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Was Kinder stärkt –Salutogenese und Resilienz
Dr. Zrinka Sosic‐Vasic, Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen
Universität Ulm
Salutogenese
„salus“ (lat.) = „Unverletztheit, Heil, Glück“; „genese“ (griech.) = „Entstehung“; )
Salutogenese als ressourcenorientiertes Konzept im Gegensatz zur Pathogenese als defizitorientiertes Konzept, stellt die Frage
Wie entsteht Gesundheit? Wie wird sie bewahrt?Welche Faktoren ermutigen die Gesundheit?Wie wird ein Mensch mehr gesund oder weniger krank?Was ist das Besondere an Menschen, die trotz extremster Belastung nicht krank werden?
Aaron Antonovsky, (1923‐1994)
Salutogenese
vulnerabel resilient
Risikofaktoren Schutzfaktoren
Stressoren
ICH
Salutogenese
Schutzfaktor:Kohärenzgefühl – Sense of Coherence
„sense“ (engl.) = „Sinn, Empfindung, Gefühl, Verstand, Bedeutung“; „coherence“ (engl.) = „Zusammenhang, Stimmigkeit“; )
Kein Gefühl im engeren Sinn: neben der gefühlsmäßig – affektiven Seite, eher ein Wahrnehmungs‐ und Beurteilungsmuster, ein kognitives Raster
Eine globale Orientierung, sich dem Leben und seinen Herausforderungen gewachsen zu fühlen und einen Sinn darin zu sehen, die Anforderungen zu b äl i
VerstehbarkeitErfahrungen werden als kognitiv sinnhaft, vorhersehbar, durchschaubar und erklärbar wahrgenommen.
MachbarkeitHerausforderungen werden als bewältigbar bzw. lösbar wahrgenommen, man glaubt an die Verfügbarkeit geeigneter Ressourcen.
BedeutsamkeitHerausforderungen werden derart bewertet, dass sie es der Anstrengung und Engagements wert seien.
SOC
Verstehbarkeit
Handhabbarkeit Bedeutsamkeit
Kohärenzgefühl – Sense of Coherence(SoC)
Kindheitbesonders wichtigalle Erlebnisse und Erfahrungen
Adoleszenzviele Lebensbereiche offenOrientierungsphase
Bis 30 JahreFestlegung der familiären u. beruflichen LebensbereichS0C wird gefestigt
Späterkaum mehr Entwicklungnur bei radikalen VeränderungenEinfluss durch Therapie
Entwicklungsphasen des Kohärenzgefühls
Was bedeutet Resilienz?
„resilience“ (engl.) = „Spannkraft, Elastizität, Strapazierfähigkeit“; lat. resilere = abprallen) Resilienz meint die psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber
PsychosozialenPsychologischenBiologischen Entwicklungsrisiken
Die Fähigkeit, erfolgreich mit belastenden Lebensumständen umzugehen. ‐ Die Fähigkeit, sich von einer schwierigen Lebenssituation nicht „unterkriegen zu lassen“ bzw. „nicht daran zu zerbrechen“. „Das Immunsystem der Seele.“
Wie entwickelt sich Resilienz?
Kein angeborenes, stabiles und generell einsetzbares Persönlichkeitsmerkmal
Entwickelt sich in der Auseinandersetzung mit Herausforderungen
Bezieht sich auf einen Interaktionsprozess zwischen Kind und Umwelt. D.h. ein Kind erzeugt Resilienznicht primär aus sich heraus, sondern aus Interaktion
Resilienzforschung
Resilienzforschung seit den 70er‐Jahren: Wie kommt es, dassKinder in schwierigen Umständen nicht zerbrechen, sonderndas Leben erstaunlich gut bewältigen?
Salutogenese: “Wie entsteht Gesundheit?”(Antonovsky 1997)
Kauai‐Studie: Empirische Sozialforschung bei Kindern in Risikofamilien auf Hawaii
(Werner & Smith, 2001)
Mannheimer Riskiokinderstudie: Sozialforschung bei Kindern in Risikofamilien in Mannheim
(Laucht et al. 2001)
Bielefelder Invulnerabilitätsstudie: Sozialforschung beiHeimkindern mit erhöhtem Entwicklungsrisiko
(Lösel & Bender, 1999)
Ergebnisse der Resilienzforschung: am Beispiel der Kauai‐Studie
Kauai‐LängsschnittstudieStudie zur Entwicklung von 698 Kinder, die 1955 auf Hawaigeboren wurden
6 Erhebungszeitpunkte: Pränatale Episode, im Alter von: 1, 2, 10, 18, 32 Jahren
30% der Kinder (209 Kinder) hatten bereits sehr früh ein hohes Entwicklungsrisiko (Armut, Geburtskomplikationen, belastete Familie).Diese Gruppe gab Aufschluss über Resilienzentwicklung
Emmy Werner, geb. 1929
Resiliente Vulnerable1/3 der Kinder 2/3 der Kinder
Absolvierten die Schuleerfolgreich
hatten im Alter von 10 Verhaltensprobleme, Lernprobleme, psychische Probleme, Delinquenz
wurden kompetente, zufriedene und fürsorgliche junge Erwachsene
und / oder Schwangerschaften vor dem 18. Lebensjahr
Werner & Smith 2001
Ergebnisse der Resilienzforschung: am Beispiel der Kauai‐Studie
pränatal
Eltern-Kind-Beziehung
familiär
biologisch
sozial
Rahmenbedingungen
Risikofaktoren
Mutter >36 Jahre oder <15 Jahre
Schnell aufeinanderfolgende Schwangerschaften
Chronische Belastungen
Körperliche Erkrankungen
Pränatale Risiken
Frühgeburt
‚schwieriges Temperament‘
Cerebrale Krampfanfälle
Deutliche Asphyxie
Geburtsgewicht <1,5kg
Biologische Risiken
Unsicher ‐vermeidend
Desorganisiert ‐hochunsicher
sicher
Unsicher ‐ambivalent
Bindungstypen
Psychische Probleme der Eltern
Überbelastung der Eltern
Gewalt
4 oder mehr Kinder
Kriminelles Verhalten der Eltern
Allein erziehende Eltern
Familiäre Risiken
Armut
Migrations‐hintergrund
Fremd‐unterbringung
Migrations‐hintergrund
Soziale Benachteiligung
Medien Ernährung
Soziale Risiken
Vernachlässigung
Passiver Medienkonsum
Spaßgesellschaft
Verwöhnung
Überforderung Funktionalisierung
Ungünstige Rahmenfaktoren
Schutzfaktoren resilienter Kinder
Es gibt Faktoren, die Entwicklungsrisiken, denen Kindern ausgesetzt waren, ausgleichen bzw. entgegen wirken können (Bengel et al., 20099:
Personale RessourcenSoziale Ressourcen
Schutzfaktoren resilienter Kinder: Personale Ressourcen
Positive Temperamentseigenschaften (flexibel, aktiv, offen)Sense of Coherence (Kohärenzgefühl)Intelligenz, Sprachfähigkeiten, schulische LeistungenInternale Kontrollüberzeugung Hohe SelbstwirksamkeitRealistische Selbsteinschätzung und ZielorientierungFähigkeit zur Selbstregulation (gut ausgeprägte Exekutivfunktionen wie hohe Impulskontrolle)Geringe EmotionalitätHohe Sozialkompetenz wie z.B. Empathie und VerantwortungsübernahmeTalente, Interessen und Hobbies
Schutzfaktoren resilienter Kinder: Soziale Ressourcen
Innerhalb der Familie
Innerhalb der Schule (oder anderen) Bildungsinstitutionen
Im weiteren sozialen Umfeld
Soziale Ressourcen:Innerhalb der Familie
Mindestens eine stabile, verlässliche Bezugsperson, die Vertrauen und Autonomie fördertDemokratischer Erziehungsstil (emotional positives, unterstützendes Erziehungsverhalten, Feinfühligkeit, Responsivität)Zusammenhalt, konstruktive Kommunikation unterstützendes ErziehungsklimaUnterstützendes familiäres Netzwerk (Verwandschaft, Freunde, Nachbarn)Religiöser Glaube in der FamilieHohes Bildungsniveau und sozioökonomischer Status der ElternErstgeborenes Kind
Soziale Ressourcen:Innerhalb der Schule
„Unter den am häufigsten angetroffenen positiven Rollenmodellen im Leben widerstandsfähiger Kinder, die erhebliche Entwicklungsrisiken im Leben überwinden, ist ein Lieblingslehrer. Alle widerstandsfähigen Jungen und Mädchen in der Kauai‐Längsschnittstudie konnten auf mindestens einen Lehrer in der Schule verweisen, der sich für sie interessierte, sie herausforderte und motivierte.“(Werner, 2001)
Soziale Ressourcen:Innerhalb der Schule
Schule als geschätzter Lebensraum, als „zweites Zuhause“wertschätzendes Klimaentwicklungsangemessene LeistungsstandardsMöglichkeit der aktiven, mitkonstruierenden und selbstbestimmten Auseinandersetzungsinnhafte, verantwortungsvolle Aufgaben transparente, stabile Strukturenpositive PeerkontakteZusammenarbeit mit Elternhaus und anderen sozialen InstitutionenEin „Lieblingslehrer“
Soziale Ressourcen:Im weiteren sozialen Umfeld
Kompetente und fürsorgliche Erwachsene außerhalb der Familie, die Vertrauen fördern und als positive Rollenmodelle dienen (z.B. Nachbarn, Freunde, Erzieherinnen, Lehrer)Ressourcen auf kommunaler Ebene (Angebote der Familienbildung, Beratungsstellen, Gemeindearbeit...)Vorhandensein prosozialer Rollenmodelle, Normen und Werte in der Gesellschaft
Grundbausteine der Resilienz aus Sicht des Kindes:
(Daniel u. Wassell, 2002)
ICH HABE: „... Menschen, die mich gern haben, und Menschen, die mir helfen“ (sichere Basis)
ICH BIN: „... eine liebenswerte Person und respektvoll mir und anderen gegenüber“ (Selbst‐Wertschätzung)
ICH KANN: „... Wege finden, Probleme zu lösen und mich selbst zu steuern.“ (Selbst‐Wirksamkeit)
Aufbau schützender Bindungs‐ undBeziehungsstrukturenDurch:
Wertschätzenden, demokratischen Erziehungsstil der Lehrpersonen Individualisierte Binnendifferenzierung bzgl. LeistungsanforderungenBereitstellen anregender LernorteVertrauensvolle gegenseitige Haltungen aller Beteiligten
Prosoziales Rollenmodell (Vorbild) der Lehrpersonen
Die resilienzfördernde Schule
Verankerung von Schutzfaktoren ‐ Verminderung vonRisikofaktoren
Durch: Verstehbarkeit: Die Herausforderungen der Schule werden von den Schülern als vorhersehbar und durchschaubar erlebt.
Orientierung gebenBedeutsamkeit / Sinnhaftigkeit: Die Probleme im Lernprozess werden als sinnvoll angesehen
persönliche Relevanz herstellenMachbarkeit und Handhabbarkeit: Im Unterricht werden Zuversicht und Vertrauen vermittelt, dass die Aufgabenstellungen nicht unüberwindbar, sondern handhabbar (lösbar) sind.
Selbstwirksamkeit fördern
Die resilienzfördernde Schule
Verankerung von Schutzfaktoren ‐ Verminderung vonRisikofaktoren
Durch: Wertschätzende Lehrer – Schüler und Schüler – Schüler‐Interaktionen sind entscheidende Bedingungen für eine die Resilienz stärkende Beziehung. • Gegenseitiges wertschätzendes und respektvolles Lernklima • Sensibilisierung der Lehrkräfte für die Qualität interpersonaler Prozesse
• Förderung positiver, konstruktiver Peer‐Kontakte • Vielfältige Anlässe für Partizipation und konkrete Verantwortungsübernahme durch die Schüler
• Enge Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus• Kooperation mit außerschulischen Einrichtungen (Netzwerkbildung)
Die resilienzfördernde Schule
Weitere wichtige Merkmale eines Resilienz fördernden UnterrichtsSind:
Wert legen auf ein aktives, selbstständiges Lernverhalten der Schülerinnen und Schüler Aufbau von Problemlösestrategien Ermöglichen von Selbstwirksamkeitsüberzeugungen • Einführen eines zielorientierten, erfolgversprechenden Arbeitsverhaltens
Die resilienzfördernde Schule
Die resilienzfördernde Schule
Im Sinne von Kormann (2006) (Resilienzforscher):
Wenn heute in modernen Bildungskonzepten die Orientierungskompetenz des Kindes so sehr betont wird, so geschieht dies, weil bestimmte gesellschaftliche Veränderungen dies erfordern. Die alte Vorstellung, die Orientierung allein durch Definition allgemeiner Grundsätze geboten hat, und an die Kinder und Jugendliche adressiert hat, die sie dann umsetzen sollten, diese Vorstellung ist passe, sie funktioniert nicht mehr. ..
In der heutigen, immer komplexeren Welt müssen Kinder lernen, ihre Fähigkeiten so zu entwickeln, dass sie in der Lage sind, komptent und gleichzeitig in sozialer Verantwortung zu handeln. D.h. Orientierung wird nicht mehr durch äußere Vorgaben gesetzt, sondern erwächst aus der Stärkung der inneren Entwicklung und durch Mitverantwortung. Die Zeiten einer vorwiegend bewahrenden Vorschulerziehung im Kindergarten und Hort und einer belehrenden Schule gehen zu Ende. Es kommt darauf an, dem Kind möglichst früh Verantwortung zu übertragen, es anzuhalten, Verantwortung für die eigenen Handlungen zu übernehmen: Für die eigenen Entscheidungen, aber auch mit Blick auf die anderen Kinder, auf die Gesellschaft.
Die resilienzfördernde Schule
Im Sinne von Emmi Werner (Resilienzforscherin):
„Die Lebensgeschichten der widerstandsfähigen Kinder unserer Längsschnittstudie lehren uns, dass sich Kompetenzerlebenisse, Vertrauen und zwischenmenschliche Fürsorge auch unter sehr ungünstigen Lebensbedingungen entwickeln können wenn sie Erwachsene treffen, die ihnen eine sichere Basis bieten, auf der sie Vertrauen, Orientierung, Autonomie und Initiative entwickeln können.“
(Werner, E., 1997, S. 202)
■ Antovosky, H., & Sagy, S. (1986). The development of a sense of coherence and ist impact on responses to stress situations. The Journal of Social Psychology, 126, 213‐225.■ Bowen, G.L., Richman, J.M., Brewsher, A. et al. (1998). Sense of school coherence, perceptions of danger at school, and teacher suppoert among youth risk of schoolfailure. Child and Adolescent Social Work Journal, 15, 273‐286.■ Nash, J.K. Neighborhood effects on sense of coherence and educational behavior in students at risk of school failure. Children and Schools, 24, 73‐89.■ Koegh, B. (1999). Risiko und protektive Einflüsse in der Schule. In: Was Kinder stärkt. Opp, Fingerle & Freytag (Hrsg). München: Reinhardt. ■ Kormann, G. (2006). Ehemalige im Kinderdorf. Innerseelische Situation und Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen in einer Einrichtung der stationären Jugendhilfe. München: Martin Meidenbauer.)■ Torsheim, T., Aaore, L.E., & Wold, B. (2001). Sense of coherence and school‐relatedstress as predictors of subjective health complaints in early adolescence: interactive, indirect or direct relationships? Social Science & Medicine, 53, 603‐614.■Werner, E. (1999). Entwicklung zwischen Risiko und Resilienz. In: Was Kinder stärkt. Opp, Fingerle & Freytag (Hrsg). München: Reinhardt.
Literatur