der Verbraucher vor missbräuchlichen Klauseln auch auf

Luftbeförderungsverträge anwendbar sind.

Link zum vollständigen Urteil

33 Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. September 2008 über

gemeinsame Vorschriften für die Durchführung von Luftverkehrsdiensten in der Gemeinschaft (ABl. 2008, L 293, S. 3). 34 Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl.

1993, L 95, S. 29).

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51

Wettbewerb

Der Gerichtshof bestätigt die gegen Toshiba und Panasonic/MTPD wegen ihrer

Beteiligung an einem Kartell für Röhren für Fernsehgeräte gesamtschuldnerisch

verhängte Geldbuße in Höhe von 82 Millionen Euro

(Urteil in der Rechtssache C-623/15 P Toshiba Corp. / Kommission)

Die Kommission verhängte mit Beschluss vom 5. Dezember 201235 Geldbußen in einer

Gesamthöhe von ungefähr 1,47 Milliarden Euro gegen sieben Unternehmen, die zwischen

1996/1997 und 2006 an einem bzw an zwei separaten Kartellen auf dem Markt für

Kathodenstrahlröhren (cathode ray tubes – „CRT“) beteiligt waren.

CRT sind luftleere Glasgehäuse, die eine Elektronenkanone und eine Fluoreszenz-Anzeige

enthalten. Im maßgeblichen Zeitraum gab es zwei unterschiedliche Typen: Farbbildröhren für

Computerbildschirme (colour display tubes – „CDT“) und Farbbildröhren für Fernsehgeräte

(colour picture tubes – „CPT“). Es handelte sich um wesentliche Bestandteile zur Herstellung

eines Computerbildschirms oder eines Farbfernsehers, die in einer bestimmten Anzahl

unterschiedlicher Abmessungen zur Verfügung standen.

Diese Typen von CRT waren Gegenstand zweier Zuwiderhandlungen, nämlich eines CDT-Kartells

und eines CPT-Kartells. Die Kartelle bestanden im Wesentlichen aus Preisfestsetzungen, aus

Markt- und Kundenaufteilungen sowie aus Produktionsbeschränkungen. Darüber hinaus

tauschten die beteiligten Unternehmen regelmäßig vertrauliche Geschäftsinformationen aus.

Die Muttergesellschaft (gegen die die Geldbuße seitens der Kommission verhängt wurde) war

der Ansicht, dass sie nicht in der Lage gewesen sei, während der gesamten Dauer des Kartells

einen bestimmenden Einfluss auf die Tochtergesellschaft auszuüben und dass sie daher für die

von der Tochtergesellschaft begangene Zuwiderhandlung nicht zur Verantwortung gezogen

werden könne. Sie beantragte daher beim Gerichtshof die Aufhebung des Urteils des Gerichts

und der gesamtschuldnerisch verhängten Geldbuße.

Mit dem Urteil vom 18. Januar 2017 hat der Gerichtshof das Rechtsmittel der Muttergesellschaft

zurückgewiesen und die gesamtschuldnerisch gegen Mutter- und Tochtergesellschaft verhängte

Geldbuße in Höhe von über 82 Millionen Euro bestätigt.

Das Gericht hat zutreffend entschieden, dass, wenn das Marktverhalten eines gemeinsamen

Tochterunternehmens nach gesetzlichen Bestimmungen oder vertraglichen Regelungen von

mehreren Muttergesellschaften gemeinsam festgelegt werden muss, vernünftigerweise

angenommen werden kann, dass dieses Verhalten tatsächlich gemeinsam festgelegt wurde, so

dass, wenn nicht das Gegenteil bewiesen wird, davon auszugehen ist, dass die

35 Beschluss der Kommission vom 5. Dezember 2012 in einem Verfahren nach Artikel 101 des Vertrags über die

Arbeitsweise der Europäischen Union und Artikel 53 des EWR-Abkommens (Sache COMP/39.437 — Bildröhren für

Fernsehgeräte und Computerbildschirme).

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53

Der Gerichtshof bestätigt die im Zusammenhang mit dem Phosphat-Kartell

gegen die Roullier-Gruppe verhängte Geldbuße in Höhe von fast 60 Millionen

Euro

(Urteil in der Rechtssache C-411/15 Timab Industries und Cie financière et de participations

Roullier (CFPR) / Kommission)

Die Kommission verhängte im Jahr 2010 Geldbußen in Höhe von insgesamt 175 647 000 Euro

gegen sechs Gruppen von Herstellern, die sich an einem Preiskartell beteiligt und über eine Zeit

von mehr als 30 Jahren den Markt für Futterphosphate unter sich aufgeteilt hatten.36

Anders als die übrigen in das Kartell verwickelten Gruppen wollte ein Hersteller, als er die

ungefähre Höhe der Geldbuße erfuhr, keinen Vergleich mit der Kommission schließen. Ein

solcher Vergleich dient zur Vereinfachung des Verfahrens: Die betroffenen Unternehmen geben

ihre Beteiligung an dem Kartell zu, geben Verpflichtungszusagen ab und erhalten im Gegenzug

eine Geldbußen-Ermäßigung von 10 %. Die Kommission wandte daher im Fall dieses einen

Herstellers das ordentliche Verfahren an. Dabei handelte es sich um das erste sogenannte

Hybridverfahren, dh das Vergleichsverfahren und das ordentliche Verfahren wurden parallel

durchgeführt.

Der Hersteller erhob beim Gericht der Europäischen Union Klage auf Nichtigerklärung des

Beschlusses der Kommission und auf Herabsetzung der Geldbuße. Er warf der Kommission

insbesondere vor, gegen ihn eine Geldbuße verhängt zu haben, die über dem Höchstbetrag der

im Vergleichsverfahren veranschlagten Bandbreite liege.

Mit seinem Urteil vom 12. Januar 2017 hat der Gerichtshof das Rechtsmittel des Herstellers

zurückgewiesen und somit die von der Kommission verhängte Geldbuße in Höhe von fast 60

Millionen Euro bestätigt.

Bezüglich des Vorbringens, die Kommission habe gegen den Hersteller im ordentlichen

Verfahren eine Geldbuße verhängt, die über dem Höchstbetrag der im Vergleichsverfahren

veranschlagten Bandbreite liege, hat der Gerichtshof festgestellt, dass das Gericht die sachliche

Richtigkeit der von der Kommission im ordentlichen Verfahren vorgenommenen Beurteilung

und die von ihr zur Berechnung der Geldbuße herangezogenen Gesichtspunkte ordnungsgemäß

geprüft hat. Insbesondere durfte die Kommission eine erneute Prüfung des Betrags der

Geldbuße vornehmen und dabei dieselbe Methode anwenden, die zur Ermittlung der

Bandbreite der Geldbußen angewandt wurde, die dem Hersteller im Vergleichsverfahren

mitgeteilt wurden. Der Gerichtshof hat in Übereinstimmung mit dem Gericht festgestellt, dass

die Kommission im ordentlichen Verfahren neue Informationen berücksichtigen musste, durch

die sie gezwungen war, die Akten erneut zu prüfen, die berücksichtigte Dauer des Kartells neu

festzulegen und die Geldbuße durch Nichtanwendung der von ihr im Vergleichsverfahren

vorgeschlagenen Ermäßigungen anzupassen. Link zum vollständigen Urteil

36 Beschluss K(2010) 5001 endg. vom 20. Juli 2010 in einem Verfahren nach Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-

Abkommens (Sache COMP/38866 – Futterphosphate).