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Maturaarbeit Oktober 2016 Wie lügt Jakob der Lügner? Autorin, Klasse: Melanie Nauer, M4a Betreuende Lehrperson: Regula Weber

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Maturaarbeit Oktober 2016

Wie lügt Jakob der Lügner?

Autorin, Klasse: Melanie Nauer, M4a

Betreuende Lehrperson: Regula Weber

2

Inhaltsverzeichnis 1. Abstract ............................................................................................................................................. 3

2. Vorwort ............................................................................................................................................. 3

3. Einleitung .......................................................................................................................................... 3

4. Hauptteil ........................................................................................................................................... 4

4.1 Kontext ......................................................................................................................................... 4

4.2 Die Sprechakttheorie ................................................................................................................... 5

4.2.1 Wissenschaftler .................................................................................................................... 5

4.2.2 Unterscheidung der Sprechakte .......................................................................................... 6

4.2.3 Sprechaktklassen ................................................................................................................. 6

4.2.4 Glückensbedingungen ......................................................................................................... 7

4.2.5 Indirekte Sprechakte ............................................................................................................ 8

4.2.6 Eigenschaften der Lüge ........................................................................................................ 8

4.2.7 Typen der Lüge..................................................................................................................... 9

4.3 Die Sprechakttheorie angewandt an Jakob der Lügner .......................................................10

4.4 Vergleich der Lügen ...................................................................................................................15

5. Diskussion, Zusammenfassung und Schluss ................................................................................... 18

6. Quellenverzeichnis .......................................................................................................................... 19

7. Eigenständigkeitserklärung ............................................................................................................. 20

3

1. Abstract

Lügen begegnen uns jeden Tag, doch wie wird in der Literatur gelogen? Das habe ich in meiner

Maturaarbeit untersucht. Ich habe mich dabei auf die Lügen von Jakob aus dem Buch «Jakob der

Lügner» von Jurek Becker beschränkt. Als Mittel, um die Lügen zu untersuchen, habe ich die

Sprechakttheorie gewählt. Mit Hilfe dieser Theorie habe ich die Lügen von Jakob analysiert und

miteinander verglichen. Ich wollte herausfinden, wie verschieden eine Lüge sein kann und wie sich

die Lügen einer Person verändern können.

Ich habe herausgefunden, dass sich die Lügen mit der Person, die angelogen verändert. Ausserdem

spielt die Zeit eine grosse Rolle. Die Lügen verhalten sich ganz anders, wenn sich die Variable der

Zeit verändert.

2. Vorwort

Die Lüge ist ein faszinierendes Thema mit viel Alltagsbezug, da in unserer Gesellschaft oft gelogen

wird. Ich wollte die Lügen anfangs im psychologischen Bereich untersuchen, doch ich habe mich

später für die Literatur entschieden. Diese Entscheidung habe ich getroffen, weil ich nicht wusste

wie und mit welchen sprachlichen Mitteln gelogen wird. Ich wusste auch nicht, wie die Lügen in der

Literatur beschrieben werden. Deshalb empfand ich die Lügen in der Literatur als ein spannendes

neues Gebiet, mit dem ich mich zuvor noch nicht genügend auseinandergesetzt habe. Dabei hat es

mich interessiert, ob es bestimmte Muster und verschiedene Arten gibt. Ich wollte auch wissen, wie

die Lügen mit dem Kontext aus dem Text zusammenhängen.

Ich bedanke mich bei Regula Weber, die mich bei dieser Arbeit als Betreuungsperson begleitet hat

und bei meinen Freunden, die sie Durchgelesen haben.

3. Einleitung

In meiner Maturaarbeit möchte ich die Art der Lügen im Buch „Jakob der Lügner“ von Jurek Becker

analysieren und miteinander vergleichen. Mich interessiert es, wie sich die Lügen im Buch

verändern und weshalb. Dazu verwende ich das sprachliche Mittel der Sprechakttheorie, die auch

ein Teil meiner Maturaarbeit sein wird. Denn um den zweiten Teil meiner Maturaarbeit zu

verstehen, die Anwendung der Sprechakttheorie an das Buch, braucht es Grundkenntnisse dieser

Theorie.

Meine Methode wird die Textanalyse sein. Das heisst, ich werde Textstellen aus dem Buch

genauestens anhand der Sprechakttheorie untersuchen.

4

4. Hauptteil

4.1 Kontext

Damit ihr versteht, welches Motiv Jakob zum Lügen hatte, werde ich euch kurz etwas über das Buch

erzählen.

Jakob Heym war ein Jude in einem polnischen Ghetto während des zweiten Weltkriegs. Diese

Ghettos wurden von den Deutschen geschaffen, sie sollen die Juden ausbeuten und konzentrieren.

Viele von ihnen starben dort an Hunger oder Krankheiten, da sie unter schlechten hygienischen

Bedingungen leben mussten und zu wenig Nahrung bekamen. Ausserdem mussten sie

anstrengende Zwangsarbeit verrichten. Die Menschen im Ghetto wurden völlig von der Aussenwelt

abgeschnitten. Wollte ein Jude das Ghetto verlassen, wurde er hingerichtet. Dieselbe Strafe galt,

wenn jemand Nahrungsmittel oder Arzneimittel schmuggelte. 1

Jakob wurde eines Abends ins Revier der Deutschen geschickt, da er angeblich später als acht Uhr

ausser Haus war. Das war laut den Vorschriften strengstens verboten. Im Revier waren der

Wachbeamte und die deutsche Verwaltung. Es stellte sich später als Scherz eines Beamten heraus,

denn es war erst ungefähr halb acht Uhr. Im Revier hörte Jakob die Information, dass die Russen

auf dem Weg nach Polen seien. Um Mischa, ein Arbeitskollege von Jakob, vor einer dummen Aktion

zu retten, die ihn womöglich das Leben gekostet hätte, erzählte er es ihm. Da Mischa ihm nicht

glauben wollte, gab Jakob ihm als Informationsquelle sein angeblich eigenes Radio an. Jedoch war

er natürlich nicht in Besitz eines Radios, denn auch das war verboten. Sie durften nur sehr wenige

private Besitztümer mitnehmen durften. Das Radio war der Anfang eines grossen Lügennetzes, aus

dem er im Verlaufe der Geschichte nicht mehr entfliehen konnte. Denn die Information des Radios

wurde weitererzählt, bis es jeder wusste. Somit fragten ihn täglich andere Mitmenschen, wo die

Russen nun seien. Kowalski, ein Mitarbeiter, war besonders hartnäckig. Jakob konnte die Lüge nicht

platzen lassen, da er nicht wollte, dass sie die Hoffnung aufgaben. Ihm fiel auch auf, dass die

Selbstmordrate viel tiefer war seit er die Lügen erzählte. Deshalb erzählte er immer mehr Lügen.

Seine Befürchtung bestätigte sich schlussendlich, als er Kowalski erzählte, dass er kein Radio hatte,

denn daraufhin erhängte er sich. Aus diesem Grund behielt er die Lügen bis zum Schluss für sich

und beichtete niemandem mehr, dass alles nur Schwindel war.

1 Scriba, Arnulf (2015). (Stand: 10.10.2016)

5

4.2 Die Sprechakttheorie

Die Sprechakttheorie ist eine Untergruppe der Pragmatik. In der Pragmatik ist der Kontext sehr

wichtig, denn Unterhaltungen lassen sich nur dann richtig deuten, wenn wir wissen, wer zu wem

spricht und weshalb.2 Abgesehen von der Sprechakttheorie sind Implikatur, Präsupposition, Deixis

und Anapher wichtige Teilgebiete der Pragmatik.3

Implikaturen sind Wörter und Ausdrücke, die Sachverhalte andeuten, ohne sie wörtlich darzulegen.

Präsuppositionen sind ähnlich wie Implikaturen, müssen aber trotzdem von ihnen unterschieden

werden.4 Sie sind Vorbedingungen, ohne die eine Aussage nicht verstanden werden kann.5 Die

Deixis untersucht referierende Wörter wie ich oder hier. Sie hat Ähnlichkeiten zur Anapher, denn

Anaphorische Ausdrücke weisen auf etwas im Text zurück.6

4.2.1 Wissenschaftler

Die Sprechakttheorie wurde von John L. Austin entwickelt. Erst nach seinem Tod wurde «How to do

things with words» entwickelt, der Grundstein der Sprechakttheorie.7 Searle war ein weiterer

wichtiger Forscher der Sprechakttheorie. Er brachte Werke wie «speech Acts. An Essay in the

Philosophy of Language» (1969) hervor. Er hielt Vorlesungen in der ganzen Welt. 8 Ein weiterer

Wissenschaftler war Paul Grice. In meiner Arbeit gehe ich im Kapitel der indirekten Sprechakte auf

seine Ansichten ein.

Der Gründer der Sprechakttheorie, der englische Sprachphilosoph John L. Austin, hat die

Sprechakte in zwei Typen eingeteilt: Die performative und die konstative Äusserung. Unter der

performativen Äusserung werden Äusserungen verstanden, bei denen nicht nur etwas gesagt,

sondern auch etwas getan wird. Die konstative Äusserung beschreibt berichterstattende Aussagen.

Bei solchen Aussagen wird nur etwas gesagt und keine Handlung vollzogen. Nach heutiger Sicht

sind alle Aussagen performativ, da die konstative Äusserung die Handlung des Berichtens vollzieht.

Somit werden heute nur noch die Unterkategorien der performativen Äusserung unterschieden, die

man explizite und implizite Performative nennt. Eine explizite Äusserung liegt dann vor, wenn die

Handlung in diesem Moment vollzogen wird. 9 Ist dies nicht der Fall, ist die Äusserung implizit.10

2 Finkbeiner, Rita. 2015. Seite 7. 3 Finkbeiner, Rita. 2015. Seite 12. 4 Finkbeiner, Rita. 2015. Seite 21. 5 Humboldt-Universität zu Berlin (2005). (Stand: 11.10.2016). 6 Finkbeiner, Rita. 2015. Seite 34. 7 Eichler, Wolfgang, Pankau, Johannes. (Stand: 15.7.2016). 8 Stiller, Joachim (2014). (Stand: 15.7.2016). 9 Finkbeiner, Rita. 2015. Seite 12 – 13. 10 Dölling, Johannes. (Stand: 15.7.2016).

6

4.2.2 Unterscheidung der Sprechakte

Die Theorie von Searle unterscheidet 4 verschiedene Sprechakte:

der Äusserungsakt: Damit wird das Äussern des Inhaltes und das Sprechen selber

beschrieben. 11

der propositionale Akt: Dieser Akt beinhaltet zwei 2 Teilakte, den referenziellen und den

prädikativen Akt. Der referenzielle Akt nimmt Bezug auf etwas oder jemanden, der

prädikative Akt beschreibt dem besagten Objekt oder der Person eine Eigenschaft oder

eine Handlung zu.

der illokutionäre Akt: Dieser Akt beschreibt die Art der Äusserung, ob es beispielsweise eine

Bitte, eine Frage oder eine Drohung ist. 12

der perlokutionäre Akt: Dieser Akt ist die Konsequenz des Sprechaktes, somit ist der

perlokutionäre Akt abhängig vom illokutionären Akt. Denn die Folge des Sprechaktes muss

mit dem illokutionären Akt in Verbindung stehen. 13

Die Theorie nach Austin ist anders aufgebaut. Sie beinhaltet den perlokutionären und illokutionären

Akt, jedoch werden die ersten beiden Akte nach Searle, der Äusserungsakt und der propositionale

Akt, in einem Akt zusammengefasst. Dieser Akt benannte er den lokutionären Akt. Der lokutionäre

Akt wird noch einmal in drei Akte unterschieden, der phonetische, phatische und rhetische Akt. Der

phonetische Akt ist gleich dem Äusserungsakt, der phatische Akt bezieht sich auf das Äussern des

Aktes anhand der grammatikalischen Regeln mit der Intonation und der rhetische Akt ist eine

andere Bezeichnung für den propositionalen Akt. 14

4.2.3 Sprechaktklassen

Searle hat die Sprechakte in 5 Sprechaktklassen unterteilt15:

Assertiva: Der Sprecher garantiert, dass die Aussage wahr ist. Der Grad der Wahrheit kann

auch variieren. Es kann eine Behauptung aufgestellt werden oder ein Schwur geleistet

werden 16.

Direktiva: Zur Direktiva zählen Aufforderungen, Befehle und Bitten. Der Sprecher will, dass

der Gesprächspartner eine Handlung vollzieht.

Kommissiva: Der Sprecher wird die Handlung selber vollziehen, dazu gehören Versprechen

oder Angebote.

11 Nimtz, Christian. (Stand: 4.8.2016). 12 Finkbeiner, Rita. 2015. Seite 14-15. 13 Nimtz, Christian. (Stand : 4.8.2016). 14 Nida-Rümelin, Martine (2006). (Stand: 9.8.2016). 15 Finkbeiner, Rita. 2015. Seite 18. 16 Krifka, Manfred (2007). (Stand: 12.8.2016).

7

Expressiva: Der Sprecher drückt ein Gefühl oder eine Einstellung aus, etwa bei einer

Danksagung, Entschuldigung oder Gratulation.17

Deklarationen: Bei einer Deklaration wird ein Zustand in einer Gesellschaft verändert.

Beispiele dazu sind Rücktrittserklärungen, Taufen oder Ernennungen. 18

Nicht alle Sprechakte lassen sich direkt klassifizieren. Manchmal kommt auch eine Überschneidung

vor.

4.2.4 Glückensbedingungen

Dass ein Sprechakt als geglückt gilt, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt werden, diese

Bedingungen werden Glückensbedingungen genannt. Die Bedingungen müssen für jeden Akt neu

untersucht und formuliert werden, denn nicht überall braucht es alle Regeln. Da nicht klar ist, für

welche Akte Glückensbedingungen formuliert werden sollen, gibt es keine vollständige Liste. Um

die Glückensbedingungen besser zu verstehen, beschreibe ich es zuerst anhand des Beispiels der

Aufforderung:

Die Bedingung des propositionalen Gehalts ist, dass die Aufforderung noch praktiziert werden kann.

Das heisst, Aufforderungen die auf die Vergangenheit bezogen sind, haben die Bedingung nicht

erfüllt.

Dass die Einleitungsbedingungen erfüllt werden, muss der Aufgeforderte die Handlung ausführen

können. Er darf sie aber nicht sowieso ausführen, sondern nur auf die Aufforderung hin.

Unter der Aufrichtigkeitsbedingung besagt, dass der Sprecher will, dass der Aufgeforderte die

besagte Handlung ausführt.

Um die wesentlichen Bedingungen zu erfüllen, muss der Sprecher versuchen, den Aufgeforderten

dazu zu bringen die Handlung zu vollziehen. 19

Der Gesprächspartner kann durch verletzen der Einleitungsbedingungen getäuscht werden.

Beispielsweise kann eine Behauptung geäussert werden, ohne selbst zu glauben, dass sie wahr ist

oder ohne Beweise zu haben. Bei einem Versprechen werden die Einleitungsbedingungen verletzt,

sobald nicht geglaubt wird, dass das Versprochene auch gehalten werden kann. 20

Die Aufrichtigkeitsbedingung wird dann verletzt, wenn der Sprecher, beim Beispiel der Behauptung,

etwas Anderes sagt, als er glaubt. Die Aufrichtigkeitsbedingungen können in allen

Sprechaktklassifikationen verletzt werden. 21

Bei Verletzung der wesentlichen Regeln kann beispielsweise etwas behauptet werden, das man

17 Finkbeiner, Rita. 2015. Seite 18. 18 Krifka, Manfred (2007). (Stand: 12.8.2016). 19 Finkbeiner, Rita. 2015. Seite 16-17. 20 Giese, Bettina. 1992. Seite 97. 21 Baumgärtel, Iris. 2005. Seite 75.

8

nicht glaubt. Das wird in dem Glauben gemacht, dass der Adressat die Behauptung nicht glaubt, um

ihn vom Gegenteil zu überzeugen, was der Sprecher sagt. Ein Beispiel dazu wäre die Unterhaltung

zwischen einem Vater und einer Tochter. Wenn die Tochter einen Gegenstand immer wieder auf

dem Boden wirft, könnte der Vater sagen: «Wirf es noch öfter auf den Boden, bis es kaputtgeht.»

Dabei will er nicht, dass sie den Gegenstand auf den Boden wirft. Der Vater will das Gegenteil

erreichen, auch wenn er etwas Anderes sagt. 22

Im Zusammenhang der Lüge gibt es noch die allgemeine Glückensbedingung. Sie besagt, dass eine

Täuschung dann geglückt ist, wenn die Person, die belogen wird, die Lüge glaubt und nicht

dahinterkommt, dass es eine Lüge ist. 23

4.2.5 Indirekte Sprechakte

Äusserungen, bei denen der Sprecher etwas Anderes meint, als er sagt, werden indirekte

Sprechakte genannt. Dabei werden nach Searle’s Theorie zwei Illokutionen gebildet. Die primäre

(gemeinte) Illokution und die sekundäre (wörtliche) Illokution. Beispiel:

A: Wollen wir ein Eis essen gehen?

B: Ich habe jetzt Fussballtraining

In Bezug auf B ist die primäre Illokution, dass er nicht essen gehen kann. Wörtlich sagt er, dass er

Fussballtraining hat.24

Grice bezeichnete die indirekten Sprechakte mit dem Begriff konversationelle Implikatur. Er

unterteilte das noch in zwei weitere Untergruppen, die konventionale und konversationale

Implikatur. Das obige Beispiel wird als konversational bezeichnet, da die Implikatur nur im

Zusammenhang des Gespräches zu verstehen ist. Konventionale Implikaturen werden ohne einen

Zusammenhang verstanden, es wird etwas angedeutet. Beispiel: Auch Lisa hat ihre Hausaufgaben

vergessen.

Durch das Wort auch wird impliziert, dass sie nicht die einzige ist. 25

4.2.6 Eigenschaften der Lüge

Lügen sind personal: Jede Lüge braucht eine Person, die lügt.

Lügen sind sozial: Jede Lüge hat eine Person, die belügt wird. Es wird auch fremdpersonal

genannt

Lügen sind temporal: Die Lüge wird in einer bestimmten Zeit ausgesprochen.

Lügen sind intentional: Der Lügner hat das Ziel, den Adressat zu täuschen. Auch wenn die

lügende Person nur aus Spass lügt, hat sie die Absicht das Gegenüber zu täuschen.

22 Giese, Bettina. 1992. Seite 78. 23 Baumgärtel, Iris. 2005. Seite 76. 24 Finkbeiner, Rita. 2015. Seite 20. 25 Baumgärtel, Iris. 2005. Seite 31.

9

Lügen sind verbal: Um die Lüge auszudrücken, werden Worte gebraucht, die sprachlich

oder schriftlich geäussert werden.26

4.2.7 Typen der Lüge

Eine Lüge unterscheidet sich von der Täuschung dadurch, dass Täuschungen nur dann erfolgreich

sind, wenn der Adressat auch glaubt, was der Sprecher sagt. Eine Lüge ist auch dann gelogen, wenn

der, der angelogen wird, die Aussage nicht glaubt. Ich werde in meiner Arbeit jedoch nicht zwischen

diesen beiden Arten unterscheiden.27

Wir können verschiedene Arten des Lügens und den Grad der Lüge nach ihrer moralischen

Verwerflichkeit einstufen. Eine Lüge, die auch als Lüge bezeichnet wird ist schlimmer als ein

Flunkern.

Verdrehung: Wird ein Sacherhalt verdreht, werden Zusammenhänge verändert und falsch

dargestellt.

Verleumdung/Unterstellung: Wenn eine Verleumdung oder Unterstellung stattfindet,

bezieht sich die Lüge auf eine dritte Person. Dabei wird die dritte Person mit schlechten

Eigenschaften in Verbindung gebracht. Das Angeben folgt dem gleichen Prinzip.

Übertreibung/Untertreibung: Bei einer Übertreibung oder Untertreibung werden

Sachverhalte anders dargestellt, als sie sind, denn sie werden extremer dargestellt. Hier

muss jedoch keine sprachliche Täuschung stattfinden, da das nicht immer absichtlich

geschieht.

Vorwände/Ausreden: Vorwände und Ausreden zählen als unaufrichtige Begründungen,

womit sie auch als Lügen zählen. Sie können zur unaufrichtigen Tatsachenunterstellung

gezählt werden.

Täuschung durch Präsupposition: Zum Typ der unaufrichtigen Begründung zählt auch das

Referieren auf nichtexistierende Dinge, eine Täuschung durch Präsupposition.

Unaufrichtiges prädizierendes Referieren: Unter unaufrichtigem prädizierendem Referieren

wird die Zuweisung einer nicht wahren Eigenschaft auf ein Objekt oder eine Person

verstanden.

Verschweigen: Das Verschweigen ist eine bekannte Form des Lügens. Dabei folgt die

Unaufrichtige Tatsachenunterstellung durch Unterlassen. Bei dieser Art der Lüge wird

zwischen dem relativen und absoluten Verschweigen unterschieden. Werden Tatsachen

später als erwartet noch erzählt, wird das relatives Verschweigen genannt. Das totale

26 Baumgärtel, Iris. 2005. Seite 45. 27 Baumgärtel, Iris. 2005. Seite 43.

10

Unterlassen beschreibt das Verschweigen, wenn die Informationen gar nicht preisgegeben

werden. 28

4.3 Die Sprechakttheorie angewandt an Jakob der Lügner

1. «Ich habe ein Radio»29

Das ist die erste Lüge Jakobs. Mischa wollte eine Dummheit begehen, deshalb sagte er ihm, dass die

Russen auf dem Weg zu ihnen seien. Doch er glaubte Jakob nicht, deshalb ist ihm diese Lüge

entglitten.

Die Lüge ist eine Behauptung, also eine unwahre Assertiva. Auf propositionaler Ebene referierte er

auf sich selber und sagte, er habe ein Radio. Hier wird die Einleitungsbedingung verletzt, da er nicht

beweisen konnte, dass das Radio existierte. Ausserdem wird die Aufrichtigkeitsbedingung verletzt,

da Jakob wusste, dass er kein Radio hatte. Die allgemeine Glückensbedingung wird hier erfüllt, weil

Mischa ihm glaubte. Da das Radio nicht existierte, ist es eine Täuschung durch Präsupposition.

Ausserdem verschwieg Jakob mit dieser Aussage, dass er im Revier war, da sich seine Aussagen

ansonsten widersprechen würden. Denn er konnte nicht gleichzeitig sagen, dass er die Information

von seinem Radio hörte und von einem Radio im Revier. Deshalb folgt diesem Satz eine Täuschung

durch Unterlassung. Die Perlokutionäre Handlung, die Jakob erzielen wollte, war, dass Mischa sein

Vorhaben beendete. Das gelang ihm auch, denn Mischa wurde wie gelähmt und blieb regungslos

sitzen. Der Aussagesatz beinhaltet alle fünf Eigenschaften der Lüge. Somit kann ich behaupten, dass

es eine Lüge ist.

Die nächste Lüge äusserte Jakob, als ein Mitarbeiter, Kowalski, eine neue Meldung wollte:

2. «Ja, drei Kilometer nach neuesten Meldungen.»30

Das war seine Antwort auf die Frage, ob und wie weit die Russen weitergekommen seien. Es ist

wieder eine Behauptung, die nicht wahr ist. Er referierte auf die Russen, die drei Kilometer

vorgerückt seien. Da diese Tatsache nicht stimmte, die Russen aber wirklich auf dem Weg nach

Polen waren, zählt die Lüge als unaufrichtiges prädizierendes Referieren. Die Russen hätten wirklich

drei Kilometer weitergekommen sein können, jedoch wusste das Jakob nicht und behauptete es

trotzdem. Deshalb wäre es, auch wenn es stimmen würde, trotzdem eine Lüge. Bei diesem Beispiel

werden die Einleitungsbedingungen ebenfalls verletzt, da er keinen Beweis hatte. Die

Aufrichtigkeitsbedingung wird verletzt, da er nicht glaubte, dass das Behauptete wahr ist. Die

28 Giese, Bettina. 1992. S. 93-97. 29 Becker, Jurek. 1969. Seite 32. 30 Becker, Jurek. 1969. Seite 74.

11

allgemeine Glückensbedingung wird erfüllt, da Kowalski ihm glaubte. Auch diese Täuschung erfüllt

alle fünf Eigenschaften der Lüge. Mit der Täuschung wollte Jakob bewirken, dass Kowalski ihn in

Ruhe lässt, was er auch erreicht hatte. Kowalski war mit der Information zufriedengestellt.

3. «Warum nicht? […] Es liegt nur an dir. Ich bin einverstanden.»31

Wegen eines Stromausfalls, der sich schon länger hinzog, kam die Idee auf, dass sie das Radio zu

Kowalski bringen könnten. Diese Lüge von Jakob war sehr geschickt. Er wusste, dass Kowalski nichts

von dieser Idee hielt. Deshalb konnte er den anderen vorspielen, dass er die Idee gut fand, obwohl

die Ausführung dieser Idee unmöglich war.

Hier liegen gleich zwei Lügen vor. Der erste Satz ist eine rhetorische Frage, aber Jakob scheint damit

Kowalski herauszufordern, mit Gegenargumenten die anderen zu überzeugen, wie schlecht diese

Idee war. Im zweiten Satz referierte er auf Kowalski und schrieb ihm zu, dass er der Einzige war, der

sich dagegenstellte. Das implizierte Jakob deutlich mit dem Wort nur. Da er die Idee jedoch

genauso schlecht finden musste, weil er kein Radio hatte, ist dies gelogen. In diesem Fall tritt also

eine Unterstellung auf. Mit dem dritten Satz log Jakob noch einmal, denn er war aufgrund der oben

genannten Gründe nicht einverstanden. Die Lüge lässt sich dem unaufrichtigen prädizierenden

Referieren unterordnen, denn Jakob war dort und existierte, war aber nicht einverstanden. Die

Aufrichtigkeitsbedingung wird verletzt, da Jakob, wie Kowalski, nicht einverstanden war. Da

Kowalski und die anderen Gesprächspartner ihm glaubten, wird die allgemeine Glückensbedingung

erfüllt. Die fünf Eigenschaften der Lüge sind hier ebenfalls erfüllt. Er wollte mit der Lüge bezwecken,

dass es nicht so aussah, als wäre er die Person, die das Vorhaben untergrub. Das stellte er sehr

geschickt an, weil er seine Gesprächspartner anfing zu manipulieren, denn er stellte es so dar, als

wäre das Vorhaben für ihn eine gute Lösung. Er wusste, dass Kowalski nicht so empfand und ihm

war klar, dass Kowalski das Vorhaben auch nicht zulassen würde. Deshalb zeigte er sich für das

Vorhaben und liess den Dingen seinen Lauf.

4. «Habe ich dir überhaupt schon erzählt, dass die Deutschen Riesenverluste haben?»32

Kowalski half Jakob, als er auf die Toilette der Deutschen ging. Dafür wurde Kowalski verprügelt. Die

Lüge war, wie ich denke, eine Wiedergutmachung für die Verletzungen. Somit ist die Perlokution,

dass sich Kowalski besser fühlte und nicht mehr wütend auf Jakob war.

Diese Lüge setzt sich aus einem Fragesatz und einem Aussagesatz zusammen, als Ganzes ist Jakobs

Aussage als Frage formuliert. Der erste Teilsatz ist eine rhetorische Frage. Ihm war klar, dass er

diese Tatsache noch nicht erzählt hatte. Auch wenn die rhetorische Frage nichts zu der Aussage

beizutragen hat, ist der Teil enorm wichtig. Der Teilsatz ist die Einleitung, die Jakob jetzt brauchte,

31 Becker, Jurek. 1969. Seite 93. 32 Becker, Jurek. 1969. Seite 111.

12

da ihn Kowalski nach keiner Information bezüglich den Russen gefragt hat.

Der Aussagesatz referiert auf die Deutschen und beschreibt die Eigenschaft, dass sie Riesenverluste

haben. Da er nicht glaubte und vor allem nicht wusste, dass sie Riesenverluste hatten, ist es eine

Lüge. Es handelt sich auch da um unaufrichtiges prädizierendes Referieren. Die

Einleitungsbedingung und die Aufrichtigkeitsbedingung werden bei dieser Täuschung verletzt.

Ersteres, weil kein Beweis für seine Behauptung vorhanden war, ist die Aufrichtigkeitsbedingung

verletzt, da er nicht wusste, ob seine Aussage wahr ist. Die allgemeine Glückensbedingung wird

auch hier eingehalten, da Kowalski ihm glaubte. Die fünf Eigenschaften der Lüge sind hier alle

erfüllt.

5. «Stell dir vor, […] vorhin setze ich mich an meinen Apparat und drehe am Knopf, wie ich es

immer tue, aber kein einziger Ton kommt heraus. Verstehst du das, gestern spielt es er

noch, nicht zu übertreffen, und heute schweigt er sich aus. Da kann man nichts machen,

mein Lieber, so ein Radio ist ein unbegreifliches Ding, und jetzt ist es kaputt.»33

Ich werde diese Lüge nicht genauestens untersuchen, da es bei diesen Sätzen meines Erachtens

nicht viel Sinn macht. Da aber alle Teilsätze wichtig sind, habe ich die ganze Lüge zitiert. Es sind

wieder unaufrichtige Aussagesätze, die an Kowalski gerichtet waren. Der wesentliche Unterschied

zu den anderen Lügen ist dabei, dass es sich um ein ganzes Lügengebilde handelt. Es ist eine kleine,

durchdachte Geschichte, die er schon vorher geplant hat. Zehn Seiten vorher, chronologisch

gesehen früher am Abend, kam er auf die Idee, diese Lüge zu erzählen und hat sie schon

durchdacht. Die Lüge war nicht mehr spontan, sondern geplant. Seine Intention war, dass er

endlich einen Ausweg aus der gesamten Lügengeschichte wollte. Kowalski kaufte ihm diese

Geschichte ab, was sie erfolgreich macht. Es handelt sich um eine Täuschung durch Präsupposition,

da das Radio noch immer nicht existierte. Des Weiteren zählt die Lüge ebenfalls als unaufrichtiges

prädizierendes Referieren, da es nicht stimmte, dass das Radio kaputt war. Denn, wie schon oft

erwähnt, existierte kein Radio. Bei diesem Beispiel werden die Einleitungsbedingungen verletzt,

denn auch hier hat er keinen Beweis, ob seine Aussage stimmt. Auch die Aufrichtigkeitsbedingung

wird verletzt, da seine Behauptung nicht wahr war und Jakob das auch wusste. Da Kowalski ihm

glaubt, wird die allgemeine Glückensbedingung erfüllt. Die fünf Eigenschaften der Lüge sind in

dieser Textstelle alle beinhaltet.

Als Jakob das mit dem vermeintlich kaputten Radio einem anderen Mitbürger erzählte, antwortete

er auf die Gegenfrage, wie das denn geschehen sei, sehr ähnlich wie bei Kowalski.

6. « […] Gestern spielt es noch, und heute spielt es nicht mehr.»34

33 Becker, Jurek. 1969. Seite 126. 34 Becker, Jurek. 1969. Seite 132.

13

Die fünfte und sechste Lüge sind im Grunde dieselben, jedoch ist die Sechste sehr gekürzt. Er liess

nicht nötige Nebensätze und Füllwörter aus. Jakob referierte wieder auf das Radio, das die

Eigenschaften hatte, dass es zuerst spielte und dann nicht mehr. Hier erfolgt unaufrichtiges

prädizierendes Referieren, da auf ein Objekt referiert wird, das es nicht gibt. Auch dieses Mal ist die

Lüge geglückt. Die Perlokution ist dieselbe wie bei der fünften Lüge, er wollte die Lügen nicht mehr

erzählen und so einen Ausweg finden. Wie beim vorigen Beispiel werden die

Einleitungsbedingungen und die Aufrichtigkeitsbedingung verletzt. Auch hier glaubte ihm das

Gegenüber, deswegen ist die allgemeine Glückensbedingung hier erfüllt. Alle fünf Eigenschaften

der Lüge sind hier erfüllt.

7. «Das kannst du gar nicht wissen […]. Du hast dir ganz umsonst so viel Mühe gegeben. Das

Radio ist inzwischen wieder ganz.»35

Kowalski suchte einen Fachmann, der das Radio reparieren konnte. Deshalb musste sich Jakob

etwas einfallen lassen, da es kein Radio zum Reparieren gab. Somit ist die Perlokution, dass

Kowalski und der Fachmann ihn wieder in Ruhe lassen. Das gelang ihm nur bedingt, da Kowalski

wissen wollte, wie er das anstellte.

Die Täuschung besteht aus drei Sätzen, die jeweils einen Teilsatz beinhalten. Auch hier kommt er

nicht direkt auf den Punkt, denn er sagte in den ersten beiden Sätzen nur belanglose Dinge. Das

machte er, um bei seinen Gesprächspartnern den Anschein zu erwecken, dass ihm etwas Wichtiges

einfällt und um Zeit zu gewinnen, sich das vermeintlich wichtige zu überlegen. Das wird durch die

beiden ersten Sätze, die neutral formuliert sind, offensichtlich. Bei beiden Sätzen referierte er auf

Kowalski. Zuerst schrieb er ihm die Eigenschaft zu, dass er es noch nicht wissen konnte, dann, dass

er sich umsonst Mühe gegeben hat. Werden zuerst nur die beiden Sätze angeschaut, könnte beim

dritten Satz alles folgen. Unter Zeitdruck entschied er sich, dass das Radio wieder ganz war. Jakob

machte das mit einem einfachen Aussagesatz. Da er, wie ich schon erwähnt habe, unter Zeitdruck

stand, ist es ein einfacher Satz. Er ist nicht mehr so ausgeschmückt wie die sechste und siebte

vorigen Lüge. Der Aussagesatz referiert auf das Radio, das die Eigenschaft hat, wieder ganz zu sein.

Da das Radio nicht existierte, ist es eine Täuschung durch Präsupposition. Ausserdem ist es

unaufrichtiges prädizierendes Referieren. Bei dieser Lüge werden die Einleitungsbedingungen

verletzt, da er keine Beweise für seine Aussage hatte. Auch die Aufrichtigkeitsbedingung wird

verletzt, denn er sagte die Unwahrheit. Die allgemeine Glückensbedingung wird hier erfüllt, da

Kowalski nicht realisierte, dass es eine Lüge war. Dieses Beispiel beinhaltet alle fünf Eigenschaften

der Lüge.

35 Becker, Jurek. 1969. Seite 156.

14

Die achte Täuschung, die ich untersuche, erstreckt sich über 10 Seiten. Als Lina auch Radio hören

wollte, stellte Jakob ein ganzes Schauspiel dar. Er imitierte Stimmen, simulierte eine Blaskapelle

und erzählte ein Märchen. Er stellte es so dar, als ob es vom Radio käme. Ich wähle aus diesen

Seiten ein Zitat aus der ersten Seite, bevor sie Radio hörten.

8. «Eigentlich darf man es auch nicht hören, wenn man noch so klein ist. Das ist streng

verboten. Aber ich mache mit dir eine Ausnahme. […]»36

Die Täuschung besteht aus zwei Aussagesätzen, die jedoch nicht komplett gelogen sind. Im Ghetto

durften sie nicht Radio hören, das stimmt. Hier liegt eine Täuschung durch Verdrehung und

unaufrichtige Tatsachenunterstellung durch Unterlassung vor. Die Lüge besteht aus einer

Verdrehung, weil Jakob beim perlokutionären Akt auf man referierte. Er verallgemeinerte damit die

Tatsache, sodass nach seiner Aussage kein Kind Radio hören darf. Er verschwieg ihr, dass er im

Ghetto gar kein Radio besitzen durfte und daraus folgend auch nicht Radio hören durfte. Die

Perlokutionäre Handlung ist, dass Lina akzeptiert, dass sie das Radio nicht sehen kann. Denn mit

dem letzten Satz verdeutlichte er, dass er ihr gemeinsames Vorhaben, Radio zu hören, jederzeit

abbrechen könnte. Wenn sie das macht was er sagt, kann sie vielleicht wieder einmal Radio hören.

Hier werden ebenfalls die Einleitungsbedingungen und die Aufrichtigkeitsbedingung verletzt, da er

keinen Beweis hatte und wusste, dass es nicht stimmte. Die allgemeine Glückensbedingung ist

erfüllt, da Lina ihm geglaubt hat. Die fünf Eigenschaften der Lüge sind hier alle erfüllt.

9. «Ich habe übrigens was von Ihrem Sir Winston gehört.»37

Das sagte Jakob zu einem Mann namens Schmidt. Sie mussten menschliche Fäkalien hinter dem

Klosett der Deutschen wegschaufeln, doch Schmidt konnte nicht mehr, da der Gestank unerträglich

war und sie kein Mittagessen bekommen hatten. Die Perlokutionäre Handlung der Lüge war, dass

Schmidt wieder motiviert war weiterzuarbeiten. Auf propositionaler Ebene implizierte er auf sich

selber und sagte, er habe etwas von Sir Winston gehört. Das war gelogen, denn er hatte nichts von

ihm gehört. Er hatte nur im Interview, das er vor Lina inszenierte, eine Unterhaltung mit ihm

erfunden. Die Lüge zählt zur Klasse des unaufrichtigen prädizierenden Referierens, da Sir Winston

zwar existierte, er jedoch nichts von ihm gehört hat. Die Einleitungsbedingungen und die

Aufrichtigkeitsbedingung werden bei dieser Lüge verletzt, da er es weder beweisen konnte, noch

selber glaubte. Die allgemeine Glückensbedingung wird eingehalten, da Schmidt ihm glaubte. Auch

bei diesem Beispiel sind alle Eigenschaften der Lüge erfüllt.

36 Becker, Jurek. 1969. Seite 164. 37 Becker, Jurek. 1969. Seite 219.

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Die letzten Lügen werden nicht mehr ausführlich beschrieben. Sie sind nicht in der direkten Rede

geschrieben, sondern in den Text eingegliedert. Ein Beispiel dafür:

10. «Am Morgen dieses Tages, der für den Marsch auf die Kreisstadt Pry ausersehen ist, die

Russen werden sie nicht ganz erreichen, ihr aber noch ein ganzes Stück näherkommen, so

will es Jakob […]»38

Auch wenn sich dieser Satz sprechakttheoretisch nicht analysieren lässt, finde ich es trotzdem

wichtig, diese Art der Lügen zu erwähnen. So sind nur die letzten Lügen beschrieben.

4.4 Vergleich der Lügen

Nach Betrachtung der Perlokution wird klar, dass Jakob nicht zum Spass gelogen hat. Er verfolgte

immer ein Ziel. Auf den ersten Blick sehen die Perlokutionen ganz unterschiedlich aus, doch nach

längerem Betrachten lassen sich Zusammenhänge feststellen. Er log immer wieder, um einer

Person oder der allgemeinen Misslage mit den Lügen zu entfliehen. Bei der Lüge Nummer zwei

wollte er Kowalski loswerden, genau wie bei der siebten Täuschung. Die fünfte und sechste Lüge

äusserte er, um aus der gesamten Situation mit den Lügen zu entfliehen. Denn dadurch, dass das

Radio als kaputt galt, war er aus seinem Lügengespann gerettet. Die erste Lüge erfand er aus

selbstlosen Gründen, nämlich, dass Mischa sein riskantes Vorhaben stoppt. Jakob bereute es sofort,

ihm mit dieser Lüge geholfen zu haben, als Mischa allen erzählte, dass er ein Radio hatte. Doch von

einem gewissen Zeitpunkt an schien er zu realisieren, dass er mit Lügen auch selbstsüchtige Zwecke

anstreben konnte. Wie bei der dritten Täuschung, denn dort wollte er erzielen, dass er besser

dasteht als Kowalski. Hier log er teilweise aus egoistischen Hintergründen. Nur teilweise, da er die

komplette Wahrheit, dass er kein Radio besass, das transportiert werden könnte, nicht fähig war zu

äussern. Er hätte auch in dem Sinn lügen können, dass er, wie Kowalski, gegen die Idee des

Transports war. Die vierte Täuschung diente dem Zweck, Kowalski milde zu stimmen, sodass er

nicht mehr sauer auf Jakob war. Somit sprach er die Lüge teilweise aus egoistischen Gründen aus.

Jakob nutzte das Lügen wieder, um besser dazustehen. Zusammenfassend wollte Jakob bei der

ersten Lüge Mischa helfen, bereute danach jedoch die Lüge ausgesprochen zu haben. Auch wenn er

der Situation entfliehen wollte, nutzte er die Lügen manchmal auch zu selbstsüchtigen Gründen.

Zur Art der Lüge fällt auf, dass oft unaufrichtiges prädizierendes Referieren vorliegt. Dazu gibt es

eine einfache Erklärung, denn er wusste nach seinem Besuch im Revier, dass die Russen auf dem

Weg zu ihnen waren. Demzufolge basieren die Lügen darauf, dass die Russen den Marsch Richtung

Polen angetreten hatten. Doch er erwähnte das Revier nicht, sondern log, dass er ein Radio habe.

Deshalb musste er die Lüge weiterspinnen und jeden Tag weitere Informationen erfinden. Die

38 Becker, Jurek. 1969. Seite 220.

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Russen waren demnach in Bezug auf die Lügen zwei, vier und auch zehn, wirklich auf dem Weg.

Doch er wusste nicht wo sich die Truppen befanden und wer mehr Verluste im Krieg machte. Einen

Einzelfall hat es noch, nämlich die neunte Lüge. Er referierte dort auf einen Mann namens Sir

Winston, der existierte, jedoch hatte Jakob keine Ahnung was dieser in einem Interview sagen

könnte. Ein anderer Fall, bei dem unaufrichtiges prädizierendes Referieren auftritt, sind die Lügen,

bei denen das unaufrichtige prädizierende Referieren und die Täuschung durch Präsupposition

vorkommen. Diese Lügen sind die Nummern fünf, sechs und sieben. Sie lassen sich mit beiden

Arten klassifizieren, da er auf ein nicht reales Objekt referiert und diesem Objekt noch eine

Eigenschaft zuschreibt. Denn diese Täuschungen referieren nicht auf die Russen, sondern auf das

Radio. Die Eigenschaft, die Jakob dem Radio zuschrieb, kann nicht wahr sein, da das Objekt nicht

real ist.

Um bei der Täuschung der Präsupposition zu bleiben, nenne ich das erste Beispiel. Dort lügt Jakob,

er habe ein Radio, das jedoch nicht existierte. Bei meinen Beispielen sind die Fälle, die auf das Radio

referieren, die einzigen, die eine Täuschung durch Präsupposition beinhalten.

Die Unterlassung ist eine weitere Art der Lüge, die bei meinen Beispielen bei der ersten und achten

Lüge vorkommen. Zusammenhänge lassen sich bei diesen beiden Lügen nicht feststellen, da sie auf

verschiedene Tatsachen beruhen. Bei der ersten Lüge wird verschwiegen, dass Jakob im Revier war.

Bei der Lüge Nummer acht verschwieg Jakob, dass der Besitz des Radios im Ghetto und auch das

Hören des Radios verboten war. Bei der Täuschung Nummer acht ist die Tatsache entscheidend,

dass Jakob zu Lina spricht, zu einem Kind. Denn im Gegensatz zu den Erwachsenen im Ghetto

wusste sie nicht, dass es verboten war, ein Radio zu besitzen, geschweige denn Radio zu hören. Bei

ihr findet die einzige Verdrehung in meinen untersuchten Lügen während statt. Wie bei dem Part

des Verschweigens kann diese Art der Täuschung nur bestehen, weil Lina unwissend war. Denn

auch da wüsste ein Erwachsener, dass es jedem im Ghetto untersagt war, Radio zu hören. Jedoch

können ausserhalb des Ghettos alle ein Radio haben und das auch hören.

Die dritte Lüge ist ebenfalls ein Einzelfall, denn nur dort hat es eine Unterstellung. Diese konnte nur

stattfinden, weil Jakob Kowalski durchschaut hatte. Wenn Jakob nicht gewusst hätte, dass Kowalski

so entgeistert von dieser Idee war, hätte er anders lügen müssen. So konnte er Kowalski eine

Lösung für ihr gemeinsames Problem finden lassen. Ausserdem hätte er sich selber in ein schlechtes

Licht gebracht und seine Gesprächspartner hätten misstrauisch werden können, ob das Radio

wirklich existiert. Das halte ich aber für unwahrscheinlich, da sich die Juden im Ghetto meinem

Eindruck nach an jede Hoffnung klammerten.

Ich kann aus den oben genannten Vergleichungen sagen, dass Jakobs Lügen viel mit der

angelogenen Person zu tun haben. Eine Lüge wurde von ihm anders formuliert, wenn die

angelogene Person nicht so viel wusste oder wenn Jakob wusste, wie sie sich verhält.

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Es werden überall die Einleitungsbedingungen und die Aufrichtigkeitsbedingung verletzt, ausser bei

der dritten Lüge. Denn dort geht es um keine Fakten mehr, sondern um Jakobs eigene Meinung.

Die erste Lüge beinhaltet 4 Wörter. Es war eine Erfindung von Jakob, denn es existierte kein Radio.

Die Lüge kam Jakob spontan in den Sinn, denn er musste etwas erfinden, um Mischa zu helfen. Bei

den darauffolgenden Lügen wird die erste Lüge weitergesponnen. Sie werden auf der Existenz des

Radios aufgebaut. Ohne die erste Lüge gäbe es folglich keine weiteren Lügen.

Die zweite Lüge ist fast genauso kurz wie die erste, nur beinhaltet diese noch einen Zusatz am

Schluss. Die Täuschung war nicht solch ein spontaner Geistesblitz wie bei der ersten Lüge, denn

Kowalski drängte ihn zu der Information. Jakob wollte zuerst nichts dazu äussern, schlussendlich

liess er sich doch etwas einfallen, damit Kowalski ihn in Ruhe lässt.

Auch die vierte Täuschung ist relativ kurz, sie besteht jedoch immerhin aus drei Sätzen. Da hörte er

zuerst seinen Gesprächspartnern bei ihrer Unterhaltung zu und hatte Zeit zu realisieren, dass

Kowalski die Idee nicht gut fand. Bei der fünften Lüge wird es interessant: Sie besteht aus vielen

Aussagesätzen mit Nebensätzen oder Einwürfen wie «nicht zu übertreffen» oder «mein Lieber».

Der Unterschied zu den anderen Lügen ist die Planungszeit, die er investieren konnte. Schon bevor

Kowalski bei ihm war, realisierte er, dass er lediglich behaupten konnte, dass das Radio kaputt war.

Da liess er sich eine kleine Geschichte einfallen. Das sechste Beispiel ist im Grunde gleich wie die

Nummer fünf, nur gekürzt, da er nicht allen die ganze Geschichte erzählen konnte.

Die Lüge Nummer sieben folgt dem gleichen Prinzip wie Nummer fünf, auch wenn sie das Gegenteil

aussagt, nämlich, dass das Radio wieder funktioniert. Diese Lüge ist jedoch viel kürzer und einfacher

strukturiert als die fünfte Lüge. Sie besteht aus drei Sätzen wobei nur der letzte Satz die Lüge

beinhaltet. Also wurde die gleiche Lüge mit weniger Text ausgesagt. Im Kontext war die siebte Lüge

spontan, Jakob musste schnell eine Lösung finden, damit Kowalski und der Fachmann für das Radio

ihn in Ruhe liessen. Das kann auch aus der Tatsache geschlossen werden, dass die ersten beiden

Sätze des Beispiels sinnlos sind. Sie dienen nur zur Zeitgewinnung, damit Jakob mehr Zeit hatte, sich

eine gute Ausrede einfallen zu lassen.

Bei Beispiel Nummer neun stand Jakob nicht unter Druck. Es war lediglich eine Lüge, die Schmidt

ablenken sollte, dass er besser arbeiten konnte. Denn wenn er schlecht arbeitete, bedeutete das

mehr Arbeit für Jakob. Jedoch war es ihnen nicht möglich eine richtige Unterhaltung zu führen, da

ein Deutscher in ihrer Nähe war und sie beaufsichtigte. Deshalb ist die Lüge kürzer, auch wenn er

nicht unter Zeitdruck stand.

Die letzte Lüge ist ganz anders, denn sie ist im Text eingegliedert. Somit kann ich sie nicht genau

beschreiben oder vergleichen, nur deuten, was sich verändert hat. Ich denke, die Lügen sind für

Jakob zu Gewohnheit geworden. Es wurde zum Alltag, jeden Tag eine neue Geschichte zu erzählen,

um seine Mitmenschen zufrieden zu stellen.

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Mein Fazit ist, dass sich die Lüge mit der verfügbaren Planungszeit verändern. Tendenziell werden

sie länger und ausschweifender, sobald er genug Zeit hat, sich eine gute Täuschung einfallen zu

lassen.

5. Diskussion, Zusammenfassung und Schluss

Zusammenfassen spielen die Perlokution, die Person, die angelogen wird und die Zeit, die der

Lügner zur Verfügung hat, für die Lüge eine Rolle. Denn ein wichtiges Ergebnis war, dass bei meinen

Beispielen ein Zusammenhang der Perlokution besteht. Er wollte mit einer Lüge oft die Flucht aus

einer Unterhaltung oder gar aus der ganzen Lügengeschichte bezwecken. Ausserdem taucht im

Buch oft die Täuschung durch unaufrichtiges prädizierendes Referieren auf. Dabei kommt es auf die

Situation und vor allem auf die Person an, die angelogen wird, an. Eine Lüge zu Jakobs Pflegekind

Lina ist ganz anders als eine Lüge zu den erwachsenen Personen, da diese mehr Grundkenntnisse

verfügen. Für Lina ist Jakob auch wie ein Ersatzvater, der ihr sagen kann, was sie tun und lassen soll.

Das wichtigste Ergebnis ist meiner Meinung nach, dass die Lügen unter dem Einfluss, ob er unter

Zeitdruck steht, stark variieren können. Wenn er genügend Zeit hatte, sich eine Lüge zu überlegen,

ist sie viel umfangreicher. Eine Täuschung unter Zeitdruck ist eher kurz und ausweichend.

Der Unterschied zu meiner anfänglichen These ist, dass sich die Lügen nicht chronologisch, sondern

im Zusammenhang verändern. Ich nahm anfangs an, dass die Lügen sich mit der Zeit entwickelten,

da Jakob mehr Übung im Lügen bekam, was sich, wie gesagt, als falsch erwies.

Ich hatte ein paar Probleme mit meiner Zeitplanung, da ich den alltäglichen Schulstress nicht

mitkalkulierte. Ich nahm mir zu viel vor, sodass meine Motivation immer weiter sank. Denn ich sah,

was ich alles in kurzer Zeit machen sollte. Ich konnte jedoch in den Ferien viel weiterarbeiten, da ich

in diesen Wochen genügen Zeit dafür fand.

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6. Quellenverzeichnis

Baumgärtel, Iris. 2005. Die Lüge, ein linguistischer Fall. Beschreibung des Lügens als

Sprechakt sprachlicher Täuschung. GRIN. Noderstedt.

Becker, Jurek. 1969. Jakob der Lügner. Suhrkamp. Frankfurt am Main.

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http://www.germanistik-kommprojekt.uni-oldenburg.de/sites/1/1_03_3.htm

Finkbeiner, Rita. 2015. Einführung in die Pragmatik. WBG. Darmstadt.

Giese, Bettina. 1992. Untersuchungen zur sprachlichen Täuschung. Max Niemeyer Verlag.

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Humboldt-Universität zu Berlin (2005). Präsupposition. http://amor.cms.hu-

berlin.de/~h2816i3x/Lehre/2005_VL_Pragmatik/Pragmatik_10_Praesuppositionen.pdf

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Nida-Rümelin, Martine (2006). Theorie der Sprechakte.

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Stiller, Joachim (2014). John Searle: Leben und Werk.

http://joachimstiller.de/download/philosophie_searle.pdf

Bildquelle Titelbild:

http://www.kino.de/film/jakob-der-luegner-1999/#

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7. Eigenständigkeitserklärung

Ich erkläre hiermit, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und nur unter Benutzung der

angegebenen Quellen verfasst habe und ich auf eine eventuelle Mithilfe Dritter in der Arbeit

ausdrücklich hinweise.