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l1 Vorlesung „Einführung in die Polymerwissenschaften“ für Studenten des Studiengangs "Nano-Engineering" C. Mayer Sommersemester 2011 Vorlesung: Freitag, 11:00 bis 13:00, MD 162 Übungen: Freitag, 13:00 bis 14:00, MD 162 Beginn der Vorlesung: Freitag, den 08. April 2011 Ende der Vorlesung: Freitag, den 15. Juli 2011 Inhalt: 1 Einführung (Polymere, Makromoleküle, Monomereinheiten) 2 Struktur von Makromolekülen 2.1 Konstitution, Konfiguration und Konformation 2.2 Die mittlere Molmasse eines Polymers 3 Herstellung von Polymeren (Polymerisationsreaktionen) 3.1 Radikalische Polymerisation 3.2 Anionische Polymerisation 3.3 Kationische Polymerisation 3.4 Polykondensation und Ringöffnung 4 Makromoleküle in Lösung 4.1 Konformation eines gelösten Makromoleküls 4.2 Charakterisierung gelöster Makromoleküle 5 Makromoleküle in einer Polymerschmelze 5.1 Das Fließverhalten einer Polymerschmelze 5.2 Umformung von flüssigen Polymeren 6 Makromoleküle in festem Polymer 6.1 Amorphe und kristalline Strukturen 6.2 Dynamische Prozesse in festen Polymeren 6.3 Mechanische Eigenschaften von Polymeren 6.4 Thermische Zersetzung von Polymeren 7 Polymere in der Nanotechnologie 7.1 Anwendung in der Lithografie: Resist-Materialien 7.2 Nanoimprinting an Polymeren 7.3 Polymere Nanopartikel 7.4 Polymere Nanopartikel: Anwendungen in der Medizin

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Vorlesung „Einführung in die Polymerwissenschaften“

für Studenten des Studiengangs

"Nano-Engineering"

C. Mayer Sommersemester 2011 Vorlesung: Freitag, 11:00 bis 13:00, MD 162 Übungen: Freitag, 13:00 bis 14:00, MD 162 Beginn der Vorlesung: Freitag, den 08. April 2011 Ende der Vorlesung: Freitag, den 15. Juli 2011 Inhalt: 1 Einführung (Polymere, Makromoleküle, Monomereinheiten)

2 Struktur von Makromolekülen 2.1 Konstitution, Konfiguration und Konformation 2.2 Die mittlere Molmasse eines Polymers

3 Herstellung von Polymeren (Polymerisationsreaktionen) 3.1 Radikalische Polymerisation 3.2 Anionische Polymerisation 3.3 Kationische Polymerisation 3.4 Polykondensation und Ringöffnung

4 Makromoleküle in Lösung 4.1 Konformation eines gelösten Makromoleküls 4.2 Charakterisierung gelöster Makromoleküle

5 Makromoleküle in einer Polymerschmelze 5.1 Das Fließverhalten einer Polymerschmelze 5.2 Umformung von flüssigen Polymeren

6 Makromoleküle in festem Polymer 6.1 Amorphe und kristalline Strukturen 6.2 Dynamische Prozesse in festen Polymeren 6.3 Mechanische Eigenschaften von Polymeren 6.4 Thermische Zersetzung von Polymeren

7 Polymere in der Nanotechnologie 7.1 Anwendung in der Lithografie: Resist-Materialien 7.2 Nanoimprinting an Polymeren 7.3 Polymere Nanopartikel 7.4 Polymere Nanopartikel: Anwendungen in der Medizin

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1 Einführung: Polymere, Makromoleküle,

Monomereinheiten

Sc TiK Ca Mn FeV Cr Cu ZnCo Ni Br KrGa Ge As Se

Na Mg Cl ArAl Si P S

H

Be F NeB C N OLi

He

Y ZrRb Sr Tc RuNb Mo Ag CdRh Pd I XeIn Sn Sb Te

La HfCs Ba Re OsTa W Au HgIr Pt At RnTl Pb Bi Po

Typische Elemente in organischen Polymeren

Elemente der Hauptkette

Elemente der Seitengruppen

Allgemeine Struktur von Polymeren:

Makromoleküle aus kovalent verknüpften Monomer-Bausteinen

Endgruppen

Zahl der verknüpften Monomereinheiten = Polymerisationsgrad (hier: n+6)

kovalenteBindung

Strukturelement

Monomer

Strukturelle Varianten:a) Thermoplaste (unverzweigte Ketten, schmelzbar)

b) Elastomere und Duroplaste (verzweigte Ketten, nicht schmelzbar)

statistischesCopolymer

Block-Copolymer

Homopolymer

(quer-)vernetztesPolymer

Wichtige Klassen von Polymeren

H H C CH R

= Polyolefine

R C OO

= Polyester

R C NHO

= Polyamide

Polyolefine

H H C CH H

= Polyethylen (PE)

H H C CH Cl

= Polyvinylchlorid (PVC)

H H C CH CH3

= Polypropylen (PP)

H H C CH C6H5

= Polystyrol (PS)

- Weißlich bis gelblich, manchmal transparent- Im Allgemeinen geringe Leitfähigkeit- Viele Eigenschaften hängen stark vom Polymerisationsgrad ab.

- Stabil gegen verdünnte Säuren und Basen- Relativ korrosionsstabil - Thermisch zersetzbar- Häufig löslich in organischen Lösemitteln

Gemeinsame Eigenschaften von Polymeren

physikalische Eigenschaften:

chemische Eigenschaften:

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2 Struktur von Makromolekülen

2.1 Konstitution, Konfiguration und Konformation

___________________________________________________

___________________________________________________

___________________________________________________

Konstitution

Konstitutionsisomere : gleiche Summenformel, aber unterschiedliche Konstitutionsformeln, z.B.

oder:H H C CH R

= Polyolefine

Konstitution

statistische Copolymere:

Block-Copolymere:

Pfropf-Copolymere (Graft-Copolymere):

Konstitutionverzweigte Makromoleküle:

Pfropf-Copolymere

polymeresNetzwerkStern-

polymer

KonfigurationMit asymmetrischen Zentren besitzen dieGrundbausteine zwei mögliche Konfigurationen, z.B. in Polypropylen:

C

CH3

HKette-CH2 Kette

C

CH3

HKette

CH2-Kette

Spiegelebene

D-Form L-Form

KonfigurationDie unterschiedlichen Konfigurationen der Grundbausteine führen zur Taktizität:

isotaktisches Polymer:

syndiotaktisches Polymer:

ataktisches Polymer:

= D

= L

KonformationPrinzipiell erlaubt eine C-C-Einfachbindung eine freie Drehung um die Bindungsachse:

R

R1

2

RR1

2

φ

Diederwinkel φ

C-C-Bindung innerhalb einer Polymerkette, R1 und R2 ste-hen für die Kettenanteile neben der betrachteten Bindung.

Projektion

KonformationDie günstigsten Konformere einer Kohlenwasserstoff-kette heißen Trans ( φ φ φ φ = 180°), Gauche plus ( φ φ φ φ = 60°) und Gauche minus ( φ φ φ φ = 300°):

φ

[kJ/

Mol

]

Gau

che

+

Gau

che

-

Tra

ns

Der Konformationszustand einer Kohlenwasserstoffkette lässt sich durch die Folge der Konformationszustände der einzelnen Bindungen angeben, z.B.:

TTG+TG-TTTG+TTTG-TTTT …

In einigermaßen gestreckten Ketten ist die Abfolge G+TG-

oder G-TG+ besonders häufig. Diese Strukturen werden Kinken genannt, sie führen zu einer parallelen Weiterführung der ursprünglichen Kettenrichtung und können der Kette entlang wandern.

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Übungsblatt 1

1) Was ist ein Block-Copolymer? Warum unterscheidet sich ein Block-Co-polymer von einem statistischen Copolymer? Welche Voraussage könnten Sie für das Kristallisationsverhalten beider Varianten treffen?

2) Ein Monomer mit fünf reaktiven Resten wird zusammen mit einem großen

Überschuss eines Monomers mit zwei reaktiven Resten zur Polymerisation gebracht. Welche Art von Polymer könnte dabei entstehen?

3) Welche Voraussetzung muss eine Monomermischung erfüllen, damit ein

polymeres Netzwerk entstehen kann? Wie können Sie die Netzwerkdichte steuern?

4) Angenommen, ein Polymerlieferant möchte Ihnen zu einem hohen Preis

syndiotaktisches Polyethylen verkaufen. Warum sollten Sie bei diesem Angebot sehr misstrauisch werden?

5) Welchen Vorteil besitzt ataktisches Polypropylen gegenüber isotaktischem

Polypropylen? Bei welchen Anwendungen könnten Sie diesen Vorteil nutzen?

6) Ist es möglich, ein syndiotaktisches Polymer in ein isotaktisches Polymer

umzusetzen, ohne die Polymerkette dabei zu spalten?

7) Wie unterscheiden sich die Häufigkeiten von gauche-Konfornationen zwischen den Polymeren Polyethylen, Polypropylen und Polystyrol? Postulieren Sie jeweils die Verläufe der potentiellen Energie gegen den Diederwinkel in einem gemeinsamen Diagramm.

8) Benennen Sie folgende Polymerstrukturen:

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2.2 Die mittlere Molmasse eines Polymers

Ein weiteres Kriterium für die Struktur eines Polymers ist die Länge der Molekülketten bzw. die Mol-masse, die mit dem Polymerisationsgrad verbunden ist. Grundsätzliche Problematik: im Allgemeinen liegt eine statistische Verteilung der Molmassen vor, die Angabe einer einzelnen Zahl reicht daher nicht aus. Vielmehr muss man zur vollständigen Charakterisierung eine Molmassenverteilung ermitteln. Man kann dazu den Beitrag jedes Molmassenintervalls ∆m z.B. nach der Zahl der Moleküle in dem Molmassenintervall oder nach dem Massenanteil des Molmasseintervalls gewichten:

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 i (Mmol-Intervall)

niAnteile nach Teilchenzahl

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 i (Mmol-Intervall)

miAnteile nach Massenbeitrag

Entsprechend gibt es auch unterschiedliche Mittelwerte zu berücksichtigen:

Der Zahlenmittelwert: nM =

=

=k

ii

k

iii

n

Mn

1

1

Dieser Wert ist für alle Phänomene von Bedeutung, bei denen die Teilchenzahl als Kriterium eingeht, z.B. für die kolligativen Eigenschaften (osmotischer Druck, Siedepunktserhöhung).

Der Massenmittelwert: wM =

=

=k

iii

k

iii

Mn

Mn

1

1

2

Dieser Mittelwert ist ausschlaggebend für mechanische Eigenschaften und die Schmelzeviskosität. Weitere Mittelwerte mit komplexerer Gewichtung:

Der z-Mittelwert: zM =

=

=k

iii

k

iii

Mn

Mn

1

2

1

3

Diese Größe ist von Bedeutung für Phänomene der Sedimentation und Diffusion.

Der Viskositätsmittelwert: vM =

αα

/1

1

1

1

=

=

+

k

iii

k

iii

Mn

Mn

Dieser Wert beschreibt mit einer empirischen Konstante α das Verhalten des Polymers in der Lösungsviskosimetrie. In der Regel liegt α bei Werten zwischen 0,5 und 0,9.

Für „monodisperse“ Polymere gilt: nM = wM = zM

Für alle anderen Situationen gilt: nM < wM < zM

Die Breite der Verteilung („Polydispersität“) wird durch den Polydispersitätsindex nP beschrieben:

nP = wn MM /

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Übungsblatt 2

1) Beschreiben Sie das Energieprofil, das mit der Drehung um eine C-C-Einfach-bindung in einer Polyethylenkette verbunden ist. Erklären Die die Entstehung der Minima und Maxima der potentiellen Energie und benennen Sie die Konformationen, die den drei Minima zugeordnet werden können.

2) Ist es denkbar, dass die beiden Konformere G+ und G- mit unterschiedlicher

Häufigkeit auftreten? Versuchen Sie, solch einen möglichen Fall zu be-schreiben.

3) Warum kann der Massenmittelwert der Molmasse eines Polymers niemals

kleiner sein als der Zahlenmittelwert? Begründen Sie diese Tatsache an-schaulich anhand der Darstellungen eines Diagramms für die Molmassen-verteilung.

4) Angenommen, eine Polymerprobe besteht aus einem einzigen Molekül mit

der Molmasse 109 g/Mol. Nun fügen Sie ein einzelnes Monomermolekül mit der Molmasse 100 g/Mol hinzu. Wie ändert sich dadurch… a) Das Zahlenmittel der Molmasse b) Das Massenmittel der Molmasse c) Der z-Mittelwert der Molmasse

5) Eine Probe eines Polymers bestehe zu je einem Mol aus Anteilen mit den

einheitlichen Molmassen 1000 g/Mol, 2000 g/Mol und 3000 g/Mol. Berechnen Sie das Zahlenmittel, das Massenmittel und den z-Mittelwert der Molmasse. Wie groß wäre in diesem Fall der Polydispersitätsindex?

6) Ist es möglich, dass bei einem gegebenen Polymer der Viskositätsmittelwert

und der Massenmittelwert der Molmasse gleich sind, der Zahlenmittelwert dagegen von den beiden erstgenannten abweicht? Begründen Sie an-schaulich (ohne Rechnung).

7) Berechnen Sie den Polydispersitätsindex eines Polymers, das aus einem Mol

Monomer der Molmasse 100 g/Mol und einem Mol Polymer der Molmasse 10000 g/Mol besteht.

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3 Herstellung von Polymeren (Polymerisationsreaktionen)

3.1 Radikalische Polymerisation

3.2 Anionische Polymerisation

3.3 Kationische Polymerisation

Radikalbildungsreaktion:

C

O

O C

O

O

Dibenzoylperoxid

Licht, Wärme C

O

O C

O

O

2 Benzoyloxylradikale

Startreaktion:

C

O

O CH2 CHR C

O

O CH2 CHR

Wachstumsreaktion:

CH2 CHRC

O

O CH2 CHR C

O

O CH2 CHR CH2 CHR

usw.Abbruchreaktion:

C

O

O CH2 CHR CH2 CHRn

2

C

O

O CH2 CHR CH2 CHRn

CHR CH2 CHR CH2n

C

O

O

CH2 CHR(Anion)- (Kation)+ n · CH2 CHR CH2 CHR(Anion) - (Kation)+

Abbruchreaktionen z.B. mit H in sauren Medien. +

n-1

CH2 CHR(Anion)-(Kation)+ n · CH2 CHR CH2 CHR(Kation) +(Anion)-

Abbruchreaktionen z.B. mit OH in basischen Medien. -

n-1

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Übungsblatt 3

1) Beschreiben Sie den Verlauf einer radikalischen Polymerisation von Polystyrol unter Einsatz von Wärme und Dibenzoylperoxid als Starterkomponente.

2) Welchen Einfluss nimmt die Konzentration des Starters (z.B. Dibenzoylper-

oxid) auf die Molmasse des bei einer radikalischen Polymerisation entste-henden Polymers?

3) Wie können Sie die Zahl der Kettenabbruchreaktionen bei einer gegebenen

radikalischen Polymerisation kontrollieren?

4) Die ionische Polymerisation kann schon durch Spuren von Wasser beeinflusst werden, während die radikalische Polymerisation sich dadurch völlig unbeeindruckt zeigt. Geben Sie eine mögliche Erklärung auf der Grundlage der chemischen Eigenschaften eines Wassermoleküls.

5) Welche Bedingung muss das negative Gegenion bei einer kationischen

Polymerisation erfüllen, damit tatsächlich ein Polymer mit einer hohen Molmasse entstehen kann?

6) Warum kann man eine anionische Polymerisation durch Ansäuern des

Reaktionsmediums verhindern? Wie kann man diesen Einfluss nutzen, um Nanostrukturen (z.B. Nanokapseln) zu erzeugen?

7) Welche Bedeutung besitzt die folgende Reaktion bei einer radikalischen

Polymerisation?

8) Wie kann man bewirken, dass aus einer anionischen Polymerisation eine kationische Polymerisation wird? Bei welchem pH-Wert wird eine kationische Polymerisation bevorzugt vorgenommen?

C

O

O CH2 CHR CH2 CHRn

2

C

O

O CH2 CHR CH2 CHRn

CHR CH2 CHR CH2n

C

O

O

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3.4 Polykondensation und Ringöffnung

Polyamid 66 („Nylon 66“):

C

O

OH

Adipinsäure

Wärme

C4H8C

O

HO

Hexamethylendiamin

C6H12NH2 NH2

C

O

N

Polyamid 66 („Nylon 66“)

C4H8C

O

HO

n · n ·

H

Hn

C6H12 N

H

Polyamid 6 („Nylon 6“, „Perlon“):

N

H

Caprolactam

C5H10C

On · N

Polyamid 6 („Nylon 6“, „Perlon“)

C5H10C

O

HO

H

Hn

H2OWärme

C

O

OHC

O

HO

+

+

Polyethylenglycolterephthalat („Polyethylenterephthalat“, PET):

Terephthalsäure

OHHO C2H4

Ethylenglycol

+

WärmeC

O

OC

O

HO OC2H4 H

n

n · n ·

Polyethylenglycolterephthalat

H2O+ n ·

H2O+ n ·

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4 Makromoleküle in Lösung

4.1 Konformation eines gelösten Makromoleküls Makromoleküle in Lösung können in sehr unterschiedlicher Form auftreten. Generell tendieren sie dazu, in guten Lösemitteln offene, gestreckte Ketten zu bilden. In schlechten Lösemitteln findet man dagegen eher eng geknäuelte, fast kugelförmige Moleküle. Ein weiterer Faktor, der den Grad der Knäuelung prägt, ist die Anwesenheit von Ladungen auf der Polymerkette. Beispielsweise stoßen gleichsinnige Ladungen einander ab und führen zu einem gestreckten Molekül. Der Grad der Knäuelung eines gelösten Makromoleküls kann durch den Kettenendenabstand ausgedrückt werden. Daneben kann man ausgehend vom Schwerpunkt des Moleküls die räumliche Dichte bestimmen, mit der die Segmente des Makromoleküls pro Volumeneinheit auftreten. Beide Parameter sollen im Folgenden genauer beschrieben werden.

4.1.1 Kettenendenabstandsverteilung Der Wert von h variiert von Molekül zu Molekül und muss deswegen in dazugehörigen Häufigkeits-verteilungen W(h) und W(R) statistisch erfasst werden. Für den Kettenendenabstand gilt die Vertei-lungsfunktion

W(h) =

2*

22

2/3

2* 23

exp2

34

kk lN

hh

lNππ

mit N* als Zahl der Segmente und lk als Länge eines einzelnen Segments. Diese Verteilungsfunktion entspricht in ihrer Form der Geschwindigkeitsverteilung der Teilchen in einem Gas.

4.1.2 Segmentdichteverteilung Bei einem gelösten Makromolekül verteilen sich die Segmente statistisch in der Umgebung des Molekülschwerpunkts. Die Dichte der Segmentverteilung kann in Form einer Funktion P(r) angegeben werden:

P(r) = ( )

θθ α

πα²²2

3exp²²

22/3

23*

R

rRN

Mit θ²R als mittlerem Quadrat des Trägheitsradius, r als Abstand vom Schwerpunkt und α als

Streckungsfaktor.

h

W(h)

h

r

P(r)r

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Übungsblatt 4 1) Warum entsteht bei der Herstellung von Polyamid 66 im Allgemeinen

Wasser? Wie nennt man die damit verbundene Polymerisationsreaktion?

2) Welchen Vorteil bietet die Herstellung von Polyamid 6 aus Caprolactam im Vergleich zur Herstellung von Polyamid 66 aus Adipinsäure und Hexa-methylendiamin?

3) Polymermoleküle mit zwei reaktiven Enden bilden nur äußerst selten

Ringmoleküle, obwohl sie dazu prinzipiell in der Lage wären. Der Grund liegt in der Konformation des gelösten Makromoleküls. Warum ist vor diesem Hintergrund eine chemische Reaktion zwischen den beiden Endgruppen eines Makromoleküls relativ unwahrscheinlich? Begründen Sie mit Hilfe der Verteilungsfunktion zum Kettenendenabstand.

4) Angenommen, Polymer A hat genau doppelt so viele Segmente wie Poly-

mer B. Trotzdem finden Sie bei den Polymeren A und B völlig identische Kettenendenabstandsverteilungen W(h) vor. Was können Sie unter diesen Umständen über das Verhältnis der Segmentlängen lk beider Polymere aussagen?

5) Der Streckungsfaktor α nimmt einen deutlichen Einfluss auf die Segment-

dichteverteilung eines gelösten Polymers. Welche Anwendungen für Poly-mere im Bereich der Nanotechnologie erfordern einen großen Streckungs-faktor, welche einen kleinen? Nennen Sie Beispiele.

6) Welche Möglichkeiten haben Sie, um ein Polymer in eine gestreckte Kon-

formation zu bringen, wenn Sie sowohl die chemische Beschaffenheit des Polymers als auch die des Lösemittels verändern können?

7) Für viele Anwendungen in der Nanotechnologie hätte man gerne Polymer-

partikel, die sich wie harte, feste Kugeln mit einem genau definierten Ra-dius verhalten. Warum kann diese Idee mit gelösten Polymermolekülen nur unvollkommen verwirklicht werden? In welcher Beziehung weicht das gegebene System vom Idealbild ab?

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4.2 Charakterisierung gelöster Makromoleküle

4.2.1. Lösungsviskosimetrie Verwendetes Messgerät: Ubbelohde-Viskosimeter

1

2

1

2

1

2

1

2

1 2 3 4t

t

Vorgehen bei der Messung: 1) Befüllen des Vorratsgefäßes

2) Ansaugen, Füllen der Kapillare 3) Belüften / Messbeginn bei Marke 1 4) Bestimmung der Ablaufzeit t bei Erreichen der Marke 2

a) Messung der Durchlaufzeit t0 des Lösemittels mit der Viskosität η0. b) Messung der Durchlaufzeit t der Polymerlösung (t) mit der Konzentration c und der Viskosität η. Relative Viskosität: ηr = η / η0 ≈ t / t0 (ohne Dimension) Spezifische Viskosität: ηsp = ηr - 1 = (η - η0) / η0 ≈ (t - t0) / t0 (ohne Dimension) Viskositätszahl (VZ): ηred = ηsp / c ≈ (t - t0) / (c t0) (ml/g) Grenzviskositätszahl: [η] = lim ηred (ml/g)

c→0

In der Praxis werden Viskositätszahlen in Abhängigkeit von der Konzentration c gemessen und die Werte linear gegen die Konzentration aufgetragen. Die Grenzviskositätszahl ergibt sich aus dem y-Achsenabschnitt, also der Extrapolation für c→0:

c [g/l]

η red

0,5 1,0 1,5

[m l/g]

100

200

Bestim m ung der Grenzviskositätszahl [η ]

Die Beziehung zwischen der Grenzviskosität und dem Viskositätsmittelwert des Molekulargewichts

nM (s. Kapitel 2.2) ergibt sich aus der Mark-Houwink-Gleichung:

[η] = K vMα mit K und α als empirische Konstanten.

Für extrem dichte Knäuel gilt: α ≈ 0,5. Für normale Knäuel: α = 0,6 bis 0,8. Für stäbchenförmige Moleküle: α = 1 bis 2. Die Konstante K hängt vor allem vom Lösemittel ab.

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4.2.2. Gelpermeationschromatographie

� Ermöglicht die Analyse der Molekulargewichtsverteilung � Basiert auf dem Prinzip der Flüssigkeitschromatographie � Als Säulenmaterial dient ein Gel aus mikroporösen Partikeln

Prinzipieller Versuchsaufbau (typisch für alle Methoden der Chromatographie):

Vorrats-gefäß mitLösemittel

Pumpe

Injektor

Säule

Detektor

EDV

Fraktionen-Sammler

Substanz

Das Prinzip des Trennvorgangs ist die Gelpermeation, d.h. das Eindringen der hochmolekularen Kom-ponente in die Poren des Gels. Die Sortierung erfolgt damit nach der Molekülgröße, daher andere Bezeichnung des Verfahrens:

Size Exclusion C hromatography („Größen-Ausschluss-Chromatographie“) oder SEC. Das zur Trennung verwendete Gel besitzt feine Poren, die eine statistische Größenverteilung auf-weisen. Passiert ein in Lösung befindliches Polymermolekül das Gel, so steht ihm in der Säule ein ganz bestimmtes freies Volumen zur Verfügung, das von seinem Molekulargewicht (bzw. seiner Größe) abhängt. Für große Moleküle ist dieses freie Volumen klein, für kleine Moleküle groß (s. Skizze).

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Die in die Säule eingebrachten Teilchen sind bestrebt, sich in diesem Volumen gleichmäßig zu vertei-len. Daraus ergibt sich eine größenabhängige Aufenthaltsdauer in der Säule: große Teilchen passieren das Säulenmaterial schneller als kleine. Die Konzentration der Polymerteilchen im Eluat wird üblicherweise über die Veränderung des Brechungsindex, der Lichtstreuung oder der Viskosität der Lösung detektiert. Die Beziehung zwischen dem Elutionsvolumen Ve (dem Volumen an Lösemittel, das die Säule pas-siert, bis eine bestimmte Fraktion des Polymers die Säule verlässt) und dem Molekulargewicht M ist von mehreren Faktoren abhängig:

� Größenverteilungsfunktion der Poren im Gel � Formgebung der Polymerteilchen in Lösung � Wechselwirkungen zwischen Gelmaterial und Polymerteilchen � Grenzviskosität des Polymers in Lösung

Die Kalibrierung erfolgt üblicherweise mit Molmassenstandards, wobei allerdings eine Übertragung auf andere Polymertypen nur mit geringer Genauigkeit möglich ist. Die Möglichkeiten der Gelpermeationschromatographie lassen sich durch die gleichzeitige Verwendung von verschiedenen Detektoren erheblich erweitern:

� UV-vis-Spektrometer � IR-Spektrometer � Viskositätsmessung � statische Lichtstreuung � differentielle Refraktometrie (Bestimmung des Brechungsindex)

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Beispiel für die Auswertung einer GPC-Messung:

l16

4.2.3. Osmometrie Bestimmung des Molekulargewichts eines gelösten Stoffes über die Messung des osmotischen Drucks. Eine halbdurchlässige Membran trennt eine Kammer mit reinem Lösemittel von der Lösung des Polymers ab, der gemessene Druckunterschied entspricht dem osmotischen Druck Π:

Prinzip der Osmometrie

Lösemittel Lösemittel + Polymer

osmotischer Druck

Für ideale Lösungen gilt (mit n = m/Mn und m = cV):

Π = V

nRT =

nM

cRT

Für nicht-ideale Lösungen gilt der Ansatz:

Π = cRT (1/Mn + A2c + A3c² + …) Je größer der so genannte zweite Virialkoeffizient A2 ausfällt (höhere Virialkoeffizienten werden meis-tens vernachlässigt), umso mehr weicht die vorliegende Polymerlösung vom idealen Verhalten ab, d.h. umso größer sind die Wechselwirkungen zwischen den gelösten Makromolekülen.

l17

Übungsblatt 5

1) Beschreiben Sie den experimentellen Ablauf einer Viskositätsmessung mit

einem Ubbelohde-Viskosimeter. Warum ist die Messung an einer Ver-gleichsprobe (dem reinen Lösemittel) notwendig, um das Polymer zu charakterisieren?

2) Welche Bedeutung hat die Grenzviskositätszahl [η]? Warum ist sie eine

geeignetere Kenngröße für das Polymer als die Viskositätszahl selbst?

3) Warum benötigt man zur Kalibrierung einer Gelpermeationschromatogra-phie (GPC) einen Polymerstandard, der von seiner chemischen Zusam-mensetzung her mit dem zu messenden Polymer übereinstimmt?

4) Sie vermessen die Molmassenverteilung eines Polymers mit einer GPC

und stellen fest, dass die gemessene Molmasse deutlich kleiner ausfällt als erwartet. Welches Phänomen könnte für diesen Fehler verantwortlich sein?

5) Sie messen zwei verschiedene Polymere A und B mit einem Osmometer

und stellen fest, dass der zweite Virialkoeffizient A2 bei Polymer A deutlich größer ausfällt als bei Polymer B. Welche Schlüsse können Sie daraus ziehen?

6) Angenommen, Sie setzen verschiedene Polymerlösungen an, indem Sie

jeweils 1 g Polymer in 100 ml Lösemittel auflösen. Wird der osmotische Druck dieser Lösungen mit steigender Molmasse des Polymers größer oder kleiner? Begründen Sie diesen Zusammenhang anschaulich.

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5 Makromoleküle in einer Polymerschmelze

5.1 Viskoelastische Eigenschaften einer

Polymerschmelze Flüssige Polymere weisen im Gegensatz zu einfachen, so genannten Newtonschen Flüssigkeiten ein ganz besonderes Verhalten gegenüber mechanischen Kräften und Verformungen auf. Polymer-schmelzen verbinden als Nicht-Newtonsche Flüssigkeiten die Eigenschaften gewöhnlicher Flüssig-keiten mit den Eigenschaften von Festkörpern. Üblicherweise besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Festkörpern und Flüssigkeiten in dem gegensätzlichen Verhalten bezüglich Verformung: während Flüssigkeiten einer gegebenen Verformung durch ihre Zähigkeit (Viskosität) Widerstand leisten, reagiert ein Festkörper auf eine Verformung durch eine elastische Deformation. Dieses Ver-halten wird in einem Torsionsrheometer deutlich, wobei eine feste oder (klassisch) flüssige Probe peri-odisch mit einer torsionsartigen Verformung beaufschlagt wird:

Während der Drehmomentverlauf des Festkörpers exakt gleichphasig zur periodischen Auslenkung erfolgt (elastische Verformung), ist der Drehmomentverlauf der Flüssigkeit dazu um den Wert π/2 phasenverschoben (viskose Reaktion). Polymerschmelzen stellen Übergänge zwischen diesen beiden Extremfällen dar und werden als viskoelastisch bezeichnet. Im allgemeinen Fall gilt für den Zusam-menhang zwischen der Auslenkung ϕ und dem beobachteten Drehmoment D folgende Gleichung:

D = (π/2) (R4/L) Gϕ Dabei ist R der Radius und L die Länge einer (der Einfachheit halber) zylindrischen Probe. Die Größe G ist der so genannte "Schubmodul", er charakterisiert die Verformbarkeit der Probe. Sowohl der Win-kel ϕ = (ϕmax e

iωt) als auch das beobachtete Drehmoment D = (Dmax ei(ωt+δ)) besitzen offensichtlich im

gegebenen Fall periodische Zeitabhängigkeiten, die zueinander eine Phasenverschiebung δ aufwei-sen:

(Dmax ei (ωt +δ)) = (π/2) (R4/L) G (ϕmax e

iωt) Damit die Gleichung erfüllt ist, muss der Schubmodul G eine komplexe Größe besitzen: G = G' + iG'' mit i = (-1)½

t

Dre

hmom

entv

erla

uf

tAus

lenk

ung

Festkörper:

t

Dre

hmom

entv

erla

uf

Flüssigkeiten:

Prüfkörper

l19

Im Falle eines ideal elastischen Festkörpers ist die beobachtete Phasenverschiebung gleich Null. Dann muss G'' ebenfalls gleich Null sein, und das Verhalten des Körpers wird allein durch G' beschrieben. Man nennt G' daher den "elastischen" Modul oder den Speichermodul. Im Falle einer Newtonschen Flüssigkeit besitzt die Phasenverschiebung genau den Wert π/2 (90°). Damit muss G' verschwinden, das gesamte Verhalten wird somit durch G'' beschrieben. Man nennt G'' deshalb den "viskosen" Modul oder den Verlustmodul. Er ist mit der Viskositätskonstante η und der Kreisfrequenz ω der periodischen Auslenkung über die Beziehung G‘‘ = η·ω verknüpft. Zwischen der Phasenverschiebung δ und dem Verhältnis zwischen G’ und G’’ gilt folgender Zusammenhang: tan δ = G’’ / G’ Polymerschmelzen besitzen meistens einen recht hohen Verlustmodul G’’, aber gleichzeitig auch einen gewissen Speichermodul G’. Das heißt, dass sie im Gegensatz zu „normalen“ Flüssigkeiten eine gewisse Elastizität besitzen: versucht man, sie durch eine vorübergehende Krafteinwirkung umzu-formen, so „federn“ sie partiell wieder zurück. Man spricht dabei auch von einem „molekularen Ge-dächtnis“: die ursprüngliche dreidimensionale Form eines Polymerwerkstücks ist in dem molekularen Gefüge in gewisser Weise gespeichert. Gegenstände aus polymeren Materialien können so auch nach langer Zeit in diejenige Form zurückkehren, die der Rohling kurz vor der Umformung besaß. Die Viskosität einer Schmelze hängt darüber hinaus auch stark von der Fließgeschwindigkeit (oder genauer: von der Schergeschwindigkeit, d.h. der Geschwindigkeitsdifferenz dividiert durch den Abstand der gegeneinander bewegten Flächen) ab. Die Viskosität eines Polymers nimmt meistens mit steigender Schergeschwindigkeit ab. Dieses Verhalten wird als „strukturviskos“ bezeichnet. Das Ge-genteil, die Zunahme der Viskosität mit steigender Schergeschwindigkeit („dilatantes“ Verhalten), ist weitaus seltener und für Polymere eher die Ausnahme. Eine einfache und in der Praxis sehr verbreitete Methode zur groben Charakterisierung der Schmelze-viskosität ist die Bestimmung des Melt Flow Index (MFI). Das zu untersuchende Polymer wird in einen beheizbaren, senkrecht angeordneten Zylinder eingebracht, dessen unteres Ende in eine definierte Bohrung als Austrittsöffnung mündet. Bei genau festgelegter Temperatur wird ein Kolben mit bestimmter Auflagekraft eingebracht und die pro Zeiteinheit austretende Polymermenge gemessen:

Auflage-gewicht MFI =

g Polymer

10 Minuten

T = const.

P = const.

Vis

kosi

tät η

(Pa

s)

Schergeschwindigkeit (1/s)

Newton

dilatant

strukturviskos

l20

Übungsblatt 6

1) Warum benötigt man bei der Messung viskoelastischer Eigenschaften einen Deformationsversuch mit periodischer Auslenkung? Welches Ergeb-nis erhält man bei kontinuierlicher Deformation (z.B. konstanter Drehung) a) mit einem idealen Festkörper, b) mit einer idealen Flüssigkeit?

2) Was bedeutet der Term „Tangens Delta“ bei der Charakterisierung eines

viskoelastischen Systems? Welches „Tangens Delta“ erwarten Sie bei a) einem idealen Festkörper, b) einer idealen Flüssigkeit, c) einer typischen Polymerschmelze (geschätzt).

3) Warum besitzt eine Polymerschmelze neben den Eigenschaften einer

Flüssigkeit (Verlustmodul) auch partiell die Eigenschaften eines Festkör-pers? Begründen Sie dieses Phänomen unter Berücksichtigung der mole-kularen Packung und der intermolekularen Wechselwirkungen in einer Polymerschmelze.

4) Warum ist das Verständnis der viskoelastischen Eigenschaften von beson-

derer Bedeutung für die Herstellung von Nanostrukturen aus partiell ge-schmolzenen Polymeren? Betrachten Sie beispielhaft die Herstellung einer nanostrukturierten Polymeroberfläche durch Prägung (Nanoimprinting).

5) Angenommen, Sie möchten eine nanostrukturierte Polymeroberfläche durch Nanoimprinting herstellen. Ihnen stehen dazu zwei Polymere zur Verfügung, die sich nur in dem Wert für Tangens Delta unterscheiden. Welches Polymer würden Sie bevorzugen, das mit größerem oder das mit kleinerem Tangens Delta? Welches Tangens Delta wäre der gewünschte Idealwert?

6) Sie wollen durch Nanoimprinting eine extrem feine Struktur einprägen.

Welche Prozessgeschwindigkeit (schnell oder langsam) sollten Sie bevor-zugt wählen, wenn Ihr Polymer sich a) dilatant, b) strukturviskos verhält?

7) Erklären Sie, warum sich die meisten Polymerschmelzen strukturviskos

verhalten.

l21

5.2 Umformung von flüssigen Polymeren Für die Umformung von flüssigen Polymeren sind zahlreiche Verfahren gebräuchlich. Die wichtigsten großtechnischen Ansätze basieren auf der Anwendung von so genannten Extrudern (s. Abbildung).

Extrusionsanlage für Polymere (nach W. Michaeli, 1992). In der oben eingefügten Skizze ist die nachfolgende Extrusion eines Rohres dargestellt. Die aus dem Extruder austretende Schmelze kann man beispielsweise portionsweise in eine gegebe-ne Form einspritzen (Spritzguss), zwischen Walzen zu einer flächigen Form pressen (Kalandrieren), in einer Form aufblasen (Blasformung), zu langen Profilen ausformen (Extrusion) oder durch eine enge Düse pressen und den austretenden Polymerfaden verspinnen. Extruder dienen auch dazu, das flüssige Polymer mit anderen Polymeren oder Additiven zu vermi-schen. Der Mischungsprozess wird auch als Compoundierung bezeichnet, die Mischung als Com-pound. Die entstandene Mischung wird üblicherweise zu einem dünnen Strang extrudiert und anschließend zu kleinen Körnchen („Pellets“) zerhackt („geschreddert“). Die Pellets können dann einem weiteren Umformungsprozess unterworfen werden, dienen also erneut als Rohmaterial bei-spielsweise für eine Extrusion oder einen Spritzgussprozess. Alternativ kann man Polymere auch portionsweise innerhalb einer Presse aufheizen und unter Druck umformen. Im Bereich der Nanotechnologie fällt beispielsweise das so genannte Nanoimprinting in diese Kategorie (s. Kapitel 7.2).

l22

6 Makromoleküle in festem Polymer

6.1 Amorphe und kristalline Strukturen Feste Polymere lassen sich gemäß ihrer molekularen Struktur in drei Gruppen einteilen: Während die festen Strukturen bei Elastomeren und Duroplasten bereits bei der Polymerisation ausgebildet werden und sich somit nachträglich nicht beeinflussen lassen, entstehen sie bei den Thermoplasten erst aus der flüssigen Phase heraus. Dabei bilden sich innerhalb des Feststoffes im Allgemeinen regellose, amorphe Bereiche neben geordneten, kristallinen Bereichen (s. ovale Markierungen in der oben gezeigten Darstellung). In bestimmten Fällen entstehen völlig amorphe Polymere, in sehr seltenen Fällen kann man dagegen auch völlig kristalline Polymere (Einkristalle) herstellen. Der prozentuale Anteil der kristallinen Bereiche (Kristallisationsgrad) in einem Thermoplast kann durch verschiedene Faktoren beeinflusst werden:

a) Abkühlgeschwindigkeit (je größer, desto amorpher) b) Chemische Zusammensetzung (je homogener, desto kristalliner) c) Taktizität (sinkende Kristallinität in der Reihe isotaktisch-syndiotaktisch-ataktisch) d) Verzweigungsgrad (je höher, desto amorpher) e) Additive (kleine feste Partikel können z.B. als Nukleations-Agenzien wirken) f) Bei Nanostrukturen: Größe von Polymerpartikeln (je kleiner, desto amorpher) g) Bei Nanostrukturen: Dicke eines Polymerfilms (je dünner, desto amorpher)

Die Bestimmung des Kristallisationsgrads erfolgt durch Röntgenstrukturanalyse oder (in der Praxis üblicher) mittels der Dynamischen Differenz-Kalorimetrie (DDK oder „Differential Scanning Calorime-try“, DSC). Messprinzip: Sowohl die eigentliche Probe, als auch ein leerer Probenbehälter (Referenz) werden dem gleichen, auf beiden Seiten streng eingehaltenen Temperaturprogramm unterworfen. Hierzu dienen zwei getrennte Regelkreise. Die zur Heizung der Probe bzw. Referenz benötigten elektrischen Leis-tungen in Watt, deren Größen den Wärmeflüssen dq/dt äquivalent sind, werden aufgezeichnet. Aus der Differenz der Wärmeflüsse dq2/dt - dq1/dt errechnet sich der Wärmefluss in die eigentliche Probe dqProbe/dt.

Klassifizierung:

Thermoplaste

Elastomere

Duroplaste

l23

Schematische Messanordnung:

R e fe re n z

H e izu n g 2 T h e rm o -e le m e n t

2

E D V

T e m p e ra tu r-p ro g ra m m

P ro b e

H e iz u n g 1 T h e rm o -e le m e n t

1R e g e lk re is 1 R e g e lk re is 2

d q 1 /d t

R e g e lk re is 2

d q 2 /d t

Die Probenmenge beträgt normalerweise zwischen 0,1 und 20 mg. Als Probenbehälter dienen, je nach Anwendung, offene oder hermetisch verschließbare Aluminiumbehälter mit etwa 20 bis 50 µl Volumen. Die Probe wird normalerweise in einer Stickstoffatmosphäre gemessen. Das Ergebnis der Messung ist ein so genanntes Thermogramm, in dem die Messgröße dqProbe/dt ge-gen die Zeit oder gegen die Temperatur aufgetragen ist (letzteres ist üblich). Das Thermogramm erlaubt insbesondere die Beobachtung von Phasenübergängen. Beispiel einer Messung an Polyethylen (Messdauer ca. 1/2 Stunde): Temperaturprogramm (oben) und Thermogramm (unten):

T [°C]

dqdt

exotherm

endothermSchmelzvorgang

Kristallisation

Start

Ende

T [°C]

Start Ende

Tmin

Tmax

TmaxTmin O n s e t t e m p e r a t u r

P e a k f l ä c h e

P e a k t e m p e r a t u r

H a l b w e r t s b r e i t e

l24

Anwendungen der DDK bei der Untersuchung von polymeren Materialien: a) Charakterisierung des Schmelzvorgangs : Aus dem Thermogramm eines teilkristallinen Polymers lässt sich direkt dessen Schmelzbereich able-sen, also die Temperaturspanne, in der die Polymerkristalle aufschmelzen. Hierüber ist eine einfache und schnelle, wenn auch nicht immer eindeutige Identifikation des Polymers möglich. Interessanter ist jedoch die Auswertung des eigentlichen Schmelzprozesses. Die Form des Thermogramms während des Schmelzvorgangs, der sog. „Schmelzpeak“, stellt eine Art Fingerabdruck des kristallinen Gefüges des Polymers dar. Um die Einflüsse der thermischen Vorgeschichte der individuellen Probe auszu-schalten, ist es allerdings notwendig, zuvor wenigstens einen Schmelz-Kristallisationszyklus zu durch-laufen:

T [°C]

dqdt

Start

reproduzierbarerSchmelzpeak

Kristallisation

Ende

2. Aufheizschritt

Die Fläche des Kristallisationspeaks entspricht dem Integral des Wärmeflusses über der Zeit und stellt damit die dem Phasenübergang zuzuordnende Gesamtwärmemenge, also (bei konstantem Druck) die Umwandlungsenthalpie dar. Sie bezieht sich auf die Menge an Probe, die den Phasenübergang tatsächlich vollzogen hat. Auf diese Weise lässt sich aus der Schmelzenthalpie (der Fläche des Schmelzpeaks) ableiten, welcher Anteil der Probe vor dem Phasenübergang im kristallinen Zustand vorlag. Somit kann durch Vergleich des Werts mit Literaturdaten der Kristallisationsgrad ermittelt werden. Sind keine Literaturwerte bekannt, wird der Schmelzpeak einer Vergleichssubstanz mit bekanntem Kristallisationsgrad als Referenz verwendet. Beispiel:

T [°C]

dqdt

endotherm

Fläche = ∆ ∆ ∆ ∆ Schmelz 2 H

T [°C]

dqdt

endotherm

Fläche = ∆ ∆ ∆ ∆ Schmelz 1 HReferenz

Probe

Kristallisationsgrad(Probe) = (∆Schmelz 2H / ∆Schmelz 1H) Kristallisationsgrad (Referenz) b) Beobachtung des Kristallisationsvorgangs Die Spontaneität, mit der bei Unterschreiten des Schmelzpunkts die Kristallisation eintritt, ist für den Verarbeiter eine zentrale Eigenschaft des Polymers. Um verschiedene Materialien in Bezug auf dieses Kriterium zu vergleichen, wird der im DDK beobachtete Kristallisationsvorgang entsprechender Proben bei gleicher Abkühlrate gegenübergestellt. Beispiel:

l25

Kristallisationspeak desOriginalmaterials

Kristallisationspeak vonfüllstoffhaltigem Material

T [°C]

Ende

Ende

Die Gegenwart des Füllstoffes führt zu spontanerer Kristallisation des Polymers durch Keimbildung. Über die Fläche des Kristallisationspeaks lässt sich (analog zur Flächenbestimmung beim Schmelz-peak) der Grad der Kristallisation der Probe unter gewählten Abkühlbedingungen bestimmen. c) Sonstige Phasenumwandlungen Phasenumwandlungen fest →→→→ fest Bei verschiedenen teilkristallinen Polymeren, z.B. bei Polyamiden, lassen sich im Thermogramm Phasenumwandlungen zwischen verschiedenen kristallinen Phasen des Polymers nachweisen. Bei Polyamiden führt das zum Auftreten einer „Schulter“ am Schmelzpeak:

T [°C]

dqdt

endotherm

Glasumwandlung Bei allen amorphen und teilkristallinen Polymeren tritt im Verlauf des Thermogramms eine so genannte „Glasstufe“ auf. Ursächlich ist die (bei steigender Temperatur auftretende) plötzliche Zunahme der Beweglichkeit der Moleküle im amorphen Teil der Probe. Sie ist mit einer Veränderung der Wärme-kapazität verbunden, besitzt aber keine Umwandlungsenthalpie. Dementsprechend ist im Thermo-gramm ein Versatz in der Basislinie, aber keine der Umwandlung zugeordnete Peakfläche erkennbar:

T [°C]

dqdt

endotherm

Glasstufe

Die Umwandlungstemperatur wird als Glastemperatur Tg bezeichnet. Sie ist über das Thermogramm nur ungenau zu bestimmen und wird normalerweise unter Zuhilfenahme anderer Methoden der Thermoanalyse gemessen.

l26

Übungsblatt 7

1. Angenommen, Sie verarbeiten einen Thermoplast durch ein Spritzgussverfah-ren. Wie könnten Sie dabei den Kristallisationsgrad des ausgeformten Werk-stoffes herabsetzen, ohne die Zusammensetzung des Polymers zu verän-dern?

2. Warum kann man einen thermoplastischen Werkstoff in einem Extruder

verarbeiten, nicht dagegen einen duroplastischen Werkstoff? Wie werden Werkstücke aus duroplastischen Werkstoffen hergestellt?

3. Welche Messgröße beobachtet ein dynamisches Differenz-Kalorimeter (DDK

bzw. DSC)? Wie kann man daraus eine Schmelzenthalpie berechnen?

4. Wie sähe das DDK-(DSC-)Thermogramm eines komplett amorphen Polymers aus? Welche charakteristische Größe können Sie damit bestimmen? Warum ist diese Größe wichtig?

5. Wie können Sie an einem komplett amorphen Werkstoff die Schmelzenthalpie

bestimmen? Beschreiben Sie den Ablauf eines geeigneten DDK-Experiments

6. Wo können Sie an folgendem Thermogramm den Onset des Schmelzpeaks, wo den Onset der Kristallisation, wo die Schmelz- und Kristallisationsenthal-pien ablesen?

T [°C]

dqdt

Start

reproduzierbarerSchmelzpeak

Kristallisation

Ende

2. Aufheizschritt

7. Warum ist es mitunter wichtig, bei der DDK-Messung den Schmelzvorgang zweifach zu durchlaufen?

l27

d) Chemische Reaktionen Spontane Oxydation bei erhöhter Temperatur: der Oxy dations-Onset Ebenfalls auf einer DSC-Messung beruht ein Standardtest, der die Oxydationsempfindlichkeit eines Polymers misst. Dabei wird die Probe in einer sauerstoffhaltigen Atmosphäre (gewöhnlich Luft) mit konstanter Rate (z.B. 10°C/min) aufgeheizt. Gemesse n wird der Onset des bei dem spontanen Oxydationsprozess (bei der Selbstentzündung der Probe) eintretenden exothermen Signals. Der entsprechende Temperaturwert wird „Oxydation Onset Temperature” (OOT) genannt. Daneben wird alternativ auch ein Test bei konstanter Temperatur durchgeführt, bei dem die Zeit bis zur spontanen Oxydation bestimmt wird („Oxydation Induction Time“, OIT). Vernetzungsreaktionen In ähnlicher Weise wie bei der Oxydation kann auch der Ablauf einer Vernetzungsreaktion anhand des für gewöhnlich exothermen Signals beobachtet werden. So kann man zum Beispiel bestimmen, bei welcher Temperatur die spontane Vernetzung eintritt oder ob die Vernetzungsreaktion bei einem bereits ausgehärteten Duroplast vollständig abgelaufen ist. Im zweiten Fall wird dann einfach die Reaktionsenthalpie der Restreaktion bestimmt.

6.2 Dynamische Prozesse in festen Polymeren In ähnlicher Weise, wie flüssige Polymere teilweise Festkörpereigenschaften aufweisen, so findet man bei festen Polymeren viele Phänomene, die sonst für Flüssigkeiten typisch sind. So können oberhalb der Glasstufe eines thermoplastischen, unvernetzten Polymers (s. Kapitel 6.1 c) Wanderungs-bewegungen einzelner Polymermoleküle auftreten. Dabei „kriechen“ Kettenmoleküle in einer sta-tistischen, wurmartig schlängelnden Bewegung durch das Geflecht der Nachbarmoleküle hindurch („Reptation“). Makroskopisch macht sich dieses Phänomen durch mechanische Relaxation bemerk-bar: unter Last zeigt ein polymeres Werkstück ein so genanntes Kriechverhalten („Creeping“), d.h., es verformt sich allmählich und irreversibel. Gleichzeitig besitzt der Werkstoff allerdings auch eine erhöhte Schlagzähigkeit, er reagiert weniger spröde auf plötzliche Verformung und splittert nicht. Analytisch lässt sich dieses Phänomen am besten mit einem Torsionsrheometer erfassen (s. Kapitel 5.1). Der Tangens der im Verlauf einer periodischen Messung zwischen der Auslenkung und dem Drehmoment auftretenden Phasenverschiebung δ markiert die Relation zwischen Fließvorgängen und elastischer Verformung: tan δ = G’’ / G’ Ein hoch vernetzter, duroplastischer Werkstoff besitzt ebenso wie ein Thermoplast unterhalb der Glasstufe ein sehr kleines tan δ. Dagegen reagiert ein Thermoplast oberhalb der Glasstufe zuneh-mend „flüssigkeitsähnlich“ auf eine gegebene Last, was sich in einem wachsenden Wert für tan δ bemerkbar macht. Der Sprung im Wert von tan δ gilt als die zuverlässigste Methode für die Bestimmung des Glasübergangs.

6.3 Mechanische Eigenschaften fester Polymere Im Vordergrund des mechanischen Verhaltens fester Polymere stehen natürlich wieder die viskoelasti-schen Eigenschaften, die mit einem Torsionsrheometer erfasst werden können. Diese sind insbeson-dere bei einer dynamischen Belastung eines Bauteils auch in der Praxis der Werkstoffprüfung von Bedeutung. Allerdings erfährt ein polymerer Werkstoff in vielen Fällen eine rein statische Bean-spruchung, der er in erster Linie gerecht werden muss. Alle in der Technik verwendeten Werkstoffe werden in dieser Hinsicht ausgiebig getestet, wobei je nach Anwendung verschiedene praxisnahe Belastungsformen simuliert werden. Am wichtigsten ist dabei die so genannte Zugprüfung.

a) Zugprüfung Die Prüfkörper weisen zumeist eine „Knochenform“ auf, gleichen also einem Stab mit verbreiterten Enden:

l28

Dieser „Knochen“ wird an beiden Enden eingespannt und in einer Zugprüfmaschine einer kontinuierlich steigenden Spannung σ = F/A unterworfen. An dem Prüfkörper ist ein Dehnungsmessstreifen befestigt, der parallel zum Zugversuch die Dehnung ε = ∆l / l des Polymers aufzeichnet: Die wichtigsten Kenngrößen, die aus dem Zugversuch gewonnen werden, bestehen in der maximalen Zugspannung σmax (in Megapascal, MPa) und dem Zugmodul E (ebenfalls in der Einheit MPa). Letzterer benennt die Steigung der Zug-Dehnungskurve nach E = dσ / dε. Die Zugspannung charakte-risiert die Reißfestigkeit, während der Zugmodul eine Kenngröße für die Steifigkeit des Materials dar-stellt. Anhand der Zug-Dehnungskurve lassen sich die Polymermaterialien in Gruppen kategorisieren:

b) Biegeprüfung Die wichtigsten Varianten bestehen in der Dreipunkt- und der Vierpunkt-Biegeprüfung. In beiden Fällen tritt an der Innenseite der Krümmung eine Druckbelastung, an der Außenseite eine Zugbelastung auf.

c) Thermomechanische Analyse (TMA) Bei der thermomechanischen Analyse wird wie auch bei der DSC die Probe einem definierten Temperaturprogramm unterworfen. In Abhängigkeit von der Temperatur wird die Länge der Probe in einer Raumrichtung z gemessen. Prinzipieller Versuchsaufbau:

ε[Pa]

σ

weiche Polymere (z.B. PE)

ε[Pa]

σ

spröde Polymere (z.B. Bakelit)

ε[Pa]

σ

gummielastisches Polymer

ε[Pa]

σ

Polymer mit unregelmäßigem Bruchverhalten(z.B. faserverstärkter Polyester)

Zug

Druck

P

σ σ σ

σ

εε ε

ε

o σ [Pa]

ε [%]

Hooke

‘sche

s Gesetz

max. Zugspannung

Bruch

Zugspannungbei Bruch

Zug

dehn

ung

Rei

ßde

hnun

g

∆ε

∆σ

Zugmodul = ∆σ / ∆ε

l29

Heizung Thermo-element

EDV

Temperatur-programm

Probe

elektromagn.gesteuerteLastauflage

induktiverWegaufnehmerz

Länge der Probein z-Richtung

Durch Probe ausge-übte Kraft in z-Richtung

beweg-licherStempel

T [°C]

z

T [°C]

Start Ende

Tmin

Tmax

TmaxTmin Die in z-Richtung etwa 1-20 mm messende Probe wird in einen Probenträger aus Quarzglas eingelegt. Ein beweglicher Stempel, ebenfalls aus Quarzglas, wird auf die Probe abgesenkt und mit einer definierten, vorgegebenen Last beaufschlagt. Während der temperaturabhängigen Messung wird entweder die Kraft konstant gehalten und die vertikale Auslenkung gemessen, oder bei konstanter Position des Stempels die durch die Probe ausgeübte Kraft registriert (eher die Ausnahme). Anwendungen im Bereich der Polymeranalyse:

a) Bestimmung des thermischen Längenausdehnungskoeffizienten α = ∆l/(l0 ∆T). Dabei wird, in Abhängigkeit von der Temperatur, die bei konstanter Auflagekraft registrierte Ausdeh-nung der Probe in z-Richtung festgehalten und in einem Diagramm gegen T aufgetragen (s.u.). Über die Steigung der Kurve lässt sich der Ausdehnungskoeffizient bestimmen. Um den Einfluss irreversibler Relaxationseffekte zu unterdrücken, werden zyklische Tempe-raturprogramme gefahren (Abb. links).

b) Die Glasumwandlung ist gewöhnlich durch eine starke Zunahme des Ausdehnungskoeffi-zienten gekennzeichnet und lässt sich über die Messung von α gegen T ermitteln (Abb. rechts).

T [°C]

z

T [°C]

Start Ende

Tmin

Tmax

TmaxTmin T

Steigung: dz/dT = αααα(T) l0

T [°C]

z

TmaxTmin Glasumwandlung

6.4 Thermische Zersetzung von Polymeren Alle bekannten Polymere neigen bei hohen Temperaturen zur chemischen Zersetzung. Bei allmählich ansteigender Temperatur werden zunächst flüchtige Bestandteile (in erster Linie Wasser, aber auch nicht abreagierte Monomerbausteine) abgegeben, die nur physikalisch gebunden sind. Bei höheren Temperaturen tritt dann die thermische Zersetzung unter Bruch chemischer Bindungen ein. Am besten lässt sich dieser Prozess mit einem weiteren Verfahren der Thermoanalyse beobachten, der unter dem Begriff Thermogravimetrische Analyse geführt wird.

l30

Thermogravimetrische Analyse (TGA) Die in Abhängigkeit von der Temperatur gemessene Größe besteht hierbei in der Masse bzw. dem Gewicht der Probe. Das TGA-Gerät entspricht einer Wägeeinrichtung, deren Probenraum nach einem festgelegten Temperaturprogramm geheizt bzw. gekühlt werden kann. Prinzipieller Aufbau:

Heizung Thermo-element

EDV

Temperatur-programm

Gewicht der Probe w(t)

Probe

elektromagnetische Kompensation der Auslenkung des Wägebalkens

T [°C]

w(t)

T [°C]

Start Ende

Tmin

Tmax

TmaxTmin

Startgewicht

Mittels der TGA werden Gewichts- bzw. Massenverluste einer Probe im Verlauf des Temperatur-programms beobachtet. Bei der Anwendung im Polymerbereich sind insbesondere folgende Messun-gen üblich:

a) Bestimmung des Wassergehalts: Der Masseverlust im Temperaturbereich von 80°C bis 150°C entspricht häufig recht genau dem Gehalt an „ freiem“, d.h. chemisch nicht gebun-denem Wasser, s. Abb. (Nachteil: Neben Wasser können im betrachteten Temperatur-intervall auch weitere flüchtige Komponenten einen Gewichtsverlust hervorrufen).

b) Bestimmung von anderen leichtflüchtigen Komponenten, z.B. flüchtige Additive oder Monomere, s. Abb. (Nachteil: keine eindeutige Zuordnung möglich. Abhilfe: Kopplung der TGA mit FT-IR oder MS).

c) Bestimmung des Gehalts an anorganischen Füllkörpern: Die quantitative Bestimmung von Gehalten an Glas, Talkum und sonstigen mineralischen oder metallischen Füllkörpern ist durch das Niveau des nach Gewichtskonstanz bei hohen Temperaturen erreichten Endwerts zu ermitteln, s. Abb. (Nachteil: auch anorganische Materialien können bei hohen Temperaturen Masseverluste zeigen).

d) Beobachtung der Geschwindigkeit thermischer oder oxidativer Abbauprozesse.

T [°C]

w(%)

Tmax

100 Feuchtegehalt

Monomere, flüchtige Add.

Beispiel: TGA-Messung an gefülltem Polyamid 6,6

PA 6,6

100°C 400°C

Zur Aufnahme der gewöhnlich 1 bis 20 mg schweren TGA-Proben werden Pfännchen aus Platin oder Aluminiumoxid verwendet. Messungen erfolgen in einem inerten Gas (z.B. Stickstoff oder Helium) oder Reaktionsgas (z.B. Luft oder Sauerstoff) in einem Temperaturfenster zwischen Raumtemperatur und etwa 1200 °C.

l31

Übungsblatt 8

1) Angenommen, Sie suchen ein möglichst schlagzähes Material, das auch bei

tiefen Temperaturen keine Sprödigkeit aufweisen soll. Welches Polymer würden Sie bevorzugt einsetzen?

a. Ein Polymer mit einer hohen oder einer niedrigen Glasumwandlungs-temperatur?

b. Ein stark oder ein schwach vernetztes Polymer? c. Ein Polymer mit einer hohen oder einer niedrigen Reißdehnung?

2) Warum ist die kurz vor dem Bruch erreichte maximale Zugspannung meistens

deutlich größer als die „Spannung bei Bruch“?

3) Worin besteht der Vorteil der Vierpunkt-Biegeprüfung gegenüber der Dreipunkt-Biegeprüfung?

4) Warum besitzen sowohl die maximale Zugspannung als auch der Zugmodul

die Dimension des Drucks (Pascal)? 5) Für welche Anwendungen könnte der Unterschied zwischen Zugdehnung und

Reißdehnung von größerer Bedeutung sein? 6) Warum besitzt der Zugprüfkörper im Allgemeinen die Form eines Quaders mit

verdickten Enden („Knochen“)? 7) Warum erhält man aus dem Spannungs-Dehnungsdiagramm bei einem

Biegeversuch stets einen Mittelwert aus Zug- und Druckmodul? 8) Warum kann man selbst bei ideal gummielastischen Polymeren kaum

erwarten, dass der Prüfkörper im Zugversuch das Hooke’sche Gesetz fehlerfrei erfüllt?

9) Warum verwendet man im Zugversuch zur Messung der Dehnung ε einen

Dehnungsmessstreifen, anstatt sich auf die Relativbewegung der Prüfbacken zu verlassen?

10) Welche Phänomene werden bei der TMA-Messung an einem Polymer im

ersten Aufheizvorgang am Diagramm z gegen T erkennbar? Welches Phänomen beeinflusst die Messkurve bei den Wiederholungsmessungen? Wie bestimmen Sie den Längenausdehnungskoeffizienten α des Polymers?

11) Wie bestimmen Sie an einer Polymerprobe mit Hilfe einer TGA den Gehalt an

anorganischen Füllstoffen? Welche Probleme können dabei auftreten?

l32

7 Polymere in der Nanotechnologie

7.1 Anwendung in der Lithografie:

Resist-Materialien Schritte bei der lithografischen Herstellung von mikroelektronischen Bauteilen: 1) Reinigung (Strippen) der Maske 2) Schichterzeugung (Aufbringen des photosensitiven Polymer-Resists) 3) Belichtung durch eine Maske (alternativ kann für „echte“ Nanotechnologie das Beschreiben mit einem Elektronenstrahl durchgeführt werden, diese Variante wird als Elektronenstrahllithografie bezeichnet) 4) Ablösung photochemisch geschädigter Anteile des Polymers (Entwicklung) bei Positiv-Resist … oder … Ablösung nicht vernetzter Anteile bei Negativ-Resist (s. unten)

5) Strukturübertragung durch - Ätzen (hier dargestellt für Positiv-Resist) - Dotieren - Schichtabscheidung 6) Entfernung des Resists einschl. solcher Anteile der Beschichtung, die sich auf dem intakten Resist befinden (hier dargestellt für Positiv-Resist)

silicon

silicon

irradiation

etching

development

development

l33

7.2 Nanoimprinting an Polymeren Die folgenden Skizzen stellen das Prinzip der Methode dar, die sich im Wesentlichen noch in der Entwicklung befindet. 1) Silicium-Oberfläche mit Resist 2) … vor der Prägung 3) … während der Prägung 4) … nach der Prägung 5) Ätzung des ungeschützten Siliciums 6) Entfernung des Resists 7) fertige Struktur

Silicium

“Resist”

Prägestempel

Ätzung Entschichtung

l34

7.3 Polymere Nanopartikel Versucht man, polymere Nanostrukturen herzustellen, so bieten sich grundsätzlich zwei Wege an. Im ersten Fall, dem so genannten Top-Down-Ansatz , bildet man die Strukturen nach einer makroskopischen Vorlage (z.B. einer Vorlage zu einem Prägestempel für das Nanoimprinting). Nach diesem Ansatz sind die Strukturen bisher schwer zu vervielfältigen und damit im Allgemeinen sehr teuer. Allerdings können die Strukturen einen hohen Grad an Komplexität aufweisen. Im zweiten Fall, dem so genannten Bottom-Up-Ansatz , bildet sich die Nanostruktur aus einer molekularen (und damit Pikometer-großen) Vorlage heraus. Dazu gehört in der Natur die spontane Faltung eines Proteins oder, in der Technik, die spontane Bildung komplexer Strukturen aus amphiphilen Block-Copolymeren. Die folgende Abbildung symbolisiert die historische Entwicklung gezielter, menschlicher Einflussnahme auf seine Umgebung in den Größenbereichen zwischen Femtometern (die Größenordnung der Kernphysik) und Kilometern (die größten menschlichen Bauwerke).

Femto- Piko- Nano- Mikro- Milli- Kilo-meter meter meter meter meter Meter meter

Mitt

elal

ter

Frü

hzei

tA

ltert

umN

euze

it20

. Jh

top-downbottom-up

Üblicherweise haben polymere Nanopartikel Durchmesser zwischen 50 nm und 1000 nm (darüber spricht man von Mikropartikeln). Bei massiven (also durch und durch mit Polymer gefüllten) Nano-partikeln spricht man üblicherweise von Nanosphären. Für die meisten Anwendungen wesentlich interessanter sind allerdings entsprechend große polymere Hohlkörper, die so genannten Nanokap-seln. Sie enthalten meistens eine flüssige Füllung, die von den Kapseln hermetisch eingeschlossen wird und so transportiert werden kann. Gemäß dem heutigen Stand der Technik können polymere Nanokapseln in flüssiger Phase nach vier verschiedenen Methoden gewonnen werden:

l35

Trotz ihrer scheinbaren Komplexität sind solche Synthesen teilweise überraschend leicht durchzu-führen. So kann man nach dem Ansatz (a) (Grenzflächen-Polymerisation) mit Materialien, die in jedem Haushalt vorhanden sind (Wasser, Spülmittel, Speiseöl, Alkohol, Backpulver, Sekundenkleber) bereits einfache Mikrokapseln erzeugen. Sowohl die Grenzflächen-Polymerisation (a) als auch die Grenzflä-chen-Fällung (b) basieren darauf, dass zunächst einmal eine Emulsion (also die Verteilung von Flüssigkeitstöpfchen in einer Flüssigkeit) hergestellt wird. Die dabei erzeugten Tröpfchen bilden praktisch die Formvorlage zur Entstehung der Kapseln. Häufig bestehen die verteilten Tröpfchen aus einem wasserunlöslichen Öl, z.B. einem synthetischen Speiseöl. Dann wird entweder der Grund-baustein des Polymers (das so genannte Monomer) in dem Öl gelöst und z.B. durch Verminderung des Säuregrades an der Grenzfläche zur Polymerisation gebracht (Grenzflächen-Polymerisation, a), oder das bereits vorgebildete Polymer wird im Öl gelöst und an der Grenzfläche ausgefällt (Grenzflächen-Fällung, b). Weitere Verfahren zur Herstellung von Kapseln sind die Layer-by-Layer-Methode (c) und die Selbstassoziation (d). Im Fall (c) werden geladene Kettenmoleküle Lage um Lage auf einem festen Partikel abgeschieden, so dass sich nach der Art einer Zwiebelschale ein mehr-schichtiger Aufbau ergibt. Abschließend wird das feste Partikel im Kern der Kapsel herausgelöst. Die Selbstassoziation (d) führt durch selbsttätiges Aneinanderlagern von oberflächenaktiven Polymer-molekülen zu so genannten polymeren Vesikeln, die man als relativ dynamische und kurzlebige Kap-selstrukturen verstehen kann. Dabei besteht dann die Kapselmembran aus einer so genannten Doppelschicht, in der die wasserliebenden Seiten der Moleküle nach außen und die wasserabstoßen-den Seiten nach innen zeigen.

10 Nanometer

Monomereinheiten

Chemisch induziertePolymerisation an derPhasengrenzfläche

Öltropfen mit gelöstem Wirkstoff

a) Herstellung von Nanokapseln durch Grenzflächen-Polymerisation

b) Herstellung von Nanokapseln durch Grenzflächen-Fällung

10 Nanometer

Gelöstes Polymer

Physikalischinduzierte Fällungdes Polymersz.B. durch Diffusion des Lösemittels

Öltropfen mit gelöstem Wirkstoff

c) Herstellung von Nanokapseln durch Layer-by-Layer-Adsorption

10 Nanometer

Dispergiertes Nanopartikel mit der Ladung A (entweder + oder -)

Oberflächliche Adsorption des Polymers durch elektrostatische Wechselwirkung

Erste Polymerlage mit der Ladung B (entweder - oder +)

Zweite Polymerlage mit der Ladung A (entweder + oder -)

…usw.

d) Herstellung von Nanokapseln durch Selbstassoziation

10 Nanometer Doppelschicht aus amphiphilen Molekülen

Wässrige Phase mit gelöster aktiver Komponente

l36

Die Schwierigkeit besteht häufig darin, die entstandene Struktur zu identifizieren. Rein optisch erhält man keinen Aufschluss darüber, ob sich überhaupt Kapseln gebildet haben. Naheliegend wäre eine mikroskopische Untersuchung der „Milch“, bzw. der darin enthaltenen Partikel. Die gewöhnliche optische Mikroskopie reicht allerdings mit ihrer begrenzten Auflösung nicht aus, die Strukturen sichtbar zu machen, denn die Kapseln sind nur etwa so groß wie die Wellenlänge des sichtbaren Lichts. Aber auch die Rasterelektronenmikroskopie führt in vielen Fällen nur zu sehr unbefriedigenden Ergeb-nissen, da sich die oberflächenaktive Substanz wie ein Schleier über die Kapseln legt, die ihre äußere Form höchstens erahnen lassen (s. folgende Abb. rechts). Abb. Links: Schematischer Aufbau einer Nanokapsel. Abb. Rechts: Eingetrocknete Probe einer

Nanokapseldispersion unter einem Rasterelektronenmikroskop. Etwas besser gelingt dies mit der so genannten Kryo-Transmissions-Elektronenmikroskopie, mit deren Hilfe der Kern-Schale-Aufbau der Kapseln sichtbar gemacht werden kann. Auch diese Methode lässt jedoch klare Aussagen zum Beispiel zur Beschaffenheit von Hülle und Kern der Kapseln vermissen. Der Nachweis der Kapselstruktur gelingt am besten mit einer relativ jungen Methode, die als Atomare Kraftmikroskopie (oder Atomic Force Microscopy, kurz: AFM) Einzug in das Repertoire der Nano-technologie genommen hat. Hierbei wird die Form der Kapsel mit einer Art nadelfeiner Spitze in einem feinen Raster systematisch abgetastet, so dass mit Hilfe eines Computers ein mechanisch erzeugtes Abbild der Struktur entsteht (folgende Abb. links). Abbilder einer einzelnen Nanokapsel, die mit Hilfe eines Atomaren Kraftmikroskops (AFM) erzeugt wurden.

Das linke Bild zeigt die ursprüngliche Kapsel, das mittlere und rechte Bild dieselbe Kapsel nach einem bzw. zwei Eindrückversuchen.

Mittels der Messspitze gelingt es auch, die Kapsel an einer gewünschten Stelle gezielt einzudrücken und deren Festigkeit zu bestimmen. Man erhält dabei eine Kraft-Weg-Kurve nach Art einer Spannungs-Dehnungs-Kurve (s. Abschnitt 6.3), deren Verlauf Rückschlüsse auf die Flexibilität der Kapselhülle zulässt. So verhalten sich viele Kapseln ähnlich wie beispielsweise ein Tischtennisball: sie leisten viel Widerstand, solange die Hülle an der Eindrückstelle noch nach außengewölbt ist. Sobald die Kapselmembran die erste Vertiefung aufweist, ist der Widerstand gegen weiteres Eindrücken deutlich geringer. Die letzte Abbildung (Mitte und rechts) zeigt die Form einer Kapsel nach einem bzw. nach zwei solchen Eindrückversuchen. Die im Eindrückversuch bewirkte Verformung ist permanent und lässt Rückschlüsse auf die Flexibilität und die Elastizität der Kapselwand zu. Insbesondere kann sie auch als Beleg dafür herhalten, dass es sich tatsächlich um einen Hohlkörper mit einer flexiblen Wand und einem flüssigen Inhalt handelt. Tritt bei einem solchen Versuch ein Teil des flüssigen Inhalts aus, so führt der Volumenverlust bei gleichzeitigem Erhalt der Oberfläche zu einer typischen Faltung der Kapselhülle, die analytisch ausgewertet werden kann (Abbildung rechts).

10 Nanometer

Kapselwände ausPolymer

Ölphase

eingeschlossener Wirkstoff

oberflächenaktive Substanz

200 - 500 nm

500 nm

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Übungsblatt 9

1) Beschreiben Sie die grundsätzlichen Prinzipien des Top-Down-Ansatzes sowie des Bottom-Up-Ansatzes. Erläutern Sie die mit diesen Vorgehens-weisen grundsätzlich verbundenen Vor- und Nachteile. Nennen Sie jeweils ein Beispiel.

2) Warum bereitet die optische Lithografie im Größenbereich der Nanotechno-

logie grundsätzliche Probleme? Wie können diese Probleme durch einen geänderten physikalischen Ansatz gelöst werden?

3) Warum ist bei der Strukturbildung im Nanometerbereich die Methode des

Nanoimprintings möglicherweise der Lithografie überlegen? 4) Ordnen Sie alle Ihnen bekannten Verfahren der Nanotechnologie den beiden

Sparten Top-Down-Ansatz und Bottom-Up-Ansatz zu.

5) Warum besitzt die Technik der Atomaren Kraftmikroskopie neben ihrem Potential in der Analytik nanoskopischer Strukturen auch Anwendung bei der Präparation in der Nanotechnologie? Beschreiben Sie eine mögliche Vorgehensweise.

6) Erläutern Sie das Verfahren der Grenzflächen-Polymerisation, das zur Bildung

von Nanokapseln führt. Welche Voraussetzungen muss das verwendete Monomer erfüllen?

7) Welche potentiellen Anwendungen besitzen polymere Nanokapseln? 8) Nennen Sie ein Beispiel für eine biologische Nanostruktur und erläutern Sie,

inwiefern diese als Vorbild für technische Anwendungen dienen kann.

10 Nanometer

Monomereinheiten

Chemisch induziertePolymerisation an derPhasengrenzfläche

Öltropfen mit gelöstem Wirkstoff

a) Herstellung von Nanokapseln durch Grenzflächen-Polymerisation

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7.4 Anwendungen in der Medizin Der Ansatz, Nanokapseln als Träger von medizinischen Wirkstoffen zu nutzen, ist bereits mehr als hundert Jahre alt. Tatsächlich geht diese Idee ursprünglich auf den Chemiker, Mediziner und Nobel-preisträger Paul Ehrlich zurück, der von 1854 bis 1915 lebte. Einer der Schwerpunkte seiner Arbeit war die Bekämpfung der Syphilis, einer Infektionskrankheit, für die es Ende des 19. Jahrhunderts noch keine erfolgreichen Therapieansätze gab. Im Jahr 1909 entwickelte er zur Behandlung von Syphilis-patienten das Präparat Arsphenamin, das unter dem Namen „Salvarsan“ bekannt wurde. Wie der Name durchblicken lässt, enthält es das Element Arsen und ist dementsprechend stark giftig. Seine Wirkung beruht letztlich darauf, dass es für den Erreger der Syphilis in geringem Maße toxischer ist als für den Patienten, so dass die Therapie mit diesem Medikament eine feinfühlige Dosierung verlangte und stets von schweren Nebenwirkungen begleitet war. Dieser Zustand stellte Paul Ehrlich begreif-licherweise nicht sehr zufrieden und er sann stetig auf eine Verbesserung des Therapieansatzes. Der Legende nach besuchte Paul Ehrlich eines Abends die Oper „Der Freischütz“, in deren Handlung magische Kugeln eine zentrale Rolle spielen, die stets ihr zugedachtes Ziel treffen. Dies brachte ihn auf die Idee, den Ansatz der magischen Kugel auf die Chemotherapie von Infektionen zu übertragen: er stellte sich vor, man könnte den Wirkstoff in eine Kugel packen und so lenken, dass er nur an seinem Zielort, dem Infektionsherd, zur Wirkung kommt. Auf diese Weise ließe sich die Dosierung des Medikaments und seine Nebenwirkungen erheblich reduzieren. Diese Idee, die heute noch unter dem Begriff „Magische Kugel“ oder, in internationalem Umfeld, als „Magic Bullet“ bekannt ist, hat die Fachwelt seither nicht mehr losgelassen. Eine der möglichen Strukturen, die zur Herstellung von „Magic Bullets“ geeignet wären, sind die besagten polymeren Nanokapseln. Sie bestehen aus einem dünnwandigen Hohlkörper, der aus einer polymeren Membran gebildet wird. Der Durchmesser beträgt typischerweise etwa 200 bis 500 Nanometer, das Volumen beläuft sich somit auf 0,004 bis 0,065 Femtoliter (1 Femtoliter sind 10-15 Liter, also der Milliardste Teil von einem Millionstel Liter). Die Wandstärken liegen im Bereich zwischen 2 bis 20 Nanometer, im Allgemeinen ist die den Inhalt einschließende Membran also nur wenige Moleküle dick. In Inneren der Kapseln befindet sich ein flüssiger Inhalt (häufig ein neutrales Öl), der den Wirkstoff entweder in gelöster oder in dispergierter Form enthält. Gelegentlich besteht der flüssige Kern sogar aus einem reinen flüssigen Wirkstoff ohne weitere Zusätze. Um zur Anwendung zu kom-men, werden die Kapseln in wässriger Phase fein verteilt, so dass eine leicht trüb erscheinende Dispersion entsteht. Um diese Dispersion zu stabilisieren werden die Kapseln mit einer Schicht aus einer oberflächenaktiven Substanz versehen, welche die Agglomeration, also das Verklumpen der kleinen Kügelchen verhindert. Mit durchschnittlich etwa 10 Femtogramm (10-15 Gramm, also der Milliardste Teil von einem Millionstel Gramm) ist die eingeschlossene Flüssigkeitsmenge pro Kapsel zwar extrem klein, andererseits ist jedoch die Zahl der Kapseln in einer gegebenen Dispersionsmenge wiederum sehr groß: eine typische Dosis von einem Milliliter Dispersion enthält etwa 1012, also rund eine Billion Nanokapseln. Jeder dieser mikroskopisch kleinen Hohlkörper bewegt sich eigenständig nach einem Mechanismus, der Brownsche Teilchenbewegung genannt wird. Das Charakteristische an dieser Bewegungsform ist seine Zufälligkeit und die Tatsache, dass die durchschnittlich zurückgelegte Wegstrecke umso größer ist, je kleiner die Teilchen sind. Eine typische Nanokapsel mit einem Durchmesser von 200 Nanometern legt danach in einem wässrigen Medium bei Raumtemperatur innerhalb von einer Minute eine Wegstrecke von durchschnittlich 0,013 Millimetern zurück. Diese statistische Bewegung überlagert sich dem Strömungsprozess der umgebenden Flüssigkeit, zum Beispiel dem des Blutplasmas innerhalb von Kapillargefässen. Die Wände der meisten Nanokapseln sind mehr oder weniger porös; die Kapselwand umschließt ihren Inhalt nicht etwa wie eine hermetisch dichte Hülle sondern eher wie eine Art eng verflochtenes Netz mit einer Vielzahl von Poren und Kanälchen, die einen Austausch kleiner Moleküle erlauben. Diese Struktur ergibt sich bei polymeren Nanokapseln aus der Tatsache, dass die Hülle lediglich aus wenigen Lagen von verschlungenen und vielfach vernetzten Molekülketten aufgebaut ist. Man darf sie sich also nicht wie ein wirklich dichtes Gefäß vorstellen, sie gleichen vielmehr einer Art Teesieb auf molekularer Ebene. Ist die Membran einer Nanokapsel für einen gegebenen Wirkstoff sehr durch-lässig, so kann sich bereits nach wenigen Millisekunden ein Gleichgewicht zwischen eingekapselter und freier Phase einstellen. Nur größere Moleküle innerhalb des Kapselinhalts, zu denen auch die Mehrzahl der pharmazeutischen Wirkstoffe zu rechnen sind, werden einigermaßen dauerhaft zurück-gehalten und erst nach dem biologischen Abbau der Kapselwand freigegeben. In der internationalen Fachsprache der Pharmazeuten bezeichnet man den Freisetzungsprozess von eingeschlossenen Wirkstoffen als "Release". Hat man nun einen Wirkstoff erfolgreich und für eine ausreichende Dauer eingeschlossen so stellt sich die Frage, wie die Kapsel an den gewünschten Wirkungsort gelangt. Ein Faktor, der für eine selektive

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Anreicherung der Kapseln an einem gegebenen Zielort führt, ist bereits deren Größe. Manche Organe weisen im Epithelgewebe ihrer Blutgefäße typische Porositäten auf, in denen sich Partikel einer geeigneten Größe anreichern. Das gilt unter anderem für Tumorgewebe, dessen Gefäßwände von einer charakteristischen Rauigkeit geprägt sind. Passt man die Kapseln in ihrem Durchmesser dieser Gegebenheit an, so akkumulieren sich die Kapseln aus dem Blutstrom heraus nach und nach in den Gefäßen des Tumors. Im Idealfall gelingt bereits auf diese einfache Weise eine Anreicherung nach dem Prinzip eines „Magic Bullets“. Wesentlich anspruchsvoller und gleichzeitig selektiver ist allerdings die Verwendung von spezifischen Rezeptoren an der Kapselwand. Diese Rezeptoren funktionieren nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip: sie erkennen einen ganz bestimmten Zelltyp, zum Beispiel eine einzelne Tumorzelle, an bestimmten Strukturen an deren Oberfläche und führen zu einer irreversiblen Anheftung der Kapsel (s. folgende Abbildung). Das Anbringen der Rezeptoren an der Kapseloberfläche ist in den meisten Fällen denkbar einfach. Es genügt häufig, diesen Antikörper in die Dispersion der Kapseln einzutragen – die Anheftung an die Kapseloberfläche geschieht dabei selbsttätig durch einen einfachen Adsorptions-vorgang. Da der besagte Wachstumsfaktor bei manchen Tumorzellen in starker Ausprägung auftritt, reichern sich die so markierten Kapseln nach mehreren Passagen im Blutkreislauf automatisch an den Tumorzellen an und erlauben so – mit einem entsprechend wirksamen Inhaltsstoff in den Kapseln - deren gezielte Bekämpfung.

10 Nanometer

10 Nanomete r

10 Nanomet er

10 Nanometer

10 Nanometer

10 Nanometer

Schematische Darstellung der Funktion von Nanokapseln, die mit zellspezifischen Rezeptoren versehen sind. Die oberflächengebundenen Rezeptoren erkennen die passenden Strukturen an der Membran der Zielzelle (rechts unten) und binden dort. Auf diese Weise kommt es zu einer Anreicherung der Kapseln am Zielgewebe. Die flachen scheibenförmigen Gebilde sollen rote Blutzellen darstellen. Andere spezielle Markierungen ermöglichen den Nanokapseln das Eintreten in den Zellkern. Der Nachweis wird häufig mit Hilfe eines Gens geführt, welches die Expression von grün fluoreszierendem Protein hervorruft. Gelingt die Übertragung des Gens, so findet man bei Betrachtung mit dem Mikroskop unter Einwirkung von UV-Licht grün leuchtende Zellen. Die Zahl der leuchtenden Zellen kann als Qualitätsmerkmal für die Effizienz der Übertragung gelten. Die Anzahl leuchtender Zell im Vergleich mit kommerziellen Genübertragungssystemen belegt die relativ hohe Effizienz der verwendeten Kapseln als Überträger von genetischem Material.

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Ein weiterer, faszinierender Gedanke ist die Idee, die Wanderung der Kapseln durch Einwirkungen von außen zu steuern. Tatsächlich ließe sich eine Fernsteuerung durch magnetische Kräfte verwirklichen. Hierzu werden Nanokapseln an ihrer Oberfläche dicht mit magnetischen und gleichzeitig physiologisch unbedenklichen Eisenoxid-Partikeln belegt (folgende Abbildung). Durch das Anlegen eines starken, inhomogenen Feldes können Kräfte induziert werden, welche die Kapseln an einer gewünschten Stelle akkumulieren und dort festhalten. In der Praxis könnte man einen starken Elektro- oder Permanent-magneten im Umfeld des Zielgewebes extern anlegen oder auch endoskopisch in den Organismus einbringen. Die Kapseln erfahren dann in Richtung des magnetischen Feldgradienten eine Kraft, die für sich gesehen zwar recht klein ist, aber für eine allmähliche Anreicherung der Partikel in einem räumlich engen Bereich ausreicht. Das allmähliche Fortschreiten des Anreicherungsprozesses könnte darüber hinaus auch auf elegante Weise verfolgt werden: magnetische Partikel sind ein sehr wirksames Kontrastmittel für die Kernspintomographie. Im Kernspintomographen würde sich eine lokale Ansammlung von magnetischen Kapseln mit hoher Empfindlichkeit nachweisen und bildhaft darstellen lassen. Bei der therapeutischen Anwendung der magnetischen Träger kann der behandelnde Arzt auf diese Weise den Erfolg des Wirkstofftransports zum Krankheitsherd während der Behandlung kontrollieren. In einem dritten Schritt schließlich kann er die magnetischen Eigenschaften der Kapseln auch noch nutzen, um den Wirkstoff zu dem erwünschten Zeitpunkt freizusetzen. Hierzu wird von außen ein elektromagnetisches Wechselfeld angelegt, das selektiv die magnetische Hülle der Kapseln aufheizt. Die thermisch nicht besonders stabilen Kapselwände werden unter diesen Umständen schließlich geöffnet und der Inhalt tritt an gewünschter Stelle und zum gewünschten Zeitpunkt nach außen.

Elektronenmikroskopisches Abbild einer Nanokapsel mit einem Durchmesser von 400 Nanometer, die an ihrer Oberfläche mit magnetischen Eisenoxidpartikeln (Fe3O4) belegt wurde. Durch die Einwirkung von äußeren Magnetfeldern lassen sich solche Kapseln quasi fernsteuern. Das Eisenoxid erscheint in dieser Art der Darstellung hell vor dunklem Hintergrund. In den meisten Fällen strebt man eine möglichst hermetische Einkapselung von Wirkstoffen an. Bisweilen ist jedoch ein schneller Austausch von Substanzen mit der Umgebung durchaus erwünscht; häufig besteht darin sogar die eigentliche Funktion des Systems. Ein aktuelles Beispiel für solch einen

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Fall ist die Anwendung von Nanokapseln als Sauerstoffträger für künstlichen Blutersatz. Eine wässrige Dispersion solcher Kapseln könnte, beispielsweise bei unfallbedingtem Blutverlust, das körpereigene Blut vorübergehend ersetzen. Die Nanokapseln sollen dabei eine ähnliche Funktion entfalten wie rote Blutkörperchen in natürlichem Blut: in sauerstoffreicher Umgebung, also in den Kapillargefäßen der Lunge, sollen die Kapseln rasch Sauerstoff aufnehmen. In sauerstoffarmer Umgebung, beispielsweise in den Kapillargefäßen der Muskeln, soll der Sauerstoff ebenso schnell wieder abgegeben werden. Entsprechendes, aber in umgekehrter Richtung, sollte im Idealfall auch für das Gas Kohlendioxid gelten. Der aktive Inhaltsstoff der Kapseln muss dabei in der Lage sein, Sauerstoff und andere Gase reversibel aufzunehmen und abzugeben. Eine in dieser Hinsicht sehr interessante Stoffklasse sind polyfluorierte Kohlenwasserstoffe (PFK). Sie stellen extrem effiziente Lösemittel für sämtliche Gase dar: ein Liter des PFK Perfluordekalin löst beispielsweise bis zu 420 ml Sauerstoff. Eine solche, mit Sauerstoff gesättigte Flüssigkeit ist sogar in der Lage, einem Lungenatmer die Atmung zu ermöglichen, indem sie direkt in die Lunge eingebracht wird. Der einfachste Ansatz für einen funktionellen Blutersatz besteht nun darin, eine Dispersion von PFK-gefüllten Nanokapseln in einem synthetischen Blutplasma einzusetzen. In sauerstoffreicher Umgebung würde sich der PFK im Kapselkern durch die Kapselmembran hindurch mit Sauerstoff sättigen, in sauerstoffarmer Umgebung würde es den Sauerstoff auf demselben Wege wieder angeben. Die Kapseln würden somit die wichtigste Funktion der roten Blutzellen, den Transport von Sauerstoff, übernehmen. Dies setzt voraus, dass die Gasmoleküle die Kapselhülle sehr rasch durchtreten können, so dass sich innerhalb weniger Millisekunden ein Konzentrationsgleichgewicht einstellt. Gegenwärtig laufen in diesem Zusammenhang Versuche, den schnellen Gasaustausch anhand eines Modellgases (Xenon) zu beobachten. Die Sättigung der Kapseln mit dem Gas Sauerstoff lässt sich mit spektroskopischen Methoden einfach und direkt bestimmen. Die dispergierten Nanokapseln werden in systematischen Versuchen innerhalb des Spektrometers einem schnellen Gaswechsel unterworfen, indem man abwechselnd Sauerstoff und Stickstoff in die Lösung einleitet. Gleichzeitig wird während des simulierten „Atmung“ der relative Sauerstoffgehalt der Kapseln aufgezeichnet und ausgewertet (s. folgende Abbildung). Die Ergebnisse zeigen, dass beide Prozesse, sowohl die Sauerstoffaufnahme als auch die Sauerstoffabgabe, vollkommen reversiblen Charakter haben. Zwar verlaufen beide Vorgänge nicht ganz vollständig (die Abgabe bis auf einen Restanteil von 10%, die Aufnahme bis auf eine Sättigung von 80%), dennoch würde die ausgetauschte Sauerstoffmenge ausreichen, um ein lebendes Gewebe zu versorgen.

Gassättigung von PFD gefüllten Acrylatkapseln 15%

PFD vor Präparation O2-gesättigt

-35,00

-30,00

-25,00

-20,00

-15,00

-10,00

-5,00

0,00

5,00

0,00 50,00 100,00 150,00 200,00 250,00

Zeit in Minuten

Shi

ftver

schi

ebun

g 19

F N2 (1)

O2 (1)

N2 (2)

O2 (2)

N2 (3)

O2 (3)N2 O2

10Rel

ativ

er S

auer

stof

fgeh

alt [

%]

0 50 100 150 200 250

Zeit (min)

N2 O2 N2 O2

20

30

40

50

60

70

80

Beobachtung der Sauerstoffaufnahme und -abgabe in einer Dispersion aus PFK-gefüllten Nanokapseln. Die Dispersion wird dabei abwechselnd mit Stickstoff (N2) und Sauerstoff (O2) begast. Der relative Sauerstoffgehalt wird mit Hilfe eines NMR-Spektrometers gemessen. Bereits die genannten Beispiele zeigen, welches Potential polymere Nanokapseln im medizinischen Umfeld entfalten können. Allerdings sind bis zur praktischen Nutzung noch einige Hürden zu überwinden, die ersten wirklich vielversprechenden Ansätze sind wohl erst in etwa !0 Jahren zu erwarten.