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09.04.2008 1 Aspekte der deutsch-europäischen Leitkultur Wolfgang-Uwe Friedrich Vorbemerkung: Die Begriffsproblematik „Kultur“ wird definiert als „Gesamtheit der typischen Lebensformen größerer Gruppen einschließlich der sie tragenden Geistesverfassung, besonders der Werteinstellungen“ (Kultur als Lebensform). „Politische Kultur“ bezeichnet spezieller „die Gesamtheit der zu einer bestimmten Zeit (…) vorherrschenden politischen oder politisch wirksamen Anschauungen, Überzeugungen, Einstellungen und Verhaltensweisen und der diesen zugrunde liegenden Werte.“ Kulturbegriff Die UNESCO definiert Kultur als die „Gesamtheit der unverwechselbaren geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Eigenschaften, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen.“ Verschiedene Aspekte des Themas 1. Mit dem Begriff „Europa“ wird unser durch die abendländisch-christliche Tradition und die Aufklärung geprägter Kulturkreis bezeichnet. Er beruht auf kulturellen und religiösen Traditionen der griechischen Philosophie, des römischen Rechts, der jüdischen und der christlichen Religion. Er entwickelte in den Epochen der Renaissance und der Aufklärung spezifische Formen der Weltsicht (Wissenschaft, Rationalität, Arbeit) und der politischen Ordnung (Freiheit, Menschenrechte, Gewaltenteilung, Demokratie). „Europa“ ist ein politischer Begriff, der nicht die sakrale Konnotation und Mißverständlichkeit des Begriffs „Abendland“ (etwa als konservativer Kampfbegriff) ausweist, der der Säkularisierung der heutigen Gesellschaften ebenso Rechnung trägt wie dem politischen Willen der Nationen, die sich zur europäischen Integration bekennen. 2. Industrialisierung, Weltkriege, totalitäre Regime, Globalisierung, demographische Entwicklung und Migration haben die Lebensformen, Verhaltensweisen und politischen Einstellungen der europäischen Nationen nachhaltig verändert. Gesellschaftliche Verhältnisse wandeln sich schneller als in vergangenen Jahrhundert. Eingrenzung des Themas und Gliederung 1. Auf welchen Werten beruht unsere Kultur ? Erklärungsmodelle a) Peter Blickle b) Hans Joas c) Kritik von Wolfgang Reinhard 2. Gesellschaftlicher Wandel, Wertewandel (R. Inglehart und H. Klages), politische Milieus 3. Unser europäisch-deutscher kultureller Code Erklärungsmodell: Peter Blickle (Das Alte Europa. Vom Hochmittelalter bis zur Moderne. München 2008) „Werte konstitituieren auch Epochen.“ „Das Alte Europa hat Werte ausgebildet, die zweifellos die Moderne prägen, freilich in begrenztem Maße.“ - Frieden, gesichert durch Recht - Freiheit als Ergebnis von Revolten - „Haus“ und „Hausvater“ („Herr aus eigenem Recht“) - Arbeit als zentrales Merkmal des „Hauses“ - „Ordnung machen gehört zu den großen Projekten Europas und zu seinen erfolgreichsten.“ „Das Europa der Moderne beruft sich nahezu unwidersprochen auf Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.“ Erklärungsmodell: Hans Joas (Die Entstehung der Werte. Frankfurt am Main 1997. Hrsg. zus. mit K. Wiegandt: Die kulturellen Werte Europas. Ffm. 2005) „basale kulturelle Werte Europas“ Freiheit „ertragene Differenz“ „praktischer Rationalismus der Weltbeherrschung“ „Innerlichkeit“ (Ich-Erfahrung) „die Hochschätzung des gewöhnlichen Lebens“ (Aufwertung der Berufsarbeit) Selbstverwirklichung

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Page 1: Werte - Universität Hildesheim | Startseite · 09.04.2008 1 Aspekte der deutsch-europäischen Leitkultur Wolfgang-Uwe Friedrich Vorbemerkung: Die Begriffsproblematik „Kultur“

09.04.2008

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Aspekte der deutsch-europäischen Leitkultur Wolfgang-Uwe Friedrich

Vorbemerkung: Die Begriffsproblematik

„Kultur“ wird definiert als „Gesamtheit der typischen Lebensformen größerer Gruppen einschließlich der sie tragenden Geistesverfassung, besonders der Werteinstellungen“ (Kultur als Lebensform).

„Politische Kultur“ bezeichnet spezieller „die Gesamtheit der zu einer bestimmten Zeit (…) vorherrschenden politischen oder politisch wirksamen Anschauungen, Überzeugungen, Einstellungen und Verhaltensweisen und der diesen zugrunde liegenden Werte.“

Kulturbegriff

Die UNESCO definiert Kultur als die

„Gesamtheit der unverwechselbaren geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Eigenschaften, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen.“

Verschiedene Aspekte des Themas

1.  Mit dem Begriff „Europa“ wird unser durch die abendländisch-christliche Tradition und die Aufklärung geprägter Kulturkreis bezeichnet. Er beruht auf kulturellen und religiösen Traditionen der griechischen Philosophie, des römischen Rechts, der jüdischen und der christlichen Religion. Er entwickelte in den Epochen der Renaissance und der Aufklärung spezifische Formen der Weltsicht (Wissenschaft, Rationalität, Arbeit) und der politischen Ordnung (Freiheit, Menschenrechte, Gewaltenteilung, Demokratie). „Europa“ ist ein politischer Begriff, der nicht die sakrale Konnotation und Mißverständlichkeit des Begriffs „Abendland“ (etwa als konservativer Kampfbegriff) ausweist, der der Säkularisierung der heutigen Gesellschaften ebenso Rechnung trägt wie dem politischen Willen der Nationen, die sich zur europäischen Integration bekennen.

2.  Industrialisierung, Weltkriege, totalitäre Regime, Globalisierung, demographische Entwicklung und Migration haben die Lebensformen, Verhaltensweisen und politischen Einstellungen der europäischen Nationen nachhaltig verändert. Gesellschaftliche Verhältnisse wandeln sich schneller als in vergangenen Jahrhundert.

Eingrenzung des Themas und Gliederung

1. Auf welchen Werten beruht unsere Kultur ? Erklärungsmodelle a) Peter Blickle b) Hans Joas c) Kritik von Wolfgang Reinhard

2. Gesellschaftlicher Wandel, Wertewandel (R. Inglehart und H. Klages), politische Milieus

3. Unser europäisch-deutscher kultureller Code

Erklärungsmodell: Peter Blickle (Das Alte Europa. Vom Hochmittelalter bis zur Moderne.

München 2008)

„Werte konstitituieren auch Epochen.“

„Das Alte Europa hat Werte ausgebildet, die zweifellos die Moderne prägen, freilich in begrenztem Maße.“

- Frieden, gesichert durch Recht - Freiheit als Ergebnis von Revolten - „Haus“ und „Hausvater“ („Herr aus eigenem Recht“) - Arbeit als zentrales Merkmal des „Hauses“ - „Ordnung machen gehört zu den großen Projekten Europas und

zu seinen erfolgreichsten.“

„Das Europa der Moderne beruft sich nahezu unwidersprochen auf Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.“

Erklärungsmodell: Hans Joas (Die Entstehung der Werte. Frankfurt am Main 1997.

Hrsg. zus. mit K. Wiegandt: Die kulturellen Werte Europas. Ffm. 2005)

„basale kulturelle Werte Europas“

•  Freiheit •  „ertragene Differenz“ •  „praktischer Rationalismus der Weltbeherrschung“ •  „Innerlichkeit“ (Ich-Erfahrung) •  „die Hochschätzung des gewöhnlichen Lebens“ (Aufwertung der

Berufsarbeit)

•  Selbstverwirklichung

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Kritischer Einwand von Wolfgang Reinhard

Die Gegenwart ist gekennzeichnet durch die Dominanz ökonomischer Kategorien:

 Arbeit  Markt  Sexualität

Diese stehen heute in Deutschland – so die eher kulturpessimistische Einschätzung des Freiburger Historikers und Kulturanthropologen W. Reinhard - über allen anderen Werten.

Elemente des gesellschaftlichen Wandels

•  Unsichere Arbeitsverhältnisse •  Lockerung der Familienbeziehungen •  Differenzierung privater Lebensstile •  Geburtenrückgang •  Alterung der Gesellschaft •  Einwanderung

RISIKEN: Soziale Desintegration und Ethnisierung der sozialen Beziehungen

Einwanderung Deutschland im Jahr 2005: 15 Millionen Personen mit Migrationshintergrund

Religionsgemeinschaften in Deutschland 2005

•  Katholische Kirche 26 Mio 31,5% •  Evangelische Kirche 25,6 Mio 31,1% •  Konfessionslos 23,2 Mio 28,1% •  Islam * 3,3 Mio 4,0% •  Freikirchen 1,5 Mio 1,8% •  Orthodoxe Kirchen 1,4 Mio 1,7%

•  Sonstige jeweils unter 1%

* Die Zahl der regelmäßigen Moschee-Besucher (Erfüllung der täglichen Gebetspflichten) beläuft sich auf weniger als 0,4 Millionen, die der Besucher des Freitagsgebets auf weniger als 0,5 Millionen.

Wertewandel

Die Sozialwissenschaften erforschen Werte als „latente Konstrukte“ indirekt mittels Messung bestimmter Indikatoren. Der Wertewandel wird erforscht durch den Vergleich von Aussagen verschiedener Gruppen oder Bevölkerungen (Querschnittanalysen) und von Aussagen zu unterschiedlichen Zeitpunkten (Längsschnittanalysen).

Wesentliche Forschungsanstöße stammen von

 Ronald Inglehart und

 Helmut Klages (Werte sind „Bestimmungsgrößen des sozialen Handelns“.

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Ronald Inglehart (1989)

•  Die Mangelhypothese „Die Prioritäten eines Individuums reflektieren sein sozioökonomisches

Umfeld. Den größten subjektiven Wert mißt man den Dingen zu, die knapp sind.“

•  Die Sozialisationshypothese „Wertprioritäten ergeben sich nicht unmittelbar aus dem

sozioökonomischen Umfeld. Vielmehr kommt es zu einer erheblichen Zeitverschiedbung, denn die grundlegenden Wertvorstellungen eines Menschen spiegeln weithin die Bedingungen wider, die in seiner Jugendzeit vorherrschend waren.“

> Materialisten vs. Post-Materialisten

Ronald Inglehart (2000)

In den letzten Jahren hat Inglehart sein Kategorienschema erweitert:   „traditionale“ vs. „säkular-rationale Orientierungen“ (Säkularismuskonzept)

Orientierungen: Gottesglaube Respekt gegenüber Autoritäten Wertschätzung für die eigene Nation Wertschätzung für die eigene Familie.

Danach liegen im internationalen Vergleich Japan und Ostdeutschland, die Slowakei und Taiwan, die Philippinen und Peru eng beieinander. Offene Fragen: Sind Religion und Rationalität strikte Gegensätze? Wie sollen unterschiedliche (politische) Kulturen gemessen und gewichtet werden?

„Klassische“ Konfliktlinien

Libertarismus vs. Autoritarismus Soziale Gerechtigkeit vs. Marktfreiheit

Religiosität vs. Säkularität

Helmut Klages (1985, 2001) Gegensätzliche Pole (analytischer Rahmen) Pflicht- und Akzeptanzwerte (Disziplin, Pflichterfüllung, Ordnung, Leistung) vs. Selbstentfaltungswerte (Partizipation, Autonomie, Genuß)

In der gesellschaftlichen Wirklichkeit: Ambivalenzen > Wertsynthese

Fünf Wertetypen 1. Konventionalisten 2. Idealisten 3. Hedonisten 4. aktive Realisten 5. perspektivlos Resignierte

Politische Milieus I Politische Milieus in Deutschland (Infratest Sozialforschung 2006)

•  Leistungsindividualisten 11% •  Etablierte Leistungsträger 15% •  Kritische Bildungseliten 9% •  Engagiertes Bürgertum 10%

•  Zufriedene Aufsteiger 13% •  Bedrohte Arbeitnehmermitte 16%

•  Selbstgenügsame Traditionalisten 11% •  Autoritätsorientierte Geringqualifizierte 7% •  Abgehängtes Prekariat 8%

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Christlich-abendländische Werte Europäisch-deutsche Werte

Zum Problem der Leitkultur

Vortrag KAS-Tagung Hannover, 28.03.2008

Wolfgang-Uwe Friedrich

Schlußfolgerungen

1.  Gesellschaftlicher Wandel und Wertewandel sind geschichtliche Dauerphänomene.

3.  Große politische, ökonomische und gesellschaftliche Veränderungen (z.B. Revolutionen, Massenarmut, Massenflucht) erschüttern mittel- und längerfristig (!) die Werteordnung.

5.  Europa kennzeichnet eine in mehreren Epochen gewachsene, relativ stabile Werteordnung, auf denen unsere Kultur beruht. Diese hat christlich-abendländische Wurzeln, wurde durch die Französische Revolution und die Industrialisierung in moderner Weise geprägt und kann auch als europäische Leitkultur definiert werden. Sie hat in den verschiedenen europäischen Nationen spezifische, sprachlich und historisch bedingte Formen entwickelt.

6.  Die europäischen Gesellschaften zeichnen sich heute durch basale Werte und moderne Wertesynthesen (Verteilungsgerechtigkeit UND Leistungsdenken, christlicher Glaube UND kulturelle Toleranz, Lebensgenuß UND Leistungsbereitschaft) aus.

Elemente der europäisch-deutschen Leitkultur

•  Athen (polis, logos, epistème) •  Rom (ius) •  Jerusalem (Menschenwürde, Barmherzigkeit/ Solidarität mit den

Schwachen, Gerechtigkeit) •  Europäische Aufklärung (Freiheit, Vernunft, Verfassung,

Rechtsstaatsprinzip, Volkssouveränität, Demokratie)

•  Basale Grundwerte: Menschenwürde-Freiheit-Gleichheit-Solidarität- Demokratie-Recht-Sicherheit-Pluralismus

•  Sprache •  Geschichte (Erfahrung und Deutung) •  Grundgesetz

•  Moderne Wertesynthesen