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Zeitzeugenberichte aus der Nachkriegszeit Schülerinnen und Schüler der Klassen 10/3 und 10/4 befragten Zeitzeugen über die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Ausführungen eines Ungenannten zu der Situation in der Nachkriegszeit Der 2. Weltkrieg ist vorbei. Die Folgen unübersehbar. Wie haben es die Menschen geschafft, in dieser Situation wieder ein Licht am Ende des Tunnels zu sehen? Hier ein kleiner Versuch der Antwort. Sie möchten anonym bleiben und kommen aus der Kleinstadt Zerbst. Haben Sie dort schon in der Nachkriegszeit gelebt? Ja. In der Nachkriegszeit habe ich auf dem Kleinen Wall gewohnt, in meinem Großelternhaus. Aber bis ich dahin kam, war es ein langer Weg. Damals war ich 9 Jahre. Es war nicht einfach. Wie kam es denn genau dazu, dass Sie in das Haus ihrer Großeltern kamen? Eigentlich wohnte ich mit meinen Eltern und meiner Schwester, die damals 18 Jahre alt war, in der Ankuhnschen Straße 14. Mein Vater war jedoch im Krieg und ist kurz vor dessen Ende gefallen. Die Ankuhnsche Straße schließt heute jenseits der Stadtmauer an den Wegeberg an. Früher setzte sie sich auch noch auf dem Wegeberg fort. links: Ankuhnsche Straße 14, Mitte 19. Jh. (rechts, 2. Haus von vorne) Unser Haus befand sich auf dem Gelände der heutigen Sekundarschule Nord, gleich an der Stadtmauer. Jetzt sieht man von diesen kleinen Häusern nichts mehr, denn am 16. April 1945 fielen auch dort die Bomben. Es war ein Montag. Und dann sind sie auf den Kleinen Wall geflohen. Nein. Am Sonntag mussten wir raus aus Zerbst. Wir sind nach Bornum geflüchtet, ein kleines Dorf in der näheren Umgebung. Dort blieben wir dann 14 Tage. Erst in einer Scheune, später teilten

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Zeitzeugenberichte aus der Nachkriegszeit

Schülerinnen und Schüler der Klassen 10/3 und 10/4 befragten Zeitzeugen über

die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg.

Ausführungen eines Ungenannten zu der Situation in der Nachkriegszeit

Der 2. Weltkrieg ist vorbei. Die Folgen unübersehbar. Wie haben es die

Menschen geschafft, in dieser Situation wieder ein Licht am Ende des Tunnels

zu sehen? Hier ein kleiner Versuch der Antwort.

Sie möchten anonym bleiben und kommen aus der Kleinstadt Zerbst. Haben Sie

dort schon in der Nachkriegszeit gelebt?

Ja. In der Nachkriegszeit habe ich auf dem Kleinen Wall gewohnt, in meinem Großelternhaus. Aber bis ich dahin kam, war es ein langer Weg. Damals war ich 9 Jahre. Es war nicht einfach.

Wie kam es denn genau dazu, dass Sie in das Haus ihrer Großeltern kamen?

Eigentlich wohnte ich mit meinen Eltern und meiner Schwester, die damals 18 Jahre alt war, in der Ankuhnschen Straße 14. Mein Vater war jedoch im Krieg und ist kurz vor dessen Ende gefallen. Die Ankuhnsche Straße schließt heute jenseits der Stadtmauer an den Wegeberg an. Früher setzte sie sich auch noch auf dem Wegeberg fort.

links: Ankuhnsche Straße 14,

Mitte 19. Jh. (rechts, 2. Haus von vorne) Unser Haus befand sich auf dem Gelände der heutigen Sekundarschule Nord, gleich an der Stadtmauer. Jetzt sieht man von diesen kleinen Häusern nichts mehr, denn am 16. April 1945 fielen auch dort die Bomben. Es war ein Montag.

Und dann sind sie auf den Kleinen Wall

geflohen.

Nein. Am Sonntag mussten wir raus aus Zerbst. Wir sind nach Bornum geflüchtet, ein kleines Dorf in der näheren Umgebung. Dort blieben wir dann 14 Tage. Erst in einer Scheune, später teilten

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wir 3 uns ein kleines Zimmer mit 6 weiteren Personen. Dafür musste meine Mutter jedoch arbeiten. Als wir wieder nach Zerbst zurückgingen, kamen wir bei einer Tante unter. In der Hopfenbänke Nr. 3. Und dann waren die Russen da.

Sie meinen die sowjetische Befreiungsarmee…

Es war der 8. Mai. Wir mussten innerhalb von 12 Minuten aus dem Haus raus und fliehen … in unseren Schrebergarten am Wasserturm. Mit uns flüchteten meine Tante, ihre Familie und die Untermieter. Denn diese Siedlung war für die Russen vorgesehen. Dann hieß es, wir könnten zurück. Als wir wieder in der Hopfenbänke waren, mussten wir dann doch wieder in die Laube im Schrebergarten. Aufgespürt durch russische Soldaten flohen wir noch am selben Abend zu einer Familie auf der Großen Wiese 9. Neun Wochen auf dem Dachboden. Zurück in die Hopfenbänke. Und dann letztendlich am 15. November 1945 zu meiner Großmutter auf den Kleinen Wall 32 im Ankuhn. Dort lebte auch schon mein Onkel mit seiner Familie. Es war ein kleines Haus.

Wie haben Sie während dieser turbulente Zeit vom Kriegsende bzw. von der

Kapitulation erfahren?

Wie gesagt, ich war damals 9 Jahre alt. Ich habe öfters gehört, dass man vom Radiosender Oslo sprach, aber wer genau die Bevölkerung informierte? Keine Ahnung. All solche Dinge wurden aber auch von Mund zu Mund weitergegeben. Solche Fragen haben sich mir nie gestellt. Für mich war das schlimmste, dass ich meinen Wellensittich in meinem Elternhaus zurücklassen musste. Meine Mutter sah da ganz andere Sachen im Vordergrund stehen. Ihre ganzen Werte und ihr bisheriges Leben lagen in Schutt und Asche. Unsere ganze Existenz war dahin. Wir hatten nicht mehr als einen kleinen Handwagen und jeder einen Rucksack mit dem Nötigsten. Ein Handtuch, einen Waschlappen, Schuhe und Wechselsachen.

Sie standen sozusagen vor dem Nichts. Sind ihnen denn noch einige Dinge aus

den Trümmern ihres Hauses erhalten geblieben?

Meine Mutter und meine Schwester holten das Letzte aus dem Keller heraus. Sonst wäre es geklaut worden. Es war nicht viel. Ich habe das Haus nur noch als eine Trümmerstätte gesehen. Ansonsten wurden wir Kinder von uns unverständlichen Dingen immer etwas ferngehalten. Wir waren zu klein.

Als Sie jedoch nach Zerbst zurückkamen, sahen Sie doch auch die übrigen

Trümmerfelder.

Man hörte es bis Bornum krachen, rund 10 km entfernt. 20 Minuten fielen die Bomben. Ich habe die Trümmer erst gar nicht so wahrgenommen, weil die Siedlung um die Hopfenbänke nicht zerstört worden war. Später gehörte es zum Alltag. Sie waren eben da. Die Trümmer. In der Fuhrstraße lagen sie noch sehr lange. Man muss bedenken, dass diese Straße viel schmaler war als heute. Die

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Gerippe der Häuser ragten gespenstisch in den Himmel. Links und rechts Trümmer. Dazwischen nur ein schmaler Fahrweg.

Aber es wurden doch auch bestimmt viele Wiederaufbauarbeiten geleistet?

Erst einmal mussten die Ruinen der Stadt weggeräumt werden, um Neues bauen zu können. Dies erledigten die Trümmerfrauen und die Trümmerbahn.

Im Hintergrund Durchbruch in der Stadtmauer für die Trümmerbahn

Meine Schwester arbeitete als Trümmerfrau auf dem Flugplatz und meine Mutter als Näherin für die Russen im Hotel Anhalt. Irgendwie musste man sich ja etwas Geld verdienen. Ich kann mich noch erinnern, dass die Trümmerbahn - ich beschreibe sie mal als Dampf- und Dieselloks mit mehreren Kipploren - in der Alten Brücke fuhr und dann wurde der Schutt zur alten Badeanstalt gebracht. Das sind heute diese großen Hügel. Ansonsten bauten private Leute ihre Häuser wieder auf. Wenn es sich lohnte. Und wenn die Männer bald wieder zurückkamen. Wenn sie das überhaupt taten. Aber es sind ja auch viele umgekommen. Beim Angriff. bzw. sie waren einfach weg – aber wohin? Ich weiß es nicht.

Was ist mit den sowjetischen Besatzern? Haben auch sie beim Aufbau geholfen?

Ich glaube nicht. Aber sicher bin ich mir da nicht.

Wie erlebten Sie die Besatzer weiterhin?

Uns Kindern waren sie immer zugetan. Wir hatten also keine Angst vor ihnen. Dazu muss ich aber sagen, dass die Russen, die das Haus meiner Tante in den Hopfenbänken besetzt hatten, relativ vernünftig waren. Zu anderen hatte ich weniger Kontakt. Aber auch diese haben allerhand Unfug getrieben. So war doch viel im Haus zerstört worden. Mutwillig oder aus Unwissen. Einer von ihnen hat mir aber auch meinen Ring weggenommen, den ich einmal von meinem Onkel geschenkt bekommen habe. Wir durften jedoch die Kaninchen, die sie zuvor freigelassen hatten, im Garten füttern kommen. Etwas anderes: Eher die jungen Mädchen hatten Angst. Vor möglicher Vergewaltigung. Manche wurden deswegen wohl auch versteckt. Meiner Cousine und deren Freundin soll tatsächlich etwas angetan worden sein. Aber darüber sprach man nicht. Auch hatten wohl eher unsere Eltern Angst um uns.

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Angst. Also Sorge. Die gab es doch bestimmt auch hinsichtlich der

notwendigsten Lebensmittel.

Es gab ja die Lebensmittelkarten. Man ging damit z.B. zum Bäcker und bekam für den aufgedruckten Wert Brot. Dieser musste die Karten mit dem Wirtschaftsamt abrechnen und so gelangte er wieder zu Mehl. Doch übermäßig davon leben konnte man nicht. Man musste schon sparsam wirtschaften.

Wie hat man sich dann weitergeholfen?

Mit Tauschen. Aus diesem Grund kamen auch viele aus ihren zerbombten Großstädten in den ländlichen Ankuhn. Hier gab es eben Lebensmittel. Ich war einmal auch mit meiner Tante bei einem, der Möhren zog.

links: Selbstversorgung durch Feldarbeit Ein andermal war ein Mann mit einem Strauß Kamille bei uns. Er wollte sie gegen einen Brotkanten eintauschen. Wir hatten keinen mehr und noch dazu war es zu seinem Unglück keine echte Kamille. Das tat mir doch in der Seele weh. Man tauschte aber auch Kleidung, Schuhe und andere Haushaltsgegenstände. Es fehlte ja nicht nur an Nahrungsmitteln. Auch Brennstoffe waren knapp. Man konnte sich vom Förster eine Erlaubnis zum Hakholz sammeln geben lassen.

Könnten Sie uns das mit dem Hakholz erklären?

Wer hatte, ging mit einem Handwagen in den Wald. Mit einer langen Stange, an der ein Haken war,

hakte man trockene Äste von den Bäumen. Mir fällt ein: Meine Mutter hat auch auf Arbeit eine Kohle mitgehen lassen. So groß war die Not.

Ihre Mutter und Schwester kamen also für den Unterhalt auf. Wie sah es mit

Ihnen aus? Ihre Schulzeit wurde vom Krieg unterbrochen.

Ich ging bis zum Freitag vor dem 16. April zur Schule. Im August/September 1945 begann dann das neue Schuljahr. Es war aber nicht so, dass wir im Sommer ´45 frei hatten. Wir mussten auf den Acker und Kartoffelkäfer sammeln. Je Käfer gab es 1 Pfennig und je Gelege sogar 3 Pfennige. Es wurde in Schichten in der Schule Am Rephuns Garten unterrichtet. Es war die einzige nach dem Krieg in Zerbst, daher ging die erste Hälfte der Schüler von 7 Uhr bis Mittag zur Schule und darauf die zweite. Dort war ich bis zur 6. Klasse. Die letzten beiden Jahre ging ich dann im heutigen Rathaus zur Schule.

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Was war noch charakteristisch für die Schule der Nachkriegszeit?

Teilweise lief man barfuß, weil man keine Schuhe hatte oder man turnte in Unterwäsche, weil man kein Sportzeug besaß. Etwas, was heute unvorstellbar ist: es gab kein Papier. So schrieb ich u. a. auch lange Texte auf Zeitungsränder.

„Man hatte nichts“, sagten Sie. Inwieweit waren die Menschen bereit, sich

gegenseitig zu helfen?

Also, es war schon die Hilfe von einem zum anderen da. In Bornum hausten wir kurzzeitig in einer Scheune ohne Gegenleistung. Das passierte halt aus der Not heraus. Aber jeder versuchte sich selbst erstmal zu helfen. Man brauchte eben selber.

Können Sie sagen, dass Ihr weiteres Leben von dieser Zeit geprägt wurde?

Auf jeden Fall. Ohne Fleiß und Arbeit geht es nicht. Wir durften die Arbeit damals nicht scheuen, wir mussten aus dem Nichts etwas aufbauen. Hätten wir nicht fleißig gearbeitet, hätten wir uns nicht das geschaffen, was wir heute haben. Es wird einem nie etwas in den Schoß fallen. Außerdem muss man auch andern helfen. Man muss solidarisch denken. Und zudem sparsam sein. Nichts kaufen, was man nicht unbedingt braucht. Zuletzt: wenn man etwas nicht kann, muss man es lernen. Es führt kein Weg daran vorbei.

Kleiner Wall 32, vor 1936

Anmerkung: Das Bildmaterial wurde vom Befragten zur Verfügung gestellt.

aufgezeichnet von Andrea Thiem, Klasse 10/3

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Der Krieg bedeutete für viele Menschen Leid, Angst und Tod. So spielte dieser

Schmerz auch für unsere Familie eine große Rolle im und nach dem Zweiten

Weltkrieg. Meine Großmutter, Herta Ritter, die beim Ausbruch des Krieges erst

elf Jahre alt war, berichtet über ihre Erlebnisse.

Kriegsbeginn Auf meine erste Frage, wie sie vom Krieg erfahren habe, holte sie weit aus, denn Anzeichen gab es angeblich schon länger. Bereits im Sommer 1939 kamen Soldaten in ihr Heimatdorf Wikoline in Niederschlesien und verlegten Draht auf den Feldern und bauten Schützengräben und Bunker. Zu der Zeit ahnten die Menschen im Ort schon, dass der Krieg unmittelbar bevorsteht. Noch ein Zeichen gaben auch andere Soldaten. "Öfters kamen Soldaten zu uns nach Hause, übernachteten dort einmal, zogen dann aber sofort weiter", so Herta Ritter. Einige Tage bevor der Krieg dann wirklich ausbrach, kam ein Mann aus der Stadt und gab bekannt, dass der Krieg bald beginnt. Es herrschte immer mehr Panik und die Wikoliner wurden unruhiger. Am 1. September ´39 war es dann soweit: Der Krieg brach aus! Die Kinder, darunter auch meine Großmutter mit ihrem Bruder, rannten aus den Häusern, versteckten sich hinter Gartenzäunen und zählten hunderte von Flugzeugen, die über den Ort, der nur 3 km Luftlinie von der polnischen Grenze entfernt liegt, flogen. Es war sowieso eine Seltenheit mal ein Flugzeug zu sehen – aber plötzlich waren es so viele! Eins war damals klar: Das konnte nichts Gutes heißen... Nach 3 Wochen war Polen überrannt und für die Menschen aus Wikoline ging alles normal weiter. Flucht Vom weiteren Verlauf des Krieges hörten die Leute nur über das Radio. Im Herbst 1944 rückte die Ostfront näher. Manche Familien nahmen Flüchtlingskinder auf. Auch die Familie meiner Oma hatte ein Pflegekind. Trotz der näher kommenden Ostfront wurde bei der letzten Einwohnerversammlung noch behauptet, es bestehe keine Gefahr und alles könne geregelt weitergehen. Dadurch waren die meisten Bürger vorerst beruhigt, doch dies währte nicht lange. Schon einen Tag später kam der Befehl zur Flucht für Kinder und Senioren bis hinter die Oder. Die Menschen wurden aufgeteilt auf Pferd und Wagen, z.B. musste Hertas Bruder mit der Frau des Lehrers und ihren 3 kleinen Kindern, einer Rentnerin vom Gut und mit dem Pflegekind nach Mlitsch fliehen. Da sie nach 5 Tagen wieder zurückkehren sollten, blieben Herta und ihre Mutter zu Hause, um das restliche Vieh zu versorgen, bis der Bruder zurückkehrt (Der Vater war derzeitig Soldat). Doch leider wurde aus diesem Vorhaben nichts, denn wiederum einen Tag später, am 21. Januar 1945, hieß es: "Fertigmachen, wir müssen alle hinterher. Treff ist um 9 Uhr auf dem Dorfplatz." Sichtlich berührt schildert Frau Ritter die damaligen Bedingungen. Es waren nämlich -10°C und es lag eine 30 cm hohe Schneeschicht. Zu allem Übel kam hinzu, dass sie mit dem Fahrrad fahren mussten, denn der Bruder hatte ja den

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Pferdewagen. Tag und Nacht fuhren sie und kamen nach knapp 2 Tagen an. Endlich Mlitsch erreicht, wollten sie sich von den Strapazen der Fahrt erholen, doch auch daraus wurde nichts, denn durch Lärm und Krach konnten sie nicht schlafen. Es ging das Gerücht herum, dass das Treibeis auf der Oder gesprengt wird, aber schon am nächsten Tag erfuhren sie, dass die Oderbrücke zerstört worden war, d.h. dass niemand wieder zurück konnte. Kurze Zeit später mussten sie wieder weiter und so zogen sie von Ort zu Ort. Nicht weit von Dresden entfernt erlebten sie den "Bombenhagel der Amerikaner, als Dresden zerstört wurde." Von den Behörden wurde festgelegt, dass sie sich in Niederwirschnitz im Erzgebirge niederlassen sollen und so kamen sie nach 4 Wochen am 19. Februar ´45 dort an. Alle Familien wurden zu verschiedenen Bauern aufgeteilt und arbeiteten dort. Im Ort lebten noch viele andere Flüchtlinge. "Wir fühlten uns zwar nicht sehr wohl, aber waren froh, endlich mal wieder etwas schlafen zu können!", berichtete sie mir. Dieser "Luxus" währte allerdings auch nicht lange, denn wegen "Fliegeralarm und Bombenbeschuss" mussten sie sich alle im Keller einquartieren. Am 8. Mai 1945 kam dann die Erlösung: Der Krieg war vorüber!!! Ein Amerikaner gab das lang ersehnte Kriegsende bekannt. Endlich konnten sie beruhigt schlafen in voller Vorfreude auf die alte Heimat. "Alle wollten so schnell wie möglich zurück und die Felder bestellen. Deshalb ist der komplette Ort Wikoline, der mit im Erzgebirge untergebracht war, wieder in Richtung Heimat gezogen!", schilderte Frau Ritter. Allerdings war das ohne Erfolg, denn an der Neiße angekommen, wurde niemand über den Fluss gelassen und so warteten sie dort 3 Wochen in der Hoffnung, doch noch ans Ziel zu gelangen. Jedoch vergebens!!! Der weite Weg bis in die jetzige Heimat Da es nun an der Neiße nicht weiterging, mussten sie umkehren bis nach Linz in Sachsen. Wieder kamen sie zu einem Bauern und durften dort für Arbeit wohnen. Der Bauer hatte keine Pferde und deshalb kamen ihm die Wikoliner mit ihrem Vieh gerade recht. Auf meine Frage, ob sie für die Feldarbeit Geld bekamen, antwortete Frau Ritter, dass sie Glück hatten und eine Mark pro Tag bekamen, während andere Familien nichts bekamen. Fast alles schien gut: Der Krieg war vorbei und sie hatten eine Arbeit und eine Unterkunft, nur der Vater war noch in Gefangenschaft. Dann die Überraschung: Im September kam er vorzeitig aus russischer Gefangenschaft, da er krank war, denn er hatte Wasser in den Beinen und Probleme mit dem Herzen. Endlich war die Familie wieder komplett. Noch knapp 3 Jahre lebten sie in Linz bis ihnen zu Ohren kam, dass in Buhlendorf ein Gut aufgelöst wird. Prompt bemühten sie sich um eine Siedlerstelle, die sie dann auch bekamen. Am 21. Juli 1948 erreichten sie Buhlendorf nach 2 Tagen Bahnfahrt. Um so schnell wie möglich das Haus fertig zu bekommen, packten alle mit an. "Früher war das nicht so wie heute. Selbst Kinder mussten mithelfen. Man konnte nicht mal eben schnell ein Haus bauen lassen. Das musste selber erledigt werden!", so Herta Ritter.

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Nahrung und Trinkwasser Neues Dorf, neues Haus, neues Feld - woher also neue Nahrung? Auf diese Frage wurde mir folgendermaßen geantwortet: "Da das Gut aufgelöst worden war, bekam jeder einen Zentner Getreide und 2 Schafe. Das reichte vorerst solange, bis man die Felder selber bestellt hatte. Später hatten wir sogar eine eigene Kuh." Auch das "Trinkwasserproblem" ist ganz gut gelöst worden, selbst wenn es ziemlich knapp war. Es gab nämlich nur eine Wasserstelle im Dorf. Zuerst wurde es mit Eimern geholt, später dann mit einem Wasserwagen. Das erleichterte den Transport extrem. Unerwartete Wiedersehensfreude Im Krieg hatten sie viele Tanten, Cousinen und Freunde durch die Flucht aus den Augen verloren. Glücklicherweise fanden sie sie alle durch Zufall wieder und die Freude darüber war groß. Nun begann ein neues Leben, das sich anfangs als schwierig erwies, aber mit der Zeit immer besser wurde. Bald fand Herta in ihrem Nachbarn ihre große Liebe und das neue Leben machte ihr wieder Spaß... aufgezeichnet von Katrin Ritter, Klasse 10/4 Ich habe Meta Schulze (95) aus Lindau befragt, wie sie die Zeit zwischen 1945-1949 persönlich erlebt hat. Sie schilderte den Kampf ums Überleben und wie erleichtert sie nach dem Krieg war, hatte aber Angst vor der Zukunft. Ihre Erfahrungen und Erlebnisse möchte ich in einem Text zusammenfassen. Meta Schulze lebte nach dem Krieg mit ihren zwei Söhnen Gerhard und Horst, ihrer Mutter und einigen zugeteilten Umsiedlern in Lindau in einem schönen großen Haus bzw. Bauernhof, wo sie und ihre Familie einen Landwirtschaftsbetrieb besaßen. Im Dorf gab es genug Trinkwasser und Nahrung, wovon die Bewohner in Lindau lebten, aber es wurde bzw. musste untereinander in der Stadt, in den Familien und bei den Umsiedlern aufgeteilt werden. Meta erzählte auch, dass es in der Zeit von 1945-1949 Lebensmittelkarten gab. Da sie aufgeteilt werden mussten und es nur wenige gab, hatten manche Bewohner, die selbst keine Landwirtschaft besaßen, zu wenig zum Essen. Durch Familie Schulzes eigene Landwirtschaft besaßen sie Acker und Tiere und konnten sich deshalb gut selber versorgen. Probleme mit Geld gab es auch nicht, da sie ihre überschüssigen Produkte gewinnbringend verkaufen konnten. Durch die viele Arbeit auf dem Hof gab es auch ein Dienstmädchen im Haus, das gut bezahlt wurde. Am 01.05.1945 kamen Amerikaner und forderten die Bewohner auf, alle Waffen abzugeben. Einen Tag später waren sie über die Elbe wieder verschwunden. Metas Verkehrsmittel zu dieser Zeit war ein Fahrrad, mit dem sie überall hinfuhr und all ihre

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Erledigungen machte. Meta war verheiratet und ihr Mann Willy war 1945 im Rückzug aus Frankreich nach Naumburg an der Saale gekommen und schrieb seiner Ehefrau Meta einen Brief, dass er bald nach Hause kommen würde. Sie sollte sich keine Sorgen machen. Meta bekam diesen Brief, freute sich und wartete, aber nach einiger Zeit bekam sie wieder einen Brief aus Belgien, wo drin stand, dass er von den Amerikanern in Belgien gefangen gehalten wird und unter Tage arbeiten muss. Als die Russen kamen, musste die Familie Schulze ihr Haus für ein halbes Jahr verlassen, sie fanden eine Unterkunft bei Verwandten in Lindau. Das eigene Haus wurde von Russen bezogen und von Polen geplündert. Nach einem halben Jahr wurde das Haus aber wieder zurückgegeben, damit sie dort weiter arbeiten konnten. Zusammen mit Leuten aus Polen musste Meta in der Landwirtschaft unter Aufsicht der Russen arbeiten, aber Meta hatte ziemlich große Angst und Respekt, deshalb versteckte sie sich öfters, da die Russen versucht haben sie zu vergewaltigen. Nach der bedingungslosen Kapitulation im Mai lagen noch Verwundete in der Scheune bei Schulzes, die dann aber herüber nach Westdeutschland wollten und Meta sollte mitkommen, aber da sie eine Familie hatte, blieb sie in Lindau. 1947 kam ihr Mann wieder aus der Gefangenschaft und alle waren überglücklich. Sie nahmen zu dieser Zeit auch einen zugeteilten Umsiedler aus Schlesien auf. Ausgebombte wurden auch in Lindau von jedem aufgenommen. Das Jahr 1947 war sehr trocken im Klima und brachte nicht soviel Ernte und es gab deshalb wenig zu essen und alle Bauern mussten einen Soll an Nahrungsmitteln abgeben. Es wurde ihnen auch vorgeschrieben, was sie anzubauen hatten. Es kamen viele Leute auch aus anderen Städten, die mit den Dorfbewohnern Ware gegen Nahrungsmittel tauschten. 1948 gab es eine andere Währung in Deutschland, da es in West und Ost geteilt wurde. Von Lindau wurden auch Reparationsleistungen für die Russen verlangt. Zum Beispiel wurde das komplette zweite Bahngleis abmontiert und nach Russland gebracht. Am 07.10.1949 wurde die DDR gegründet, zu dieser Zeit hatte dann Meta auch keine Umsiedler mehr im Hause. Ich hoffe, ich konnte mit meinem Beitrag Metas Leben in der Nachkriegszeit verdeutlichen und nachvollziehbar machen. An einigen Stellen hat man im Interview gemerkt, wie schwer es ihr fiel, auf manche Fragen zu antworten, wo man doch schlechte Erinnerungen hervorholte und man sah, wie ihr Leben als Tochter, Ehefrau und Mutter in guten und schlechten Zeiten war. Mir selber hat das Interview Spaß gemacht und ich war sehr gerührt über die Ereignisse in der Zeit von 1945-1949, die Meta durchlebte. aufgezeichnet von Jenny Lorenz, Klasse 10/4

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Waren Sie ein Flüchtling? Wenn ja, aus welchem Ort mussten Sie fliehen?

Ja, meine Familie und ich (Hans Georg Semrau, geb. 1936) wurden im Februar 1945 von den Russen vertrieben. Wir mussten unser Grundstück in Grünthal verlassen und wir wurden ausgeraubt. Nach 14 Tagen, die wir noch auf unserem Grundstück verbringen durften, flohen wir nach Turwangen. Dies war ein Nachbargrundstück, auf dem wir bis 1947 lebten. Alle Einwohner wurden von den Russen erschossen und deren Rinder und Schweine liefen in den Wald oder frei umher. Wurden Sie von Ihren Eltern getrennt?

Als die Russen zu unserem Grundstück kamen, nahmen sie meinen 43-jährigen Vater und meinen 71-jährigen Opa gefangen. Sie sollten nach Sibirien geschickt werden. Uns Kindern sagte meine Mutter, sie kämen bald wieder, um uns zu beruhigen. Mein Vater und mein Opa wurden, wie auch alle anderen Männer aus unserer Umgebung, auf einen Wagen verladen und nach Sensburg gebracht. Dort wurden sie von den Russen verhört. Mein Vater überlebte die Überfahrt nach Sibirien nicht, da er schon vorher etwas kränklich war. All diese Informationen bekamen wir von einem Überlebenden, der aus Sibirien zurückkehrte. Wurden Sie jemals von Soldaten eines anderen Landes bedroht?

Ich wurde nicht direkt bedroht, da ich mich immer versteckte. Wie ich schon erzählte, wurden aber mein Vater und mein Opa von Soldaten der Sowjetunion bedroht und verschleppt. Junge Frauen wurden vergewaltigt, daher versteckten sich meine älteren Schwestern. Doch meine älteste Schwester wurde entdeckt und von den Russen bedroht, meine Mutter reagierte und wir mussten unseren Familienschmuck ausgraben, um meine Schwester freizukaufen. Wir hatten noch einmal Glück. Wie schafften Sie es in der Nachkriegszeit zu überleben?

Heute muss ich sagen, wir haben einen großen Anteil, dass wir überlebten und zusammen geblieben sind, meiner Mutter und meiner ältesten Schwester zu verdanken. Vor allen Dingen unser Glaube hat uns sehr geholfen. Wir gingen jeden Sonntag in die Kirche, auch nach unserer Vertreibung. Hatten Sie genügend Trinkwasser?

Wir hatten immer genügend Trinkwasser, denn auf dem Grundstück, auf dem wir bis 1947 lebten, war ein Ziehbrunnen. Daraus bekamen wir Brunnenwasser zum Trinken, Waschen und Kochen. Woher bekamen Sie Ihre Nahrung?

Im Sommer 1946 gingen meine beiden ältesten Schwestern zu Polen arbeiten. Ihr Lohn waren Getreide und Rüben, die wir nötig brauchten. Das Getreide wurde, wie wir es damals nannten, geschruddelt zur Weiterverarbeitung.

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Manchmal fing ich ein bis drei Hasen, die es an besonderen Tagen zu essen gab. Außerdem gab es auf dem Grundstück noch Reste von Zucker, Mehl und Getreide. Daraus kochten wir hauptsächlich Grütze. Grütze war unser Hauptnahrungsmittel. Sehr oft pflückten wir Brennnessel, Melde oder sammelten Kartoffeln. Wenn die Russen das herum laufende Vieh schlachteten, ließen sie die Därme und Pansen liegen, welche wir uns nahmen. Im Winter fingen wir Eichelhäher mit Siebfallen. Diese Tiere waren eine besondere Spezialität. Heutzutage kann man sie mit einer kleinen Taube vergleichen, die man nur als Sonntagsessen bekommt. 1947/48 waren sehr schwere Jahre für meine Familie und mich, da es sehr wenig Nahrung gab. Was war Ihr Ankunftsort? Wie wurden Sie aufgenommen? Wurden Sie verachtet

oder herzlich aufgenommen?

Bevor ich erzähle, wo wir ankamen, finde ich es wichtig zu erzählen, wie wir den langen Weg zurücklegten. Im Mai 1947 sollten alle Ostpreußen die polnische Staatsbürgerschaft erhalten. Meine Familie unterschrieb diese Formulare nicht, also mussten wir Polen verlassen. Anfang Juni wurden wir mit einem Güterzug ausgesiedelt. Meine Mutter war schon vorbereitet. Sie hatte für jeden einen kleinen Rucksack aus Leinenhandtüchern genäht. Zuerst mussten wir zum Bahnhof von Rastenburg. Und unsere Endstation war Jütrichau in Sachsen-Anhalt. Von dort aus hatten wir einen Fußmarsch nach Wertlau ins Lager, in dem wir entlaust, unsere Kleider entkeimt und wir gewaschen wurden. Am 16./17. Juli kam ein Bauer aus Dobritz mit seinem Pferd zum Lager und holte uns ab. Wir mussten gezwungener Weise untergebracht werden. Bei dem Bauern bekamen wir ein Zimmer. Meine Mutter, meine 5 Geschwister und ich lebten dort für einige Zeit. Unser Zimmer war nach drei Tagen mit Wanzen befallen, was wir nicht von zu Hause kannten. Meine Mutter besorgte sich Schwefel um unsere Unterkunft auszuschwefeln. Wir mussten drei Tage in der Scheune übernachten. Meine Familie und ich waren unbeliebt, da wir fremd waren. In Dobritz gab es noch viele andere Flüchtlinge und so war es für mich nicht schwer neue Freundschaften zu schließen. Vor der Nachkriegszeit hatte Dobritz etwa 200 Einwohner, mit den Flüchtlingen gab es 600 Dobritzer.

aufgezeichnet von Lydia Meerkatz, Klasse 10/4

Meine Oma Walli Karge (geb. Röschke) wuchs mit vier weiteren Geschwistern in Östlich-Neufähr, einem Fischerdorf in der Nähe von Danzig, auf. Ihr Vater Erich Röschke ernährte die Familie, indem er sich durch Fischen in der Ostsee Geld verdiente. Als der Krieg begann, wurde ihr Vater einberufen, um in Polen zu kämpfen. Nach 12 Tagen wurde Erich Röschke aufgrund eines Kopfschusses ins Lazarett nach Königsberg geliefert, in dem er fünf Jahre blieb. Er wurde von

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seinen eigenen Landsleuten angeschossen, weil er die Erkennungsparole nicht nennen konnte. Ihr Bruder Leo Röschke wurde 1943 als Soldat bei der Marine eingezogen.

Meine damals 13-jährige Oma erinnert sich, wie ihre Familie in einer Aprilnacht im Jahre 1945 von deutschen Soldaten aufgefordert wurde, ihr Zuhause schnellstmöglich zu verlassen. Die Familie hatte keine Zeit mehr, irgendwelches Hab und Gut einzupacken, also blieb ihnen nur das, was sie am Körper trugen und alle anderen Gebrauchsgegenstände, Papiere und sonstige Erinne-rungsstücke mussten sie in der Eile der Flucht zurücklassen. Umgebene Dörfer und auch das von weiten zu erkennende Danzig gingen durch alliierte Bombenangriffe in Flammen auf. Zum kleinen Hafen des Fischerdorfes rennend wurde meine Oma Zeuge eines heillosen Durcheinanders: Sie erinnert sich an die vielen Tiere, die von ihren Weiden in Ostpreußen immer weiter nach Westpreußen gedrängt wurden, an die anderen Menschen im Dorf, die ihre Heimat verlassen mussten und an die brennende Landschaft. Mit Fischerbooten wurden die Familien auf die vor der Danziger Bucht liegenden Halbinsel Hela verschifft und von dort aus brachte sie das nächste Schiff nach Gotenhafen.

Als sie dort ankamen, trafen sie auf tausende Flüchtlinge, die größtenteils mit der Gustloff nach Gotenhafen fahren sollten. Elli Röschke, eine ältere Schwester meiner Oma wurde durch die riesigen Menschenmassen vom Rest der Familie getrennt und rettete sich mit der Lützow (ehemals Deutschland) trotz zweimaliger Bombardierungen nach Dänemark. Aber dennoch hatte auch die Familie meiner Oma vor, mit der Gustloff zu fliehen, da dieses Schiff ja ein großes und angeblich sehr sicheres Gefährt war. Doch der Opa meiner Oma, ein erfahrener Fischer, konnte sich denken, dass gerade große Schiffe bevorzugte Versenkungsziele der alliierten Flieger waren. Deshalb ließ er unter den tausenden Flüchtlingen Hulda Röschke, die Mutter meiner Oma, und ihre Kinder ausrufen, um an einem vereinbarten Ort am Hafen mit ihm neu zusammenzukommen. Als sich die Familie dort getroffen hat, fuhr sie mit einem Fischkutter auf die offene See, wo sie auf einen Schwimmbagger trafen, der die Flüchtlingsfamilie aufnahm. Diese Zeit auf dem Schwimmbagger, der sie nach Stralsund bringen sollte, war geprägt von fürchterlicher Angst und vom Kampf ums Überleben, denn die Bomben fielen nicht weiter entfernt als 20 Meter ins Wasser. Zusammen mit drei anderen Familien, die mit an Bord waren, hat meine Oma ausgeharrt und darauf gehofft, dass keine Bombe den Schwimmbagger treffen möge, denn das wäre ihr sicherer Tod gewesen. Meine Oma hört noch heute den Lärm der Bomben, die unmittelbar neben ihnen in die Ostsee stürzten. Doch ihr Opa hat ihrer Familie durch seinen Ausruf am Gotenhafener Hafen das Leben gerettet, denn die Gustloff ist bei dieser Fahrt bombardiert worden und alle Menschen, die sich an Bord befanden, sind ums Leben gekommen. Die Lützow, auf der sich die Schwester meiner Oma befand, ist bei einem darauf folgenden Flüchtlingstransport untergegangen. Unter den Toten war auch der

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Cousin meiner Oma mit seiner Frau und drei Kindern. Glücklicherweise ist die Familie meiner Oma sicher in Stralsund eingetroffen und wurde weiter mit der Bahn ins Strandbad Göhren auf die Insel Rügen transportiert. Die Flüchtlinge erfuhren Unterstützung durch den Bürgermeister Göhrens, der ihnen Notunterkünfte zuwies, die den mittellosen Familien ein Dach über dem Kopf boten. Die Zeit nach der Flucht erwies sich als sehr schwer, denn nur wenige Flüchtlinge haben Arbeit gefunden und waren somit nicht mehr auf die Unterstützung von den Göhrener Bürgern angewiesen. Erst als 1947 die ersten Urlaubsgäste wieder das Strandbad aufsuchten, konnte sich meine Oma als Zimmermädchen und Kellnerin im Waldhotel ihr Gehalt verdienen, das 70 DM betrug. Beim Arbeiten im Hotel lernte sie 1948 Herrn Dr. Dengler kennen, der zusammen mit seiner Familie Urlaub in Gören machte. Herr Dr. Dengler war in Berlin als Chefredakteur der Zeitung Vorwärts beschäftigt und seine Frau war Vorsitzende des DFD (Demokratischer Frauenbund Deutschlands). Meine Oma wurde gefragt, ob sie nicht Kindermädchen bei den Denglers in Berlin werden möchte und somit verließ sie 1948 Göhren und trat als Kindermädchen in Stellung. In Berlin, wo meine Oma im russischen Sektor lebte, blieben ihr die Trümmerfrauen, die mit bloßen Händen die zerstörte Stadt wieder aufbauten, besonders in Erinnerung. In dieser Zeit fand man mittels eines Suchdienstes auch die bei der Flucht verlorene Schwester Elli wieder, die in Dänemark in einem Flüchtlingslager untergebracht war und somit zur Familie nach Göhren zurückkehren konnte. In Berlin lernte meine Oma den S-Bahnführer Ernst Karge kennen, den sie später heiratete und zu ihm nach Königs Wusterhausen zog und dort eine eigene Familie gründete.

Meine Oma erinnert sich nicht gern an den Krieg und die damit verbundenen Leiden und Schrecken zurück: die Flucht aus der Heimat, die Ängste während der Flucht und den Neuanfang in einer fremden Stadt im zerstörten Deutschland. Dennoch ist es ihr sehr wichtig, dass die Generation, die zur Zeit des Nationalsozialismus gelebt hat, ihre Erinnerungen weitergibt, um zu verhindern, dass derartiges je wieder passieren kann.

aufgezeichnet von Pia Karge, Klasse 10/4 Bericht einer Zeitzeugin von ihrer Gefangennahme bis zur Freilassung.

Sie möchte gerne anonym bleiben.

Nach einer Denunziation wurde ich am 13.5.1945 im Alter von 23 Jahren von einem sowjetischen Offizier verhaftet. Der Grund war meine Tätigkeit als Schreibkraft beim damaligen Sicherheitsdienst der SS, zu der ich als Angestellte der Stadtverwaltung in Zerbst aufgefordert worden war und die ich von 1942 bis April 1945 ehrenamtlich ausübte. Fünf Polizisten brachen mich nach Rosslau,

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wo man mich verhörte. Nach drei Tagen wurde ich nach Zerbst zurückgebracht. Ein Protokoll wurde zwar angefertigt, ich bekam es aber nie zu Gesicht. In Zerbst kam ich in den Keller eines Hauses Am Klapperberg. Die Bewohner der Fohlenweide-Siedlung hatten Hals über Kopf ihre Häuser räumen müssen, damit dort in dem relativ abgeschlossenen Wohngebiet die GPU (Sowjetische Geheimpolizei) ihr Quartier aufschlagen konnte. In dem Keller erwartete mich Schreckliches. Ich traf dort auf 40 Russinnen, die von den Deutschen aus ihrer Heimat zur Zwangarbeit verschleppt, aber nun von ihren eigenen Leuten als Kollaborateure behandelt wurden. Diese Menschen waren also doppelt bestraft. Dementsprechend war auch der Hass, der mir entgegenschlug. Drei Wochen musste ich diese Tortur ertragen, bis wir auf einen LKW, dicht gedrängt stehend, nach Frankfurt/Oder transportiert wurden. Doch im September besetzen die Polen Frankfurt. Die Deutschen mussten den Ort verlassen und wir wurden zu Fuß in das 60 km entfernte Lager Jamlitz bei Cottbus getrieben. Dabei gab es die ersten Toten. Wir wurden dort zu 200 Personen in eine Baracke gepfercht. Auf dem blanken Holzfußboden hatten wir etwa 50 cm Platz zum Schlafen. Die Verpflegung bestand täglich aus 300 g Brot und einen halben Liter Wassersuppe. Noch viel schlimmer war die völlige Isolierung. Die Nachrichtensperre war vollkommen. Wir wussten nichts von unseren Angehörigen, die auch nicht erfuhren, ob wir noch am Leben waren. Und dann die schreckliche Ungewissheit, was man mit uns vor hatte, das Warten auf eine Verurteilung, die nie erfolgte. Die quälenden Gedanken an das Schicksal unseres Landes ließen uns nicht los, denn wir hatten keine Ahnung, was in der Welt vorging Ein Gerücht jagte das andere. Manchmal durften wir unter Bewachung außerhalb des Lagers für die Lagerleitung Sauerampfer pflücken oder Kartoffeln sortieren. Das bedeutete „Freiheit“ für ein paar Stunden. Jeden Tag fragten wir uns: „Wie lange müssen wir das noch ertragen?“ Im August 1947 ging es wieder auf Transport per Güterzug in das NKDW-Speziallager Mühlberg bei Torgau/Elbe. Und unser Leiden ging weiter. In Mühlberg setzte das große Sterben ein. Auf Grund der mangelhaften Ernährung litten Hunderte, ja Tausende der Gefangenen an Dystrophie – wir nannten sie Hungerkrankheit – die unweigerlich zum Tode führte. Es war von 8000-9000 Toten während unserer Zeit in Mühlberg die Rede. Bei jedem Zählappell stellten wir neue Lücken fest, vor allem in den Reihen der Männer. Wie hat man das alles überstanden? Ein starker Wille und eiserne Disziplin verhinderten die Selbstaufgabe. Wir waren ja noch so jung, wir wollten leben. Gleichgesinnte fanden sich zu einer festen Gemeinschaft zusammen. Die Kameradschaft, die Freundschaft, das Beieinandersein, die Übereinstimmung der Gedanken und Gefühlen halfen uns über die schlimmsten Stunden hinweg. In dieser Zeit waren es vor allem zwei Frauen, die uns die Kraft zum Überleben gaben, einmal unsere Barackenältesten, die Schauspielerin Marianne Simson und die Schriftstellerin Gertrud Waldschütz, die ich bereits im Lager Jamlitz kennen gelernt hatte. Wir nannten sie liebvoll unsere „Lagermutti“. Mir hat sie

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sogar einiger ihrer Gedichte gewidmet. Die Schauspielerin entriss uns dem Stumpfsinn, indem sie unseren Geist, unser Gedächtnis, unser Hirn trainierte. Wir mussten Gedichte und Balladen auswendig lernen. Wir spielten Theater. Alle Lieder, die wir kannten, wurden geübt und im Chor gesungen. Unseren Geburtstagskindern brachten wir Ständchen. Das half uns über die Tristesse des Lagerlebens hinweg. Wir ließen uns von dem Elend ringsumher nicht erdrücken. Alle aus unserem Kreis haben überlebt. Anfang Juli 1948 begannen die Entlassungen. Ich war inzwischen 26 Jahre alt. Vor jedem stand die bange Frage: „Was werde ich zu Hause vorfinden?“ Mir war es in all den Jahren ein einziges Mal gelungen, eine Nachricht hinauszuschmuggeln und einmal eine zu empfangen. Für mich schlug am 20. Juli 1948 die Stunde der Freiheit. Mitten in der Nacht kam ich in Zerbst an und wagte mich nicht nach Hause, um meine Eltern nicht zu erschrecken. Auf einer Holzbank auf dem Bahnhof verbrachte ich die Zeit bis zum Morgen. Auf dem Heimweg begegnete mir der damalige Oberbürgermeister Willy Wegener. Er erkannte mich, sprach mich an und stellte mir aber in der Stadtverwaltung in Aussicht. Ich war erleichtert. Doch erst musste ich mich auf der Kommandantur melden. Dort wurden mir Verhaltensmaßregeln gegeben und die Verpflichtung abgenommen, zu niemandem über meinen Aufenthalt in den Internierungslagern zu sprechen. So geritten wir in der Öffentlichkeit in Vergessenheit. Deshalb erfüllte es mich mit besonderer Genugtuung, dass wir nach der Wende durch die Zahlung einer Entschädigung Anerkennung fanden. Doch kein Geld der Welt kann diese verlorenen Jahre und all das Erlittene vergessen machen. aufgezeichnet von Anika Rau, Klasse 10/3 Manche meinen, Geschichte gehe uns nichts an. Erst recht nicht jene Geschehnisse, die über 60 Jahre zurückliegen. Doch wer auf das 20. Jahrhundert zurückschaut, entdeckt die absolut größten Gewalttaten in der Geschichte. Viele Menschen mussten diese miterleben – wie auch der Zeitzeuge Franz Morawietz aus Straguth, der mir vor kurzem über seine Schicksalstage als Kind ausführlich berichtete, in denen Flucht, die vorbeiziehende Front, Hunger, Gewalt und die ersten Schritte in Richtung Neubeginn dazugehörten. Als das ganze Dorf Waldsiedel (Kreis Falkenberg in Oberschlesien), in dem er mit seiner Familie wohnte, am 22.01.1945 von der deutschen Wehrmacht evakuiert wurde, wusste dort noch keiner, wie schwer das Überleben werden wird. Die deutsche Wehrmacht brauchte ihre Unterkünfte, da sie den nahe liegenden Flugplatz zur Verteidigung benötigte. Der elfjährige Franz musste innerhalb weniger Stunden sein Zuhause verlassen und das Nötigste mitnehmen. Die Flucht war von den Erwachsenen vorbereitet, denn schon lange vorher

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bestand die Angst vor der russischen Front, die immer näher rückte. Die Pferde trugen die Lasten von den Betten, Essen, Heu und Hafer. Die Gruppe, bestehend aus der Familie von Franz Morawietz und anderen Dorfbewohnern, lief in Richtung Niederschlesien, nach Waldenburg, weiter nach Hirschburg und dann nach Reichenberg (dem heutigen Liberetsch) in die Tschechoslowakei. Eigentlich war geplant, dass sie über die Neiße nach Dresden gelangen, aber das hatten bereits die Russen blockiert. Somit gingen sie zu Fuß weiter bei -20°C bis -25°C und 3-5 cm Schnee über Prag bis kurz vor Bayern. Dort erfuhren sie von der deutschen Kapitulation. Somit durften sie in der Tschechoslowakei nicht bleiben, da diese wieder eigenständig wurde. Die Amerikaner boten ihnen an, gemeinsam nach Bayern zu gehen, mit der Bedingung, Pferde und Wagen zurückzulassen, oder sie gingen wieder zurück in die Heimat. Eine schwere Entscheidung, denn bis dahin waren sie ca. 600 km unter harten winterlichen Bedingungen gelaufen und hatten entweder im Freien, in Schulen oder in Gaststätten genächtigt. Sie gingen zurück, bis kurz hinter Prag, wo ihnen alles von den Tschechoslowaken weggenommen wurde, außer dem, was sie selber tragen konnten (hauptsächlich Lebensmittel). Dann wurden sie mit vielen anderen auf eine Wiese zusammengetrieben. Es gab kein Essen und kein Trinkwasser. Sie versuchten etwas Trinkwasser durch Regen aufzufangen, dennoch sind viele verdurstet. Auch Franz war mit seiner Familie und den anderen Dorfbewohnern dort, die den weiten Weg bis dahin überlebt hatten (ältere Menschen und Babys sind gestorben). Einige Tage später wurden alle (ca. 50 Leute) in einen Zug geladen, welcher nur nachts fuhr. Keiner wusste wohin. Endstation war Theresienstadt, das ehemalige KZ von Hitler. Dort hausten sie in Baracken, welche von den Tschechoslowaken überwacht wurden. Nun hatten sie die Hoffnung aufgegeben, in ihre Heimat zurückkehren zu können. Wieder mussten sie alles abgeben, was diese verlangten. Die ihnen noch gebliebenen Zigaretten tauschten sie bei dem Aufpasser ihrer Baracke gegen ihre Freiheit ein. Früh halb drei kam ein LKW und brachte ca. 39 Leute vor die deutsche Grenze, wo sie tagelang die Grenzwacht beobachteten und sich dann durch den Wald über die Grenze in die sowjetische Besatzungszone schlichen. Ab da ging jede Familie ihren eigenen Weg. Es war bereits Juli 1945. Franz` Familie fuhr mit dem Zug ziellos von Stadt zu Stadt, im August waren sie auch schon einmal in Zerbst. Sie bettelten oder entwendeten unerlaubt Möhren und Kartoffeln von den Feldern, um nicht zu verhungern. Als in Jüterbog die Russen abzogen und die Kasernen frei wurden, gingen sie dort hin. Der Vater zog dann allein los, um sich Arbeit zu suchen. In Dobritz fand er diese und gleichzeitig eine Wohnung für seine Familie. Am 19. September 1945 kam die Familie von Franz Morawietz in Dobritz an, wo sie sich ein neues Zuhause aufbauten. Ab November 1945 ging Franz nach fast einem Jahr wieder zur Schule. Er war als elfjähriger 8 Monate unterwegs ohne ein Dach über dem Kopf, hatte nicht viel zu essen und ist ca. 1000 km gelaufen. Eine sehr schwere Zeit lag

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hinter ihm und seiner Familie, aber auch die folgenden Monate waren nicht einfach, denn nach der Kapitulation Deutschlands blieb die Hungersnot in der sowjetischen Besatzungszone bestehen. Erst mit der Währungsreform 1948 verbesserten sich die Lebensbedingungen. Zu seinen Verwandten, die in Oberschlesien bleiben konnten, aber die polnische Staatsangehörigkeit annehmen mussten, besteht jahrelanger Kontakt, auch durch persönliche Besuche. Im Jahr 1997, nach 52 Jahren, kam es zum Kontakt zu Bekannten, die damals in die britische Besatzungszone gingen. aufgezeichnet von Madlen Busse, Klasse 10/4 Wie und wo hast du das Kriegsende erlebt?

Ich (Waltraud Sanftenberg) verbrachte meine Jugend in Gehrden. Als der Krieg 1945 endete, war fast das ganze Dorf, es waren ja größten Teils Frauen und Kinder, im Keller eines Großgrundbesitzers versammelt. Wir hörten, wie Maschinen langsam anrollten und viele Männer zu Fuß nebenher gingen. Plötzlich trat ein großer, dunkelhäutiger Amerikaner die Tür auf. Wir sollten alle die Hände hoch nehmen und hinter den Kopf halten und dann in einer Reihe herauskommen. Auf dem Hof wurden wir dann alle nach Waffen durchsucht, sogar die Kinder. Als festgestellt wurde, dass wir keine Waffen besaßen, durften wir uns wieder frei bewegen, jedoch war das Verlassen des Ortes nicht erlaubt, weil das Nachbardorf noch mit Deutschen besetzt war und wir sie hätten warnen können. Es wurden Panzergeschütze auf den Ort Lübs gerichtet, sodass die Ortschaft im Falle eines Angriffs hätte zerbombt werden können. In den nächsten Tagen rückten die Amerikaner weiter vor und nahmen auch Lübs ein und die, ich schätze 30, deutschen Soldaten wurden festgenommen. Was geschah nach Ende des Krieges?

In einer Nacht wurde es plötzlich still. Wir gingen auf die Straße um zu schauen, was da los war. Alle Amerikaner zogen ab. Der Ort war in 10 Minuten komplett leer. Alle wunderten sich, was das zu bedeuten habe, jedoch wurde es uns am nächsten Morgen klar. Früh kamen Soldaten aus der Sowjetunion an. Sie bildeten eine Schlange, deren Ende wir gar nicht sehen konnten. Immer mehr Soldaten zogen durch unsere Straße und wir wussten nicht, was sie mit uns vorhatten. Sie kamen aus Richtung Leitzkau, zogen über Prödel, Lübs, Gehrden nach Gödnitz und schlugen in der Nähe des Waldes ihr Lager auf. Ab und zu trat ein Soldat aus der Reihe und ging in ein Haus. Sie beschädigten nichts, sondern wühlten "nur" herum und verließen das Haus dann wieder, meist mit einigen Flaschen Alkohol, die sie aus den Schränken der Leute nahmen. Später kamen Soldaten öfter in das Dorf, um Decken und Kissen zu holen. Nach Abzug der Truppen holten sich viele ihre zurückgelassenen Sachen wieder, da keine neuen

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Kissen oder Decken zu haben waren. Die meisten kamen mit Pferden, hunderten von Pferden. Die Schmiede in Gehrden hatten viel zu tun, da alle Pferde beschlagen werden mussten. Im Großen und Ganzen verhielten sich die Männer der Sowjetunion jedoch sehr ruhig und wir brauchten sie eigentlich nicht fürchten. Wie wurdet ihr mit Nahrungsmitteln versorgt?

Anfangs wurden die Großgrundbesitzer enteignet, dieses Land wurde dann aufgeteilt. Jeder bekam 5 ha Land zugeteilt und musste diese bewirtschaften. Von den Endprodukten, die der Acker brachte, musste ein bestimmtes Soll an z.B. Eiern, Weizen, Milch abgegeben werden und von dem Rest mussten wir leben. Das Soll wurde dann der Stadtbevölkerung zugeteilt, da diese sich ja nicht selbst versorgen konnte. Konntet ihr zur Schule gehen?

Der Unterricht war gesichert, es wurde eine Notschule in einer Gaststätte in Lübs eingerichtet, die von Kindern aus Gehrden, Lübs, Prödel und Dornburg besucht wurde. Der Schulweg musste allerdings selbst gemeistert werden, da keine Busse fuhren. Das hieß für uns, dass wir laufen mussten, denn ein Fahrrad war Luxus, den wir nicht besaßen. aufgezeichnet von Daniel Schemionek, Klasse 10/4

Der Ausschnitt eines Dialogs mit der Cousine meines Vaters (75 Jahre)

Wo hast du den Zweiten Weltkrieg erlebt?

Ich habe meine Kindheit bis zur Vertreibung in meinem Geburtsort verlebt. Er hieß Großkunzendorf und lag damals in Schlesien. An den genauen Hergang des Krieges kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich war damals noch sehr klein. Jedoch wurde mir vieles nachträglich erzählt. Von meinen Verwandten und von Freunden, die ich später wieder gesehen habe. Meine Mutter war Schneiderin und mein Vater arbeitete auf dem Hof, der sich nur ein wenig die Straße runter befand. Er half dort beim Versorgen der Tiere und bei der Ernte. Wie würdest du deine Kindheit beschreiben?

Na ja ... ich würde schon sagen, dass ich ein glückliches Kind war. Unser Dorf war ziemlich klein und Gefechte gab es in unserer näheren Umgebung auch nicht. Jedoch kann ich mich noch gut daran erinnern, dass meine Mutter und meine Tante, die im Nachbarort nicht weit entfernt wohnte, häufig weinten. Uns Kindern war dann auch klar, dass wieder jemand aus der Familie oder dem Freundeskreis gefallen sein muss.

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Gab es in deiner Familie auch Gefallene?

Ja. Der Bruder meiner Mutter fiel bei Gefechten. Es war schrecklich. Meine Mutter weinte den ganzen Tag. Sie stand ihren 3 Brüdern immer sehr nahe. Er war Soldat bei der Wehrmacht, glaube ich. Sie bekam einen Brief von einem Freund ihres Bruders. Er hatte ihn gebeten, ihr zu schreiben, falls er sterben sollte. Ich kann mich noch daran erinnern. Ich war 9, als das geschehen ist. Meine Mutter, mein Vater, meine Tante und ihr Mann saßen mit uns Kindern am Tisch und lasen den Brief. Ich weiß leider nicht mehr, was genau in dem Brief stand, jedoch kann ich mich noch gut an dieses bedrückte Gefühl erinnern, das alle danach hatten. Und an die Stimme meiner Mutter, die nach der Hälfte abbrach und den Zettel mit zitternden Händen an meinen Vater weiterreichte. Der Bruder wurde bei einem Gefecht in Ostpreußen von einem russischen Soldaten erschossen. Es war ein Lungenschuss. Meine Tante hat mir später erzählt, dass er wohl mit diesem Freund und drei weiteren in einer Scheune Zuflucht gesucht hatten. Als die zwei zusammen die Scheune verließen um nach Wasservorräten zu suchen, wurde er in die Lunge getroffen. Der russische Soldat war allein gewesen. Er sollte wohl das Gelände erkunden. Mein Onkel hat noch eine Nacht überlebt. Er soll sehr gekämpft haben. Seine Kameraden brachten ihn zur Kirche des Ortes. Sie fanden dort einen Pfarrer, der auf einem Feld oder so ein Begräbnis für ihn abhielt. Dieser Freund meines Onkels hat meine Tante nach Kriegsende besucht. [...] An was erinnerst du dich in Bezug auf eure Vertreibung?

Wir wussten, dass der Krieg bald zu Ende sein würde. Auch wenn noch kurze Zeit vorher der Sieg Deutschlands standfest herausgeschrieen wurde, so wussten wir doch, dass das nicht stimmte. Die Briefe, die von der Front zu Angehörigen in unser Dorf kamen, machten uns bewusst, dass Deutschland wohl erliegen würde. Der Tag, an dem wir dann aus unserem Haus mussten, kam jedoch überraschend. Aus dem Nachbardorf kamen Leute. Mit Pferdekarren und schwer beladen mit ihren Sachen. Sie sagten wir sollten sofort unser Haus verlassen und nach Westen gehen. Jemand Hohes von der Wehrmacht ist in ihr Dorf gekommen und hat ihnen gesagt, sie sollen jetzt schnell verschwinden. Nur wenige Kilometer weiter östlich sind die Russen dabei, die Front zu durchbrechen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie kämen und das Dorf einnähmen. Es war Vormittag, als sie in unser Dorf kamen. Meine Mutter handelte ganz besonnen, aber in höchster Eile. Rasch packte sie ein paar Sachen für jeden von uns ein. Ich wurde zu meiner Tante geschickt. Sie sollte sich auch vorbereiten und ich half ihr und ihrem Mann beim Packen. Um die Mittagszeit kam der Treck dann und wir zogen nach Westen. Meine Mutter wollte zu einem Cousin in die Stadt. [...] Ich kann mich noch an das dröhnende Geräusch der Flugzeugmotoren erinnern. Es waren russische Jagdbomber. Sie warfen

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Splitterbomben ab und schossen mit ihren Bordkanonen auf unseren Treck. Es roch so verbrannt. Alle schrieen. Ich weiß noch, dass meine Mutter mich an der Hand nahm. Sie rannte mit mir los. In einer Mulde an der Seite von diesem Feldweg versuchten wir uns zu verstecken. Es waren nur offene Felder um uns. Das Pferd, das unsere Karre gezogen hat, lag zuckend auf dem Weg. Das Blut strömte aus seiner Wunde am Hals. Es hat fürchterlich gewiehert. Diese Schreie werde ich nie vergessen. Mein Vater lag zusammen mit einigen anderen ein paar Meter weiter in der Mulde. Auf dem Weg lagen die Toten und Verletzten. Es war so laut. Meine Mutter, sie lag ja halb auf mir, um mich zu schützen, hat aber nicht geweint und nicht geschrieen. Sie schien vollkommen erstarrt. Meine Tante und ihr Mann, die auch noch Kleinkinder bei sich hatten, waren zusammen mit den anderen von unserem Treck weiter hinten geblieben. Auch mein Cousin war da noch klein. Ihre Schwägerin war bei ihr. Auch sie hatte ein Baby. Ihr Mann ist kurze Zeit vorher zum Volkssturm abkommandiert worden. Wir haben nachträglich nichts mehr von ihm gehört. Irgendwann kamen wir in der Stadt an. Wir wurden dann dort von unseren Verwandten aufgenommen. Sie hatten ein kleines Haus. [...] Einige Tage später kamen auch meine Tante und ihre Schwägerin. Es war schrecklich. Als wir meine Tante fragten, wo ihr Mann sei, begann sie zu weinen. Wir hörten dann, dass er von einer Panzerfaust getroffen wurde, als sie durch ein besetztes Dorf mussten. Meine Tante lag wohl hundert Meter entfernt in einem Schützengraben. Er ist vor ihren Augen verbrannt. Sie sprach nie wieder davon. [...] Wie würdest du dein nachträgliches Verhältnis zu den Besatzungsmächten

ausdrücken?

Ich weiß von vielen grausamen Taten. Als die Russen unsere Dörfer einnahmen, gab es viele Vergewaltigungen. Sie haben auch Leute erschossen und erhängt. Wenn im Nachhinein darüber nachdenkt und alles wieder hochkommt ... Aber ich weiß auch, dass die Deutschen keinen Deut besser waren. Ich habe heute nichts gegen Russen oder Amerikaner. Ich muss aber auch sagen, dass ich ihnen die vielen Zivilopfer nicht verzeihen kann. So viele Menschen mussten einfach sterben. Aber auf beiden Seiten. Ich kann sagen, dass ich nicht die Besatzungsmächte hasse, sondern den Krieg und was er aus den Menschen macht. aufgezeichnet von Theresa Pfitzner, Klasse 10/3

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Russische Kriegsgefangenschaft 1944 – 1949

Um Ihnen meine späteren Handlungen und Ansichten etwas verständlicher zu machen, lassen sie mich Ihnen erst kurz schildern, wie ich überhaupt nach Russland kam. Ich war mit 18 Jahren Obergefreiter in Bergen-Belsen und absolvierte im Alter von 19 Jahren die Unteroffiziersschule und durchlief eine vollständige Aus-bildung am Flammenwerfer. 1943 bekamen wir den Marschbefehl. Wir kamen unter großen Verlusten bis nach Sawastopol, wo wir tagelang im Schützengraben lagen. Bei einem Angriff, der einem Himmelfahrtskommando gleichkam, verweigerten wir den Befehl und wurden gefangen genommen. Noch auf dem „Schlachtfeld“ wurden wir auf die Gravur der Waffen-SS untersucht. Diejenigen, die diese Tätowierung aufwiesen, wurden an Ort und Stelle exekutiert. Wer sich daraufhin einschmeicheln wollte und voller Verachtung auf sie spuckte, wurde ebenfalls sofort umgebracht. Das war im Winter 1944. Ich weiß nicht mehr genau, wohin sie uns damals brachten. Ich weiß nur noch, dass 40 Männer in einen kleinen Waggon gesperrt wurden und dass es kalt war, so kalt. Nun lassen sie mich mit meiner Schilderung der nun folgenden fünf Jahre beginnen: Da es mir bei meiner Gefangennahme gelungen war, meine Papiere, sprich meine Identität zu zerstören, konnte mein Rang nicht ermittelt werden. Diesem Umstand hatte ich es zu verdanken, dass ich in einer Schmiede arbeiten durfte, was auch mein erlernter Beruf war. Das Leben im Lager war grausam und die Lebensbedingungen hart. Das Essen war knapp und wenn du etwas haben wolltest, musste deine Leistung mindestens 100% betragen, ansonsten wurde deine Nahrung rationiert. Zu diesem Zeitpunkt überraschten mich die Russen das erste von vielen Malen. Sie waren uns immer als barbarische Feinde geschildert worden, doch ich musste erfahren, dass dem keineswegs so war: Die Gefangenen hatten oftmals sehr wenig Wasser und der nächste Brunnen war drei Kilometer weiter im Wald. Oft beobachteten wir die Frauen, wenn sie Wasser holten, doch da wir kein Russisch konnten, war es uns nicht möglich um einen Schluck zu bitten. Die Frauen müssen uns aber trotzdem bemerkt haben, denn sie kamen zu uns und ließen uns aus ihren Eimern trinken, wofür wir ihnen sehr dankbar waren. In so einem Lager bleibt es nicht aus, dass Gefangene und Wächter voneinander lernten. Durch die Arbeit in der Schmiede verstand ich bald ein paar Brocken Russisch. Mein Arbeitsplatz war in jenem Lager auch eine Art Treffpunkt zum Erzählen für die russischen Soldaten. Und der häufigste Satz den ich in dieser Zeit von ihnen hörte war: „Hitler nicht gut, Stalin nicht gut. Beide müssen an den Baum.“ Durch das langsame Verstehen ihrer Sprache kamen mir diese Menschen auf eine bestimmte Art und Weise näher.

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Die Winter dort sind schrecklich: von Oktober bis März nur Dunkelheit, Schnee und Kälte. Gerade dieser erste Winter, den wir dort verbrachten, ist mir als der grausamste in Erinnerung geblieben. Im Gegensatz zu den Russen, die warme Filzkleidung trugen, hatten wir nur unsere dünnen Jacken. An die kalten Tage und Nächte konnte man sich nach vier Wochen gewöhnen, aber ich hatte immer Angst vor dem Morgengrauen, wenn man es denn so nennen konnte. Wenn du wach wirst und siehst, dass der Mann, der in der Nacht neben dir geschlafen hatte, tot und steif vor Kälte neben dir lag und du beim Augenaufschlagen in seine aufgerissenen Augen starrst. Mir ist es ein paar Mal so ergangen. Im Durchschnitt starben in diesem Winter 10-15 Mann pro Nacht. Doch sie konnten nicht begraben werden, denn die Erde war zu hart, um sie umzugraben. So wurden die Toten einfach in den Straßengraben geschmissen, wo der Schnee bis zum Frühling gnädig ihre Körper bedeckte. Im Frühjahr hatte sich etwas wie „Alltag“ dort eingestellt. Am Morgen wurde man zusammen mit anderen von vier Soldaten zum jeweiligen Beschäftigungsort gebracht, wo man ebenfalls unter Aufsicht stand, und abends wurde man zurück eskortiert. Dass die Soldaten mit voll funktionsfähigen Gewehren ausgestattet waren, versteht sich. Dadurch, dass ich ein recht guter Schmied war, bekam ich auch Aufträge von den Wächtern. Einmal sollte ich für den Koch eine große Suppenkelle anfertigen. Natürlich bekam ich dafür kein Geld, schließlich war ich ein Gefangener. Dafür durfte ich mich satt essen und das war in meiner damaligen Situation wesentlich mehr wert. Ich aß einen halben Eimer Kohlsuppe, in der Hoffnung mein Frühstück zu sparen. Die Suppe war jedoch so dünn, dass ich das Gefühl hatte, gar nichts gegessen zu haben. Dies geschah nicht aus böser Absicht des Kochs, sondern einfach deswegen, weil sie wirklich nichts hatten. Ein Offizier, der zu mir kam um sein Gewehr reparieren zu lassen, sagte mir etwas, worüber ich lange nachgedacht habe: „Wenn du nach Hause kommst, Schmied, warten auf dich ein Teller Suppe und eine Scheibe Brot. Auf mich warten drei hungrige Kinder.“ Im Sommer wurde ich krank und musste auf die „Krankenstation“. Eine dreckige, stickige, etwas größere Baracke. Die Betten dort waren dreistöckig und sehr klein und schmal. Die Tage dort waren der reinste Horror. Wenn einer starb, dann prügelten sich die anderen um sein übriges Essen, sein Bett und seine restlichen Habseligkeiten. Nach drei Tagen in diesem Irrenhaus bat ich darum, wieder an die Arbeit gehen zu dürfen, was mir auch gestattet wurde. Ein russischer Schmied, der mit mir zusammenarbeitete, erbarmte sich schließlich und gab mir etwas, das er Medizin nannte. Es hätte genauso gut Gift sein können, doch es war mir egal. Ich wusste, würde ich nicht an diesem Gift sterben, dann in einer Woche an der Krankheit. Also trank ich und am nächsten Tag ging es mir eindeutig besser. Ich fühlte mich jenem Russen zu tiefem Dank verpflichtet. Eines Tages wurde ich auf einmal in ein anderes Lager gebracht, wo ich drei Monate unter Tage arbeiten musste. Irgendjemand hatte meinen militärischen

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Rang verraten, denn diese Arbeit war Strafarbeit. In diesen drei Monaten vegetierte ich mehr dahin, als dass ich lebte. Die Arbeit war sowohl physisch wie auch psychisch dazu geeignet, einen abzustumpfen und fertig zu machen. Doch dann wurde das Lager aufgelöst und ich kam wieder in ein anderes. Dort durfte ich wieder als Schmied arbeiten, und um mein Essen etwas aufzubessern, schmiedete ich im Austausch für Maiskolben Messer für Kinder. Im Winter saßen wir abends noch oft in unserer Baracke zusammen und erzählten einander von der Heimat und wir teilten alle die Hoffnung, dass es unseren Familien gut gehen möge und wir sie noch mal sehen könnten. Es war einer solcher Abende, als plötzlich ein paar von den älteren Männern anfingen „Stille Nacht, heilige Nacht“ zu singen. Da erst wurde mir bewusst, dass ich inzwischen 23 Jahre alt war und dies bereits mein viertes Jahr in Gefangenschaft war. Es sollte nicht mein letztes sein. Ich blieb in diesem Gefangenenlager bis zum Mai des Jahres 1949, wo ich nach 5-jähriger Kriegsgefangenschaft Russland endlich verlassen durfte! Ich traf mich in Berlin mit meinem Bruder, der bereits Anfang 1946 aus amerikanischer Gefangenschaft entlassen worden war und inzwischen Medizin studierte. Ich erinnere mich noch daran: als wir einmal abends ausgehen wollten, drehte ich mich dauernd um, damit ich sicher sein konnte, dass mich niemand verfolgte. Mein Bruder musste mich ständig beruhigen, denn ich hatte unter so vielen Menschen einfach nur Angst. Zu tief waren die Erinnerungen an fünf verlorene Jahre in mir eingebrannt. Hiermit möchte ich meine Geschichte beenden. Ich habe längst nicht alles erzählt, was ich erlebt habe, doch manches ist zu dunkel und zu tief verborgen, um es nach all den Jahren einfach wieder ans Licht zu bringen. Ich hoffe, Sie haben dafür Verständnis

aufgezeichnet von Vivien Lock, Klasse 10/3

Zeitzeugenbefragung zu Erlebnissen in der Kindheit im Nachkriegsberlin

Nach dem Ende des 2. Weltkrieges mussten viele Kinder in den durch Alliierte

und Deutsche zerstörten Städten aufwachsen. Ebenso mein Zeitzeuge, der aus

persönlichen Gründen ungenannt bleiben möchte. Er wird nun von seiner

Kindheit im Nachkriegsberlin berichten.

Wie erlebten sie die ersten Monate, nachdem Sie und ihre Familie wieder nach

Berlin zurückgekehrt waren?

Meine Mutter war in der ersten Zeit, nachdem wir wieder nach Berlin

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zurückgekehrt waren, oft auf "Hamsterfahrt", um Lebensmittel zu beschaffen. Das bedeutete für meinen Bruder, meine Schwester und mich (1945 im Alter von 10, 6 und 7 Jahren), dass wir so genannte "Schlüsselkinder" waren.

Was meinen Sie mit "Schlüsselkinder"?

Na ja, mit dem Wohnungsschlüssel an einem Band um den Hals konnten wir nach Hause kommen, wann immer wir wollten. Wir waren uns selbst überlassen, bis meine Mutter wieder von der Hamsterfahrt zurück war und, wenn es gut gegangen war, auch mit etwas zu essen. Wann dies der Fall war, war immer abhängig davon, wie schnell sie bei einem Bauern irgendwo etwas bekam. Bestenfalls dauerte es nur einen Tag, schlimmstenfalls mehrere.

Sie waren also stark an Ihre Mutter gebunden, aber wie kamen Ihnen andere

Erwachsene zu der Zeit vor?

Ja das stimmt, obwohl Mutter oft unterwegs war, war sie die Einzige, die sich um uns Kinder kümmerte. Die meisten anderen Erwachsenen erlebte ich als große Egoisten, die nur mit sich selbst und ihren Problemen beschäftigt waren, wobei wir Kinder ihnen nur im Wege standen und lästig waren. Ihr Egoismus kam am stärksten zum Ausdruck in den langen Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften, in denen ich mit den Abschnitten der Lebens-mittelmarken in der Hand stand.

Und was passierte dann?

Dann spielte sich folgendes ab: Ich stellte mich, wie es sich gehört, hinten an. In der Regel dauerte es aber nicht lange, bis die Erwachsenen hinter mir zuerst halblaut zu nörgeln begannen, um dann immer lauter zu schimpfen und mich schließlich als freche Göre zu bezeichnen, die sich vorgedrängelt hatte. Und so ging es weiter und sogar die Verkäuferinnen schikanierten mich, sodass ich am Ende eines derartigen Erlebnisses nach Hause kam und Mutter berichtete. was passiert war, und natürlich mit leeren Händen da stand. Dann hatte auch ich nichts mehr zu lachen.

Sie haben mir bis jetzt ja nur von Ihrer Mutter erzählt, aber was war mit Ihrem

Vater?

Heute weiß ich, dass mein Vater an der Ostfront gekämpft hat. Zuletzt, d.h. im Februar 1945 soll er in Sommerfelde/Guben eingesetzt gewesen sein. Das belegen Unterlagen vom Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes vom 12. Mai 1945. Seither fehlt jede Spur von ihm – er ist und bleibt vermisst.

Also war Ihr Vater eigentlich nie da, wie bewältigten Sie das?

Das ist wohl wahr, und da mir immer mehr bewusst wurde, wie sehr die Erwachsenen gegen uns Kinder waren, umso mehr sehnte ich mich nach meinem Vater. Diese Sehnsucht gründete sich auf viele Ungerechtigkeiten der Erwachsenen mir und anderen Kindern gegenüber. So kam es, dass ich heimlich

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alles aufschrieb und die fromme Hoffnung hegte, ihm in absehbarer Zeit eines Tages meine Liste zeigen zu dürfen und dass er mich ganz bestimmt verstehen würde! Die Liste wurde im Laufe der Jahre sehr lang! Jahrelang stand mein Vater auch an erster stelle meines Abendgebetes. Es dauerte also seine Zeit, bis ich begriff, dass es sinnlos war, Jahre nach Kriegsende Gott zu bitten, meinen Vater zu "behüten", zu beschützen und ihn "bald" und "gesund" wieder aus dem Krieg zurückkommen zu lassen. Als ich soweit war, landete die Liste im Mülleimer und mein Abendgebet umfasste nicht länger meinen Vater.

Wie sah es eigentlich mit der Religion in dieser Zeit bei Ihnen aus?

Wir beteten auch vor jeder Mahlzeit. Dieses Gebet leitete Mutter immer ein mit den Worten: "Komm Herr Jesus, sei unser Gast...". Eines Tages aber, als wir besonders wenig Essen auf dem Tisch hatten, kam sie nicht weiter, denn mein Bruder unterbrach sie vorwurfsvoll und sagte: "Nein, lade den nicht auch noch ein. Das Essen reicht ja nicht einmal für uns!" Am Mittagstisch geschah aber auch sonst so einiges, was sich nicht nur auf himmlische Vorkommnisse beschränkte, sondern auch durchaus sehr reale Formen annahm.

Wie sah denn so etwas aus?

Ja, das war schon was! (lacht) Also: Ich saß neben meinem Bruder und Mutter hatte das wenige Essen gerecht auf den Tellern verteilt. Jeder hatte einen Eierkuchen mit einem Klecks Sirup erhalten. Als wir gerade zu essen beginnen wollten, spuckte Dieter auf meinen Eierkuchen! Erstaunt und angeekelt guckte ich abwechselnd zu ihm und auf meinen Eierkuchen, bis es aus mir herausplatzte: "Den Eierkuchen will ich nicht essen!" Und gerade auf diese Reaktion hatte er gewartet und nahm sich unschuldig meinen Eierkuchen. Fortan saß ich immer außer Reichweite seiner Spuckattacken.

Das ist ja schon ein starkes Stück! Gibt es noch mehr solcher Geschichten?

Aber natürlich! (lacht) Wenn die Fenster unserer im Parterre gelegenen Wohnung geschlossen und die Gardinen zugezogen waren, beendeten wir Geschwister normalerweise jede Mahlzeit, indem wir unsere Teller ableckten. Jeder noch so kleine Rest wurde verwertet. Im Sommer jedoch, wenn die Fenster offen standen, konnten die Leute, die vorbeigingen, sehen, was und auch wie gegessen wurde (grinst). Wenn es dann soweit war, dass die Teller abgeleckt werden sollten, verschwanden unsere vier Köpfe und Teller unter dem Tisch. So konnte keiner sehen, was wir taten und Mutter brauchte sich nicht für uns zu schämen!

Wie sah es bei Ihnen eigentlich mit der Nahrungsversorgung genau aus, mussten sie oft hungern und wie ging es unter Ihren Geschwistern zu?

Alle waren wir mehr oder weniger hungrig; einige waren es mehr, andere weniger. Doch da gab es auch noch jene, die extrem hungrig waren. Zu denen gehörte mein Bruder. In seiner Verzweiflung aß er manchmal auch etwas, von

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dem ich kaum zu träumen wagte, dass es überhaupt essbar ist. Dies erklärte teilweise auch, dass zu Hause immer wieder Dinge auf mysteriöse Weise verschwanden. Wenn dies der Fall war, fragte Mutter uns immer, doch jedes Mal dasselbe Ergebnis: Keiner wusste etwas, hatte etwas gehört oder gesehen. Ich zog es immer vor zu schweigen, da mein lieber Bruder mir Dresche angeboten hatte.

Versuchte Ihre Mutter dies nicht irgendwie zu verhindern?

Tja! (lacht) .Aus Platzmangel aßen wir meistens im Wohnzimmer. Also musste alles, was gebraucht wurde, aus der Küche ins Wohnzimmer gebracht werden. Manchmal passierte es aber, dass doch mal etwas vergessen wurde. Unter "normalen" Umständen würde man sagen: "Na und?" Nun muss man aber bedenken, dass die Nachkriegsjahre aber eben nicht "normal" waren! Wenn also etwas vergessen wurde, wurde einer von uns damit beauftragt, es zu holen. Damit lief Mutter aber Gefahr, dass dieser schnell etwas in den Mund stecken konnte, bevor er wieder im Wohnzimmer war (lacht). Um dies zu vermeiden, waren viele Mütter auf die Idee gekommen, dass ihre Kinder auf dem Weg in die Küche pfeifen sollten. Da hieß es gehorchen und einsehen, dass es unmöglich war, gleichzeitig zu kauen und zu pfeifen.

Aber Sie schafften es trotzdem Ihre Mutter zu überlisten, oder?

So war es! Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Speisekammer übte auf uns Kinder irgendwie magische Kräfte aus! Teils weil ihre Tür fast immer verschlossen war, teils weil wir uns gerade aus diesem Grund einbildeten, dass sich hinter der Tür alle mögliche Leckereien verborgen hielten. Leckerbissen, die nur darauf warteten, dass wir an sie herankamen, und Dieter war in dieser Beziehung sehr erfinderisch, um dies in die Tat umzusetzen.

Können Sie mir mehr dazu erzählen?

Sicher doch! Die Speisekammer besaß ein kleines Lüftungsfenster zum Balkon hin, das meistens immer nur angelehnt war. Durch dieses Fenster steckte er einen Ausklopfer, bis er damit die Innenseite der Tür erreichte. Dort hakte er den Ausklopfer am Riegel ein und zog ihn zurück. Die Tür war geöffnet! - ohne Beschädigungen zu hinterlassen. Mein Bruder ließ es erst, als er eines Tages ein Glas mit Schmierseife für Honig hielt.

Wie kam es eigentlich, dass dies bei ihnen an der Tagesordnung war?

Oftmals war es für meine Mutter schwierig herauszufinden, wer von uns etwas angestellt hatte und schuldig war. Wir sagten Unwahrheiten oder Halbwahrheiten, stritten alles ab oder erfanden Ausreden. Heute habe ich dafür eine Erklärung, warum wir so waren, damals hatte ich keine. Die Erwachsenen, die uns im Nachkriegsberlin umgaben, waren unsere Vorbilder. Wir taten letzten Endes nicht mehr oder weniger, als dass wir ihr eigenes Benehmen nachahmten und folglich nur verkleinerte Spiegelbilder ihrer selbst waren. Sie logen und

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betrogen sich gegenseitig und uns, und eigneten sich unrechtmäßig Sachen anderer an, was im Allgemeinen mit „organisieren“ umschrieben wurde. All dies ging natürlich nicht unbemerkt an uns vorbei und machte später einen Teil meiner Freunde zu richtigen Kleinverbrechern.

Zum Abschluss noch eine letzte Frage: Wie würden sie also insgesamt ihre

Kindheit beschreiben?

Sicherlich hatte ich keine leichte Kindheit, so wie es heutzutage meist der Fall ist, ich musste hart mit anpacken, um alles wieder aufzubauen. Es war keine leichte Kindheit besonders deshalb, weil ich auch keinen Vater hatte. Doch ich muss sagen, dass es uns zu der damaligen Zeit noch recht gut ging. Meine Kindheit war nicht so schrecklich, es gab viele Momente, die sehr schön waren und die ich auch nicht vergessen werde. Es war aber auf jeden Fall eine Zeit, die mich sehr geprägt hat. Danke für das Interview!

aufgezeichnet von Alexander Friedrich, Klasse 10/3

Der folgende Zeitzeuge hat das Geburtsjahr 1934 Wo kamen Sie her?

Meine Heimat liegt im ehemaligen Oberschlesien, in Oppeln. Von hier etwa 500 km entfernt. Waren Sie Vertriebener oder Flüchtling?

Ich war Flüchtling und Vertriebener. Am 23.1.1945 wurde meine Familie von der deutschen Wehrmacht (SS) spät abends aus unserem Dorf ausgesiedelt. Unser Dorf hatte ca. 180 Einwohner, bis zum nächsten Morgen 7.00 Uhr musste das Dorf geräumt werden. Mein Vater hatte eine kleine Landwirtschaft, besaß 2 Traktoren, einen Hänger. Nachts haben wir unser Hab und Gut aufgeladen, Pferde angespannt, Heu aufgeladen, Decken und Essen mitgenommen. Im Januar 1945 lagen 50 cm Schnee und es waren -20° C. Im Dorf hatte sich ein Treck gebildet, der aus etwa 20 Pferdefuhrwerken bestand. Auf unserem Wagen waren 12 Personen, aber alle mussten laufen. Kinder, alte Leute, alle. Am Tag haben wir ungefähr 13 km geschafft, wir hatten z. T. sechsspännige Wagen. Von Januar bis März 1945 waren wir unterwegs (Glasener Kessel, Weidenburg). Mein Vater war Treckführer und musste sich jeden Tag auf dem Landratsamt melden, um unseren neuen Fahrbefehl zu erhalten. Täglich sind wir bis nachts um 24.00 Uhr gelaufen. Unser Weg führte von Weidenburg über Hirschberg, Schweinitz nach Liberez, früher Reichenberg. Bis Görlitz waren es noch 60 km, aber die Russen hatten

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einen Durchbruch an der Oder, die einzige Brücke, die über die Neiße ging, besetzt. Kein Deutscher kam mehr durch. Mit unseren Pferden sind wir nach Pilsen, Bayr. Wald, ca. 80 km südwestlich von Pilsen. Insgesamt sind wir 600 km gelaufen, die Wagen waren schwer beladen, alle mussten laufen. Mitte April kamen die Amerikaner, sie waren bis fast vor Prag, der Rest war von den Russen besetzt. Mitte Mai mussten in der Tschechoslowakei alle Flüchtlinge raus. Wir hätten mit den Amerikanern, begleitet durch Armeefahrzeuge zurück nach Bayern oder nach Hause fahren können. Etwa 10 % sind mit den Amerikanern nach Bayern, wir sind mit unseren Pferdewagen eine Woche zurück. Die Amerikaner haben uns offiziell den Russen übergeben. Wir waren etwa 10 000 Menschen, 6000 Pferde, 2000 Wagen. Dann mussten wir in Richtung Prag. Jeder musste eine Decke tragen und Essen. Nach 2 Tagen Fußmarsch wurden wir auf einer Wiese zusammengetrieben und wie eine Viehherde mit Stacheldrahtzaun eingegrenzt. Es war Ende Mai und sehr heiß. Keiner hatte mehr etwas zu essen oder zu trinken. Nur weil es 2 Tage geregnet hatte und wir das Regenwasser aufgefangen haben, sind wir nicht verdurstet. Viele Menschen sind dort gestorben. Nach ein paar Tagen erfolgte der Abmarsch. Wir mussten uns auf einem Feld versammeln zu je 50 Personen, wurden in einen Güterzug gebracht und wurden in die Nähe von Dux gebracht. Danach kamen wir nach Theresienstadt. Wir wurden von Tschechen mit MG bewacht, waren 200 Personen in einer Baracke. Morgens wurden die Toten auf Karren aus der Baracke gebracht. Es sind sehr viele gestorben. Meine Eltern konnten Polnisch und etwas Tschechisch und haben sich mit den Aufsehern unterhalten. Die Deutschen mussten raus, es sind wenige herausgekommen. Uns ist die Flucht nur gelungen, weil meine Eltern vor unserem Aufbruch Schweine geschlachtet haben. Für ein Schwein bekam man 10 000 Zigaretten. Diese Tauschobjekte haben uns das Leben gerettet. Die Aufseher haben uns 2 Fahrzeuge zur Verfügung gestellt. Die Tschechen haben uns alles weggenommen: Geld, Uhren, Schmuck. Mein Vater hatte neue Stiefel, die haben ihm sie abgenommen und alte dafür gegeben. Innerhalb von 8 Tagen hatte man uns alles abgenommen und es so ausgelegt, dass wir es freiwillig getan haben. Nachts sind wir dann weggefahren und uns wurde gesagt, dass wir uns von den Grenzern nicht erwischen lassen sollten. Dann sind wir in die Ostzone. Überleben konnten wir nur von dem, was wir auf dem Acker fanden oder wir mussten stehlen. Dann hat es uns nach Zerbst verschlagen in ein Barackenlager – Mozartsiedlung. In diesen Lagern wurden wir nur für eine Nacht jeweils aufgenommen, wir wussten nicht wohin. Erwachsene bekamen einen Teller Suppe, Kinder eine Scheibe Brot mit Marmelade. Am nächsten Morgen 7.00 Uhr mussten wir das Lager wieder verlassen. Dann haben wir davon gehört, dass die Russen aus Jüterbog abziehen und dort 2 Kasernen frei sind. Wir hatten keine Papiere, keine Ausweise. In Jüterbog hatten wir ein Zimmer, der Winter stand vor der Tür. Mein Vater und andere haben ständig auf den Landratsämtern nach Arbeit gefragt. In Dobritz

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haben wir dann etwas gefunden. Drei Familien aus unserem Dorf sind am 20.9.1945 nach Dobritz, wir waren 8 Monate unterwegs. Dort lebten wir bis 1960. Wie haben Sie die Besatzungssoldaten erlebt?

Die Amerikaner haben uns den Russen übergeben und gleichzeitig den Tschechen. Das waren alles Zivilisten. Da Hitler 1938 die Tschechei einverleibt hatte, hatten sie keine Armee. Alle, die konnten, sind nach England gegangen. Die Russen haben uns nichts getan. Haben Sie noch Kontakt zu ihren Angehörigen?

1974 sind wir zum ersten Mal dorthin gefahren. Wir mussten sehr vorsichtig sein. In der DDR wurde unsere Heimat gar nicht erwähnt, es war ein weißer Fleck auf der Landkarte. Die Schlesiertreffen wurden in der DDR von der Stasi überwacht. 2005 waren wir zuletzt dort. Die Dörfer sind noch da. Gleiwitz, Katowice sind ca. 50 km entfernt. Meine Eltern stammten von dort, haben 1930 eine Wirtschaft gekauft, ein Sägewerk und Langholz gefahren. Nach dem Krieg 1945/50 haben wir bei einem Bauern gearbeitet, 1950 bis 1960 hatte ich eine Neubauernstelle und dann wurde alles LPG.

aufgezeichnet von Henriette Finger, Klasse 10/4

… Am 05.01.1945 bekam ich (Anneliese Lindauer, Jahrgang 1923) die Nachricht, dass mein Mann im Luftkampf gefallen ist. Ende Januar wurden alle Fahrzeuge beschlagnahmt. Munition und Geschütz standen auf unserem Hof. Die Russen näherten sich der Oder und die Aufforderung kam, Frauen und Kinder sollten die Stadt verlassen. Ich konnte nur ein ganz kleines Bündel nehmen, denn ich war im 6. Monat schwanger und ich hatte noch meinen dreieinhalbjährigen Sohn an der Hand. Meine Mutter hatte eine schwere Erkältung mit Fieber. Mein Herz war voller Trauer und mir war schon alles egal. Aber ein junger Soldat, der die Munition gefahren hatte, sagte zu uns: „Schnell, kommen Sie, viel Zeit habe ich nicht, die Mutter und der Kleine sind schon im Auto“. Wir wurden noch mit Planen zugedeckt und er wollte in Richtung Berlin fahren. Er hatte gehört, dass von den Randgebieten noch Züge in Richtung Westen fahren. Wir hatten Glück, dass wir trotz des unbeschreiblichen Chaos noch Platz in einem Personenzug nach Hannover bekamen. Unterwegs wurden wir zweimal von Tieffliegern beschossen. Die ganze Fahrt hatten wir nur entsetzliche Angst. Endlich in Hannover angekommen, da heulten schon die Sirenen und die ersten Bomben fielen. Wir erreichten einen Schutzraum. In der Nähe fiel eine Luftmine und der Druck

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riss eine Mauer nieder, wo sich von den Leuten die Gepäckstücke stapelten. Ich wurde darunter begraben und drohte zu ersticken. Später erzählte man mir, dass von meinen Sohn ein Bein zu sehen war und da wurde mit Windeseile alles fortgeräumt. Ich hatte aber schon fast die Besinnung verloren und hörte noch die Menschen sagen: „Mein Gott, die Frau ist ja hochschwanger.“ Bis auf ein paar Schrammen war mir nichts passiert und das Bein von meinem Sohn wurde notdürftig verbunden. Es war kein Rotes Kreuz, keine Schwester da. Hilfsbereite Menschen brachten uns später zu dem Zug nach Celle und damit waren wir fast am Ziel, Wachtlingen, die Heimatstadt meines verstorbenen Mannes. Alles war mit Flüchtlingen besetzt. Wir wurden doch noch untergebracht und ein Arzt untersuchte uns. Er stellte fest, dass ich einen Schock erlitten hatte, und damit war eine weitere Reise für uns beendet. Die Gemeindeschwester kümmerte sich um mich. Es war unmöglich in ein Krankenhaus zu kommen. Inzwischen hatte Feldmarschall Montgomery mit seiner Armee das Land Niedersachsen besetzt. Der Geburtstermin rückte immer näher und um 21.00 Uhr war Ausgangssperre. Da habe ich mir ans Herz gefasst und bin in die englische Rote-Kreuz-Baracke gegangen und es wurde sogar ein Dolmetscher geholt und ich bekam sogar einen Passierscheinfalls ich Hilfe brauchte. Nach alldem, was passiert war, wurde ich von einem englischen Arzt untersucht, ob mit dem Baby alles in Ordnung war. Am 25. April setzten die Wehen ein und eine ganz alte Hebamme kam, die junge amtierende war schon auf einem entlegenen Bauernhof bei einer Wöchnerin. Die Baracke eignete sich aufgrund der Hygiene nicht für eine Entbindung. Die alte Hebamme war entsetzt! Meine Tochter war geboren und dann kam das Kindbettfieber. Daran kann ich mich noch genau erinnern, dass der englische Arzt kam, sich ein Federkissen besorgte, dort mein Baby reinlegte, und ich wurde in eine große Decke gewickelt. Dann ging es los nach Celle in ein Militärkrankenhaus. Es war vorher die Landesfrauenklinik. Die Schwestern holten ein fahrbares Babybett vom Boden und Sachen für meine Tochter. Ich besaß ja nichts und es war ein Glücksfall, dass man mich gerade in diese Klinik brachte. Das Fieber hatte mich so mitgenommen, dass ich die Ärzte und Schwestern, die mein Leben retteten, kaum wahrgenommen habe. Später habe ich erfahren, dass amerikanische Ärzte mit ihren Medikamenten das Fieber besiegten.

Wie und wann hast du vom Ende des Krieges erfahren?

Am 8. Mai habe ich erfahren, dass der Krieg zu Ende ist. Am 9. Mai stand plötzlich meine Mutter an meinem Bett. Der englische Arzt, der mich in die Klinik gebracht hatte, hatte veranlasst, dass Sie mich einmal ausnahmsweise besuchen durfte. Zur damaligen Zeit durfte man nur mit einem Militärfahrzeug hinein und wieder heraus. So habe ich vom Ende des Krieges erfahren. Wo hast du nach Kriegsende gelebt? Und was hatte sich verändert?

Im Juli war ich soweit gewesen, dass ich mit meiner Tochter in den Wohnort Sandlingen, ein winziges Dorf mit zwölf Häusern, gefahren wurde. Die

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mitleidigen Schwestern gaben mir noch Decken und Babysachen mit. Untergebracht waren wir in einer Baracke, die vorher zur Unterbringung serbischer Kriegsgefangener gedient hatte. Sie stand ja nun leer und meine Mutter hat versucht, es einigermaßen wohnlich zu machen. Dort bin ich das erste Mal in meinem Leben betteln gegangen. Ich hatte ja Verantwortung für zwei kleine Kinder. Für Halbweisen gab es je 35 Mark, für die Witwen gab es noch nichts. Was hast du nach Kriegsende unternommen, um wieder auf die Beine zu

kommen? Wie waren deine Gefühle?

Ich war 23 Jahre alt und es konnte doch nicht alles zu Ende sein. Ich musste mich um Arbeit bemühen und zum Glück hatte sich ein Zahnarzt in seinem Jagdhaus mit Familie hier niedergelassen. Seine Praxis wurde in Hannover zerstört und er richtete sich hier in einem großen Bauernhof eine neue Praxis ein. Ich bekam die Arbeit. Wir wussten aber, dass wir hier niemals sesshaft werden würden. Als die Züge wieder fuhren, ist meine Mutter erstmals in unsere Heimat gefahren. Sie hat unser Haus und unser Grundstück als eine einzige Trümmerstätte wieder gefunden. Die Russen war so schnell an der Oder und man hatte die gesamte Munition, die bei uns gelagert wurde, einfach in die Luft gesprengt. In der Straße wurde vieles mit zerstört, aber die Menschen kamen wieder und haben sich untereinander geholfen. Für uns haben fleißige Helfer eine Anderthalb-Zimmerwohnung instand gesetzt. Das war dann die Zeit nach dem Krieg. Jeder hat es auf seine Weise schmerzlich empfunden. Bevor ich in meine Heimatstadt kam, habe ich in Hannover von einem Ohrenspezialisten erfahren müssen, dass meine kleine Tochter gehörlos geboren wurde. Sie war ein fröhliches Kind und geistig aufgeweckt und dann die furchtbare Gewissheit. Wie habe ich diesen Krieg verflucht! Ich bin auch wieder in meine Heimat zurück. Dort habe ich als Trümmerfrau in den zerschossenen Straßen die Oder entlang Steine geputzt und schwere Arbeit leisten müssen. Für meine gehörlose Tochter gab es nicht einmal einen Kindergartenplatz. Mit vielen Gesprächen erreichte ich, dass ein Platz im Oberlin-Haus in Potsdam-Babelsberg, bis zu ihrer Vorschulung, frei war. Nachdem das geregelt war, habe ich Frankfurt verlassen und bin nach Annaberg-Erzgebirge gegangen, um im Bergbau zu arbeiten. Ich bekam eine gute Stelle als topographische Helferin, ein schönes Zimmer, und die Versorgung war bestens. Im Winter kam ich nach Johanngeorgenstadt und bekam die Stelle als Köchin im Clubhaus "Franz Mehring". Ich lernte meinen Mann kennen, er arbeitete als Bohrmeister. Wir heirateten und bekamen eine schöne Wohnung und haben zwei Söhne und zwei Töchter. Mein Mann wollte zurück in seine Heimatstadt, Zerbst, das war 1963. Wir lebten uns hier gut ein, aber leider starb mein Mann 2003 und ich lebe in dem Haus und auf dem Grundstück meiner Kinder. Was hieltest du und hältst du vom Krieg?

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Ich bin im 84. Lebensjahr und wünsche mir, dass es weiter so bleibt in Liebe und Harmonie. Die Verlierer eines jeden Krieges sind ganz gleich, ob Sieger oder Besiegte, immer die Frauen, die Mütter und die Kinder. aufgezeichnet von Florian Lindauer, Klasse 10/4