2006/02 china - auf dem weg nach oben

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China ist wieder wer. Und erinnert sich daran, dass es über lange Zeiten, bis ins 16. Jahrhundert hinein, die fortgeschrittenste Zivilisation der Welt war. Es beherrschte die Meere und trieb weltweiten Handel. Nach den Krisen im 19. und 20. Jahrhundert knüpft China nun an alte Erfolge an. Mit eigenen wirtschaftlichen Spielregeln, mit eigenen politischen Vorstellungen, jenseits unseres Demokratieverständnisses – und auf Kosten einer armen Landbevölkerung und der Umwelt. Chinas Probleme sind ebenso bekannt wie seine Erfolge. In wenigen Jahren könnte die chinesische die amerikanische Wirtschaft überholt haben. Was ist das für ein Land, das sich anschickt, die Welt grundlegend zu ändern?

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Dokument 1 12.05.2006 15:49 Uhr Seite 1

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PDF-Ausgabe eines vergriffenen Titels der

Zeitschrift für Kulturaustausch

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Kulturaustausch 11/06 �

editorial

Capital International Airport Peking, im vergangenen herbst. In den Warteschlangen

des air china-Flugs nach Frankfurt stehen viele Paare mit Babys. Die Kinder wippen in

trageschaukeln, weinen, saugen an Fläschchen. Es sind chinesische Kinder – und, so weit

erkennbar, Mädchen. Ihre Eltern sind Europäer, englische, französische, spanische, deut-

sche. später, im Flugzeug: Ein Brite hält seine tochter ans Fenster und sagt: „say bye-bye

to china.“ Eine merkwürdige situation: Dutzende kleiner Mädchen verlassen ihr land. um

mit anderen sprachen, in anderen Kulturen – solchen mit Demografieproblemen – groß zu

werden. haben sie Glück gehabt? Oder hätten sie auch in ihrer heimat chancen auf eine gute

Zukunft? Mädchen sind das unbeliebte Geschlecht in china. Die Ein-Kind-Politik bewirkt,

dass Eltern söhne bevorzugen, weil die sie im alter besser versorgen können. china muss

sein Bevölkerungswachstum in den Griff bekommen. Das wissen wir. Gleichzeitig sehen

wir die schlimmen Folgen der Geburtenpolitik, bis hin zu einem prognostizierten Männer-

überschuss von 40 Millionen im Jahr 2020. Wenn es um china geht, sind wir vor allem eins:

ambivalent. Einerseits sind wir beeindruckt vom gigantische aufstieg und der einmaligen

Kultur. anderseits ist da ein unbehagen: über die radikalität, mit der das land seinen eige-

nen Weg geht, weitab unserer Vorstellungen von Demokratie. Wir ahnen, dass die künftige

Weltmacht uns einige Veränderungen bringen wird. Welche genau, können wir zurzeit noch

nicht wirklich fassen. Wie ist china? Wer sind die chinesen? In dieser ausgabe berichten

chinesische und internationale autoren über das land hinter dem Wirtschaftsboom. so viel

vorweg: Es ist faszinierend – und sehr ambivalent.

Jenny Friedrich-Freksa

Die Bildstrecke im Hauptteil ha-ben die Gao Brothers fotografiert. Zhen (rechts) und Qiang Gao, geboren 1956 und 1962 in der Provinz Shandong, leben in Pe-king. Derzeit arbeiten sie an dem Projekt „Field of Vision:Bejing“.

Unser Coverfoto zeigt einen chine-sischen Stelzschuh aus Seide. Er stammt aus dem 19. Jahrhundert. Der Stelzabsatz bot zwei Vorteile: den Schuh trocken und sauber zu halten – und seinen Träger größer erscheinen zu lassen.

Suming Soun, die 1992 aus Tai-wan nach Deutschland kam, hat die chinesischen Texte dieses Heftes übersetzt. Nun wartet bei KULTUR-AUSTAUSCH eine neue Aufgabe auf sie: Ab sofort bringt Suming Soun der Redaktion Chinesisch bei. Fo

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4 Kulturaustausch 11/06

China auf dem Weg nach oben Wirtschaftsboom, neue Weltmacht, neue Weltsprache. Wie sieht es jenseits von china-superlativen aus? Thema: china seite 14 – 65

Operndiva Tian Mansha Die prominente und vielfach ausgezeichnete Opern-Künstlerin tian Mansha im GesprächThema: china seite 45

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Kulturaustausch 11/06 5

Die Welt von morgen 6top ten: Die meistgestohlenen autos in den usa 8Kulturleben 9Fokus Israel: Bei anruf Frieden 10Fokus Bolivien: real existierender rassismus 12Wählen in: Kongo 1�

Thema: China

Hallo Drache! von Ian Buruma 16Peking, Hauptstadt der Schwalben von tilman spengler 20Generation Einzelkind von sun changmin 24 Theoretisch sicher von Ding chun 25 Harmonien in Grün von Pan Yue 28 Krieg den Hütten von Qu Jing und Marcus hackel �2„Wir alle sind kleine Figuren“ – Interview mit Ma liwen �6Noraismus von he chengzhou �7Fachchinesisch von Iwo amelung �8Kekse für Chongqing von Nereida Flannery �9 Wechselstrom von Nikola richter 42„Die Regierung achtet auf Tradition“ – Interview mit tian Mansha 45 Geben und Nehmen von Michael Müller-Verweyen 48Atmen lernen von Wei Jingsheng 50 Menschenrechte made in China von albert chen 51Demokratie digital – Interview mit Xiao Qiang 5�Der vierte Block von Noam chomsky 56Bündnisfall von lin Jinbo 58Shopping in Darfur von leni Wild 62Karte von China 64

Magazin

Frank-Walter Steinmeier im Interview 66liebe Europäerinnen und Europäer! von Michael Stavaric 69Gespaltene Zunge von Alois Berger 70Das kann ich mir sparen von Michael Gahler 714,7 Prozent Europa von Ulrike Guérot 72Kulturdialog – wonach klingt das?von Thomas Krüger und Susanne Weigelin-Schwiedrzik 76Pressespiegel 78leserbriefe 80Wir werden glücklicher – Interview mit Ruut Veenhoven 82Meine uni ist die Welt von Karl-Heinz Kloppisch 8�Kirschholzraspeln von Marc Andrae 86Mit Björk auf du und du von Avi Pitchon 87Kulturorte: Eugenijus Alisanka über den Kalvajarmarkt in Vilnius 88 Köpfe 90Bücher 91Neuerscheinungen 96Weltmarkt 98

Impressum 81

Inhalt

Wenn Kultur Politik trifftInterview mit außenminister Frank-Walter steinmeier über die künftige außenkulturpolitikMagazin: seite 66

KirschholzraspelnWas ein deutscher schreiner von japanischen Kollegen gelernt hatKulturprogramme: seite 86

Wir werden glücklicherDer niederländische Glücksforscher ruut Veenhoven weiß warum: ein InterviewHochschule: seite 82

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Die Welt von morgenDie Welt von morgenDie Welt von morgen

USA: Weniger Brause

Aus Angst vor Klagen und auf Druck mehrerer Gesund-heitsorganisationen haben sich im Mai die drei großen US-Getränkekonzerne Pepsi, Coca-Cola und Cadbury Schweppes darauf verständigt, weniger Softdrinks in Schulen zu verkaufen. 35 Millionen Schüler werden sich von nun an in der Schule zuckerfrei erfrischen müssen.

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Russland: Allzeit erreichbar

Russische Handybesitzer sind ab 1. Juli 2006 erreichbar. Weil bislang für eingehende Anrufe bezahlt werden muss, nehmen viele der 126 Millionen Mobilfunkkunden Anrufe nicht entgegen. Nun hat der Kreml das Telekommunikationsgesetz geändert: Die Zahlungen für ange-nommene Telefonate entfallen. Gespräche aus dem Ausland hinge-gen bleiben kostenpflichtig.

Saudi-Arabien: Kampf dem Übergewicht

Der saudi- arabischen Regierung macht das Kör-pergewicht ihrer Landsleute zu schaffen. 51 Prozent der Frauen und 45 Prozent der Männer gelten als fettleibig. Eine Medienkampagne und Telefonseelsorgedienste klären nun über ge-sünderes Essverhalten und Leibesübungen auf. Bereits 29 Prozent der weiblichen und 36 Prozent der männlichen Teenager leiden an Übergewicht. Der Sportunterricht bleibt für Mädchen jedoch weiterhin untersagt.

Turkmenistan: Rente gestrichen

Der turkmenische Diktator Nijasow hat die staatliche Altersversorgung weitgehend abgeschafft. Männer müssen mindestens 30, Frauen min-destens 25 Jahre berufstätig gewesen sein, um einen Rentenanspruch geltend machen zu können. Rentner mit erwachsenen Kindern, Schwer-behinderte und ehemalige Kolchosbauern erhalten gar kein Geld mehr. Das Gesetz tritt rückwirkend in Kraft: Wer die neuen Voraussetzungen nicht erfüllt, muss die Zahlungen der letzten zwei Jahre zurückerstatten.

Schweden: Ein neuer Buchstabe

Das Schwedische ist um einen Buchstaben reicher. In der diesjährigen Ausgabe des schwe-dischen Wörterbuches wird das W zum ersten Mal als eigenständiger Buchstabe aufgeführt. Vor allem in Lehnwörtern aus anderen Spra-chen, wie beispielsweise Whisky oder Wok, kommt das W im Schwedischen vor. Bisher wurden Wörter mit dem Anfangsbuchstaben W dem gleichklingenden V zugeordnet.

Simbabwe: Hexenjagd

Simbabwe erweitert das seit 1989 be-stehende Gesetz gegen Hexerei. Ab Juli drohen damit bis zu fünfjährige Haftstra-fen für die Beteiligung an Hexerei. Bisher war es lediglich strafbar, Personen als Hexe beziehungsweise Hexer zu bezich-tigen.

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1. Ersatzteillager: Honda Civicam begehrtesten bei den Dieben ist der honda civic, Bau-jahr 1995. Mit 75 Ps und kostengünstiger Wartung ist er ein ideales teenager-auto. spätestens am college legen sich Bastler das „tuner car“ tiefer und bauen eine hi-Fi-anlage mit Bass-Boost ein. autodiebe missbrauchen den honda civic meist als Ersatzteillager: Nachdem sie ihn auseinan-der genommen haben, verkaufen sie ihn in Einzelteilen auf dem schwarzmarkt. In Kalifornien scheint der handel besonders gut zu laufen, denn hier verschwinden us-weit die meisten hondas.

4. Soccer Moms Liebling: Dodge Caravan

Den Dodge caravan fahren bevorzugt „soccer Moms“: weiße Mütter der gehobenen Mittelschicht, die mit Ehemann und zwei Kindern in einem Vorort leben und ihre Zeit damit verbringen, die söhne zum Fußball zu kutschieren. Der Dodge caravan bietet ausreichend stauraum für Ersatztri-kots, turnschuhe, Getränke-cooler und einen Klappstuhl. Vor allem in Washington, D.c. passiert es häufiger, dass die „soccer Moms“ ihre autos nach dem 90-Minuten-spiel vergeblich suchen. Mini-Vans und familiengerechte Gelän-dewagen werden hier am häufigsten gestohlen.

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3)5. Texaner Favorit: Chevrolet Full Size C/K 1.500 Pick-upDer Pick-up ist mit seiner großen ladefläche unentbehrlich für alle arbeiten rund um die Farm. sein Image ist das eines „tough guy“. Deshalb lässt sich mit ihm beim ersten Date ebenso Eindruck schinden wie bei Freunden, mit denen man über staubpisten und Geröllhalden zum Wildcampen donnert. Vor allem texaner wissen das zu schätzen. an der Grenze zu Mexiko sollten man seinen 1.500er chevrolet nicht unbeaufsichtigt lassen, denn dort wird er am häu-figsten geknackt.

Zusammengestellt von Eileen Stiller

1. honda civic

2. toyota camry

�. honda accord

4. Dodge caravan

5. chevrolet Full size c/K1.500 Pick-up

6. Ford F150 series

7. Dodge ram Pick-up

8. accura Integra

9. toyota Pick-up

10. Nissan sentra Quelle: „2005 hot Wheels“, NIcB National Insurance crime Bureau

Top TenD i e m e i s t g e s t o h l e n e n a u t o s i n d e n u s a

In den USA werden jährlich 1.237.114 Autos gestohlen

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Kulturaustausch 11/06 9

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Wann Sie auf den Bermudas Shorts tragen sollten

Wer glaubt, Bermuda-shorts zu kennen, aber noch nie auf Bermuda war, der irrt. sie sind nämlich mitnichten eine Modeerscheinung. richtige Bermuda-shorts sind wie anzugho-sen gearbeitet, nur kürzer. Genau genommen enden sie � inches, also 7,62 cm, oberhalb des männlichen Knies. sie sind mit einer Bundfalte versehen und, es gibt sie in allen Farben, von dezentem Grau bis gewagtem schweinchenrosa.Kreiert wurden sie um die Jahrhundertwende in london von der britischen armee für ihre in heißen Gefilden stationierten soldaten. Nach Bermuda fanden die shorts erst um 1920. rasch begann die Zivilbevölkerung, sie von der auf Bermuda stationierten royal Navy zu übernehmen. Mittlerweile stellen die shorts – mit kleineren Mutationen in Farbe und stil – zusammen mit hemd, Krawatte, sakko und natürlich den unverwechselbaren Kniestrümpfen das nationale Business-Outfit schlechthin dar.Der Neuankömmling auf Bermuda wagt sich meist eher zaghaft an das ungewohnte Bein-kleid heran. Bald aber erkennt er die Vorzüge: luftig, praktisch, gut. außerdem bemerkt er, dass in jeder Bank, jedem restaurant und je-dem Business-Meeting Mann gerne Bein zeigt. Denn: Wer kann in den heißen sommermo-naten schon der Verlockung widerstehen, im schutze des schreibtisches einfach mal schnell seine Kniestrümpfe herunterzurollen?

Petra Heinz-Prugger lebt seit drei Jahren auf Bermuda und ist bei einem Trust-Unternehmen tätig.

Was die Farbe Gelb in Indien bedeutet

Gelb, genauer gesagt, safrangelb gilt in Indien als „Glück versprechende“ Farbe. so lautet einer ihrer vielen Namen auch „suvarna“- „gute Farbe“.Gelb ist zudem die „heilige“ Farbe vieler indischer Glaubensrichtungen. Mönche des Jainismus und Buddhismus kleiden sich in safranfarbene Gewänder. auf den Dächern der hindu- und sikhstätten wehen dreieckige gelbe Fahnen. Die Farbe begegnet einem au-ßerdem auf der stirn der hindus, wo sie einen safrangelben Punkt markiert. hinduistische Gottesstatuen reibt man mit einer safranfar-benen Paste ein, um ihnen zu huldigen. Von Gelb geht damit eine vereinigende Wir-kung aus: Im hinduismus ist es eines der wenigen Elemente, das von allen Gläubigen akzeptiert wird. aus dem religiösen Kontext ist seine Bedeu-tung mittlerweile in die Politik übergegangen. Dort ist mit dem Erstarken der rechtsgerich-teten hindupartei BJP („Partei des Indischen Volkes“) in den neunziger Jahren der Begriff des „safranisierens“ entstanden. Er steht für den Versuch des „Einfärbens“ verschie-dener gesellschaftlicher Bereiche mit der Parteiideologie und den religiösen Werten des hinduismus.

Dr. Kulwant Singh ist Chefberater des „Water for Asian Cities Programme” der UNO in Neu- Delhi, Indien.

Warum man in Australien im Juli Weihnachten feiert

Weihnachten wird an Weihnachten gefeiert, auch in australien. Da aber Glühwein, trut-hahn und Pudding noch nie so recht zu den fast 40 Grad gepasst haben, die im Dezember in weiten teilen australiens herrschen, ist man vermehrt dazu übergegangen, am tradi-tionellen Weihnachtstag kalte Meeresfrüchte zu verzehren und das klassische Festmahl stattdessen im Juli, an „christmas in July“, aufzutischen. Die Idee eines zweiten Weih-nachten entstammt eigentlich der Werbekam-pagne einiger restaurants und hotels, die versuchten, mehr touristen in die skigebiete zu locken. Die Vorstellung, auch einmal in den Genuss einer „echten“ Weihnachtsstimmung zu kommen, fand jedoch schnell großen an-klang. richtig ernst nimmt „christmas in July“ nach wie vor niemand. Es ist eher eine nette Gelegenheit, mit Freunden oder Familie ein erholsames Wochenende in den verschneiten Bergen zu verbringen. Dafür ist es aber typisch australisch, so selbstironisch zu sein, sich so etwas überhaupt auszudenken.

Simone Young ist Intendantin der Staatsoper Hamburg sowie Generalmusikdirektorin der Philharmoniker Hamburg. Geboren und aufge-wachsen ist sie in Sydney.

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Fokus: Israel

Bei Anruf FriedenKaum ein land hat so viel Erfahrungen im umgang mit terror.Wie Israel den Nahostkonflikt erfolgreich und friedlich bekämpft

Von ute hempelmann

Mit „schalom“ und „salam“ begrüßt man sich in Israel. „Frieden“ bedeutet das. Frieden? In Israel?

„schalom“ und „salam“, sagen die beiden Gesprächspartner. Der Jude und der Palästi-nenser kennen sich bisher nicht. sie telefo-nieren miteinander, weil sie sich austauschen möchten mit „der anderen seite“. am telefon muss man dem anderen nicht in die augen schauen. Zuweilen hat das Vorteile.

Der 20-jährige Palästinenser sammy Waed lebt in ramallah, einer stadt, in der die israe-lische armee seit Jahren präsent ist – je nach politischer situation. sein Gesprächspartner, der 2�-jährige arik aus tel aviv, dient in eben jener armee, der Zahal. Für sammy, den Pa-lästinenser, ist arik, der Jude, ein Besatzer. Für arik ist sammy einer, der sich mit einem sprengstoffgürtel in die luft jagen könnte. sie reden miteinander, weil „Parents circle“, eine jüdisch-palästinensische Organisation, eine telefonhotline für Gespräche zwischen Juden und Palästinenern eingerichtet hat, einen direkter Draht zwischen den Fronten gewissermaßen.

„Parents circle“ hat rund 500 Mitglieder, und alle hätten eigentlich gute Gründe, auf-einander zu schießen, statt zu reden. sie alle haben im Konflikt ein Familienmitglied verlo-ren, oft das eigene Kind. Zum Beispiel Yitzak Frankenthal. 1994 wurde sein 19-jähriger sohn von der hamas entführt und ermordet. Der Wut und trauer zum trotz gründete der Vater mit anderen Familien „Parents circle“.

8�0.000 telefonate hat die Organisation in den letzten 18 Monaten gezählt. auf bei-den seiten gibt es Menschen, die sich Frieden wünschen. sammy erfährt Wertvolles in seinem telefonat mit arik. Der soldat ist keineswegs stolz auf das, was er tut – er hasst den Militärdienst, wie er sammy gesteht. und langsam verändert sich das Bild, das der Palästinenser im Kopf hatte: aus „dem

Juden“, dem träger der uniform, dem „täter“ wird plötzlich ein Mensch mit Gefühlen. Ein großer schritt in sammys Kopf, ein kleiner schritt für den Frieden. so sieht es auch die Europäische Kommission, die die hotline finanziell unterstützt.

Diese „Friedenskultur“ in Israel blüht weitgehend im Verborgenen, weil die Dialog-bereiten im eigenen lager oft als „Verräter“

beschimpft werden. aber auch im ausland er-fährt man wenig von den „kleinen Wundern“, die täglich geschehen in Israel. Fast klischee-haft mutet die übliche Berichterstattung der Medien an. Es ist, als ob sich alle abgesprochen hätten nur aus dem land zu berichten, wenn es wieder tote gegeben hat.

Jenseits des rampenlichtes hat sich – aus-gerechnet in Israel – eine Friedenskultur ent-wickelt, die – zum teil seit Jahrzehnten – nach auswegen sucht. Gerade weil der Konflikt so ausweglos scheint. Das führt dazu, dass viele Israelis und Palästinenser genauer hinschau-en, um Wege zum Frieden zu finden. Den politischen stolpersteinen zum trotz („Was passiert mit dem tempelberg?“ „Was passiert mit den Millionen palästinensischer Flücht-linge?“) gibt es die Erkenntnis, dass man bei Fo

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Kulturaustausch 11/06 11Kulturaustausch

aller Wut letztlich doch keine alternative hat, als wieder aufeinander zuzugehen.

In „Givat haviva“ weiß man das seit 1949. Das israelische Bildungsinstitut ist aus der Kibbuzbewegung hervorgegangen, unter ande-rem, um zum Verständnis der mehr als hundert Ethnien, Nationalitäten und religionen in Israel beizutragen. auch dem Verständnis zwi-schen Juden und Palästinensern, die rund 17 Prozent der Bevölkerung in Israel ausmachen. Dementsprechend hat „Givat haviva“ ein mehr als 50-jähriges Know-how in sachen „Friedens-erziehung“. Von dem sollten auch Menschen außerhalb Israel profitieren, fanden die Orga-nisatoren, eine art Konfliktlösungs-transfer. Das im Nahostkonflikt gewonnene Wissen sei auch in anderen Krisenregionen verwertbar, zum Beispiel in Bosnien. auch dort: Konflikte zwischen Ethnien, religionen.

Die Idee, „Friedenserziehung“ als eine art Ware zu exportieren löst hierzulande oft unverständnis aus. und doch macht es für israelische Organisationen absolut sinn.

Zum einen, weil sie am tropf des auslands hängen. Je nach regierungskonstellationen in Israel werden die Zuwendungen für jüdisch-israelische Dialogprogramme nämlich locker gemacht oder eingefroren. Ohne unterstüt-zung der Eu oder einzelner Mitgliedstaaten wären Friedensinitiativen in Israel gar nicht denkbar. Mitglieder vom „Parents circle“, „Givat haviva“ oder anderen Organisationen sind regelmäßig zu Gast im ausland, um bei befreundeten Gruppen, kirchlichen Or-ganisationen oder politischen Parteien für ihre Projekte zu werben. als „Gegenleistung“ können sich die anderen ein wenig abschauen von den oft ungewöhnlichen ansätzen zur Friedenserziehung.

aber nur abschauen und gar nichts zahlen? Dagegen hatten einige Organisationen was. so gab es theoretische anleitungen erfolgreicher Modelle aus Israel und unterrichtsmaterialien zeitweise beim Bertelsmann Verlag zu kaufen. seminare und Workshops für Pädagogen in Deutschland konnte man dazu gesondert buchen. sie kosten – wie andere pädagogisch-psychologische seminare in Deutschland auch – von mehreren 100 Mark seinerzeit bis zu mehr als 1.000 Euro. auf techniken, die vermittelt wurden, gab es eine art „Patent-schutz“. aber letztlich mussten diese Versuche des „copyrights“ auf Friedenserziehung aus Israel scheitern. Know-how ist keine Ware – und „geistiger Klau“ üblich im pädagogisch-psychologischen Gewerbe. Was man allerdings nicht nachmachen kann, ist die Erfahrung, die in der israelischen Friedenserziehung steckt.

sie ist erfolgversprechend wie aus kaum einem anderen land, gerade weil sie unter här-testen Bedingungen entsteht und sich an ihnen messen lassen muss. so betrachtet, war es kein Zufall, dass „Givat haviva“ im Jahre 2001 den Friedenspreis der unesco für sein jüdisch-palä-stinensisches Begegnungsprogramm: „Kinder lehren Kinder“ bekam. Wenige Monate zuvor, im Oktober 2000, hatte ariel sharon den tem-pelberg besucht, die spannungen eskalierten: Beginn der al- axa-Intifada. Ideologisch hat „Kinder lehren Kinder“ viele Väter. Martin Buber („Der Mensch wird am Du zum Ich“) zum Beispiel. Oder Paolo Freire („Dialog kann nur entstehen zwischen Menschen, die einen Dialog auch wollen“). Der Kernsatz kommt weiß Gott woher: „Wenn Du in Kontakt mit

dem anderen gehen willst, solltest Du erst mal wissen, wer Du selber bist.“

Folglich steht auf dem stundenplan der jüdischen und palästinensischen schulklassen, die freiwillig an dem mehrjährigen Programm teilnehmen, zunächst: „Identitätskunde.“ Nicht nur für Kinder. Es ist ein Prinzip des Programms, dass lehrer und schulleiter den gesamten Prozess mitmachen. rund ein Jahr lang arbeiten beide seiten an brennenden Fragen: Bin ich Opfer? Bin ich täter? Wer bin ich als Moslem in einem land, in dem „das Einende“ das Judentum ist, und nicht etwa die staatsbürgerschaft? Mal spielerisch, mal tiefschürfend kreist der unterricht der 14- bis 16-jährigen schüler um diese Fragen. Erst nach dieser „Besinnungsphase auf sich selbst“ fin-den die treffen statt: erst das der schulleiter, dann die lehrer, zuletzt die schüler.

Dabei geht es nicht immer freundlich zu. Vor allem, wenn sich kurz vorher mal wieder ein attentäter in die luft gesprengt hat. Oder die israelische seite wieder erwägt, den Gaza-streifen zu besetzen. Dann geraten die Begeg-nungen zu einer Verbal-schlacht gegenseitiger anschuldigungen.

„Ihr bringt uns alle noch um.“ Wenn die-ser satz fällt und die Gegenseite reflexhaft antwortet: „Ihr uns auch“, dann kann er umformuliert werden: „Wir werden uns alle gegenseitig umbringen.“ Das trifft den Kern des Konf liktes. Er eskaliert, sofern nicht einer „stopp“ sagt. Wenn beide seiten sich beschuldigen, statt die eigene Verantwortung und Mittäterschaft zu erkennen.

Darum kracht und knallt es in Israel – auch in der Friedenserziehung. In Einzelfällen wird der Kontakt zwischen den Gruppen sogar abgebrochen. Das ist traurig, aber so ist das, wenn man nicht zwanghaft versucht, nett zu sein zu Menschen anderer Ethnien oder religionszugehörigkeit. Diese authentizität ist spürbar bei fast allen israelischen „Kon-fliktlösungs-strategen“. Darum sind sie für viele anziehend. Denn eben das – nicht mehr und nicht weniger – bedeutet: Frieden. „hallo schalom, hallo salam.“ Made in Israel.

Ute Hempelmann hat als freie Journalistin und Pädagogin eineinhalb Jahre in Israel gearbeitet. Heute lebt sie Hamburg.

Friedenshotline: In Israel wurde eine Telefonhotline für Gespräche zwischen Juden und Palä-stinensern eingerichtet. Sie ist sehr erfolgreich.

Fokus: Israel

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Fokus: Bolivien

Real existierender Rassismus Evo Morales ist der erste indigene Präsident Boliviens. Die Diskriminierungenim alltag haben damit aber noch lange kein Ende genommen

Von Fernando Barrientos

In dem Roman „De cuando en cuando saturni-na“ („Von Zeit zu Zeit, saturnia“) der Eng-länderin alison spedding, existiert Bolivien im Jahr 2022 nicht mehr. Nach mehreren rassenkriegen ist es zu Kollasuyo Marka geworden, einem land, in dem es keine Kom-munikationsmedien gibt, dessen Grenzen geschlossen sind und aus dem die „Weißen“ in andere länder geflohen sind. Der roman erzählt von der Zeit zwischen den Jahren 2070 und 2086. Wir lesen den mündlichen Bericht mehrerer indigener Frauen. Die hauptfigur ist saturnina Mamani, die den Inkatempel von coricancha zerstört und den anführer der rebellengruppe Flora tristán getötet hat. saturnina ist raumschiffexpertin und spricht spanglish, aymara und handelsjapanisch. Bei dem Buch handelt es sich ohne Zweifel um den besten bolivianischen roman der vergangenen fünfzehn Jahre. Das 2004 veröffentlichte Buch hat nicht nur durch seine gewagte struktur und thematik überrascht, sondern auch aufgrund seiner prophetischenProphezeihungen.

Doch der real existierende rassismus Bo-liviens zeichnet sich gerade durch ein Fehlen von Fiktion aus. Im Jahr 200� erschienen rassistische leitartikel in den lokalzeitungen von tarija, einer rohstoffreichen stadt im süden des landes. Die angriffe richteten sich vor allem gegen den heutigen Präsidenten Evo Morales. In einer antwort auf diese artikel verglich der argentinische Journalist Franco sampietro die Verfasser mit hitler. Diese wie-derum antworteten, sie seien stolz auf einen solchen Vergleich, schließlich habe hitler für das Wohlergehen seines Volkes gekämpft. Die Polemik tobte in den Zeitungen weiter, sampietro wurde plötzlich von der Zeitung, für die er arbeitete, entlassen, eine Erneuerung seines Visums (zuvor mehrmals problemlos verlängert) wurde abgelehnt und er wurde „eingeladen“, das land binnen 24 stunden zu verlassen.

Ebenfalls 2004 tauchten zum Jahresende Graffitis in der Innenstadt auf, in denen das vor Ort geförderte Gas allein für die stadt tarija beansprucht wurde. Die Parolen an den hauswänden enthielten scharfe angriffe auf die aus dem Norden des landes eingewanderte Bevölkerung. Für den soziologen alfonso hi-nojosa sind der ausdruck von rassismus in ta-rija und die Frage der natürlichen ressourcen

„Warm, weiß und reich statt arm und indigen“ – Gabriela Oviedo, Miss Bolivia 2004, kämpft für ein neues Bolivien-Bild im Ausland

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Wählen in: Kongo

Fokus: Bolivien

Republik Kongo, ehemals Zaire, sind erst die dritten seit der Unabhängigkeit Belgisch-Kon-gos am 30. Juni 1960. Die in den beiden Wah-len von 1960 und 1965 gewählten Personen regierten faktisch nie, und das Vorhaben einer demokratischen Gesellschaft, getragen durch die neue Verfassung und neue Institutionen, kam nicht voran. Zwischen 1965 und 1992, dem Jahr der souveränen Nationalkonferenz und dem Beginn der so genannten Übergangs-zeit, wurden stattdessen mehrere Plebiszite organisiert. Polizei und Armee standen dabei hinter der Einheitspartei MPR (Volksbewegung der Revolution), um die Diktatur Mobutus (1965 bis 1997) zu legitimieren. Während der kurzen Regierungszeit Laurant-Désiré Kabilas (1997 bis 2001) gab es schlicht gar keine Wahlen. Seither fällt es nicht leicht, das gesellschaftliche Gewicht der über 200 Parteien, die den aktuellen Wahlkampf bestrei-ten, einzuschätzen und vorauszusagen, welche Partei ihn auch gewinnen könnte. So hat sich die größte Oppositionspartei mit nationaler Spannweite, die UDPS (Union für Demokratie und sozialen Fortschritt) unter Parteichef Eti-enne Tshisekedis, zum Wahlboykott entschie-den. Sie betrachtet die Wahlen als von der internationalen Gemeinschaft von vornhinein verfälscht. Auch die einstmaligen Kriegsherren haben nun eigene Parteien. Diese heißen PPRD (Volkspartei für Erneuerung und Demokratie, Joseph Kabila), MLC (Befreiungsbewegung des Kongo, Jean-Pierre Bemba) oder auch RCD (Kon-golesischer Zusammenschluss für Demokratie, Azarias Ruberwa). Berücksichtigt man die finan-ziellen und die medialen Möglichkeiten, so sind

Jean-Pierre Bemba und Joseph Kabila im Vorteil. Um die ideologische Leere zu überbrücken, ist das persönliche Kalkül eines jeden Präsident-schaftskandidaten zum strukturierenden Faktor der seit einigen Monaten in Kinshasa immer wieder gebildeten und dann wieder gelösten politischen Allianzen geworden. Doch der eigentlich entscheidende Faktor, der den Wahlausgang bestimmt, ist die ethnische und regionale Identität der Kandidaten. So werden alle Kandidaten mangels ausreichender Finanz- und Kommunikationsmittel, die das Gebiet des ethnisch höchst heterogenen Kongo vom Ausmaß eines Subkontinents (2.345.000 Quadratkilometer) abdecken könnten, ihre Wahlstimmen aus ihren eigenen Ethnien und Heimatregionen schöpfen. Was die Forderung des Volks nach wirtschaftlichem und gesell-schaftlichem Wohlergehen, nach der Einhaltung der Grund- und Menschenrechte, nach Zugang zu Schulbildung, zum Arbeitsmarkt, zur Ge-sundheitsversorgung, zu Wohnraum und zu Kulturgütern anbetrifft, so weiß heute niemand, ob sie von den Kandidaten, die Aussicht auf den Wahlerfolg haben, erfüllt werden könnte. Nichtsdestotrotz scheint Joseph Kabila ange-sichts des Wahlboykotts Etienne Tshisekedis die besten Wahlchancen zu haben. Zu viel erwarten darf man von diesen Wahlen aber oh-nehin nicht, denn sie sind lediglich ein Testlauf im demokratischen Lernprozess des Kongo.

Prof. Mwayila Tshiyembe ist Direktor des Panafrikanischen Instituts für Geopolitik in Nancy, Frankreich

Aus dem Französischen von Susan Javad

verbunden: „Man tut so, als ob man über die Bodenschätze und ihre aneignung diskutiert, spricht aber eigentlich gleichzeitig von einem ‚weißen’ tarija (dessen Elite entscheidet, wie mit dem rohstoff Gas verfahren werden soll). Dabei stützt man sich auf rassische abgren-zungen zu anderen traditionellen ‚ethnischen’ sektoren (Quechuas und aymara).“

Bekannt ist auch eine Erklärung der Miss Bolivia aus dem Jahr 2004, Gabriela Oviedo, die sagte, ihr größtes Ziel sei es, das Bild Boliviens im ausland zu verändern: statt kal-tem Klima und armen Indigenen von kleiner statur wollte sie ihren heimatort santa cruz vertreten, wo es warm sei und es große, weiße, englischsprechende Menschen gebe.

Der rassismus begegnet uns alltäglich in der sprache. Das Wort „Indio“ wird auch als Beleidigung gebraucht. Für gewöhnlich be-nutzt man abschätzige ausdrücke und spricht die Indigenen so an, als wären sie jünger. Man ruft sie sohn, tochter, chola, cholo oder duzt sie, auch wenn es sie schon sehr alt sind. außerdem erkennt man an der aussprache des spanischen, welcher sozialen stellung der sprecher angehört. Wenn eine Zeitungs-anzeige jemand mit „guter Erscheinung“ sucht, bedeutet dies für die Bewerber, dass sie „weiß” sein müssen. In Institutionen wie der Polizei und den streitkräften gelten weiterhin rassische Kriterien, wenn es darum geht, je-manden einzustellen oder zu befördern.

Noch bevor Evo Morales Präsident wurde, als er um die Welt reiste und ihm wohlgeson-nene regierungschefs besuchte, riefen ihn Journalisten einer spanischen Medienanstalt an und ließen ihn glauben, er würde mit dem spanischen Präsidenten rodriguez Zapatero sprechen. Ein Mitschnitt des Gespräches wurde später im Fernsehen ausgestrahlt. Zwar führte dieser „Witz“ zum ausschluss der redakteure aus dem Verband der spanischen Journalisten, in Mexiko machte man sich dennoch über den strickpullover lustig, den Morales bei seinen Begegnungen mit den in-ternationalen Politikern trug. und das, obwohl inzwischen eine textilfirma in Bolivien eine reproduktion des Pullovers auf den Markt gebracht hat, die sich erfolgreich verkauft. als Präsident macht Morales manchmal pole-mische Äußerungen (gegen die usa, gegen die mulinationalen Konzerne, und andere) genau

wie sein außenminister oder einige andere Mitglieder seiner regierung. Normalerweise wendet sich danach sein Vizekanzler an die Öffentlichkeit und erklärt, was der Präsident eigentlich sagen wollte.

In Bolivien sind immer noch 90 Prozent der Menschen, die in extremer armut leben, Indigene. 67 Prozent der geringqualifizierten und am schlechtesten bezahlten arbeiten wer-den von Indigenen verrichtet. Doch bislang hat der staat keine Gesetze gegen die ausgrenzung und den rassismus erlassen. Vielmehr hat

der Präsident Morales auf dem Weg zu einer verfassungsgebenden Versammlung den Pakt mit einem teil der indigenen Bewegung auf-gekündigt, indem er keinen ihrer Kandidaten zu dem Konvent eingeladen hat.

Aus dem Spanischen von Timo Berger

Fernando Barrientos, geboren 1976, promoviert derzeit an der Universität von La Paz in Soziolo-gie über die bolivianische Regenbogenpresse.

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Die Wahlen im Juli 2006 in der Demokratischen

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China ist wieder wer. Und erinnert sich daran, dass es über lange Zeiten, bis ins 16. Jahrhundert China ist wieder wer. Und erinnert sich daran, dass es über lange Zeiten, bis ins 16. Jahrhundert hinein, die fortgeschrittenste Zivilisation der Welt war. Es beherrschte die Meere und trieb welthinein, die fortgeschrittenste Zivilisation der Welt war. Es beherrschte die Meere und trieb welt--weiten Handel. Nach den Krisen im 19. und 20. Jahrhundert knüpft China nun an alte Erfolge an. weiten Handel. Nach den Krisen im 19. und 20. Jahrhundert knüpft China nun an alte Erfolge an. Mit eigenen wirtschaftlichen Spielregeln, mit eigenen politischen Vorstellungen, jenseits unseres Mit eigenen wirtschaftlichen Spielregeln, mit eigenen politischen Vorstellungen, jenseits unseres Demokratieverständnisses – und auf Kosten einer armen Landbevölkerung und der Umwelt. Demokratieverständnisses – und auf Kosten einer armen Landbevölkerung und der Umwelt. Chinas Probleme sind ebenso bekannt wie seine Erfolge. In wenigen Jahren könnte die chinesische Chinas Probleme sind ebenso bekannt wie seine Erfolge. In wenigen Jahren könnte die chinesische die amerikanische Wirtschaft überholt haben. Was ist das für ein Land, das sich anschickt, die Welt die amerikanische Wirtschaft überholt haben. Was ist das für ein Land, das sich anschickt, die Welt grundlegend zu ändern? Ein Thementeil über Chinas kulturelle, gesellschaftliche und politische grundlegend zu ändern? Ein Thementeil über Chinas kulturelle, gesellschaftliche und politische Entwicklungen.Entwicklungen.

China –China –auf dem Weg auf dem Weg nach obennach oben

Alle Bilder im Thementeil: Gao Brothers

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China

Ian Buruma, geboren 1951 in Den Haag, studierte chinesische Literatur und Ge-schichte. Er arbeitete als Übersetzer, Do-kumentarfilmer und Schauspieler, von 1983 bis 1986 war er Kul-turredakteur bei der Far Eastern Economic Review in Hongkong. Seit 2003 ist Buruma Professor für Demo-kratie, Menschenrechte und Journalismus am Bard College in New York. Außerdem ist er als Schriftsteller, Kommentator und Journalist tätig, unter anderem für die „Süd-deutsche Zeitung“ und die „New York Review of Books“. Buruma lebt in London.

Einige heiße Themen kommen und gehen: das Ende der Geschichte, „imperial overstretch“, Europa als Venus, die USa als Mars. Und andere tauchen immer wieder auf, manchmal nach langen Pausen. Der aufstieg Chinas ist zurück, mit aller Macht, in den Zeitungen, im Fernsehen, in Magazinen, Konferenzen, Seminaren und so weiter. Es ist, als ob sich die Menschen schlagartig der Tatsache bewusst geworden sind, dass China wieder eine Großmacht ist, und es könnte sein, dass sowohl die Vorzüge als auch die Ge-fahren dieses Phänomens übertrieben werden. Eine solche reaktion ist immer dann naheliegend, wenn der Westen sich von einem Volk des Nicht-Westens herausgefordert sieht. Es könnte auch sein, dass die Ängste des Westens nicht übertrieben, sondern einfach unangebracht sind. Im Laufe der vergangenen Jahrhunderte war China entweder ein „schlafender Drache“ oder im aufstieg begriffen. Viele Menschen mögen den Schlafmodus bevorzugen. So oder so wird der chinesische Drache als Furcht erregendes Biest gesehen, das bei vielen Generationen von Europäern und amerikanern Gier, Neid, Horror und Faszination erregt hat.

Vieles in der Berichterstattung des Westens über Chinas außergewöhnliches ökonomisches Wachstum – Wolkenkratzer-Städte sprießen wie Betonwälder, ganze Industriezweige werden übernommen, gewaltige Märkte öffnen sich – klingt nach Ehrfurcht, zuweilen gemildert durch ökologische Sorgen und gelegentliche Vorbehalte bezüglich der Menschenrechte. „Neun Prozent Wachstum“, sagte ein amerikanischer Beobachter, „sind kein Boom, das ist eine Transformation.“ aber es gibt auch eine starke Spur von angst: Wird China die Welt beherrschen? Was kann der Westen tun, um mit dieser eigenartigen und altertüm-lichen Zivilisation von arbeitsbienen und autokraten zu konkurrieren?

Die angst vor dem Fernen Osten führt mindestens in das fünfte Jahrhundert zurück, als attila, der Hunnenkönig, einen langen Pfad der Vernichtung zwischen dem östlichen römischen reich und dem heutigen Frankreich zurück-ließ. Dann kamen Dschingis Khan und seine mongolischen Horden, die den Stadtrand von Wien 1241 erreichten. aber die moderne Idee der „gelben Gefahr“ wird gemeinhin den amerikanern zugeschrieben. Der Zustrom chinesischer

Immigranten im späten 19. Jahrhundert erregte angst vor wirtschaftlichem Konkurrenzkampf (arbeitsbienen), Heidentum und rassenverunreinigung. Um seine reinheit und seine Existenz zu sichern, musste der weiße Mann die Zivilisation vor der orientalischen Bedrohung schützen. Sax rohmers romane um Dr. Fu Manchu aus den 1920er Jahren spiegeln diese Bedrohungsfantasien wider.

Tatsächlich, und wie häufig der Fall bei Vorurteilen aus der Neuen Welt, hat die „gelbe Gefahr“ jedoch auch einen europäischen Ursprung. Kaiser Wilhelm II. war von ihr besessen. Er sandte grimmige Nachrichten an seinen Cou-sin Nicky, den russischen Zaren, in denen er ihn drängte, die Grenzen der Zivilisation gegen die „gelbe Gefahr“ zu verteidigen. Oft illustrierte der Kaiser diese Schreiben selbst: mit Zeichnungen, in denen fliegende Buddhas aus Gewitterwolken hinabstießen, um die westliche Welt zu zerstören. Hervorgerufen wurden diese ausbrüche des Kaisers meist durch Morde an christlichen Missionaren in China. als die „Boxer“ im Jahr 1900 Missionsstützpunkte attackierten, schickte er deutsche Truppen nach China – als Teil westlicher (und japanischer) Bemühungen, die rebellion zu beenden. Bei der Verabschiedung der Soldaten in Bremerhaven fasste er die Expedition in seltsam religiöse Worte: „Zeigt euch als Christen“ rief er, „im freundlichen Ertragen der Leiden im angesicht der Heiden! ... Gebt an Manneszucht und Disziplin aller Welt ein Beispiel ... Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, dass es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!“

Die Hunnen waren natürlich selten Christen, aber egal. Tatsächlich ist der christliche Einflussfaktor immer noch vorhanden. Insbesondere die amerikaner haben großen Missionarseifer in China bewiesen. Das gewaltige Kai-serreich von Heiden war immer eine große Versuchung für religiöse Unternehmungen, die diese Hunderte von Millionen Seelen in den Schoß Gottes führen wollten. als George Bush vor kurzem China besuchte, sagte er wenig zu den Menschenrechten. aber das Wenige, was er sagte, betraf vornehmlich die rechte von Christen. „Möge Gott die Christen von China segnen“ schrieb er in einer Kirche in Peking. Dies stand in völliger Übereinstimmung mit einer gewissen Tradition von Ost-West-Beziehungen.

Die westliche Faszination mit China war jedoch nicht immer ablehnend, durch religiösen Eifer beflügelt oder gar

Hallo Drache!Chinas aufstieg hält die Wirtschaft in Schach und macht sie zum Feind der Demokratie

Von Ian Buruma

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ängstlich. In der europäischen Geschichte war China die meiste Zeit weit genug entfernt, um abstrakt zu bleiben, eine art Fantasiereich, eine exotische Utopie, in der alles anders war oder umgedreht. Dies galt bis zum 18. Jahrhun-dert, der großen Ära der literarischen und künstlerischen Chinoiserie, obwohl es bereits vorher ausreichend viele und genaue Berichte über China gab, anhand derer man sich ein realistischeres Bild hätte machen können.

aber Exotismus hat seine eigenen Vorzüge. Er erlaubt es, sich ein Ideal zu erträumen, das man der Unzufrieden-heit und den Unzulänglichkeiten im eigenen Teil der Welt entgegenstellen kann. Ein wahrer romantiker wird auf der Verschiedenheit der Dinge bestehen und jedes Zeichen von westlichem Einfluss mit abscheu betrachten. Einer der großen literarischen Erträumer Chinas, der das Land im Übrigen sehr gut kannte, war der französische autor Victor Segalen (1878–1919). In einer Welt, die literarisch unzugänglich war, beharrte er auf dem Unterschied, dem Mysterium. Die sich einschleichende Uniformität der modernen Welt, angetrieben von Kommerz und Touris-mus, und alles, was die Leute damals als „Fortschritt“ bezeichneten und heute „Globalisierung“ nennen, war ihm unerträglich. China war der letzte Hort des Exo-tischen, obwohl es in Segalens augen bereits damals, um 1910, verdorben war. In einem Brief an einen Freund, der kurz davor stand, China erstmals zu bereisen, schrieb er: „Vertrau mir: verschmähe die Küste. Vergiss Shanghai und die Häfen entlang des unteren Flusslaufes. Der rand von China hat sich ‚abgelöst‘ wie die verletzte Oberfläche einer Frucht. Im Inneren des Fruchtfleisches ist es noch immer köstlich.“

Für Segalen war dieser matschige Traum von chine-sischer authentizität vorrangig ästhetisch: altertümliche Inschriften in Steinmonumenten, die blumigen Umgangs-formen innerhalb des kaiserlichen Hofes, die stilisierten Konventionen der Pekinger Oper, Dinge dieser art. China, oder vielmehr die Idee von China, war jedoch nicht immer so altmodisch hübsch, insbesondere im 18. Jahrhundert. Für Voltaire und andere Philosophen der aufklärung war China ein Modell für rationalismus. Sie betrachte-ten China als eine an Weisheit überlegene Gesellschaft, geführt von Ehrenmännern, die einzig aufgrund ihrer wissenschaftlichen Verdienste ausgewählt worden waren. anders als beispielsweise Frankreich, das noch immer unter dem Joch eines absoluten Monarchen stand, umge-ben von obskurantistischen Priestern. Voltaire fand „die religion der chinesischen Gelehrten ... bewundernswert. Kein aberglauben, keine absurden Legenden, keine dieser Dogmen, die Vernunft und Natur beleidigen ...“

Es war egal, dass China von einer Monarchie beherrscht wurde, die nicht weniger tyrannisch war als der Hof von Louis XIV. Und Voltaire war auch nicht blind gegenüber

China – Fakten und Zahlen:Einwohner: 1,3 MilliardenHauptstadt: Peking Staatsoberhaupt: Hu Jintao (seit März 2003) Regierungschef: Wen Jiabao (seit März 2003) Außenminister: Li ZhaoxingVerfassung: Sozialistischer Staat unter der demokratischen Diktatur des Volkes, der von der Arbeiterklasse geführt wird und auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern beruht. Parteien: Kommunistische Partei Chinas (gegründet 1921) 66 Millionen Mitglieder; weitere acht so genannte demokratische ParteienGründung: am 1. Oktober 1949 wurde die Volkrepublik China proklamiertDie größten Städte: Shanghai (12, 8 Millionen Einwohner), Peking (10,8 Millionen), Tianjin (9,3 Millionen), Hongkong 6,8 (Millionen), Wuhan (5,7 Millionen), Shenyang (4, 8 Millionen)unter 15 Jahren sind 24 Prozent der Bevölkerung Bevölkerungsdichte: 138 Einwohner/Quadratkilometer; 39 Prozent aller Chinesen leben in Städten; 24 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 15 JahreFruchtbarkeitsrate: 1,9 Geburten/Frau Landessprachen: Standard-Hochchinesisch (Putonghua), diverse chinesische Dialekte (Fujian, Hakka und weitere), 55 MinderheitensprachenReligion: 100 Millionen Buddhisten, 30 Millionen Daoisten, 20 Millionen Muslime, 10 Millionen Protestanten, 4 Millionen Katholiken, 1,3 Millionen Lamaisten, religiöse Minderheiten: Konfuzianer Längster Fluss: Yangtsekiang (6.300 km), längster Fluss Ostasiens, nach dem Nil und dem Amazonas der drittlängste Fluss der WeltGrenzländer: mit seinen 14 Nachbarländern ist China das Land mit den meisten angren-zenden Ländern der Welt: Mongolei, Russland, Indien, Myanmar, Kasachstan, Nordkorea, Nepal, Vietnam, Kirgisien, Pakistan, Bhutan, Laos, Tadschikistan und AfghanistanVerwaltung: 22 Provinzen, 4 regierungsunmittelbare Städte, 5 autonome Regionen. Hongkong (ehemals britische Kronkolonie, chinesisches Hoheitsgebiet seit 1997, Sta-tus einer Sonderverwaltungsregion) und Macao (Rückgabe von Portugal an China am 20. Dezember 1999) sind Sonderwirtschaftszonen. Die Republik China (Taiwan) wird von Peking als Bestandteil der Volksrepublik betrachtet. Per Gesetz von 1992 erhebt China Anspruch auf die Spratly-, Paracel- und Diaoyu-Inseln. Die Spratly-Inseln werden wegen der dortigen Erdölreserven auch von Malaysia, Taiwan, Vietnam, Brunei und den Philippinen beansprucht. Kinderunterernährung: 10 ProzentKinderarbeit: 6 Prozent Frauenanteil an den Beschäftigten: 45,0 Prozent Lebenserwartung: Männer 69 Jahre, Frauen 73 JahreSchulpflicht: neunjährige Grundschule Einschulungsquote: 95 Prozent Analphabetenrate: Männer 5 Prozent , Frauen 13 Prozent Währung: 1 Renminbi Yuan Wachstumsrate des BIP: 9,3 ProzentBSP/Kopf: 1.290 US$ Arbeitslosenquote: 4,0 ProzentInflationsrate: 1,2 Prozent Rohstoffe: Kohle, Graphit, Wolfram, Antimon, Eisenerz, Zink, Molybdän, Zinn, Blei, Bauxit, Phosphat, Diamanten, Gold, Erdöl, Erdgas Wichtige Industriezweige: Bergbau, Stahl- und Zementproduktion, Textilverarbeitung, Automobil- und Maschinenbau, Elektrogeräte- und Konsumgüterindustrie, Düngemit-telproduktion Export: Maschinen u. Transportausrüstung 38,9 Prozent, Fertigwaren 30,9 Prozent, industrielle Vorprodukte 16,5 Prozent (2002) Hauptausfuhrländer: USA (21,1 Prozent), Japan (13,6 Prozent), Südkorea (4,6 Prozent) (2003) Hauptlieferländer: Japan (18,0 Prozent), Taiwan (11,9 Prozent), Südkorea (10,4 Prozent), USA (8,2 Prozent) (2003)Medien: auf 1.000 Einwohner kommen 339 Radios, 350 Fernsehgeräte, 209 Telefonan-schlüsse, 215 Mobiltelefone 27,6 PCs und 63 Internet-Nutzer; die größten Tageszeitungen und ihre Auflagen: Sichuan Ribao 8,0 Millionen, Beijing Youth Daily 3,0 Millionen, Gongren Ribao 2,5 Millionen, Renmin Ribao 2,15 Millionen, Dazhong Ribao 2,1 Millionen, Xin Min Wan Bao 1,8 Millionen

Quellen: Spiegel Online; Stefan Loose Trawl Handbücher; Auswärtiges Amt

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China

politischer Ökonomie, dieser unheimlichen Verbindung von Kapitalismus und politischer Diktatur?

Hier kommt der Neid ins Spiel. Von allen potenziellen Märkten der Welt galt China bei den westlichen Händlern lange als Hauptpreis. allein die Größe seiner Bevölkerung ist ein Grund dafür. auch haben die Chinesen seit langem den ruf, geborene Kaufmänner zu sein. In der Vergangen-heit stützte sich diese ansicht weniger auf tatsächliche Ge-schäftserfahrungen in China als vielmehr auf Begegnungen mit chinesischen Händlern in südostasiatischen Hafen-städten. Und doch, aus dem einen oder anderen Grund ist China bekannt dafür, dass es sich weigert, ausländische Händler seine süßesten Früchte pflücken zu lassen. Im 19. Jahrhundert öffneten die Waffen der royal Navy Chinas Märkte für den Handel, damals vorrangig mit Opium.

Die größte Hürde für den Handel in China war schon immer die traditionelle rolle der regierung. Mit Bedacht auf den Erhalt ihrer Privilegien haben chinesische Offizi-elle stets versucht, die Klasse der Händler unter strenger bürokratischer Kontrolle zu halten. Um mit China Handel zu treiben, war es notwenig, den Kotau am kaiserlichen Hof zu pflegen und ausreichend Geschenke zu präsentieren. als Lord Macartney 1793 zu einer Handelsmission zum chinesischen Kaiser aufbrach, folgten ihm 600 Geschenk-pakete, getragen von 3.000 Kulis. aber seine Weigerung, sich auf beiden Knien vor dem chinesischen Herrscher zu verbeugen, bedeutete, dass sein Ersuchen auf Öffnung der chinesischen Häfen für den britischen Handel abgelehnt wurde. „Unser Kaiserreich“, wurde er informiert, „besitzt alle Dinge in ausreichender Fülle.“

Natürlich haben sich die Dinge geändert, aber nicht ganz. Die art und Weise, wie einige westliche Kapitalisten Offizielle der chinesischen Kommunistischen Partei durch Komplimente und Ehrenbekundungen verhätscheln,

Brüskierungen und andere Demütigungen hin-nehmen, die sie in ihren eigenen Ländern nie tolerieren würden, erinnert stark an die unglück-liche Macartney-Mission. Und genauso wie in den Handelshäfen vor dem Opiumkrieg verschwören sich chinesische Offizielle noch immer gerne mit

örtlichen Geschäftsleuten, um unerwünschte Konkurrenz aus dem ausland in Grenzen zu halten. aber die Gier nach dem großen chinesischen Markt ist für die ausländer nach wie vor anreiz genug, es weiterhin zu versuchen.

Die aussicht auf reichtum ist sicher der Hauptgrund dafür, dass demokratische regierungen ihre Versuche fast aufgegeben haben, die chinesische Führung zu einer Ver-besserung der Menschenrechte und einer Liberalisierung ihrer Politik zu zwingen. Der potenzielle Gewinn ist zu groß, um sich durch solche Bagatellen wie Zwangsarbeits-lager, den Mangel an redefreiheit, die Folter religiöser Menschen, die Unterdrückung von Minderheiten oder

dem aberglauben chinesischer Kleriker. aber die Idee einer großen Gesellschaft, geführt von Gelehrten, übte auf Intellektuelle zwangsläufig einen reiz aus. Und der tyrannische aspekt kaiserlicher Politik, alles andere als ein schwarzer Fleck, verstärkte Chinas geheimnisvollen Nimbus. Intellektuelle haben oft eine Schwäche für starke Männer, weil diese Ideen aufgreifen und sie auch wirklich in die Tat umsetzen können, frei von den faulen Kompromissen freiheitlicherer regime. Diktatoren sind „Machertypen“.

Das war einer der Gründe, warum Präsident Mao unter westlichen Intellektuellen wie Jean-Paul Sartre, raymond Williams und andré Malraux so große anerkennung fand. Mao, oft als Inbegriff des orientalischen Philosophen-Kö-nigs dargestellt, der klassische Gedichte in seiner eigenen Kalligrafie schrieb, konnte, ganz im Stile eines wahren Imperators, eine rückständige Gesellschaft transformieren. Und gesegnet mit der Weisheit und der Feinsinnigkeit seiner alten Zivilisation, konnte er sogar helfen, die Welt zu verändern. Diese art von Mao-Verehrung weckt re-miniszenzen an Voltaire: China als Vorbild der Vernunft, geführt von Männern mit Ideen, die ihr Bestes gaben, um religiösen aberglauben und andere Spinnweben der dunklen, feudalen Vergangenheit wegzufegen.

Wenige der Verehrer waren sonderlich interessiert am tatsächlichen Leben in China. Für sie, genauso wie für die Philosophen zweihundert Jahre vorher, war China eine abstraktion, mit der es gegen die herrschenden Zustände zu Hause zu protestieren galt. Tatsächlich brauchte man noch nicht einmal Maoist oder gar Linker zu sein, um vom Zauber der chinesischen Kraft vor Ehrfurcht ergriffen zu sein. Henry Kissinger war sehr beeindruckt von Mao und insbesondere von seinem loyalen Beschützer Zhou Enlai.

Sein Verhalten erinnerte stark an das eines kriecherischen Lakaien am kaiserlichen Hof. Und die ansicht, dass Chi-nas autoritarismus vielleicht etwas hart sein mag, aber immerhin die Dinge in Gang bringt und erledigt, ist in den westlichen Schreibereien zum Lobe Chinas noch immer weit verbreitet. Mancher rechte Bonze wird erzählen, dass die chinesische kapitalistische Umwälzung nur unter der strengen Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas stattfinden konnte. rupert Murdoch etwa ist dieser Über-zeugung, genauso wie einige Leute, die früher ergebene Maoisten waren. Womöglich mag diese ansicht sogar stimmen, aber was sagt uns das über das Wesen von Chinas

Wer würde nicht gerne Geschäfte machen in einem Land ohne Gewerkschaften?

Bücher von Ian Buruma:

Okzidentalismus.

Der Westen in den Augen seiner Feinde.

München, Hanser Verlag 2005.

Chinas Rebellen.

Die Dissidenten und der Aufbruch in eine

neue Gesellschaft. München,

Hanser Verlag 2004.Anglomania.

Europas englischer Traum. München,

Hanser Verlag 2002.

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China

die Nichtexistenz von unabhängigen Gewerkschaften ablenken zu lassen.

Westliche Politiker und einige Geschäftsleute be-haupten, dass die Wirtschaft sogar der sicherste Weg zu politischer Freiheit ist. Sie wiederholen das alte Mantra vom Kapitalismus, der die Mittelklasse ausbaut, und der Mittelklasse, die Demokratie fordert. aber der aufstieg Chinas könnte diesem Schema widersprechen. Die chi-nesische Mittelklasse expandiert tatsächlich, ganz so wie in Japan vor mehr als 100 Jahren. aber China wird nicht demokratischer. Es scheint, als ob die chinesische Kommu-nistische Partei einen Pakt mit der urbanen Bildungselite geschlossen hat, genau jenen Leuten, deren Kinder 1989 auf Pekings Tiananmen-Platz und in anderen Städten in ganz China demonstrierten. als Entschädigung für politischen Gehorsam, das aufgeben demokratischer rechte werden der Mittelklasse Stabilität, Ordnung und stetig wachsender Wohlstand versprochen. In mancherlei Hinsicht ist dies ein traditionelles ostasiatisches Tauschgeschäft, basierend auf einer bestimmten auslegung des Konfuzianismus. Die Singapurer haben es akzeptiert und bis zu einem gewissen Grad auch die Japaner. Es ist eine autoritäre kapitalistische alternative zur liberalen Demokratie, und ihr Erfolg sollte anlass zur Sorge sein, zumindest für jene inner- und außerhalb von China, denen die Demokratie am Herzen liegt.

Sollte China ökonomisch weiter wachsen, ohne sich politisch zu öffnen, wird das asiatische Modell ein Segen für all jene, die glauben, dass demokratische Politik redundant ist oder gar eine schädliche Bedrohung für die Stabilität. all jene, die glauben, dass Gesellschaften von autokraten und Technokraten geführt werden sollen, von Medienmogulen und diktatorischen Managern, die wissen, was das Beste ist, werden durch das chinesische Vorbild ermutigt werden. Wir können diese Tendenz bereits in Thailand sehen, das vom Medientycoon Thaksin Shinawatra beherrscht wird. Plumpe andeutungen davon haben wir in Berlusconis Italien gesehen. Sogar in amerika zeichnet sie sich ab; man denke nur an die art und Weise, in der Bush jeden Widerspruch gegen seine Verfahrensweisen als „just pla-ying politics“ abtut, so als ob es eine Form von Sabotage wäre und nicht ein Bestandteil von Demokratie.

Es wird zuweilen behauptet, dass Geschäftsleute eine der Säulen der Demokratie bilden. aber die Popularität von Pinochet in Wirtschaftskreisen und unter bestimmten Tory-Politikern zeigte, dass autokratie gleichermaßen sympathisch sein kann, wenn nicht gar noch mehr. Wer würde nicht gerne Geschäfte in einem Land ohne Ge-werkschaften machen? Für viele Geschäftsleute ist der aufstieg Chinas alles andere als eine Bedrohung, er ist eine Gelegenheit. aber wenn der Erfolg des chinesischen

Modells bei Demokraten Besorgnis erregt, so mag sein Scheitern sich als eine nicht geringere Gefahr erweisen. Das Beunruhigendste am autokratischen Kapitalismus könnte sogar nicht seine behauptete Stabilität sein, sondern seine inhärente Instabilität.

Jahrhunderte von ängstlicher, faszinierender oder nei-discher Mythologie haben uns zu der annahme gebracht, dass China einzigartig ist. aber das ist es nicht. Deutsch-land unter Kaiser Wilhelm II., dem Vater der „gelben Gefahr“, hatte ein ähnliches abkommen mit seiner sich ausbreitenden Mittelklasse geschlossen: Ordnung und industrielles Wachstum im austausch gegen einen rückzug aus der Politik. Das Problem mit einem solchen System ist, dass ein plötzlicher rückgang des ökonomischen Wohl-stands eine starke Unordnung verursacht und es keine unabhängigen politischen Institutionen gibt, um diesen Schock aufzufangen. Dies kann schnell zu revolution und Kriegen führen und hat es bereits getan.

Chinas aufstieg mag durchaus noch viele Jahre an-halten, und der rückgang des Wohlstandes mag nicht in naher Zukunft anstehen. Doch wenn er kommt, wäre es für China und den rest der Welt sicherer, wenn die Chi-nesen die Freiheit hätten, kritische Meinungen zu äußern, Schurken abzuwählen und Wege zum Umgang mit der Krise zu finden, die auf einer mehrheitlichen Zustimmung der Bevölkerung basieren. Das bedeutet, dass der Handel mit China weitergehen soll, jedoch nicht um den Preis po-litischer Duldung, dem Verschweigen der Menschenrechte und bürgerlicher Freiheiten. Die chinesische Mittelklasse mag im Moment keine andere Wahl haben. Westliche regierungen haben sie.

Aus dem Englischen von Anja Wedell

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Peking, Hauptstadt der SchwalbenPorträt einer sich wandelnden Stadt

Von Tilman Spengler

Ist doch klar, dass hier alle Taxis mit GPS ausgerüstet sind”, sagt mein Freund, der lange in Peking gearbeitet hat und jetzt nach einer Unterbrechung von fünf Monaten zurückkehrt. „Kein Gebäude steht mehr da, wo es noch vor einem halben Jahr gestanden hat. Nicht mal die Nudelbude mit Mao auf dem Zeltdach. an was soll sich da ein Fahrer orientieren?“

Wir bewegen uns durch einen Stadtteil, der früher „das Dorf auf dem Weg zum Flughafen“ gerufen wurde, dann das „Quartier der Botschaften“, seit wenigen Jahren „das Kneipenviertel von Sanlitun“. Es gibt ausländer, die diesen Teil der Stadt für die chinesische Hauptstadt halten, weil sie ihn nie verlassen haben.

Mein Freund hustet. an die mit dem lokalen Wirt-schaftswachstum steigenden Bestandteile von Säure und Schwermetalle in der Luft muss sich der Besucher erst wieder gewöhnen. „Bestimmt haben sie auch schon den Bierkrug abgerissen oder das Paulaner-restaurant“, ruft der Freund, „als nächstes ist dann die Verbotene Stadt dran.“

Mehr als 500 Jahre herrschte hoheitsvolle ruhe in Peking. Es war die glückliche Zeit, in der sich die Bewohner den ruf als Langweiler verdienten. Scharfe Zunge, gewiss, doch ganz selten ein aufmucken. Der dritte Kaiser der Ming hatte anfang des 15. Jahrhunderts die Verbotene Stadt mit ihren Palästen in auftrag gegeben. als 1644 die Dynastie zusammenbrach, blieb wenigstens die architektur erhal-ten. Gut, es entstanden neue Hallen, Bögen und Pavillons innerhalb, neue Stadtviertel und Befestigungen außerhalb der Palastmauern. Jeder Herrscher legt Wert darauf, dass sich sein Volk an ihn als strengen und väterlichen Bau-meister erinnert, dass Bäume gefällt, Steine geschnitten, Mauern bemalt werden. all das war in Peking genauso der Fall wie bei uns unter den Hohenstaufern oder den weitaus weniger geschmackssicheren Hohenzollern. Es fehlte in Peking auch nicht an grässlichen Feuersbrünsten, die das Bild der Stadt in bestimmten Distrikten für Jahre entstellten. Doch eine Schwalbe aus der Ming-Zeit, be-hauptet der schrullige Historiker Shi Diman, hätte keine Schwierigkeiten gehabt, ihr Nest auch an der Schwelle des 20. Jahrhunderts zu finden.

auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert findet der Besu-

cher allerdings kaum noch Schwalben in Peking. Dabei lautet einer der klassischen Namen für die chinesische Metropole „Yenqing“ – Hauptstadt der Schwalben. Die architekten des künftigen Olympiastadions haben sich für ihren Bau ein Schwalbennest zum Vorbild genommen. Diese architekten kommen allerdings aus der Schweiz, dort, wo es den Vogel noch in ausreichender Zahl gibt und manchmal auch ein Gefühl für den Wert von Baukunst.

Mit den anlagen für die Olympischen Spiele wird, so hoffen manche Freunde der Stadt, auch wieder ein Gespür für ästhetische Konfigurationen nach Peking zurück-kehren. Bislang war dieses Gespür so wenig form- und farbenfroh wie das Gewand der Bewohner der Stadt in den Zeiten des Sozialismus.

„In der Frage der Bekleidung gibt es vier Typen, dick und dünn, lang und kurz. Und es gibt zwei Farben, Blau und Schwarz. Dazu noch Grün, wenn es um das Militär geht. Mehr Farben sieht der Plan nicht vor. Mehr Größen auch nicht. Sehen wir einmal von der Unterwäsche ab. Entsprechendes gilt für das Bauwesen.“ Das erklärte mir ein chinesischer Freund, der architektur studierte und den wir damals „Frühlingsrolle“ nannten, weil sein chi-nesischer Name fast so klang.

„Damals“ war zu Beginn der achtziger Jahre, als die Stadt noch durch den Mehltau von armut und Planungs-vorschriften in vielen Teilen so aussah, wie sie es seit mehr als hundert Jahren getan hatte, wenn auch unter verschie-denen Bestimmungen. „Hügel der acht Glückseligkeiten“, pflegte Frühlingsrolle zu sagen, „früher: Ort der Wallfahrt, dann Golfplatz, heute Zentralfriedhof.“ Oder: „Brücke von Marco Polo. Früher: Bester Platz für Exekutionen, dann kleiner Sitz der Jesuiten-Missionare, später anfang der Schießerei zwischen Chinesen und Japanern, heute praktisch ohne Nutzen.“

Jenes Peking, das sich heute dem Betrachter in breiten Straßen mit unauflösbarem Staus präsentiert, kann Ernst und ans Herz genommen werden nur als Vorlage für all die Geschichten, die sich hier einmal zutrugen. Man darf es nicht messen an den Kubikmilliarden versenkten und hochgeschossenen Betons. Messen kann man es allenfalls an Gestalten wie unserem Freund Frühlingsrolle, an Erzäh-lungen, die jedem Ort, jeder Kreuzung, jedem autobahn-ring wieder ihre Würde geben. Berichte, die festhalten, was an dieser Stelle entscheidend der Fall war.

also:Die apotheke an der ausfallstraße zu den Westbergen,

in welcher „in der späten Dämmerung eines Sommer-abends“ der Kunde den Lehrling zu Tode erschreckte, weil

Tilman Spengler, gebo-ren 1947, ist Sinologe und Herausgeber des „Kursbuch“. Seine letzten beiden Bände über China sind „Der Maler von Peking“ (Berliner Taschen-buch Verlag 2006) und „Das Glück wartet draußen vor der Stadt“ (BerlinerTaschenbuch Verlag 2002).

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er bei seiner Bitte um ein blutstillendes Mittel den Kopf unter dem arm trug.

Der buddhistische Mönch, der Nacht für Nacht die er-würgten Liebhaber der Kaiserinwitwe aus dem Graben um den Kaiserpalast zog. Kräftige Kerle in festen Säcken.

Die Fuchsgeister um den Trommelturm, die sich in der Gestalt schöner jungen Frauen mit Vorliebe auf junge akademiker stürzten, um ihnen den Verstand zu rauben.

„In der Nähe lag auch lange die Hochschule für Partei-kader“, berichtete Frühlingsrolle, „manche behaupten da einen Zusammenhang.“

Die chinesische Sprache tut sich mit grammatischen Formen, welche die Zukunft bezeichnen, einigermaßen schwer. Die Tochter von Frühlingsrolle ist Sportstudentin und verdient sich am Wochenende in der Fußgängerzone neben dem Kaiserpalast Geld als rikscha-Fahrerin. Dazu trägt sie gefälschte Sandalen von Gucci und erfindet für fremde Besucher Orte, die es einmal geben wird, sobald die jetzigen Orte verschwunden sind. Mit Vorliebe erfindet sie Parkan-lagen, für die Häuserzeilen, die jetzt die Straße des Ewigen Friedens säumen. „Wenn hier alles wieder flach liegt ...“, beginnt die Tochter von Frühlingsrolle, und ihre Wangen werden bei der Vorstellung zu leuchtenden Äpfeln.

Fast nur in den Parks noch, etwa um den Himmels-, den Sonnen- oder den Mondaltar findet der Besucher aus dem fernen ausland etwas von jenem anderen, das er am Ende einer vielstündigen reise in den Osten erwar-tet. Der Besucher muss allerdings früh aufstehen. Denn schon kurz vor Sonnenaufgang regt sich zwischen dem Laubwerk und auf kleinen Lichtungen das wundersamste Leben. rentnerinnen in kühn gefärbten Trainingsanzügen formieren sich zu Schwerttanzgruppen, die Halter von Singvö-geln führen ihre Tiere auf einen Spaziergang und zum Treffen mit anderen Singvögeln, Freunde des Gesellschaftstanzes üben eine anmutige neue Figur im Foxtrott, hier spielt ein Student Trompete, dort deklamiert eine Schauspielerin Verse von racine, auf dem Spazierwerk vollführt eine riege aus dem Blindenheim geschmeidige Bewegungen, die Energien freisetzen und auf Chinesisch „Wildenten schöpfen Kraft“ heißen. Schwerter blitzen, blutrote Troddeln tanzen, hier und dort steigt ein wilder Drache, ein Leierkastenmann probt einen neuen Text. So recht privat sein kann man in Peking nur im Park. Es liegt ein Zauber über der Szene, und wie jeder gute Zauber verschwindet er, je stärker sich das Licht des Tages durchsetzt.

Noch vor zwanzig Jahren lebten die wildesten Künstler der Stadt in einer Enklave um den alten Sommerpalast,

den Yüanmingyüan im Nordwesten der Stadt. Die herr-schaftliche anlage wurde um die Mitte des 18. Jahrhun-derts entworfen, chinesische Baumeister zählten zu den architekten, doch genauso französische und italienische Jesuiten-Missionare, die dem Kaiser eine Vorstellung von Versailles und dessen Gärten vermitteln wollten. In jener Zeit gab es zwischen Orient und Okzident nur geringfügige Unterschiede im guten Geschmack.

Seit 1860 stehen hier nur noch ruinen. Englische und französische Kolonialtruppen haben damals mit sicherem Gespür alles niedergerissen und abgebrannt, was an eine mögliche Harmonie von westlicher und östlicher Ästhetik hätte erinnern können.

Nachdem die ausländischen Soldaten ihr Werk verrich-tet hatten, bedienten sich auch die Bauern der Umgebung der zerbrochenen Steine. So entstanden Katen, deren Feuer-stelle aus Marmor war, fanden Ziegel einen neuen Platz, die zuvor auf rosenhecken geblickt hatten.

Unter den wenigen Einheimischen hatte die Gegend wegen der vielen Opfer keinen guten ruf, den Künstlern war das egal. auch ihr Kosmos war wieder von Planeten bestimmt, die von überallher kamen, aus dem eigenen reich und aus fremden regionen, Musik aus den USa, Bilder aus Deutschland, Mode aus Japan.

Mein Freund Frühlingsrolle, der ein paar Jahr dort ver-brachte, hat sich für sein neues Haus ein paar von den alten Steinen mitgenommen. Dieses neue Haus liegt in einem Dorf nordöstlich der Hauptstadt, eine art Worpswede mit scharfen Hunden und vorbildlicher elektronischer ausrü-stung. „Peking haben wir im Blick“, sagt Frühlingsrolle und streicht seinem Hund über die Schnauze, jedenfalls

metaphorisch, „es handelt sich nicht um einen Fall von direkter Nähe, so dass man die Stadt auch nicht riechen kann, so bleibt der respekt erhalten. Und die übrige Welt liegt in unseren Schüsseln.“

Dieses Jahr ist das Jahr des Hundes.

Die chinesische Sprache tut sich mit grammatischen Formen, welche die

Zukunft bezeichnen, schwer

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China

Generation EinzelkindDie Ein-Kind-Politik führt zu einer überalterten Gesellschaft mit zu vielen Männern

Von Sun Changmin

Prof. Dr. Sun Chang-min arbeitet für die „Shanghai Regional Commission of Po-pulation and Family Planning“.

Seit den 1950er Jahren wächst die chinesische Bevölkerung stark an. Lebten 1959 noch 550 Millionen Chinesen in China, waren es 1970 bereits 930 Millionen. Da sich dieses rasche Wachstum zu einer Belastung für die ge-samte Volkswirtschaft entwickelte, begann man ab den 1970er Jahren mit der Einführung von Maßnahmen zur Geburtenplanung. Trotz der Erfolge der Geburtenpolitik wird Chinas Bevölkerung aufgrund der enormen aus-gangszahl von heute 1,37 Milliarden Menschen jedoch auch mittelfristig weiter anwachsen. Die ersten Maßnahmen zur Geburtenkontrolle wurden zunächst in den großen Städten wie Peking und Shanghai eingeführt. Dann dehnte man sie auf einige ländliche Gebiete aus, und schrittweise wurden sie dann auch auf andere Städte und Gebiete ausgeweitet. Ein Beispiel für die konsequente Umsetzung der Geburten-planung ist Shanghai. Seit 1975 liegt die Geburtenrate unter 1,95 Kinder pro Frau und heute sogar nur noch bei 0,64. Die Kernpunkte der Geburtenplanungspolitik sind die Förderung späten Gebärens, die anhebung des Min-destalters bei der Heirat, die Begrenzung der Kinderzahl, Familienplanung, Verhütungsmaßnahmen für Paare und Bestimmungen zur Belohnung bei regelkonformem oder Sanktionen bei nichtkonformem Verhalten.Dabei werden jedoch nicht die unterschiedlichen Le-benssituationen der Menschen außer acht gelassen. Für Großstädter gilt die regel: ein Kind pro Paar. Wenn eine Familie in kleineren Städten und auf dem Land erstes Kind eine Tochter bekommen hat, so darf sie ein zweites Kind bekommen. Denn männliche Nachkommen müssen im bäuerlichen Umfeld noch immer die altersversorgung der Eltern übernehmen. Die ethnischen Minderheiten in den wirtschaftlich unterentwickelten westlichen Landesteilen dürfen drei Kinder haben. Für regionen wie Xinjiang im Nordwesten oder auch Tibet sowie einige Minderheiten mit geringer Bevölkerungszahl gibt es gar keine Beschrän-kung der Kinderanzahl. Ein unmittelbarer Negativeffekt der Senkung der Geburtenrate ist jedoch die zunehmende Überalterung der chinesischen Gesellschaft.Die Städte wird es dabei besonders hart treffen, weil anders als auf dem Land aufgrund der Ein-Kind-Politik nur ein Kind für die Versorgung seiner Eltern aufkommen muss und das Versorgungssystem der Großfamilien hier kaum

mehr existiert. Dieser Effekt der Ein-Kind-Politik wird durch einen generellen Wertewandel im städtischen Milieu verstärkt, denn immer mehr Paare wollen überhaupt keine Kinder. So zeigen die in vier Großstädten 2005 erhobenen Daten, dass 6,1 Prozent der Befragten zwischen 18 und 35 Jahren entweder erst gar nicht heiraten oder auch nach der Heirat kinderlos leben wollen. acht Jahre zuvor hatten sich nur 3,9 Prozent in dieser Form geäußert.außerdem birgt die Ein-Kind-Politik hohe risiken. Stirbt das einzige Kind einer Familie oder kann es aus anderen Gründen nicht für die Versorgung seiner Eltern im alter aufkommen, bleiben diese ohne Unterstützung. Beim Tod oder schwerer Krankheit des einzigen Kindes kommt der seelische Schmerz der Eltern noch hinzu.Die Frage der altersversorgung wird also immer zentraler für die chinesische Gesellschaft. Das Modell, das zur Zeit im ganzen Lande eingeführt wird, ist eine Kombination aus familiärer Versorgung und einem ergänzenden öf-fentlichen Versorgungsangebot. außerdem bemüht sich die chinesische regierung um den aufbau eines sozialen Sicherungssystems, das die Lasten der altersversorgung gerecht auf die Gesamtgesellschaft verteilt.Ein weiteres problematisches Phänomen der Ein-Kind-Politik ist, dass seit den achtziger Jahren zunehmend weniger Mädchen geboren werden. Kamen 1982 noch circa 107 männliche auf 100 weibliche Säuglinge, waren es im Jahr 2000 bereits rund 117 Jungen auf 100 Mädchen. Der Hauptgrund dafür ist, dass männliche Nachkommen in der chinesischen Kultur bevorzugt werden. Denn Söhne stellen in der traditionellen Sicht die altersversorgung ihrer Eltern dar und führen den Familiennamen fort. Heute, da es technisch möglich ist, das Geschlecht eines Kindes bereits früh festzustellen oder bei einer künstlichen Zeugung gar festzulegen, entscheiden sich viele Eltern gegen die Geburt einer Tochter.aufgrund der strikten Durchsetzung der Ein-Kind-Politik in den Städten wächst der anteil der Landbevölkerung, mit mehreren Kindern sehr viel stärker als der der Städter. Was den Bildungsgrad als auch die Gesundheitsversorgung angeht, ist die städtische Bevölkerung jedoch im Vorteil. Daraus ergeben sich Nachteile für die Bauern, denn die knappen ressourcen müssen prozentual unter mehr Kin-dern aufgeteilt werden. Eine Priorität der chinesischen Politik muss deswegen die anhebung des Bildungsniveaus der bäuerlichen Bevölkerung und deren verbesserter Zugang zur Gesundheitsversorgung sein. Nur so können negative Effekte für die chinesische Gesellschaft einge-dämmt werden.

Aus dem Chinesischen von Suming Soun

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China

China befindet sich auf allen Ebenen in einem rapiden Transformationsprozess. Die wirtschaftliche Öffnung des Landes, der Wandel von Denk- und Handlungsmu-stern und der soziale Fortschritt stellen China vor große Herausforderungen.

In den letzten Jahrzehnten hat sich das Land weg von der Planwirtschaft und hin zu marktwirtschaftlichen Strukturen entwickelt. Das Wirtschaftswachstum be-trägt nunmehr im jährlichen Durchschnitt 9,4 Prozent. Dabei sind sich aber sowohl die chinesische Bevölkerung als auch die regierung bewusst, dass in den kommenden Jahren der Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme Priorität zukommen muss, möchte man das Projekt „des aufbaus einer harmonischen Gesellschaft mit chinesischer Prägung“ verwirklichen. Damit wird der bisherige Leit-gedanke der Wirtschafts- und Sozialreformen „Priorität für Wirtschaftsleistung mit rücksicht auf die soziale Gerechtigkeit“ abgelöst. Im März 2004 wurde daher ein Zusatz in die chinesische Verfassung aufgenommen, der die Errichtung und Vervollständigung eines dem wirtschaftlichen Stande Chinas angemessenen sozialen Sicherungssystems betrifft.

Vor 1978 basierten die sozialen Sicherungssysteme Chi-nas auf den Prinzipien der Verstaatlichung der Produkti-onsmittel und der damit einhergehenden Vollbeschäftigung der Bevölkerung. Das soziale Sicherungssystem war damit in die planwirtschaftlichen Strukturen der chinesischen Volkswirtschaft eingebettet. Der Staat war als Eigentümer aller Betriebe Garant für den Fortbestand derselben sowie verantwortlich für alle öffentlichen Einrichtungen und damit letztendlich verantwortlich für die absicherung der Bevölkerung. Doch es waren die staatseigenen Betriebe und Kollektive, die die komplette Palette an sozialen Leistungen zur Verfügung stellen mussten. So ging die Finanzierung aller Sozialleistungen, angefangen bei der Subventionie-rung des Kantinenessens bis hin zur rente im alter, über das Umlageverfahren vonstatten.

Diese art der sozialen Sicherung hatte jedoch zwei deutliche Nachteile. So waren zum einen die Bauern und Nichterwerbstätige von diesen Leistungen ausgeschlossen. Zum anderen wurden die Leistungen aber auch überstra-paziert, denn da der Einzelne für Sozialleistungen nicht

aufzukommen hatte, ging er oft verantwortungslos mit ihnen um.

als dann die Transformationsphase von der Planwirt-schaft zur Marktwirtschaft eingeleitet wurde, geriet das eben geschilderte Modell der sozialen Sicherung völlig aus dem Lot. Im Zuge des Bankrotts einer großen Zahl von Staatsunternehmen standen auf einmal deren Mitarbeiter und ehemaligen Mitarbeiter vor dem Nichts. Und auch die angestellten der nun mit ausländischer Beteiligung operierenden Unternehmen konnten nicht mehr auf das traditionelle Versorgungsmodell bauen. Ebenso war der Mobilität der arbeitnehmer im traditionellen Sicherungs-system enge Grenzen gesetzt.

In diesem Kontext wurden in den letzten Jahren große anstrengungen unternommen, um ein neues Sozialsiche-rungssystem auf den Weg zu bringen. Die wichtigsten Kernpunkte hierbei sind die gemeinsame Beteiligung von arbeitgebern und arbeitnehmern bei der Beitragser-bringung und die zusätzliche absicherung des einzelnen Versicherten in Form individueller Sparleistungen.

So werden die sozialen Sicherungssysteme in China heute durch eine Kombination aus Umlageverfahren und Kapitaldeckung gewährleistet, und es sind sowohl arbeitnehmer als auch arbeitgeber und der Staat in die Finanzierung eingebunden. Nehmen wir beispielsweise die rentenversicherung: Hierfür zahlen die arbeitgeber 20 Prozent der gesamten Lohnsumme des Unternehmens in einen gemeinschaftlichen Umlagefonds ein. Der arbeit-nehmer wiederum führt acht Prozent seines Lohnes auf ein privates, kapitalgedecktes „rentenkonto“ ab.

Das Mischsystem aus Kapitaldeckung und Umlagever-fahren ist in der Praxis heute jedoch eher zum heimlichen Umlagemodell verkommen. So hatte man zu Beginn den Finanzbedarf für diese neue Form der sozialen Sicherung falsch eingeschätzt, was dann zu einer Unterfinanzierung des gemeinschaftlichen Sozialfonds führte. Um die so entstandenen Löcher im Sozialfonds zu stopfen, hat man kurzerhand Gelder der kapitalgedeckten „rentenkonten“ in den Umlagefonds umgeleitet.

außerdem kam es in den letzten Jahren zu einer Ko-stenexplosion im Gesundheitssektor, was ebenfalls zu einer für das ganze Finanzierungssystem bedrohlichen Situation führte. auch ist es bis heute nicht gelungen, die gesamte arbeitende Bevölkerung in die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme einzubinden. So tragen lediglich ange-stellte von staatseigenen Betrieben und Beamte zur Finan-zierung bei. Der Großteil der ländlichen Bevölkerung und auch angestellte von nichtstaatlichen Unternehmen zahlen bisher nicht in das soziale Sicherungssystem ein.

Theoretisch sicherWie die modernisierten sozialen Sicherungssysteme funktionieren sollten

Von Ding Chun

Prof. Dr. Ding Chun ist der stellvertretende Direktor am For-schungszentrum für Europastudien an der Fudan Universität in Shanghai.

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China

Die chinesische Gesellschaft sieht sich zudem einer zu-nehmenden Überalterung der Bevölkerung gegenüber. Die Zahl der rentner steigt jährlich um drei Millionen. Im Jahr 2030 wird es in China 150 Millionen rentner geben. Das Verhältnis von einzahlenden Versicherten und rentnern wird drei zu eins erreichen im Vergleich zum Verhältnis zehn zu eins im Jahr 1990. Die Belastung für die renten- und Krankenkassen wird wegen der Zunahme der alten und rentner rasch steigen.

Dazu kommt die abwanderung der Landbevölkerung in die Städte: Die Urbanisierungsquote steigt in China jährlich um ein Prozent. Das bedeutet eine zunehmend unsichere altersversicherung der Landbevölkerung,

da die Kinder der Bauern in die Städte abwandern. Der wachsende demografische Druck auf den arbeitsmarkt belastet die sozialen Sicherungssysteme zusätzlich. Jährlich drängen etwa zehn Millionen arbeitssuchende auf den arbeitsmarkt, und hierzu kommen noch 150 Millionen Wanderarbeiter ohne feste arbeitsverhältnisse. So ist davon auszugehen, dass die arbeitslosenquote in China in den kommenden Jahren steigen wird und immer mehr Menschen auf Sozialleistungen angewiesen sein werden. Die Frage, wie die angemessene Finanzierung der Sozial-systeme in Zukunft geregelt werden kann, stellt sich damit in aller Dringlichkeit. Eine antwort auf diese Frage scheint heute jedoch noch nicht möglich.

In kommunistischen Regierungssystemen sind Partei und Staat gewöhnlich kaum zu unterscheiden: die Kommunistische Partei Chinas stellt nicht nur beinahe ausnahmslos das Personal für die Führungspositionen in Regierungs- und Verwaltungsorganen. Die Regierungsorgane sind darüber hinaus in ihren Entscheidungskompetenzen den Parteikomitees grundsätzlich untergeordnet.

Quelle: Sebastian Heilmann: Das politische System der Volksrepublik China. 2. Aktualisierte Auflage VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004, S. 90.

Das politisch-administrative System der VR China

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China

um eine Kulturform bemüht, der es möglich ist, sich kon-tinuierlich zu entwickeln, ist dies eine Umweltkultur. Die Umweltkultur ist eine neue Kulturbewegung der Mensch-heit, eine tiefe reform auf dem Gebiet des menschlichen Denkens. Sie bedeutet das Überdenken der traditionellen Industriegesellschaft und deren Überwindung und meint den respekt gegenüber den Naturgesetzen und die rück-kehr dahin von einer höheren Stufe aus. Seit mehreren Jahrzehnten ist die Idee einer Umweltkultur in Bereiche der Wirtschaft, Technologie, des rechts, der Ethik und der Politik eingedrungen. Hieran lässt sich erkennen, dass sich die Menschheit Schritt für Schritt in eine Ökoindustrie verwandelt und die Produktionsweisen der Menschheit und ihre Lebensweisen nach den Naturgesetzen refor-mieren wird.

Vor mehr als dreihundert Jahren verwandelte sich die traditionelle agrargesellschaft im Westen in eine traditio-nelle Industriezivilisation. Unter dieser Prämisse wurden Weltwirtschaft und Politik eingerichtet. Die rasche Ent-wicklung von Technologie und Wirtschaft brachte eine extreme anhebung des Lebensstandards der Menschheit mit sich. Doch die Nachwirkungen werden auch immer sichtbarer. Die Weltressourcen werden mit erschreckender Geschwindigkeit verbraucht. Die Natur kann die abfälle nicht verdauen. Die Umweltkrise verschlimmert sich Tag für Tag, und die Entwicklung des menschlichen Lebens ist bedroht. Man fängt an, sich über die Nachteile der Industriegesellschaft Gedanken zu machen, um sich aus der Krise zu befreien. Das Schwarz soll durch Grün ersetzt werden. Man kann sagen, die Ökokrise erzeugt eine Umweltkultur, der Kern der Umweltkultur ist eine Ökozivilisation.

Der großartigen renaissance des chinesischen Volkes gilt seit hundert Jahren der Traum und das unermüdliche Streben von Chinesen in aller Welt. Eine wichtige Grundlage für diese renaissance Chinas ist die renaissance seiner Kultur. Das aufkommen einer weltweiten Umweltkultur birgt eine gewaltige Chance hierfür. Um eine sozialistische Umweltkultur von chinesischer Färbung zu entwickeln, muss man aus der traditionellen chinesischen Kultur die Idee eines weltweiten Umweltschutzes erneuern.

Die Entwicklung des chinesischen Volkes ist nicht zu trennen von einem ständigen Wirtschaftswachstum, einer langfristigen Stabilität in der Politik, einer Schritt für Schritt sich vervollkommnenden regierung durch recht und Moral, von einer geregelten Entwicklung einer sozialistischen demokratischen Politik, einer energischen Verbreitung des Geistes des chinesischen Volkes. all dies hat unmittelbar mit der Umweltkultur zu tun. Wenn man

Aufgrund der großen Veränderung von Herstellungstech-niken und Gesellschaftsorganisation haben sich die Beziehungen zwischen Mensch und Natur, zwischen den Menschen und den jeweiligen kulturellen Wertesystemen radikal verändert. Wenn wir die Geschichte betrachten, wurde jede Transformation in der menschlichen Zivili-sation von Konflikten zwischen der Bevölkerungszahl und den Umweltressourcen herbeigeführt – sei es die Transformation von Fischer- und Jagdgesellschaften zu einer agrargesellschaft oder von der agrargesellschaft zur Industriegesellschaft.

Die Entwicklungsmöglichkeiten der klassischen Indus-triegesellschaft sind größer als die der agrargesellschaft, aber es fehlt ihr an Beständigkeit. Im augenblick etwa macht der rest der Ölvorräte der Erde nur noch etwas mehr als 140 Milliarden Tonnen aus. auf die gegenwärtige Produktion umgelegt, reicht das nur noch 40 Jahre. Die Erdgasreserven machen 15 Milliarden Kubikmeter aus, das ergibt im besten Fall 60 Jahre garantierter Versorgung. Gleichzeitig wird das Ökosystem weiter zerstört. Die Wäl-der schrumpfen, arten sterben aus, die Wüsten wachsen, Naturkatastrophen häufen sich. Der gesamten Menschheit steht eine umfassende Krise bevor.

Diese Krise ruft eine neue Transformation der Zivilisation hervor: Wir werden auf das tausendjährige traditionelle Entwicklungsmodell verzichten müssen, das gewohnt war, Wirtschaftswachstum gegen Naturzerstörung einzutau-schen. Wir werden gezwungen, die Beziehungen zwischen Mensch und Natur und auch den Menschen untereinander neu zu justieren. Und wir sollten auf dieser Grundlage einen revolutionären Durchbruch in neuen Techniken anstreben und die ressourcen dieser Welt neu verteilen.

Sollte dies nicht geschehen, werden sich die Konflikte zwischen Mensch und Natur und unter den Menschen selbst rasch verschärfen. Wenn es der Menschheit jedoch gelingt, die Schwelle zu einer transformierten Zivilisation zu überschreiten, wird die wichtigste aufgabe sein, mög-lichst rasch, nach den Prinzipien einer Ökozivilisation, eine allgemein akzeptierte Umweltkultur aufzubauen.

Wo immer man sich um ausgeglichene Beziehungen zwischen dem Menschen und der Natur und auch den Menschen untereinander bemüht, wo immer man sich

Harmonien in GrünBisher tauschten wir Wirtschaftswachstum gegen Naturzerstörung. Das muss sich ändern

Von Pan Yue

Pan Yue ist seit März 2003 stellvertretender Leiter der zentralen staatlichen Umwelt-schutzbehörde. Er ist Mitglied in der Füh-rungsgruppe der Par-tei, hat in Geschichte promoviert und wurde 1960 in Nanjing in der Provinz Jiangsu geboren.

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China

eine chinesische Umweltkultur entwickeln will, muss man diese fünf Punkte angemessen behandeln. am Ende wird man Harmonie in der Gesellschaft verwirklichen.

Harmonie zwischen Mensch und Natur ist der Kern-begriff des Bewertungssystems einer zukünftigen Gesell-schaft. Sie wird den anthropozentrismus überwinden und die Menschheit veranlassen, die Geschichte erneut zu bewerten und ihr Glück zu definieren. Harmonie zwischen Mensch und Natur fördert selbstverständlich die Harmonie unter den Menschen. Harmonie in der Gesellschaft ist ein humanitärer Sozialismus, einschließlich des Gebotes, die Natur zu respektieren. Harmonie in der Gesellschaft ist eine gründliche Korrektur an der Wettbewerbstheorie des Kapitalismus, sie liegt auf einer Linie mit dem Streben nach dem Wert eines marxistischen aufbaus der kommu-nistischen Gesellschaft. Harmonie wird notwendigerweise zu Gerechtigkeit führen. Wenn eine Gesellschaft fair ist, heißt es, dass alle Menschen gleiche Chancen und rechte genießen, so dass schließlich eine gerechte aufteilung der ressourcen verwirklicht werden kann. aus politischer Perspektive gilt es, die grundlegenden Menschenrechte des Volkes zu schützen, die Pluralität in der Gesellschaft zu garantieren und ihre Spaltung zu verhindern. aus soziologischer Perspektive gilt es, die Bezie-hungen zwischen den verschiedenen Interessen-gruppen der Gesellschaft auszugleichen und die Schere zwischen arm und reich zu verkleinern. aus der Perspektive der Wirtschaftswissenschaft gilt es, eine Balance zwischen dem Wirtschafts-wachstum, der Gleichberechtigung und der Effizienz zu finden.

Gerechtigkeit ist auch schon immer das Kernziel einer internationalen Gemeinschaft. 1992 wurde „die Tagesord-nung für das 21. Jahrhundert“ auf der Weltkonferenz für Umweltentwicklung verabschiedet. 2002 wurde auf einer Weltkonferenz der Staatsoberhäupter noch weitergehend die Suche nach einer Lösung für das Problem der Gerech-tigkeit in der Welt zum wichtigen Ziel einer nachhaltigen Entwicklung gemacht. Die Möglichkeit hierzu kommt aus dem Schutz der Umwelt, und der Umweltschutz treibt die gesellschaftliche Gerechtigkeit in einem noch größeren Umfang voran.

Die reform und die Öffnung Chinas waren eine gi-gantische Leistung. China behält das Tempo der weltweit schnellsten Wirtschaftsentwicklung bei. China ist zur Fabrik der Welt geworden. aber China setzt gleichzeitig auch das grobe Modell des Wirtschaftswachstums fort. Der Gesamtwert der inländischen Produktion liegt nur bei vier Prozent der Welt, aber der Verbrauch an Metallen, Kohle und Beton liegt jeweils bei 30, 31 und 40 Prozent des weltweiten Verbrauchs. Während das durchschnittliche Bruttosozialprodukt pro Kopf bei 400 bis 1.000 US-Dollar

liegt, zeigt China eine genauso starke Umweltverschmut-zung, wie sie die entwickelten Länder zu dem Zeitpunkt zeigten, da sie ein Bruttosozialprodukt von 3.000 bis 10.000 US-Dollar erwirtschafteten.

Die Zerstörung des Ökosystems, die Verstädterung, der Druck für Berufsabgänger, der Mangel an ressourcen, die Kluft zwischen arm und reich könnten sich zu einem ernsten gesellschaftlichen Problem für China steigern. Marx zufolge gilt: „Hinter den Beziehungen zwischen Gegenständen stehen immer Beziehungen zwischen Men-schen.“ Dem vorzeitigen reichtum einiger regionen wird die Umwelt von anderen regionen zum Opfer gebracht. Ungerechtigkeiten in Sachen Umwelt haben gesellschaft-liche Ungerechtigkeiten verstärkt.

Der Kern der Gerechtigkeit einer Gesellschaft ist die ausgewogene Verteilung der rechte und Pflichten. Unge-rechtigkeit auf dem Land, zwischen regionen, zwischen Schichten bis hin zur Ungerechtigkeit auf Weltmaßstab – all dies sind Erscheinungen der unausgewogenen Vertei-lung von rechten und Pflichten. Wird der Verantwortung ausgewichen und entledigt man sich ihrer, erschwert dies eine Harmonisierung der Gesellschaft in China

und den Frieden in der Welt. China ist das größte Ent-wicklungsland der Welt, doch die Entwicklungsländer haben sich noch nicht aus dem rahmen der traditionellen Industriegesellschaften befreit. Sie stützen ihren System-vorteil auf „die Strategie des Überholens“, auf ein rasches Wirtschaftswachstum und haben die Frage nach den „Möglichkeiten einer nachhaltigen Entwicklung“ und die Ökoumwelt ignoriert. China bildet keine ausnahme. Mit einer reihe von schlimmen Umweltkatastrophen sind die Umweltprobleme allmählich in den Fokus der allgemeinen aufmerksamkeit gerückt. Die Umweltprobleme in China haben eine besondere Bedeutung für die Zukunft der ganzen Welt. Darum muss man realistisch sein und die unvermeidliche Wahl treffen, das Problem der Ungerech-tigkeit in der chinesischen Gesellschaft von der Seite der Umweltgerechtigkeit her zu lösen.

Aus dem Chinesischen von Suming Soun

Der Umweltschutz treibt die gesellschaftliche

Gerechtigkeit voran

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32� Kulturaustausch�11/06

China

Krieg�den�hüttenDie�landflucht�nimmt�ständig�zu:�studenten�aus�tianjin�und�Berlin�planen�deshalb�ein�Dorf,�in�dem�die�Bewohner�bleiben�wollen

Von�Qu�Jing�und�Marcus�hackel

Qu Jing, geboren 1981 in Harbin/VR China,studierte Architektur an der Universität Tianjin. Dort und an der TU Berlin pro-moviert er seit 2005 über „Development of Affordable and Sustainable Low Cost and Low Scale Housing Prototypes“.

Marcus Hackel, gebo-ren 1963 in Berlin, ist Architekt und wissen-schaftlicher Mitarbeiter an der TU Berlin.Sein Projektschwer-punkt ist seit 2003 die VR China.

Durch seine rasant fortschreitende�wirtschaftliche�Entwick-lung�ist�die�Vr�china�innerhalb�weniger�Jahre�zum�zweit-größten�Erdölverbraucher�der�Welt�herangewachsen.�Wenn�der�aktuelle�trend�anhält,�wird�china�die�usa�(mit�einem�anteil�von�21�Prozent�des�weltweiten�ausstoßes)�als�größten�Produzenten�von�treibhausgasen�bis�2025�überholen�und�so�wesentlich�zur�globalen�Erwärmung�beitragen.�Innerhalb�der�nächsten�zehn�Jahre�werden�voraussichtlich�100�Millionen�Menschen�von�den�weniger�entwickelten�westlichen�Provinzen�in�die�Entwicklungszentren�an�der�Ost-�und�südküste�abwandern.�Die�somit�kontinuierlich�weiter�wachsenden�Mega-städte�werden�mit�zunehmenden�umwelt-�und�Infrastrukturproblemen�konfrontiert.�Bal-lungsräume�wie�das�Jangtse-Delta�mit�shanghai�als�Zen-trum�oder�das�Perlflussdelta�mit�hongkong�und�Kanton�als�Zentren�haben�jetzt�schon�jeweils�rund�100�Millionen��Einwohner.�Der�anteil�der�Bevölkerung�chinas�in�städ-ten�betrug�2003�40,53�Prozent�und�wird�bis� zum� Jahre�2020�auf�60�Prozent�steigen.�schon�jetzt�gibt�es�in�der�Vr�china�33�Metropolen�mit�jeweils�mehr�als�zwei�Millionen�Einwohnern.�Mit� dem�drastischen�Wirtschaftswachstum�der� letzten�Jahre�hat�sich�auch�ein�noch�nie�da�gewesener�Bauboom�entwickelt.�Die�Weltbank�prognostiziert,� dass� bis� zum�Jahre�2015�die�hälfte�der�weltweiten�Bautätigkeit�in�chi-na� stattfinden�wird.�untersuchungen�der� chinesischen�regierung�zeigen,�dass�50�Prozent�des�Gesamtenergiever-brauches�für�die�Erstellung�und�Nutzung�von�Gebäuden�verbraucht�wird.�Bis�zu�40�Prozent�des�abfalls,�der� auf�der�Welt� produziert�wird,� entsteht� durch�den�Bau�und�die�Nutzung�von�Gebäuden.�setzt�man�voraus,�dass�der�Prozess�der�Industrialisierung�und�Verstädterung�weiter�anhält,�wird�china�kurzfristig�mit�ressourcen-Engpässen�und�den�Folgen� einer� zunehmenden�umweltzerstörung�konfrontiert�werden.Es�ist�offensichtlich,�dass�die�regierung�in�Peking�einen�ausgewogenen�Weg�des�wirtschaftlichen�Wachstums�und�der�nachhaltigen�Entwicklung�verfolgen�muss.�Zugleich�muss�die�Balance�gefunden�werden�zwischen�städtischer�und� ländlicher�Entwicklung,� zwischen�wirtschaftlicher�und�sozialer�Entwicklung,�zwischen�Wachstum�und�dem�Verbrauch�natürlicher�ressourcen.�Dies�betonte�auch�der�

chinesische�Bauminister�Wang�Guangtao�in�seiner�rede�am�21.�april�2005�vor�den�Vereinten�Nationen.um�den�dargestellten�Fehlentwicklungen�entgegenzuwir-ken,�hat�das�„Ministry�of�science�and�technology“�der�Vr�china� ein� Forschungsprogramm� für� „Green�Buildings�in�cities�and�small�towns“� in�auftrag�gegeben.�Im�Zu-sammenhang�mit�diesem�Forschungsansatz�vereinbarten�die� school� of�architecture� der�tianjin�university� und�das�Institut�für�architektur�der�technischen�universität�Berlin�anfang�2005�eine�Kooperation� in�den�Bereichen�Forschung,�Wissenschaftsaustausch�und�lehre.�unter�dem�titel�„Development�of�affordable�and�sustai-nable�low�cost�and�low�scale�housing�Prototypes“�geht�das�Nachhaltigkeitskonzept�über�den�„Green�Building“-ansatz�der�chinesischen�regierung�hinaus.�Diese�definiert�„Green�Buildings“�als�„gesunde�und�komfortable�Gebäude,�die�über�den�ganzen�lebenszyklus�ressourcen� sparend�ausgelegt�sind�und�somit�die�Beeinträchtigung�der�umwelt�reduzieren“.�Das�Projekt�betrachtet�drei�themenkomplexe�der�Nachhaltigkeit:�Erstens�die�schaffung�von�Problembe-wusstsein,�zweitens�die�soziale�und�kulturelle�Nachhaltig-keit�und�drittens�die�ökologische�Nachhaltigkeit.Prototypisch�für�die�Volksrepublik�china�werden�ansätze�entwickelt,�die�die�abwanderung�vom�land�in�die�Wachs-tumsmetropolen� reduzieren�und�die�Dezentralisierung�durch�die�stärkung�lokaler�strukturen�und�traditionen�fördern.�Die�architektur�baut� auf� lokalen�Erfahrungen�auf,� beschreitet� jedoch� zeitgemäße� nachhaltige�Wege.�Dabei�fließen�einerseits�die�Erfahrungen�des�chinesischen�Projektpartners� über� traditionelle� Bautechniken� und�die�bereits�von� ihm�erstellten�analysen�zu�nachhaltiger�regionaler� Entwicklungsplanung� und�architektur� in�das�Projekt�ein.�andererseits�wird�auch�der�Forschungs-�und�Erkenntnishintergrund�der�tu�Berlin� eingebracht.�Zudem�erlangen�die�teilnehmer�des�Projektes�durch�die�gemeinsame�arbeit� Erkenntnisse� über� die� besonderen�soziokulturellen�anforderungen�der�deutsch-chinesischen�Zusammenarbeit.�Das�areal�für�das�Projekt�wurde�während�eines�aufent-haltes� in� der� im�südwesten�chinas� gelegenen�Provinz�Guizhou� im�april� 2005�mit� den� lokalen�Behörden�und�der�universität�tianjin�festgelegt:�Es�liegt�ungefähr�eine�stunde�Fahrzeit�südlich�der�Provinzhauptstadt�Guiyang�im�Distrikt�huaxi,�abseits�jeglicher�Bebauung,�in�der�umge-bung�des�Dorfes�Zhen�shan.�Zhen�shan�ist�ein�sehr�tradi-tionelles�Dorf�der�Buyi-Minorität�mit�1000�Einwohnern�und�liegt,�dreiseitig�von�einem�see�begrenzt,�in�den�Bergen.�Wegen�der�anwachsenden�Zahl�der�Einwohner�muss�nun,�will�man�die�abwanderung�vermeiden,�neuer�Wohnraum� Fo

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geschaffen werden. Da dies ohne eine Zerstörung der Dorf-struktur innerhalb des bereits dicht bebauten alten Dorfes nicht möglich wäre, ist die Entscheidung gefallen, in der Nachbarschaft das Dorf Neu Zhen Shan zu gründen. Die lokale Baubehörde unterstützt den Projektansatz inhaltlich und logistisch. Der erste rohbau wurde für die Familie von Li Wenfeng errichtet, eine alt eingesessene Buyi-Familie in Zhen Shan. Die Familie lebt bäuerlich und wurde von den Dorfältesten vorgeschlagen. Von den vier Geschwistern mit ihren Fami-lien werden drei in das neue Dorf umziehen. Eine Schwester wird mit ihrer Familie weiterhin das 150 Jahre alte Haus am Dorftempel bewohnen.Beim Bau werden sowohl die bestehenden Tradi-tionen als auch gesellschaftliche Veränderungen und der Wertewandel berücksichtigt. Moderne Hohlblocksteine sollen die Dämmeigenschaften verbessern. Sie werden in kleinen Manufakturen in der unmittelbaren Umgebung produziert. Der Dachstuhl nimmt die bestehenden Bautraditionen der Buyi auf und wird im alten Dorf durch lokale Zimmerleute traditionell ohne Verwendung von Eisenelementen hergestellt. Die

architektur wird wie im alten Dorf Zhen Shan durch örtlichen Schiefer geprägt. Ein möglichst hoch ver-dichteter Bau schafft räumliche Qual i-täten und verhindert gleichzeitig übermä-ßigen Verbrauch an ackerland. So soll ein Dorf der Buyi-Minderheit neu ent-stehen, das kulturell identifizierbar und als Ergänzung des alten Dorfes unver-wechselbar wird . Erste ansätze des Tourismus in Zhen Shan können mit der Schaffung von Gas-tronomie und Unter-kunftsmöglichkeiten im kleinen Stil als Einkommensquelle und arbeitgeber ge-fördert werden.Obwohl die Möglich-keit eines späteren

ausbaus mit konventionellem Bad und WC planerisch ermöglicht wird, wird prototypisch eine Zweikammer-Komposttoilette errichtet. Nährstoffe werden so nicht unter Verbrauch von wertvollem Nutzwasser abgeführt, sondern dem Kreislauf als Dünger hygienisch unbedenklich wieder zugeführt. Da somit nur Grauwasser als abwasser entsteht, kann die Klärung im Umfeld des Dorfes in einem Klärteich stattfinden.Zwei weitere, bereits im alten Dorf eingeführte Techniken zur ressourcen-Nachhaltigkeit werden erneut angewandt: regenwasser wird in Zisternen gesammelt, und

Biogas wird als Energiequelle zum Kochen verwendet. alle diese Neuerungen durchzusetzen war nicht immer einfach. Das Innovationsverständis von universitärer Seite stand dem bäuerlichen, ländlichen Verständnis von Tra-dition oft entgegen. Selbst die Verwendung einer anderen Steinsorte als üblich, stieß auf Befremden. Solche Verände-rungen einzuführen erforderte behutsames Vorgehen. Nun ist die Familie von Li Wenfeng aber stolz auf ihr neues Haus. Es wurde im März und april 2006 gemeinsam von Studierenden aus China und Deutschland unter Mithilfe der späteren Nutzer gebaut. Die Inneneinrichtung nimmt die Familie nun selbst vor. Das gemeinsame Projekt wird weitere drei Jahre ausgewertet, um zu überprüfen, welche Ideen vor Ort akzeptiert und sogar übernommen werden.Das Hand-in-Hand-arbeiten auf der Baustelle hat vor allem das gegenseitige Verständnis verbessert: Während die deutschen Studierenden zu anfang sehr projektbezogen und nüchtern kommuniziert haben, ist der rücklauf aus China niemals geradlinig problematisierend gewesen. Dies führte im Verlauf des Projektes zunehmend zu Missver-ständnissen. Nach der analyse der Kommunikationspro-bleme während eines daraufhin kurzfristig angesetzten Treffens in China waren jedoch die inhaltlichen Probleme ausgeräumt, die Planung eindeutig abgestimmt und die persönlichen Beziehungen freundschaftlich vertieft worden. Die Kommunikation lief seitdem von deutscher Seite diplomatischer und von chinesischer Seite deutlich direkter. Hoffentlich der anfang von vielen lang anhal-tenden Freundschaften.

Der Dachstuhl nimmt die bestehenden Bautraditionen der Buyi auf und wird im alten Dorf durch lokale Zimmerleute traditionell ohne Verwendung von Eisenelementen hergestellt.

Bis 2015 wird die Hälfte aller Baustellen weltweit in China liegen

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„Wir alle sind kleine Figuren“Die chinesische regisseurin Ma Liwen über ihren Film „You and Me“

Ihr Film „You and Me“ erzählt die Geschichte einer jungen ziel-strebigen Studentin, die während ihres Studiums bei einer alten verbitterten Frau in einem ver-kommenen Haus wohnt. Ist das Ihre eigene Geschichte?

Ma Liwen: Ich bin 1994 aus meiner Heimat Harbin nach Peking gekommen und wohnte dort bei einer alten Frau. an der Uni teilen sich sechs Personen ein Zimmer. aber ich war an viel Platz gewöhnt. Deshalb bin ich in einen traditionellen

chinesischen Wohnhof in der Nähe der Uni gezogen.

Ihr Film stellt die Beziehung der beiden dar. Die jüngere ist ehr-geizig und dynamisch, die ältere ist bitter, sparsam, lebensmüde. Was wollten Sie damit über Frauen in China erzählen?

Die jüngere Generation schert sich überhaupt nicht um die Älteren. Was die alten sagen und wollen, ist ihnen egal – es sei denn, sie stehen in einer Hierarchie direkt über ihnen wie etwa die Eltern oder der Boss.

Die ältere Frau im Film schaut ständig nach dem Strom, dem Gaszähler. Sind die Kosten der Energieversorgung ein Thema?

Nein, ich wollte damit zeigen, dass die alte Frau eine randfigur in der Gesellschaft ist, sie hat wenig mit ihrer Umgebung zu tun, und deswegen beachtet sie nur Klei-nigkeiten. Die Studentin ist ebenfalls eine kleine Figur in der Gesellschaft. Deswegen sind diese Elemente – Wasser, Strom, rechnungen – wichtig für beide. alle wollen irgend-wo sparen. Wir alle sind kleine Figuren. Ich weiß nicht, wann, aber mit dem reichtum wird auch der Geist sich öffnen, dann wird man großzügiger werden in China.

Sehen Sie sich als eine Außenseiterin der chinesischen Film-industrie? Die bekannteren chinesischen Regisseure machen eher teure, effektreiche Kampfsportfilme.

Die jüngeren regisseure meiner Generation denken nichts Gutes über diese Filme. Sie sind keine Kunst, aber sie haben weltweit Erfolg. Wir wollen natürlich auch nicht, dass China nur kleine Filme macht.

„Wuji“ – „Die Reiter der Winde“ – der letzte Film von Chen Kaige und der bislang teuerste chinesische Film überhaupt war in China ein riesiger Publikumserfolg.

Die realität ist: Chinesen gehen nur in die Filme die-ser drei großen Namen: Zhang Yimou, Chen Kaige, Feng Xiaogang. Die jüngeren Filmemacher machen Kunstfilme, aber sie haben kein Geld für Propaganda – und nach der richten sich die Chinesen.

Was meinen Sie mit Propaganda?Kommerzielle Werbung. Ein Drittel des Budgets solcher

Filme wird dafür ausgegeben. Im Fernsehen wird pro Se-kunde gerechnet. Ich gehöre zur siebten Generation der Fil-memacher. Die großen regisseure der fünften Generation verdienen gutes Geld. Die jüngere Generation braucht sehr viel Kraft, um Geld aufzutreiben. Langsam, von Festival zu Festival, sammeln wir unser Publikum.

Stimmt es, dass Kinokarten immer teurer werden?Ja, gerade für Familien ist es sehr teuer. Vor allem die

jungen Leute gehen mit dem Trend, sie sparen Geld, um diese großen Filme zu sehen, um mitreden zu können.

Sie haben die Folgen der Kulturrevolution und große Ände-rungen in China erlebt ...

Nein, ich habe die Kulturrevolution nicht miterlebt. Das hat mit mir nichts zu tun. Meine Mutter hat ständig über die Kulturrevolution gesprochen – wie schlimm das alles war. Ich schaue nach vorne, mache Pläne, überlege, was für mich heute wichtig ist. Meine Mutter war alleinerziehend. Ich will Karriere machen, um sie glücklicher zu machen. Ich bin im Jahr des Schweines geboren, das heißt, ich habe Glück. Ich muss nicht viel dafür tun. Die guten Sachen kommen zu mir.

Was ist Ihr Traum als Regisseurin?Dass meine Filme mehr Zuschauer erreichen. China

ist sehr groß, aber mein erster Film ist nur in vier Städten gezeigt worden. Das Problem ist die Vermarktung. Und es gibt wenig Firmen, die das gut machen. Da ist China sehr zurückgeblieben.

Sie haben jetzt zum ersten Mal Europa besucht. Was ist Ihr Eindruck?

Ich finde es toll, so viele Zuschauer zu haben. Die Men-schen achten auf meinen geistigen Horizont.

Aus dem Chinesischen von Suming SounDas Interview führte Naomi Buck

Ma Liwen, geboren 1971, ist Filmregis-seurin. Ihr zweiter Spielfilm „Women Liang“ (You and Me) hat die „14plus“-Sek-tion der diesjährigen Berlinale eröffnet.

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Ibsen gehört zu den einflussreichsten literarischen Per-sönlichkeiten im China des 20. Jahrhunderts. „Nora oder ein Puppenheim“ war das in China am häufigsten gespielte ausländische Theaterstück in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Mindestens neun verschiedene Übersetzungen des Stückes sind in China erschienen. Die Protagonistin Nora galt und gilt als Symbol für Indi-vidualismus und die Befreiung der Frau. Kein Held und keine Heldin eines ausländischen autors hat in China eine vergleichbare aufmerksamkeit erregt. Manche sagen, dass Ibsen in China bekannter ist als in Norwegen und Nora bekannter als Ibsen.

als Ibsens Werk 1918 in China eingeführt wurde, schrieb Hu Shi, eine führende Persönlichkeit des kultu-rellen Lebens, einen artikel mit dem Titel „Yibusheng zhuyi“ (Ibsenismus), der einen gewaltigen Einfluss auf die chinesische rezeption von Ibsen in den kommenden Jahrzehnten hatte. Bald darauf nahm das anerkannteste chinesische Wörterbuch Ci Hai (wörtlich „das Meer der Worte“) den Begriff Ibsenismus auf als „glühenden Indivi-dualismus“. Hu Shi, der in den Vereinigten Staaten studiert hatte, war von Chinas sozialer realität enttäuscht und schrieb dessen rückständigkeit den beengenden Zwängen der Tradition zu. Da er keinen direkten Weg sah, das Land zu retten, wurde er zu einem der Befürworter des Indivi-dualismus und propagierte gegenüber seinen anhängern, „sich selbst zu retten“. Hu Shi war auch der Erste, der „Nora“ ins Chinesische übersetzte. Seine Übersetzung mit dem Titel „Nala“ (chinesisch für Nora) wurde 1918 in „Xin Quingian“ (Neue Jugend) veröffentlicht. Im fol-genden Jahr schrieb Hu Shi das Theaterstück „Zhongshen Dashi“ (Das größte Ereignis im Leben), eine reaktion auf „Nora“ und das erste moderne Stück in der chinesischen Umgangssprache. Die Geburt des modernen chinesischen Dramas beendete die Dominanz des traditionellen chine-sischen Theaters, das vorrangig der Unterhaltung seines Publikums diente.

Hu Shis Stück handelt von einem chinesischen Mäd-chen, Fräulein Tian, die einen Mann heiraten möchte, den sie selbst gewählt hat. Dieses Stück ist noch immer eine große Inspiration für chinesische Jugendliche, die sich gegen das Patriarchat in der Familie und soziale Unterdrü-

ckung auflehnen wollen. Es folgte eine anzahl weiterer moderner Theaterstücke, in denen eine rebellische Nora-Figur sich entscheidet, ihre Unabhängigkeit zu erlangen. In den meisten dieser Stücke verlässt die chinesische Nora ihr Vaterhaus, nicht Mann und Kinder. Der Fokus liegt auf dem aufbruch der weiblichen Protagonistin, weniger auf ihrem inneren psychologischen Konflikt.

Die erste aufführung von „Nora“ in China fand 1914 in Shanghai statt. 1934 wurde das Stück so häufig in chi-nesischen Großstädten aufgeführt, dass dieses Jahr als das „Nora Jahr“ bezeichnet wird. Die Shanghaier Produktion war ein Höhepunkt der Theatergeschichte. Lan Ping spielte die rolle der Nora. Lan Ping war der Künstlername von Jiang Quing, der späteren Ehefrau von Mao Tse-tung. Während der chinesischen Kulturrevolution war Madam Jiang, Chinas First Lady, als eines der Kernmitglieder der berüchtigten „Viererbande“ mitverantwortlich für die umfangreichen Vernichtungsprozesse in der chinesischen Gesellschaft, Politik und Kultur.

Das Thema der weiblichen Befreiung beschäftigte fast jeden chinesischen autor in den 1920er und 1930er Jahren. Bald taucht eine neue und revolutionäre Nora auf. In Mao Duns berühmter Geschichte „Hong“ (regenbogen, 1930) hatte Mei, die Hauptperson, die rolle der Frau Linde in einer Schulaufführung von „Nora“ gespielt. Nach dem Scheitern ihrer arrangierten Ehe flieht sie von zu Hause und schließt sich revolutionären Kreisen an und widmet ihr Leben dem Kampf für die nationale Befreiung. als Sinn-bild für Individualismus, Feminismus und Sozialismus ist die chinesische Nora eine revolutionäre, nationalistische Kämpferin geworden. aus Ibsens „Nora“ entstand der chinesische Noraismus.

auch nach 1949 gab es in China etliche Inszenierungen, in den 1980er Jahren wurde „Nora“ Lehrstoff für Mittel-schüler. 1998 wurde das Stück in Peking experimentell in-szeniert: Die norwegische Schauspielerin agnete Haarland spielte die Nora – in Englisch mit ein paar eingestreuten chinesischen Wörtern. Der rest der Schauspieler sprach Chinesisch mit ein paar englischen Sätzen dazwischen. Diese aufführung gehört zu den wenigen zweisprachigen Performances im chinesischen Theater.

Zuletzt hat im april 2006, im rahmen des Ibsen-Jah-res zu dessen 100. Todestag, der bekannte chinesische regisseur Lin Zhaohua „Noras Kinder“ von Jesper Halle in Peking aufgeführt. Es zeigt das „Puppenheim“ aus der Perspektive von Noras Kindern.

Aus dem Englischen von Anja Wedell

NoraismusDer 100. Todestag Ibsens wird in China umfangreich gefeiert. Denn sein Stück „Nora“ steht für Individualismus und den aufbruch der Frau

Von He Chengzhou

He Chengzhou, geboren 1967, ist Professor für Literatur und stellver-tretender Vorsitzender des Zentrums für Europäische Studien an der Nanjing Uni-versität in China.

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FachchinesischÜber die Entstehung der modernen chinesischen Wissenschaftssprache

Von Iwo amelung

Iwo Amelung, geboren 1962, ist Privatdozent an der Universität Er-langen-Nürnberg und Managing Direktor des European Centre for Chinese Studies at Beijing University in Peking. Er ist einer der Mitbegründer des Forschungsprojektes „Wissenschaftsspra-che Chinesisch”.

Noch vor etwas mehr als hundert Jahren erschien es un-denkbar, dass Chinesisch eine der wichtigsten Sprachen der wissenschaftlichen Kommunikation werden würde. Fehlte es doch in China an einem im westlichen Sinne modernen System der akademischen Forschung und – noch wichtiger – hatten westliche und chinesische Wissenschaftler ernst-hafte Zweifel, ob die chinesische Sprache wissenschaftliche Tatbestände kommunizieren könne. Da die westlichen Wis-senschaften im 19. Jahrhundert für China ein neues Feld darstellten, gab es keine Wörter für die Begrifflichkeiten. Das galt nicht nur für Begriffe wie „Lichtgeschwindigkeit“ oder „chemisches Element“, sondern auch für Konzepte wie „Optik“ oder „Wissenschaft“. Da die Vermittlung der westlichen Wissenschaften nach China in dieser Phase in erster Linie durch Übersetzungen – vor allem englisch-sprachiger Bücher – stattfand, wurden viele Übersetzer notgedrungen zu Terminologieschöpfern.

Die umfassendsten Veränderungen des chinesischen Lexikons brachten die geistigen Kontakte Chinas mit an-deren Kulturen mit sich, vor allem die Übernahme buddhi-stischen Gedankenguts seit dem ersten Jahrhundert, aber auch die jesuitische Mission im 17. und 18. Jahrhundert, als viele geographische Bezeichnungen, die bis heute in China verwendet werden, etwa das Wort für „Äquator“ (chidao 赤道) geprägt wurden. Das chinesische Schriftsystem machte graphische Entlehnungen von westlichen wissen-schaftlichen Begriffen unmöglich – aber auch lautliche Übernahmen spielten, da sie als wenig elegant angesehen wurden, eine eher untergeordnete rolle. Wesentlich wei-ter verbreitet waren deshalb andere Techniken. Bei der „Lehnbedeutung“ wird einem existierenden Wort der Ziel-sprache eine neue Bedeutung zugewiesen. Diese Technik birgt die Gefahr, dass man diese nicht notwendigerweise erkennt oder gar vermutet, dass es den „neuen“ Tatbestand oder Gegenstand in China schon immer gegeben hat. Bei der „Lehnübersetzung“ ahmt man in der Zielsprache die morphologische Struktur des ausgangswortes in einem zusammengesetzten Wort nach. Ein Beispiel hierfür ist „zhengqiji“ 蒸汽机, das chinesische Wort für „Dampfma-schine“, das sich aus den Zeichen für „Dampf“ und „Ma-schine“ zusammensetzt. als „Lehnschöpfungen“ werden

die Wörter verstanden, die im Chinesischen geschaffen wurden, ohne ein Wort der ausgangssprache lautlich oder strukturell nachzuahmen. Ein Beispiel dafür ist das Wort „lixue“ 力学, „die Lehre von der Kraft“ als Übersetzung des westlichen Begriffes „Mechanik“.

Die Schaffung der chinesischen Wissenschaftssprache ging nicht reibungslos vonstatten. In der Zeit zwischen ungefähr 1850 und 1900 beherrschten nur wenige chine-sische Übersetzer die ausgangssprache – meistens Englisch – ausreichend. Weit verbreitet waren „Übersetzerteams“ aus einem ausländer und einem Chinesen. Diese arbeit war ungeheuer mühsam. Das größte Problem stellte jedoch die Standardisierung der neuen Terminologien dar. Wir kennen mehr als 40 unterschiedliche Übersetzungsvor-schläge für den westlichen Begriff „Logik“ und mehr als 20 für „Physik“. Erst der aufbau eines modernen Schul- und Universitätssystems führte dazu, dass die Beschäftigung mit den Wissenschaften – zunehmend auch westlichen Geistes- und Sozialwissenschaften – für chinesische Ge-lehrte zu einer ernsthaften Option wurde.

Es ist nicht frei von Ironie, dass gerade zu dem Zeit-punkt, an dem die Popularität der Wissenschaft in China den entstandenen Wissenschaftssprachen zum Durch-bruch hätte verhelfen können, diese Terminologien von einem überlegenen Konkurrenten marginalisiert wurden. Nach dem Chinesischen Krieg 1894/95 gingen viele Chine-sen zum Studium nach Japan. Chinesische Studenten und japanische Übersetzer, die nun im großen Maßstabe als Vermittler von Wissenschaften nach China tätig wurden, bevorzugten die besser standardisierte japanische Termino-logie – geschrieben in chinesischen Schriftzeichen. Große Teile des heute noch verwendeten Wortschatzes in den Sozial- und Geisteswissenschaften sind daher japanischen Ursprungs – einschließlich von Wörtern wie „geming“ 革命(jap. „kakumei“) für „revolution“ und „gongchanzhuyi“ 共产主义 (jap. „kyôsan shugi“) für Kommunismus. Heute in China verwendete Bezeichnungen für wissenschaftliche Disziplinen wie „jingjixue“ 经济学 für Wirtschaftswis-senschaften (jap. „keizaigaku“), „zhexue“ 哲学 für Philo-sophie (jap. „tetsugaku“) und „wulixue“ 物理学 für Physik (jap. „butsurigaku“) sind Prägungen japanischer Gelehrter der Meiji-Zeit (1868–1911). Die Entstehung der modernen chinesischen Wissenschaftssprachen war also ein äußerst komplexer, widersprüchlicher Prozess, der zeigt, wie lange es bereits eine Verbindung von „Globalisierung“ und Wis-senschaft gibt. Die Schaffung dieser Wissenschaftsspra-chen war eine Voraussetzung für die Integration Chinas in die „wissenschaftliche Weltgesellschaft“.

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Wie man in China Geschäfte machen kann, ist eine Frage, die sich inzwischen sehr viele Menschen stellen. In jedem Jahr reisen rund 120 Millionen Menschen nach China, von denen bestimmt fünf Millionen geschäftlich unterwegs sind und auf Handelsabkommen spekulieren. China besitzt mit 60,3 Milliarden US-Dollar den größten Markt für Direktinvestitionen aus dem ausland. Und nahezu jeder Firma vom Mittelstand bis zum Global Player schadet es deshalb nicht, eine gute Strategie für den chinesischen Markt in der Schublade zu haben.

Nach den elf Jahren, die ich geschäftlich und privat in China verbracht habe, und während denen ich mindestens 100 Firmen in strategischen Fragen beraten habe, bin ich mir aber nur einer Sache sicher: Ein einfaches Erfolgs-rezept gibt es nicht. Leuten, die meinen, China zu kennen, ist nicht zu trauen. Es ist nicht möglich, Land und Leute vollständig kennen zu lernen. Das Land ist zu vielfältig; eine Tatsache, die jeder Chinese sofort bestätigen würde. China ist riesig, von region zu region verschieden, schnell-lebig und wandelbar; und es unterliegt einer Vielzahl historischer und sozioökonomischer Einflüsse, die in ihrer Komplexität schwerlich unter einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind.

Ein Versuch, die verschiedenen aspekte der Kommuni-kation, der Geschäftsbedingungen und der geschichtlichen Einflüsse zu verstehen, die für Geschäfte mit Chinesen wichtig sind, lässt sich natürlich trotzdem unternehmen.

Mein erster ratschlag an Handelsreisende, die eben aus dem Flugzeug gestiegen sind und sich schon einem Gewim-mel von Menschen ausgesetzt sehen, die von Meeting zu Meeting eilen, lautet: „Lassen Sie sich nicht beeindrucken. Machen Sie Ihre Geschäfte so, wie Sie sie immer machen.“ Wie viele Geschäftsführer kleiner bis großer Firmen aus aller Herren Länder sind in den letzten Jahren schon in China gelandet und haben ihren Verstand sprichwörtlich beim Zoll gelassen! Berauscht von der Idee, ein x-beliebiges Produkt an 1,2 Milliarden Menschen (oder auch nur an ein Prozent von ihnen) verkaufen zu können. Denn natürlich bietet China gigantische Möglichkeiten. Diese zu nutzen ist allerdings nicht so einfach.

Produkte wie Kunden unterliegen vielen unterschied-lichen Einflüssen – von Klassenunterschieden, historischen

Gegebenheiten, regionalen Unterschieden in Sachen Nachfrage und Geschmack bis zu Faktoren wie ausgabe-kapazitäten oder der örtlichen Leih- und Kreditmentalität ist einiges von Belang. Zum Beispiel: Ein internationaler Marktführer im Keks-Segment eröffnete anfang der neunziger Jahre eine Fabrik in Chongqing, der mit etwa 31 Millionen Einwohnern größten Stadt Chinas – mit Umgebung. allerlei Stadtoffizielle hatten große Umsatz-möglichkeiten bei Millionen Kunden in aussicht gestellt und Unterstützung versprochen. Leider versäumte es die Firma, in Sachen Kekse, wie gesagt, absolute Weltspitze, drei elementare Dinge in Betracht zu ziehen: erstens die Frage nach regionalen Vorlieben (die region ist für würzige Speisen bekannt, Süßes ist selten), zweitens die ausgabekapazitäten und drittens das Prüfen von möglichen anfallenden Kosten. So stellte sich schnell heraus, dass die Chinesen dieser binnenländischen region nicht von den Keksen zu überzeugen waren und das Produkt für die mei-sten auch schlicht zu teuer war. Darüber hinaus hatte die Firma die örtlichen Steuern, das Fernmanagement, dazu die recht spärlichen Vertriebswege fahrlässig unterschätzt. Innerhalb weniger Jahre musste die Fabrik schließen. Ein trauriger, in den frühen neunziger Jahren leider aber auch typischer Fall.

Geschäfte sollte man in China so führen, wie man es andernorts auch tun würde. Das heißt, Marktforschung, die Expertise von Geschäftspartnern, die analyse der Kostenstrukturen und Ähnliches sollten hier mit der gleichen gebührlichen Sorgfalt erledigt werden wie an jedem anderen Ort.

Im internationalen Geschäft stellt Kommunikation eine besondere Herausforderung dar. China bildet da keine ausnahme, im Gegenteil. Trotz der besonderen geschicht-lichen Umstände besteht das Land aus einer Konsensge-sellschaft. Sogar die großen Bosse brauchen Zusagen und Kooperationen untereinander, um in ihrem Bereich mit der Unterstützung der Kollegen rechnen zu können.

In Verhandlungen ist die chinesische Seite geschickt. Meist werden Zwischenhändler verschiedener Geschäfts-ebenen gesandt, die alle darauf geeicht sind, die Teil-ergebnisse immer wieder zu überprüfen und so ihre Bedingungen zu optimieren. Es kann passieren, dass nach wochenlanger Feinarbeit an einzelnen Vertragspunkten weitere Verhandlungen kurzerhand abgesagt werden, weil „der Chef nicht einverstanden“ ist. Während die andere Seite denkt, das Geschäft stünde kurz vor dem abschluss. Dafür gibt es zwei mögliche Erklärungen: Entweder hatte es der untergebene Verhandlungsführer versäumt, seine Chefs angemessen zu informieren, um sie nicht weiter

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Kekse für ChongqingWie man in China Geschäfte macht

Von Nereida Flannery

Nereida Flannery ist geschäftsführende Direktorin einer Un-ternehmensberatung in Peking und Shang-hai. Sie wurde 1970 in Kanada geboren und lebt seit zwölf Jahren in China.

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zu belästigen. Es könnte aber genauso gut sein, dass die chinesische Seite eine alte Taktik eingeschlagen hat, um weiteren Boden gutzumachen.

Ein weiterer ratschlag an meine Kunden lautet: In China zählen absichtserklärungen und Verträge weniger als anderswo – auch wenn Letztere zunehmend vor Gericht eingeklagt werden können. absichtserklärungen hingegen werden nur als erster, unverbindlicher Schritt betrachtet. Wichtige Erkenntnis außerdem: Die kulturellen Unter-

schiede werden oft überschätzt. Von beiden Seiten. Der abschluss eines Geschäfts wird kaum daran scheitern, dass man den Verzehr einer schleimigen Seeschnecke abgelehnt hat. andererseits ist bei grobschlächtigem oder prahle-rischem Verhalten ein Scheitern nahezu vorprogrammiert. Ein von respekt und anstand geprägtes auftreten gegen-über dem Vorsitzenden der Gegenseite sollte mehr bein-halten, als nur mit ihm auszugehen. Oberstes Prinzip des kulturellen Umgangs ist es, stets „das Gesicht zu wahren“, das eigene wie das des Gegenübers. Eine Grundregel lautet also: „Bringen Sie Ihren möglichen Partner niemals in Verlegenheit. Und bevormunden Sie ihn nicht.“

Ein in China unter ausländischen Geschäftsleuten ge-flügeltes Wort ist „Guanxi“, was so viel wie „Beziehungen“ heißt. Das gängige Vorurteil lautet, dass ohne „Guanxi“ keine Geschäfte zu machen sind. Tatsächlich ist es gar nicht schwierig, diese „Guanxi“ zu ergattern, also Beziehungen zu knüpfen. Das Problem ist eher, die Beziehungen auch auszuspielen. Ein Satz wie „Der Bezirksgouverneur ist ein Verwandter von mir“ fällt relativ häufig; diese art von Beziehung bringt allerdings wenig, solange man sein „Guanxi“ nicht beim richtigen ansprechpartner vorbringt. auf der anderen Seite können „Guanxi“ teuer werden. Besonders wenn jedes Glied dieser Beziehungskette nach finanziellen Beteiligungen verlangt.

Im chinesischen Geschäftsgebaren herrscht eine Menge Schein vor, oft mehr Schein als Sein. So sind Extras wie Fernsehauftritte, Karaokenächte und Empfänge nicht mehr als respektsbekundigungen und haben als solche wenig

Einfluss auf den tatsächlichen Geschäftsablauf. auch Ein-ladungen zu Banketts weisen keineswegs auf eine beson-dere Behandlung eines besonderen Partners hin, sondern stellen nicht viel mehr als eine herzliche Begrüßung dar, die eher politisch motiviert ist.

Um ein Geschäft abzuschließen, ist es wichtig, über mehr als einen chinesischen Kontakt zu verfügen. Von anbeginn an sollte sichergestellt sein, dass Vertreter der Verwaltungen, der Händler und Lieferanten in die Ver-handlungen einbezogen werden können. Nicht ratsam ist es, sich lediglich auf einen Partner oder auf bestimmte Beziehungen („Guanxi“) zu berufen. Besonders die lokalen Vertreter erweisen sich oft als variable Größe. Und: Die Partner von heute können morgen schon der Korruption verdächtig sein. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass es viel Zeit, Verstand und Geld braucht, um die Möglichkeiten des chinesischen Marktes zu erfassen. Das alles bedeutet natürlich nicht, dass ein Produkt den örtlichen Verhältnis-sen angepasst werden muss. Jedenfalls nicht unbedingt. So gibt es zwei erfolgreiche Unternehmen, die auf eine Produktanpassung an die jeweiligen örtlichen Verhält-nisse gänzlich verzichtet haben: Starbuck‘s und Häagen Dazs. Noch vor 15 Jahren hätte bestimmt niemand einer amerikanischen Kaffeehauskette zugetraut, sich in einer Nation von Teetrinkern zu behaupten. Mittlerweile gibt es erfolgreiche Filialen an allen einschlägigen historischen Stätten, einschließlich der Verbotenen Stadt, und das bei Preisen von bis zu drei Euro pro Becher (was einem Vielfa-chen einer Tasse Tee entspricht). Ebenso unglaublich klingt der Erfolg eines dänischen Unternehmens, das Speiseeis für ungefähr fünf Euro feilbietet, während der örtliche Konkurrent nur rund einen Euro dafür verlangt.

Um in China Geschäfte zu machen, sollten Unter-nehmen auf übliche art verfahren. Eine anpassung des Produkts könnte vonnöten sein; die Integrität sollte jedoch unbedingt gewahrt bleiben. Die spezifischen Vo-raussetzungen einer bilateralen Kommunikation sollten verstanden sein, was aber nicht dazu führen sollte, dass man eigene Standards untergräbt. Kurzum: Lassen Sie sich nicht von Unterschieden entmutigen, sondern orientieren Sie sich an den Gemeinsamkeiten!

Aus dem Englischen von René Hamann

Entschuldigen Sie bitte den Strafzettel

Der chinesischen Entschuldigung „duibuqi“ begegnet man überall. Um höflich zu sein, formuliert man sogar einen Vorwurf als Entschuldigung. Ein taiwanesischer Strafzettel klingt beispielsweise so: „Liebe/r Herr/Dame: Sie haben beim Parken gegen folgende der links aufgeführten Regeln verstoßen: [es folgt eine Liste]. Wir bitten Sie vielmals um Entschuldigung, dass wir zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit des Verkehrs von Gesetzes wegen Gebühren erheben müssen. Wir hoffen, Sie verstehen und verzeihen das und möchten in Zukunft darauf achten, die Verkehrsregeln einzuhalten. Wir wünschen Ihnen Gesundheit und Frieden. Die Benachrichtigungseinheit.“ (Quelle: Hanne Chen: Kultur Schock VR China/ Taiwan. Bielefeld, Reise Know-How Verlag 2004).

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WechselstromWie�das�Bremer�unternehmen�„Melchers�&�co.“�seit�150�Jahren�erfolgreich�mit�china�handelt

Von�Nikola�richter

bilanzen�oder�Marktzugänge�streitet.�Früher�machte�die�deutsche�Delegation�bei�Beginn�des�treffens�immer�eine�Bemerkung zu den Menschenrechten: „Das musste ja�gesagt�werden.“�so�wie�henning�Melchers�dieses�Detail�anspricht, klingt es eher nach pflichtbewusster Diplo-matie-Kür�als�nach�politischer�Forderung.�lieber�beruft�sich�henning�Melchers�auf�die�kollektive�Mentalität�der�„konfuzianischen�asiaten“,�die�eine�Demokratisierung�im�westlichen�sinne gar nicht zulassen würden und deren�Personalführungsstil�man�in�Europa�„Management�nach�Gutsherrenart“�nennen�würde.�Ende�des�themas.�Da�wird�sich�seiner�Meinung�nach�nicht�viel�ändern.Melchers�gehört�zur�alten�Garde�der�chinahändler.�Das�heutige�china,�dessen�außenhandel�sich�seit�dem�Beitritt�zur „World�trade Organization“ 2001 fast verdreifacht�hat,�wird�ihm�daher�immer�fremder:�„shanghai�ist�jetzt�wie�New�York�am�Yangtsekiang,�die�Fastfood-Kultur�und�die�Konsumkultur�sind�dort�eingezogen.�china�ist�heute�in ungeheurer Form geldbezogen.“ Von der asiatischen�Geschäftigkeit und Geschäftstüchtigkeit profitieren in-ternationale�Firmen�enorm:�80�Prozent�der�500�größten�Industrieunternehmen der Welt sind bereits in�china�vertreten, Europa ist derwichtigste�handelspartner�chinas�und�Deutschland�steht�innerhalb�der�Europäischen�union�an�erster�stelle.�„Die�atmosphäre�ist�sehr�angenehm�für�beide�seiten“,�fasst�Frau�li�zusammen.�sanfte�Worte�für�die�tatsache,�dass�ausländische�Firmen�jährlich�etwa�60�Milliarden�us-Dollar�in�china�investieren.�Dazu�kommt�der� technologie-transfer. Den „größten� tafelsilber-transfer�aller�Zeiten“�nennt�ihn�der�Wirtschaftsjournalist�Frank�sieren in seinem Buch „Der�china�code“. Frau�li sieht es gelassen: Kapital und�technologie seien die�stärken�der�deutschen�Wirtschaft,�china�biete�der�deut-schen�Wirtschaft�im�Gegenzug�einen�großen�Markt�und�preisgünstige�arbeitskräfte – eine „Win-Win-situation“�für�beide�seiten.Die Geschichte der Firma „Melchers“ beginnt im Jahr�1866. Eine Bremer Familie schickt ihren dritten�sohn�hermann�in�die�weite�Welt,�damit�er�eine�Niederlassung�von�„Melchers�&�co.“� in�hongkong�gründet.�Da� ist�das�unternehmen schon fünfzig Jahre alt.�anton Friedrich�carl Melchers hatte 1806 in der norddeutschen�hanse-stadt�einen�deutsch-englischen�handel�mit�Wein,�likör,�tabak,�Blumenzwiebeln,�Baustoffen,�Eisenwaren,�Kupfer,�Pech�und�teer�begonnen,�die�damalige�Kontinentalsperre�während�des�napoleonischen�Krieges�durch�private�Kon-takte�gewieft�umgehend.�als�die�französischen�Besatzer�1813 Bremen�verließen, stürzte sich�der�Geschäftsmann�auf�den�florierenden�tabakhandel�und�beteiligte�sich�an�

Im Chinahandel hat sich seit 150 Jahren nicht viel verän-dert.�Zumindest�ist�das�so,�wenn�man�henning�Melchers�fragt. Der 73-Jährige, der in�hongkong und�shanghai�aufgewachsen ist, gilt unter Kennern des�asienhandels�als� „chinapapst“.� In� jagdgrünem�sakko�und�weiß-blau-kariertem�hemd�empfängt�er�in�seinem�Büro�in�der�Bre-mer�Firmenzentrale�von�„Melchers�&�co.“�die�Besucher:�Blick auf die Weser und an den Wänden holzgerahmte�Ölgemälde�der�Vorfahren�und�chinesische�Kunst.�Er�hat�die�Welt�gesehen,�ihn�kann�nichts�erschüttern.�Nur�wenn�ihm�etwas�sehr�wichtig�ist,�beugt�er�sich�auf�seinem�sessel�nach�vorne�und�hebt�die�stimme.WennmanFrau�liQingshuang von der chinesischen�han-delskammer in�shanghai nach einemdeutschen�unterneh-men fragt, das langeErfahrungen im�chinahandel hat, fällt�ihr auf�anhieb „Melchers&�co.“ ein. Dasmittelständische�unternehmen macht einen�umsatz von 330 Millionen�Euro,�beschäftigt�1.200�Mitarbeiter,�davon�400�in�asien,�unterhält 22�tochtergesellschaften, einige davon in�china.�henningMelchers hat die dortigen Firmengeschicke in der�fünften Generation gelenkt, spricht fließend Mandarin�und�war�25�Jahre�lang�Mitglied�der�Deutsch-chinesischen�Gemischten�Kommission,�die�jährlich�mit�den�nationalen�Wirtschaftsministern�tagt�und�über�Visafragen,�handels-

Nikola Richter wurde 1976 in Bremen gebo-ren und war noch nie in China. Sie arbeitet in der Redaktion von Kulturaustausch. Zuletzt erschien von ihr „Die Lebensprak-tikanten“ (Frankfurt a.M., Fischer Taschen-buch 2006).

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China-Export-Schlager um 1900: Melchers‘ Handsturmlaterne auf chinesischer Werbeschrift um 1900, das Öl dafür lieferte Rockefeller

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Kulturaustausch�11/06� 43

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schiffen.�Mitte�des�19.�Jahrhunderts�segelten�schon�zwölf�unter�der�Flagge�mit�dem�blauen�„M“�auf�weißem�Grund.�Die�segelschiffsreederei�transportierte�auswanderer,�da-mals Europas bedeutendstes Exportgut, nachNordamerika�und�schipperte�auf�dem�rückweg�von�dort,�von�Kuba�und�Brasilien�tabak,�rumundBast über denOzean.�außerdem�lag�eine�eigene�Walfangflotte�vor�hawaii.�Das�erbeutete�Walöl�war�als�lampenöl�in�Europa�heiß�begehrt.�um 1860 stehen die�händler vor einer neuen wirt-schaftlichen und politischen Weltlage: Mineralöl und�Dampfschiffe�machen�dem�Walöl�und�den�segelschiffen�Konkurrenz. Zusätzlich blühen die europäischenKolonien�in�südostasien�auf:�in�Indonesien,�Malaysia,�singapur,�In-dochina.�china, das bis 1830mit 30Prozent des Bruttosozi-alproduktes die führendeWirtschaftsnationweltweit war,�wird�zu�einer�„Marionette�auf�dem�schachbrett�der�Welt-politik“, erklärt�hartmut�roder,�handelskunde-Experte im�Bremer�Überseemuseum.�Die�Briten�öffnen�während�der�zwei�Opiumkriege�Mitte�des�19.�Jahrhunderts�gewaltsam�den�chinesischen�Markt.�Nun�dürfen�sich�ausländer�nicht�nur�in�hongkong�niederlassen.�hermann Melchers ist einer von vielen, die damals ihr�Glück versuchenund finden. Im Jahr 1864 zählt die „hong-kongGovernmentGazette“ 2.264Einfahrten europäischer�undamerikanischer�schiffe, einViertel davondeutsche,mit�über�einer�Million�tonnen�Fracht.�Der�Bremer�Kaufmann�fühlt�sich�gegenüber�den�Einheimischen�als�überlegener�herr:�ein�übliches�Verhalten�in�der�westlichen�Kolonial-gesellschaft. Der Firmen-Nachfahre�henning Melchers�hat�dafür�wenig�Verständnis:�„Das�war�nicht�wie�heute,�dass wirmit einem�chinesen gleichwertig verhandeln und�den�chinesen begreifen. Die Jungs damals hielten sich�einen�Komprador:�Dem�sagte�man,�was�man�wollte,�und�der�organisierte�Einkauf�und�Verkauf.“�Dass�der�Europäer�damals „vom�asiatischen keine�ahnung“ gehabt hätte, regt�henning�Melchers�so�auf,�dass�er�den�satz�wiederholt.Die�Vorfahren�sind�in�sachen�china�zwar�unbedarft,�ha-ben�aber�eine�Nase�fürs�Geschäftliche.�Bis�zum�Zweiten�Weltkrieg�exportiert�das�unternehmen�alles,�was�der�chi-nesischeMarktwill:Nägel,�schrauben,�laternen,�lampen,�uhren,�Kameras,�Motorräder�oder�Feuerhandsturmlater-nen,�betrieben�mit�rockefeller-Öl.�„Melchers“�ist�führend�im Import chinesischer Produkte, die der europäische�Markt will: Kamelhaare aus Nordchina, Ziegenhaare,�Eier�aus�dem�Yangtse-Delta,�aber�auch�Bettfedern,�Därme,�häute�und�Felle,�saaten�aller�art,�Keime.�Bauern�bringen�ihre�Ware�zu�ankaufstellen,�von�dort�kommt�sie�zu�sam-mellagern,�wird�sortiert,�gereinigt,�in�säcke�gepackt.�hen-ning�Melchers�hat�die�herstellung�von�trockenei�noch�vor�augen,�da�sie�nach�dem�Zweiten�Weltkrieg�in�den�ehemals�deutschen,�vom�kommunistischen�regime�konfiszierten�Fabriken in�china fortgesetzt wurde: Eier aufschlagen,�

trocknen,�als�Pulver�verpacken.�Das�unternehmen�lieferte�die�Ware�bis�1968�an�europäische�Nudelfabriken�–�bis�die�EuropäischeWirtschaftsgemeinschaft�agrarsubventionen�einführte�und�sich�das�Geschäft�mit�den�günstigen�Eiern�nicht�mehr�lohnte.�auch�„riesige�Mengen�schweinehäute,�rinderhäute, Büffelhäute“ importierte man bis in die�1970er�Jahre.�Wenn�henning Melchers davon erzählt, wird deutlich,�wie wenig das historische Drumherum einen pfiffigen�händler davon abhält, Geschäfte zu machen. Weder in�den�1950er� Jahren,�als�westdeutsche�unternehmer�nach�Ost-Berlin�„pilgern“,�um�mit�der�chinesischen�regierung�in der dortigen�handelsvertretung des chinesischen�staates zu verhandeln. Noch in den 1960er Jahren. Da�reist�henning Melchers „100-mal“ nach Bern, weil die�schweiz diplomatische Beziehungen mit�china unter-hält – die BundesrepublikDeutschland erst 1972.Die�liste�europäischer Konsumgüter, die lange Zeit von Europa�

nach�china�importiert�wurden,�lockt�Melchers�heute�ein�trockenes�lachenhervor.�chinesischeFabriken verarbeiten�nun�das�chinesische�leder�selbst�zu�taschen�und�schuhen�und�überhäufen�westliche�Märkte�mit�günstigen�Produk-ten.�Gefragt�sind�im�reich�der�Mitte�vor�allem�technische�anlagen und�hochpräzisionsgeräte –�china will jetzt�vieles selbstmachen.Maschinen zum�stanzen,�hobeln und�schneiden�waren�im�letzten�Jahr�wichtiges�deutsches�Ex-portgut.�luxusgüter�wie�edle�uhren�oder�„halbprodukte“�wie�etwa�rohre�laufen�ebenfalls�noch�ganz�gut.Der�wirtschaftliche�Erfolg�chinas�hängt�auch�mit�Billig-löhnen undDumpingpreisen zusammen.Diese interessie-ren�jedoch�nicht�denjenigen�in�der�Kette,�der�dafür�sorgt,�dass�die�Produkte�–�ob�billig,�ob�teuer�–�zum�Endverbrau-cher kommen. Denn auch wenn die Produktionskosten�sinken,�muss�der�Vertrieb�organisiert�werden�–�und�daran�lässt�sich�was�verdienen.�Der�Geheimnis�liegt�also�in�der�anpassungsfähigkeit der Zwischenhändler. „Wir sind�

Oben: „Chinapapst“ Henning MelchersUnten: Der Hafen vonHongkong 1908

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Opportunisten“,�erklärt�Melchers.�„Wir�gehen�dahin,�wo�man�Geld�verdienen�kann.“�Ein�klassischer�händler�folge�bekanntlich�den�handelsströmen�und� setze�nicht� selbst�akzente.�so�einer�ist�auch�torsten�rauch,�der�seit�dreißig�Jahren�bei�der�Melchers-tochtergesellschaft�„happy�Peo-ple“ für�den�Vertrieb�von�in�china hergestelltem�spielzeug�nach�Europa�zuständig�ist.�Das�unternehmen�lagert�1.300�verschiedene�Produkte�–�Plüschtiere,�Plastikautos,�arzt-koffer und, ganz aktuell,WM-schminke,WM-tröten oder�WM-hüte�–�in�einem�alten�speicher�im�Bremer�südhafen�und�vertreibt�sie�in�Europa.DieExistenz der�häfen ist derGrundton im�china-handel.�Denn�ohne�die�schiffe�wäre�man�gar�nicht�zueinander�ge-kommen.�sie sindmit der Zeit nur etwas größer geworden:�Diemehrere�hundertMeter langen „china-Pötte“ sindheu-te�oft�so�breit,�dass�sie�statt�durch�den�Panamakanal�durch�den�suezkanal�fahren�müssen.�Mehr�als�9.000�container�können�sie�transportieren.�auch�wenn�der�deutsche�con-tainer-Verkehr�in�den�1960er�Jahren�in�Bremen�anfing,�ist�heute�hamburg�Europas�wichtigster�asienhafen.�Im�con-tainerumschlag�hat�er�weltweit�die�größte�Wachstumsrate�nach�shanghai.�Mehr�als�300�chinesische�Firmen�haben�sich�schon�in�hamburg�angesiedelt,�es�gibt�einen�chine-sischen Kindergarten, eine chinesische�sonntagsschule,�viele�deutsch-chinesische�Vereine.�Von�der�chinesischen�„china�shipping�agency“�legen�wöchentlich�drei�schiffe�allein�am�Eurogate-terminal�im�hamburger�Waltershofer�hafen�an.�Dort�stehen�seit�april�die�modernsten�contai-ner-Entladekräne Europas: fünf chinesische „Brücken“,�hergestellt�von�„Zuan�Port�Machinery“,�120�Meter�hohe�Entladekräne,�die�fertig�montiert�geliefert�wurden.Der�asienhandel blüht, heutewie vor 150 Jahren.�allerdings�hat der�hauptstrommittlerweile die�richtung gewechselt:�von�china�nach�Europa.�Die�Importe�aus�china�erhöhten�sich�2005�um�20�Prozent,�die�deutschen�Exporte�dagegen�nur um1,3 Prozent.Das bedeutet in der�realität: Pro�schiff�

werden derzeit durchschnittlich 1.000 leere�container�zurück nach�china gebracht, weil sonst in�china die�container�fehlen�würden.�Über�dieses�„ungleichgewicht“�redetmannatürlich nicht gerne:�leere�container sind kein�gutesBild für einen florierendendeutschenExport.Nur ein�paar�Mal�im�Jahr�fahren�torsten�rauchs�„happy-People“-Einkäufer�auf�chinesische�Messen�und�schauen�sich�dort�Produkte an, die sie zugünstigstenBedingungen in�auftrag�geben. Ein europäischer�abteilungsleiter überwacht die�Geschäfte� vor�Ort.� „Das� ist� ganz�wichtig“,� sagt�torsten�rauch,� „denn�chinesen�sind�zwar�sehr� fleißig,� aber� sie�müssen�ab�und�zu�darauf�hingewiesen�werden,� zügiger�zu arbeiten.“�schnell ist das Geschäft geworden – auch�wenn�ein�container�21�bis�25�tage�von�hongkong�nach�Bremen�braucht.�Weil�sich�derzeit�stoffponies�besonders�gut�verkaufen,�bestellte�torsten�rauch�im�letzten�Jahr�100�container plüschiger Vierbeiner – zumVergleich:�rohpro-dukte lieferteman früher in 100- bis 500-tonnenladungen.�Die�Kuscheltiere�kosten�42�Euro�im�laden�–�würden�sie�in�Europa�hergestellt,�läge�der�Preis�bei�200�Euro.�sie�sind�„made in�china“, aber europatauglich: Nirgends fehlt�der�grüne�Punkt,�der�Barcode,�der�spruch�„Vorsicht�beim�Verschlucken vonKleinteilen“ in verschiedenen�sprachen,�der�herstellernachweis.�Das alles hat mit�tradition, Erfahrung und Konfuzius�nicht�mehr�viel�zu�tun,�sondern�mit�Kosten,�Märkten�und�Globalisierung.�Im�Gegensatz�zu�henning�Melchers,�der�fast�die�hälfte�der�Zeit�in�asien�verbracht�hat,�als�er�noch�aktiv�im�unternehmen�gearbeitet�hat,�war�torsten�rauch�noch�nie�in�china�–�er�will�da�auch�gar�nicht�hin.�Für�ihn�ist�china�einfach�irgendein�Produktionsstandort.�„Wenn�ich�mich�entscheiden�müsste“,�gibt�er�dann�aber�zu,�„zwi-schen�einem�Film�über�einen�chinesischen�Fluss�oder�über�das�rheinland,würde ich den chinesischen Fluss nehmen.“�henning�Melchers�erholt�sich�unterdessen�in�seinem�haus�auf�Mallorca.�Er�schaut�entspannt�in�die�Zukunft,�denn�das�unternehmen, das seinen Namen trägt, wird sich�immer�wieder�den�handelsströmen�anpassen.�seine�Pro-phezeihung:�Europa�muss�im�Dienstleistungssektor�stark�bleiben�und�sich�auf�Nischentechnologie,�Modeprodukte�und�tourismus konzentrieren.Derzeit baut „Melchers“ das�höchste�riesenradderWelt in�singapur.�henningMelchers‘�sohn�laurenz,�eines�seiner�drei�Kinder,�eruiert�unterdes-sen�einen�anderen�asiatischen�Markt:�Er�gründete�seine�eigene�„Melchers“-Firma�in�der�Mongolei�und�verkaufte�dort�zunächst�autos�wie�Mercedes�und�Mitsubishi.�Nun�beliefert er den expandierenden mongolischen Bergbau�mit Maschinen und�ausrüstung und kümmert sich um�alle anfallenden� servicefragen. „Ein außerordentlich�erfolgreiches�unternehmen“,�betont�der�Vater�stolz.�und�wenn�die�Mongolei�als�nächstes�Boomland�gefeiert�wird,�war�Melchers,�wie�immer,�schon�vor�allen�anderen�da.

China-Import-Schlager 2006: Plüschponies

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KULTUraUSTaUSCH 11/06 45

Wie kamen Sie zur Oper?Tian Mansha: Während der Kulturrevolution gab es

nur acht Modell-Opern. Danach, in den 1970er Jahren, haben die Theaterschulen wieder angefangen, Studenten aufzunehmen. Ich wollte eigentlich Tänzerin werden, aber die Schule hat nur Theaterstudenten aufgenommen. als ich 1979 angefangen habe zu studieren, wurde das Theater in China gerade neu geboren.

Wie hat sich die chinesische Oper seitdem verändert? Die Geschichte des chinesischen Theaters ist über 1000

Jahre alt. Wenn ich jetzt Theater mache, trage ich diese Vergangenheit in die Zukunft. Die regierung achtet sehr auf die Tradition und investiert viel Geld in sie.

Sie reden vom chinesischem Theater, ich fragte nach der Oper. Was ist der Unterschied?

Chinesisches Theater ist „Xiqu“. Man übersetzt das am ehesten als „traditionelles Chinesisches Musiktheater“. Oper ist eigentlich der falsche Begriff. „Xiqu“ umfasst mehrere Elemente: Singen, Sprechen, Schauspielern und Kampfkunst. Ein Schauspieler muss alle beherrschen.

Wie beliebt ist ‚Xiqu’ in China, wer sitzt im Publikum?Die Zuschauer sind meist über

40. Viele „Xiqu“-Schauspieler sind Stars in China. Ihre Groupies sehen alle Vorstellungen. Es ist wie rauchen, Weintrinken oder Teetrinken: eine Sucht. Man spielt seit Jahrenhunderten die gleichen Stücke.

Entwickelt sich die Tradition? am anfang waren die Ge-

schichten, die in „Xiqu“ erzählt wurden, ganz einfach. Es ging um einen Mann, der eine Frau heiratet, Happy End. Seit einiger Zeit aber spielt die Gesellschaft eine wichtigere rolle in den Ge-schichten.

Kann „Xiqu“ gesellschaftskritisch sein, wenn es so stark vom Staat gefördert ist?

Während der Kulturrevolution wurde ein Stück – es handelte von einem Beamten, der zurücktreten wollte –verboten, weil die regierung eine anspielung auf Mao Zedong vermutete. Danach hat sich keiner getraut, kritisch zu sein. Inzwischen ist man wieder freier geworden und behandelt Themen wie etwa die Korruption.

Gibt es westliche Einflüsse auf die „Xiqu“-Tradition?Früher standen Schauspieler im Mittelpunkt von „Xiqu“,

„regisseure“ kannte man nicht. Es gab einfach irgend-jemanden im Theater, der das Stück inszeniert und den Schauspielern erklärt hat. aber seine aufgabe war auch, das Stück weiterzugeben, von Generation zu Generation.

Wie wird „Xiqu“ im Westen rezipiert?Bereits in den 1930er Jahre hat sich der berühmte Schau-

spieler Mei Lanfang in Moskau mit Brecht, Meyerhold und Stanislawski getroffen. Schon damals stellte man fest, dass alle westlichen Theatertraditionen wie etwa der Ver-fremdungseffekt in „Xiqu“ enthalten sind. In den 1980ern wurde leider der Fehler gemacht, anzunehmen, dass die westlichen Zuschauer die Sprache nicht verstehen würden. Deshalb waren nur Stücke mit besonders viel Kampfkunst auf Gastspielreise in den Westen. „Xiqu“ wurde oft als Exotismus, nicht als Kunstform wahrgenommen.

Wie finden Sie die Zusammenarbeit mit Schauspielern und Regisseuren im Westen?

Ich war gerade drei Monate in New York und habe mit Schauspielern gearbeitet. Die Proben sind ganz anders. Die Schauspieler reden viel mit dem regisseur, es gibt ausei-nandersetzungen, Improvisation. Der regisseur inszeniert ein Stück so, dass der Schauspieler von innen heraus spielt. Das geht nicht in „Xiqu“, wo Bewegungen wie etwa für das Teetrinken oder Grüßen festgelegt sind.

Wie wird sich diese Kunstform weiterentwickeln? Heute hat man in China enorm viele Möglichkeiten,

sich zu amüsieren. Deswegen erlebt „Xiqu“ zurzeit eine Krise. Die älteren Schauspieler sterben. Die Fragen sind: wie man junge Talente gewinnen kann und wie sich „Xiqu“ mit der Gesellschaft entwickelt.

Aus dem Chinesischen von Suming Soun Das Interview führte Naomi Buck

„Die regierung achtet auf Tradition“Schauspieler der traditionellen chinesischen Oper müssen singen, sprechen, spielen und kämpfen können. Ein Gespräch mit der regisseurin Tian Mansha

Tian Mansha, 43 Jah-re alt, ist Regisseurin, Hochschullehrerin und eine der promi-nentesten Opern-künstlerinnen Chinas. Bereits zweimal erhielt sie den Pflaumenblü-tenpreis, die wichtigste chinesische Theateraus-zeichnung. Tian Man-sha lebt in Shanghai.

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Geben und Nehmen Chinas außenkulturpolitik am Beispiel Hongkongs

Von Michael Müller-Verweyen

Michael Müller-Ver-weyen, geboren 1956, arbeitete für das Goe-the-Institut in Kyoto, Japan, und Lagos, Nigeria. Seit 2005 ist er Leiter des Goethe-Institutes in Hongkong.

Wer sich mit Hongkong beschäftigen will, nähert sich am besten über die Grenze im Norden, von Shenzhen. Im Schnitt passieren sie täglich rund 245.700 Personen –mit acht Festnahmen pro Tag wegen versuchten ille-galen Grenzübertritts, so verzeichnet es das aktuelle vom Information Services Department der Hongkonger regierung herausgegebene Jahrbuch. Das Procedere ist einfach: Seit Januar 2006 wird eine automatisch lesbare ID-Card in einen apparat eingeschoben, eine Schleuse öffnet sich, und durch einen Daumenabdruck wird der Schleusenausgang aktiviert. Das Ganze ähnelt eher dem Betreten einer U-Bahn. auch wenn jede einzelne Person kontrolliert wird, fordert die Grenze förmlich dazu auf, sie zu durchschreiten, besonders die Hongkonger, für die keine Visumpflicht besteht. Die Bürger von Shenzhen dagegen benötigen ein Visum. Die Grenze ist also, was ein Begriff der Naturwissenschaften sehr genau beschreibt, selektivpermeabel. Die richtung, in der die Durchläs-sigkeit besteht, ist eindeutig nach Norden.

Die auflösung der britischen Kronkolonie Hongkong wurde nicht mit dem Terminus „Wiedervereinigung“ mit dem chinesischen mainland, sondern vielmehr als „hando-ver“ bezeichnet. Das hatte den Beiklang von auslieferung. Man rechnete acht Jahre nach der für Chinas ansehen im ausland verheerenden gewaltsamen Beendigung der Stu-dentenproteste auf dem Tiananmen-Platz in Peking mit einer ganz anderen art der Einflussnahme des mainlands. China aber ging dann sehr verantwortungsvoll mit dem handover um, indem es den ganzen Vorgang unaufgeregt gestaltete und jede direkte Beeinflussung vermied. Und indem es umgekehrt Hongkong erlaubte und aufforderte, den mit der Öffnung Chinas 1979 einsetzenden Prozess der Entindustrialisierung und des Übergangs von einem Produktionszentrum („made in Hongkong“) beschleunigt fortzusetzen zu einem Dienstleistungshub mit günstigen Produktionskapazitäten im Hinterland („outward pro-cessing“). Diese art vertikaler Integration geht natürlich nur mit entsprechend fortentwickelter Kommunikations-struktur. Sinnlich erfassbar wird diese am skizzierten Übertritt von Shenzhen nach Hongkong: Die Grenze zeigt eine so hohe Durchgangsfrequenz, dass Züge von Hongkong zwischen 6.30 bis 24 Uhr im 10-Minuten-Takt

fahren. Das Passagieraufkommen ist so stark, dass an der Grenze der eingehende Verkehr nach Hongkong mit automatischen Türen zu zwei verschiedenen Bahnsteigen geregelt wird. Kulturpolitisch ist es eine der aufgaben, diese horizontalen Kommunikationsstrukturen auszu-nutzen, beispielsweise indem man als Goethe-Institut in Hongkong ortsübergreifend tätig ist. Maßnahmen zur Stärkung des intellektuellen Diskurses über die Grenze sind in unserem Interesse.

Vertikale Kommunikationsstrukturen, vertiefte ausei-nandersetzungen mit sich selbst, ergänzen die erwähnten horizontalen Strukturen. „Ein Land – zwei Systeme“ ist die Formel, die Deng Xiaoping für das Verhältnis von Chi-na und Hongkong erfand, der eine Teil der Formel Hong-kongs politische Identität definierend, der andere seine ökonomische Identität. Für die kulturelle ist dabei etwas anderes entscheidend: seine Peripherie zum britischen Empire sowie zu Peking. Das brachte den Vorteil, sich herausgelöst von traditionellen Bindungen zu verstehen. Hongkonger sind stolz auf ihre Effizienz, auf die Schnel-ligkeit, in der die Stadt neue Entwicklungen durchläuft. Geschichte und Kultur spielen da zunächst keine rolle. Die Stadt zeigt wenig historisches Bewusstsein. Und das mit gewissem recht: Sicher ist es für die Entwicklung eines historischen Bewusstseins nicht hilfreich, wenn man Teil einer Geschichte ist, die zwar erfolgreich ist, aber aus einer Demütigung entstanden und letztlich ab 1842 fremdbestimmt war. Hier ist man stolz darauf, seinen Geschäften nachgehen zu können, ohne von Kul-tur gestört zu werden. Das sieht nach einer bequemen Mittellage aus. Hongkonger haben eine Doppelidentität als Hongkonger und als Chinesen, aber, so erklärt es der Soziologe ambrose Y. C. King von der angesehenen Chinese University in Hongkong: „Diese andere Identität erklärt sich eher durch politische Differenzen als durch kulturelle.“ Je mehr nun das referenzsystem China seine reibungsfläche aufgibt, und das ist die neue Situation nach 1997, desto stärker fühlt man sich in Hongkong stolz auf das, worauf auch die anderen Chinesen stolz sind: die Olympischen Spiele 2008 in Peking oder dass es China am 15. Oktober 2003 mit „Shenzhou 5“ erstmals und dann am 12. Oktober 2005 mit „Shenzhou 6“ ein zweites Mal gelang, aus eigener Kraft zwei Taikonauten ins all zu schießen und sicher zur Erde zurückzuholen. „Wenn man von der Gegenwart Hongkongs spricht, muss man auch seine chinesische Vergangenheit in Betracht ziehen” – so Professor King. Wenn man sich von Norden, von der Grenze her Hongkong nähert, wird erfahrbar, dass Fo

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KULTUraUSTaUSCH 11/06 49

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das „handover“ eine rückkehr der Geschichte mit sich bringt, die in Teilen erstaunliche Ähnlichkeiten mit der Situation von Deutschland ab 1989 zeigt. Man beschäftigt sich mit dem neuen/alten Nachbarn, man versteht sich als Teil eines Größeren.

Obwohl es zu einer aufwertung der region kommt, in der sich Hongkong nun als Teil wiederfindet, nämlich im Perlflussdelta, führt dieses nicht zu einer aufwertung der regionalen Sprache, des Kantonesischen. Vielmehr wird man – auch sprachlich – chinesischer. Die „Sprache des Nachbarn“ zu lernen, etwas, was EU-Förderprogramme angesichts der fallenden Grenzen in Europa immens er-folgreich seit den achtziger Jahren propagierten, ordnet in Hongkong die rangordnung der „Fremd“-Sprachen neu. Das von Peking aus zunächst rein innenpolitischen Gründen geförderte Hochchinesisch (abgeleitet aus dem Nordchinesischen) ist der große Gewinner auch in Hongkong, aber nicht weil Peking das so will, sondern weil Kantonesisch schon im erwähnten Shenzhen seine Brauchbarkeit einbüßt. Handelt es sich doch um eine Stadt, deren Einwohnerzahl durch Zuzug aus ganz China innerhalb von 20 Jahren von 30.000 auf über vier Mil-lionen anwuchs. Um das oben beschriebene Netzwerk zu bespielen, bedarf es einer gemeinsamen Sprache, eben des Hochchinesischen. Deutsch befindet sich nun in Konkurrenz mit Englisch. Ob chinesische Eliten auf längere Sicht Fremdsprachen lernen (oder sich das Lernen einer Fremdsprache aufgrund der weiten Verbreitung vom Chinesischen eher wie in den USa entwickelt), bleibt abzuwarten.

Im Kulturbereich setzt man noch auf Import, vor allem auf Ganzfertigprodukte. Zivilgesellschaften fördert man durch Import nicht. Das Hong Kong arts Festival ist das beste Beispiel für hohe akzeptanz der Bevölkerung: Von insgesamt etwa 120.000 Karten werden etwa 90 Prozent verkauft. Da es die lokalen Kulturschaffenden ausschließt, benachteiligt es die eigene Kunstproduktion geradezu: Warum sollte man zur Hong Kong Sinfonietta gehen, wenn man die Semperoper geboten bekommt? Entscheidend für Hongkong und seine Zukunft im Kulturbereich wird sein, ob es darin verharrt, seine Kulturimporte weiterhin schlicht als Standortvorteil für Unternehmen mit ausländischem Management zu definieren (denn an sie gehen vor allem die Karten des arts Festival). Bisher wird Kulturentwicklung meist als Wirtschaftsentwicklung im Sinn einer Förderung des kreativen Sektors (besonders des Films) begriffen. Man darf gespannt sein, ob in Hongkongs Kulturbereich der Mut entsteht, im Zuge des neuen Bewussteins das eigene kulturelle Profil zu schärfen. Dadurch würden sich auch andere, nichtstaatliche Foren etablieren, etwa so wie in

Deutschland die Kunstvereine, freie Schauspielschulen, die eine Konkurrenz zum Monopol (und zum vereinheitli-chenden Stil) der academy for the Performing arts bilden könnten. Ein guter Seismograph für solche Entwick-lungen ist der chinesische Kunstmarkt: Wann werden die Chinesen ihre eigene zeitgenössische Kunstproduktion so wertschätzen, dass sie diese kaufen?

Interessanterweise sind die von China für die nächsten Jahre in aussicht gestellten auslandskulturinstitute nicht

benannt nach einem berühmten Schriftsteller, etwa Li Bai oder Lu Xun, sondern nach Konfuzius, erkennbar ein Tribut an eine behauptete moralische Identität Chinas. Nun werden die Verträge zur Gründung dieser Konfu-zius-Institute angepasst an das Interesse des jeweiligen Gastlandes und Chinas. Insofern fordert China da auch etwas, was dazu führen wird, dass wir uns im Verhältnis mit China auf für uns ganz neue Formen des Gebens und Nehmens einlassen müssen.

Die bisher gegründeten Konfuzius-Institute in Berlin und Nürnberg-Erlangen sind an Universitäten angeglie-dert. Das mit der Volksrepublik China am 10. November 2005 geschlossene Kulturabkommen sieht die Gründung von selbstständigen Kulturinstituten vor, für die das chinesische Kultusministerium zuständig sein soll – ein ganz anderer Bezugsrahmen. Wie deren arbeit aussehen könnte, zeigt ab 20. Mai das „Museum für Moderne Kunst“ in Frankfurt am Main in der Fotoausstellung „Hu-manism in China“. Entwickelt wurde die ausstellung von Wang Huangsheng, dem Leiter des Guangdong Museum of art in Guangzhou/Kanton, realisiert 2003/4 in Peking, Shanghai und Guangzhou. Nun ist sie mit geringen Ein-schränkungen auf Wunsch der chinesischen Seite vom Westen übernommen worden. Vier Kapitel – Existenz, Beziehungen, Sehnsucht, Zeit – dokumentieren ein China, das man so nicht erwartet: individuelles Leben in breiter Vielfalt. Wir fördern vom ausland mehr, indem wir dem Nehmen ein stärkeres augenmerk geben.

Stratego

Chinesische Geschäftsleute laden ihre Verhandlungspartner gerne in Restaurants oder ins Bordell ein. Die Verbindung von Nützlichem und Angenehmem hat System: In ent-spannter Atmosphäre lässt sich rascher zu „Xietiao“ – „gemeinsamer Harmonie“ finden. In herkömmlicher Umgebung nimmt die Suche nach einem gemeinsamen Nenner viel Zeit in Anspruch, immer wieder enden Gespräche ergebnisoffen. Mancher ausländischer Geschäftsmann verliert da die Geduld. Doch „Xietiao“ ist ein komplexes Strategiespiel, dessen Regeln selbst bei politisch brisanten Verhandlungen zwischen China und Taiwan streng eingehalten werden – möglichst bei einem Geschäftsessen mit mehreren Gängen. (Quelle: Hanne Chen: Kultur Schock VR China/Taiwan, 2004)

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China

atmen lernenWarum dem gefügigsten Volk der Welt nur der aufstand bleibt

Von Wei Jingsheng

Geschäftsleute aus dem Westen stellen mir oft die Frage: „Warum lieben die Chinesen Unruhen?“ Meiner Meinung nach sind die Chinesen das gefügigste Volk der Welt. Sie schätzen die Ordnung sogar mehr noch als die Deutschen. Viele Theorien zur Geduld sind in China erfunden worden und sollten den Menschen beibringen, Unrecht zu erdulden und sich nicht dagegen aufzulehnen. Dennoch, die Falun-Gong-Bewegung, die Geduld als eine ihrer Grundtugenden betrachtet, wird von der regierung erbittert verfolgt. Viele ihrer Mitglieder wurden verhaftet und im Gefängnis gefoltert. Der anwalt Guo Zhicheng verteidigte sie vor Gericht, doch ihm wurde schon bald die Lizenz entzogen. aus Protest gegen die regierung trat er daraufhin in Hungerstreik. Viele Menschen, die sich selbst in einer ähnlichen Situation sahen und mit ihm sympathisierten, schlossen sich seinem Hungerstreik an und wurden daraufhin festgenommen. Der hier geschilderte Fall der Falun-Gong-Bewegung war nicht der einzige Fall von zivilem Widerstand. Vor ein paar Monaten kam es auch am Stadtrand von Youtou, einer re-lativ reichen Stadt in der Provinz Guangdong, zu blutigen auseinandersetzungen. Bauern, denen man entschädi-gungslos Land weggenommen hatte, sind auf die Straße gegangen und stießen mit der Polizei zusammen. Viele Bauern überlebten dies nicht. Die große Mehrheit der Chi-nesen versucht ihre anliegen zunächst auf dem rechtsweg zu klären. aber die Gesetze können den meisten Menschen nicht helfen, denn sie werden oft einfach gebeugt: anwälte werden verhaftet oder unter Druck gesetzt, und bei Gericht wird oft rechtswidrig entschieden. Deswegen wählten die Bauern von Youtou einen entschlosseneren Weg, um die Enteignung durch den Staat zu verhindern, und viele unter ihnen bezahlten dies am Ende mit dem Leben. Nach Schätzungen gibt es jährlich mehr als 78.000 Fälle wie diesen. Der eigentliche Grund dafür ist, dass eine neu aufgekommene Schicht der bürokratischen Kapitalisten Macht und Chancen monopolisiert hat. Sie pressen das Volk mit wirtschaftlichen und über das Gebiet der Wirt-schaft hinausreichenden Methoden aus. Die Behörden protegieren die bürokratischen Kapitalisten, und das Volk hat dabei das Nachsehen. Ihm bleibt nur der Protest gegen die regierung. auch wenn die regierung alles dafür tut,

die Unzufriedenen mundtot zu machen, so treten doch Jahr für Jahr Menschen hervor, die den Protest weiterführen. Dem anschein nach haben die westlichen Beobachter also recht, wenn sie sagen, die Chinesen liebten die Unruhe. Doch sind es die regierung und die mit ihr verbündete Schicht bürokratischer Kapitalisten, die die chinesische Bevölkerung aufbringen. Wie soll ein Land unter diesen Umständen zu ruhe und Stabilität gelangen?

Für die Menschen im Westen ist das Leben in einer demokratisch freiheitlichen Umgebung so natürlich wie das atmen. Sie können die Lage von Menschen, denen sinnbildlich gesprochen die Luft entzogen wird, nicht nachvollziehen. Sie sind vielmehr der Meinung, dass Luft doch nicht so wichtig sei. Erst wenn man in einer Grube festsitzt und das atmen schwierig wird, nimmt man wahr, dass Luft Leben bedeutet. Genau so geht es den Chinesen, denn sie leben in Unfreiheit. Wenn man anderen die Theorie vom Mangel an Luft erläutert, verstehen dies viele nicht. aber ginge es ihnen so wie den Chinesen, so würden auch sie vermutlich anfangen zu kämpfen, und Unruhe wäre die Folge.

Die ausbeutung und Unterdrückung der Menschen durch die tyrannische regierung der kommunistischen Partei Chinas wird immer unerträglicher. Die Menschen sind gezwungen, um ihrer Existenz willen zu kämpfen. Die regierung verschärft absichtlich noch den Konflikt zwischen den Klassen und in der Gesellschaft. Wird das derartige politische System und die Herrschaftspraxis nicht geändert, wird China keine Stabilität erlangen können. Statt die chinesische regierung dazu zu bewe-gen, ihre Herrschaftspraxis zu ändern, gibt die aktuelle China-Politik der Staaten des Westens der chinesischen regierung auch noch rückendeckung für die ausweitung ihrer Herrschaftsmöglichkeiten,

auf diese Weise schnürt man den Opfern aber noch zusätzlich Luft ab.

Aus dem Chinesischen von Suming Soun

Wei Jingsheng, gebo-ren 1950 in Peking, ist einer der be-kanntesten politischen Dissidenten Chinas. Er verbrachte 17 Jahre in chinesischen Gefängnissen und Arbeitslagern. Nach seiner Freilassung wurde er in die USA abgeschoben, wo er sich mit der Overseas Chinese Democracy Coalition und der Wei Jingsheng Foundation weiterhin für die De-mokratisierung Chinas einsetzt. 1998 wurde ihm zusammen mit Wang Dan der Men-schenrechtspreis der Demokratie-Stiftung des US-Kongresses ver-liehen. Er lebt in den Vereinigten Staaten.

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KULTUraUSTaUSCH 11/06 51

Menschenrechte made in China Warum der Konfuzianismus helfen könnte, China zu demokratisieren

von albert Chen

Albert Chen ist Profes-sor an der juristischen Fakultät der Uni-versität Hongkong.

Die Menschenrechte sind die heiligsten und bestgehüteten Werte der modernen Zivilisation, wie diese sich im Westen entwickelt hat. Die vornehmste absicht der konstitutio-nellen Verfassung einer liberalen Demokratie ist es, die sozialen und politischen Bedingungen zu sichern, unter denen Menschenrechte gedeihen und Menschen in Würde leben können.

Indes existierte das Konzept oder die Theorie von den Menschenrechten in vormodernen Zivilisationen nicht. So mag man Zweifel daran hegen, dass die chinesische Tra-dition, in der die Lehre des Konfuzianismus dominierend ist, eine vergleichbare Idee der Menschenrechte entwickelt hat. Wenn China auch im ökonomischen Modernisie-rungsprozess viel erreicht hat, steht es hinsichtlich einer politischen und gesetzlichen Modernisierung weit hinter vielen anderen Ländern zurück.

Stellt die chinesische Tradition, im speziellen der Konfuzianismus, ein Hindernis für eine solche Moder-nisierung dar?

Wie in der westlichen Tradition lassen sich auch in der chinesischen Tradition sowohl Strukturen finden, die mit der modernen Konzept der Menschenrechte übereinstim-men oder ihm förderlich sind, wie auch Strukturen, die ihm widersprechen.

Zu Ersteren zählen das konfuzianische Prinzip der Mildtätigkeit „ren“, das die grundlegende Norm für zwischenmenschliches Verhalten darstellt, sowie das ethische Prinzip der Mildtätigkeit „renzheng“, welches für die Seite des Herrschenden gilt und besagt, dass dieser seine Tugenden zur vollen Entfaltung bringen und seinen Untergebenen ein moralisches Vorbild sein muss. Weiter zählen hierzu die Bedeutung, die man dem beidseitigen Einvernehmen zwischen Herrscher und Getreuen beimisst wie auch den Wünschen des Volkes und das Bestreben, dessen Herzen zu gewinnen, statt seiner rein äußerlichen Unterwerfung. Darüber hinaus gehören dazu der Glaube an die moralische autonomie und die Perfektionierbarkeit jedes Einzelnen; aber auch die Idee der Gleichheit aller Menschen in ihrer Fähigkeit zu moralischer Besserung und Entfaltung, das humanistische Bild des Menschen als des edelsten Geschöpfes in der natürlichen und kos-mischen Ordnung; und schließlich der Glaube an die

metaphysischen Herrscher des Himmels „tianli“, welche das Universum regieren und die Quelle der Prinzipien von Gerechtigkeit und Moral darstellen.

Zu den Bestandteilen der chinesischen Tradition, die der modernen Idee der Menschenrechte widersprüchlich gegenüberstehen, gehörte früher die despotische Macht-konzentration in den Händen des Kaisers als himmlischer Sohn. Heute wird dieses patriarchalische Denken von den offiziell Lehrenden weitergegeben. So wird politische Be-teiligung von unten verhindert. Diese Mentalität zeigt sich auch in den sozialen Beziehungen, die starke Hierarchien von absoluter autorität und Unterwerfung mit sich bringen. Soziale Harmonie und Unterordnung des Einzelnen inner-halb der Familie sind selbstverständlich; Diese Faktoren tragen dazu bei, dass der Einzelne den anspruch auf seine rechte und seine Individualität schwerlich geltend machen kann. Man denke auch die harsche Bestrafung gegenüber potenziell aufrührerischen Veröffentlichungen.

Seit sich die Beziehungen zwischen China und dem Westen im 19. Jahrhundert ausweiteten, haben viele politische und gesetzliche Doktrinen aus dem Westen, einschließlich der Idee der Menschenrechte, festen Boden in der chinesischen Intellektuellenszene gewinnen können. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der Dis-kurs um die Menschenrechte unter chinesischen Denkern wohlwollend aufgenommen und fand anwendung unter po-litischen aktivisten, besonders jenen, die die herrschenden regierungen für ihre Menschenrechts-Verletzungen kri-tisierten. Die chinesischen Kommunisten selbst wandten diese Taktik an und benutzten die Menschenrechtsdebatte dazu, gegen die Kuomintang zu polemisieren.

Bedauernswerterweise verschwand der Diskurs um die Menschenrechte kurz nach der kommunistischen revolution vom chinesischen Festland, und für fast vier Jahrzehnte war das Thema für chinesische Gelehrte ein Tabu. Grund hierfür war vor allem, dass man die Idee der Menschenrechte als bürgerlich und ideologisch behaftet ansah – und deshalb unvereinbar mit dem sozialistischen Projekt.

Erst mit dem Jahr 1991 zeichnete sich eine Wende in der offiziellen Position der chinesischen regierung ab, als diese die Menschenrechtsdoktrin als Klausel einer ihrer Gesetzesvorlagen aufnahm. Seitdem sind in Festland-Chi-na viele Texte zum Thema Menschenrechte erschienen, die meisten plädieren enthusiastisch für sie.

Seit 1990 hat die chinesische regierung aktiver an den internationalen aktivitäten und dem Dialog zu Menschen-rechtsfragen teilgenommen. Höhepunkt dieser Entwick-lung war die Unterschrift, die China beim Internationalen

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Konvent zu ökonomischen, sozialen und kulturellen rechten im Jahre 1997 leistete, sowie beim Internationalen Konvent zu Bürger- und politischen rechten 1998 (wenn auch Letzterer von China noch nicht ratifiziert worden ist). China hat zudem an einer reihe internationaler Konventionen teilgenommen, die sich mit spezifischeren Themengebieten beschäftigen.

Während China in diesen Dialog eintrat, kam auch eine Debatte um Menschenrechte und asiatische Werte in Gang.

Die zentrale Frage ist hier, ob es eine universale Doktrin der Menschenrechte geben kann, die von allen Menschen aller Nationen und Kulturen gleichermaßen angenom-men werden kann. Ebenso diskutiert wird das ausmaß, in dem eine Kultur das Denken in menschenrechtlichen Kategorien erlernen kann. So stellt sich etwa die Frage, ob es bestimmte Strukturen innerhalb des Diskurses über Menschenrechte geben könnte, die kulturspezifische Ei-genheiten des Westens darstellen und von einer Tradition wie der chinesischen schwerer anzunehmen sind.

Fragen dieser art bergen die grundsätzliche Schwie-rigkeit, zu klären, was die chinesische Kultur als solche ausmacht. Wer entscheidet, was sie definiert? Ist die regie-rung ihr legitimes Sprachrohr? Oder sind es die Menschen, die in dieser Kultur leben? Ich glaube, dass man viel aus den arbeiten der Gelehrten erfahren kann: darüber, wie sich Geschichte, Philosophie und Kultur dieser Tradition gebildet haben.

Der wahrscheinlich herausragendste konfuzianische Philosoph des 20. Jahrhunderts ist Mou Zongan, der sein gesamtes Leben der aufarbeitung der philosophischen Tradition Chinas gewidmet hat.

Mou war sicherlich kein Liberaler im westlichen Sinne und außerdem ein heftiger Kritiker des Marxismus. Er war dem Konfuzianismus gänzlich verpflichtet und glaubte, dass dieser der Kern und die Hauptströmung der kulturellen, intellektuellen und philosophischen Tradi-tion Chinas sei. Was bemerkenswert ist an Mou, ist die Tatsache, dass er trotz seiner tiefen Hingabe an die kon-fuzianische Philosophie ein begeisterter und rückhaltloser

Verfechter der Übernahme der westlichen auffassung von Demokratie, Menschenrechten und Freiheit sowie von Verfassungs- und rechtsstaat war. Seiner ansicht nach war eine solche Entwicklung nicht nur vereinbar mit der chinesischen Kultur, sondern würde diese zu einer besseren Entfaltung befähigen.

Mit anderen Worten: Der aufbau einer konstituti-onellen Demokratie und die institutionell verankerte Garantie der Menschenrechte sind in Wirklichkeit Erfor-dernisse der konfuzianischen Werte selbst und werden deren Verwirklichung stark erleichtern. In anlehnung an das alte Sprichwort, das besagt, das erstrebenswerteste Leben sei ein Leben von „innerer Weisheit und äußerer Königlichkeit“, beschrieb Mou die Herausforderung Chinas und die Herausforderung eines zeitgenössischen Konfuzianismus als die „Öffnung hin zu einer neuen Form äußerlicher Königlichkeit“.

Wie viele andere konfuzianische Denker des 20. Jahrhunderts glaubte Mou, dass die Keime der Demokra-tie und der Menschenrechte innerhalb der kulturellen Tradition Chinas selbst lägen. Er entwickelte ein eigenes philosophisches Vokabular, um diesen aspekt der kul-turellen Tradition Chinas und den Mechanismus der Modernisierung zu diskutieren. Bereits in dieser Theorie entfaltete die kulturelle Tradition Chinas, insbesondere der Konfuzianismus, ihre volle rationalität oder Vernunft: sie beinhaltete bereits den Geist der Demokratie und der respektierung der Menschenrechte.

Was fehlte, war eine rationalität in der „erweiterten“ Bedeutung, also formelle und institutionelle Strukturen, an denen sich Demokratie und Menschenrechte festma-chen ließen.

Die Glaubenssätze des Konfuzianismus, die sich mit der Natur des Menschen, seinen Beziehungen und insbesondere den moralischen Verpflichtungen der Herrschenden ausei-nander setzen, machen den intentionalen aspekt der rati-onalität exemplarisch deutlich. Dennoch ist es der Westen, in dem der erweiterte Gesichtspunkt der rationalität zuerst heranreifte. Dieser aspekt fasst Elemente wie Demokratie, Verfassungsstaat, Volkssouveränität, parlamentarische Einrichtungen und den rechtsstaat zusammen.

Wenn Mou recht hat, dann sind der Konfuzianismus und die humanistischen Werte der kulturellen Tradition Chinas nicht nur keine Hindernisse für die politische und gesetzliche Modernisierung Chinas, sondern tragen im Grunde zu ihnen bei.

Zur gleichen Zeit, in der das chinesische Volk von den Leistungen der modernen westlichen Zivilisation lernt, sollte es daher die Moral und die spirituelle Stärke in der eigenen Tradition wiederentdecken und sein Vertrauen und seinen Stolz in ihre Errungenschaften wiederherstellen.

Es ist möglich, dass das chinesische Volk die Vorzüge

Gesicht wahren

Mit „Gesicht wahren“ wird in China die grundlegende Art bezeichnet, mit der man Harmo-nie erzeugt und bewahrt. Um die eigene Ehre und die des Gegenübers nicht zu verletzen, werden unangenehme Situationen vermieden. Kritik und Unbehagen werden nicht offen geäußert. Wiederholte Ausreden sollten daher als höfliche Absage verstanden werden. „Gesicht wahren“ kann auch bedeuten, die eigene Unwissenheit nicht preiszugeben. Die Frage, wo die nächste Busstation sei, wird man einem Suchenden eher falsch be-antworten, als sich und den anderen durch Unkenntnis zu brüskieren. (Quelle: Hanne Chen: Kultur Schock VR China/ Taiwan, 2004)

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Kulturaustausch 11/06 53

China

Was ist das China-Internet-Projekt an der Uni-versität Berkeley, das Sie seit 2003 leiten?

Xiao Qiang: Eine vir-tuelle chinesische Gemeinschaft, ein interaktives Netz-werk, das einen Bei-trag zur Demokra-tisisierung Chinas leisten soll.

Was ist das Haupt-ziel des Projekts?Das Projekt arbei-

tet zweigleisig. Die Forschung verfolgt das Zusammenspiel

von Medien und Politik in China, sowohl die Zensur als auch den Journalismus, vor allem in Form des „blogging“. „Blogs“ sind Webseiten, auf denen jeder schnell und einfach Inhalte pu-blizieren kann. Ein weiterer Bestandteil ist der inhaltliche Aufbau der „China Digital Times“, die versucht, ein „Nachrichtenaggregator“ für die Welt zu sein. Wir entwickeln auch Programme für die Ausbildung chinesischer Journalisten und diskutieren über den richtigen Umgang mit der Informationsindustrie.

Wer ist Ihre Zielgruppe?Die „China Digital Times“ (CDT) richtet sich an englischsprachige internationale Leser. Wir machen auch Artikel aus dem chinesischen Cyberspace für den Rest der Welt zugänglich. Zu-dem gibt es in China mehr als 10.000 Leser der CDT– ohne die englischsprechenden Geschäfts-leute in Peking.

Können chinesische Leser die Seite so unzen-siert sehen wie wir hier im Westen?Bis vor Kurzem war sie für chinesische Leser zwei Jahre lang zugänglich, dann wurde sie blockiert. Die gesamte URL-Nummer der Journalismus-schule Berkeley wurde blockiert. Wir haben den Inhalt der Webseite unter einem anderen Namen an einen anderen Ort exportiert.

Was sind, abgesehen von Zensur, die wesent-lichen Unterschiede zwischen der westlichen und der chinesischen Medienkultur?Die Medien in China haben einen völlig anderen politischen Ursprung, nämlich die Kommuni-stische Partei. Noch heute sind die Medien ihr Sprachrohr. Für Chinesen war und ist die Rolle der Medien gleichbedeutend mit der Kontrolle der Gesellschaft. Sie kennen die Alternativen nicht. In den 1920er und 1940er Jahren gab es kurze Perioden der Pressefreiheit, aber all das verschwand wieder. In den letzten 25 Jahren hat sich China gewaltig verändert, ökonomisch und sozial; Informationen und kulturelle Produkte strömen herein, so dass das Paradigma der Medien – als Hilfsmittel der herrschenden Macht zur Kontrolle der Gesellschaft – herausgefordert ist. Das Internet spielt dabei eine große Rolle.

Hat sich der Fokus der Zensur verändert?Das Internet, die kommerzielle Globalisierung und eine steigende Professionalität der Medien untergraben mehr und mehr die Kontrolle der Partei. Der Konflikt spitzt sich zu: Mehr Zei-tungen werden geschlossen, Leute inhaftiert, Produktionsmittel gehen in die Hände der Partei über, besonders in den letzten zwei Jahren.

Welches ist das einflussreichste Medienformat in China?Das urbane Leben, das Internet. Das Fernsehen

ist komplett in staatlicher Hand, also monopoli-siert, zumindest was Nachrichten und kulturelle Angelegenheiten betrifft. Print ist etwas anders, da gibt es eine Anzahl von eher kommerziell aus-gerichteten Zeitungen, die in den sozialen und Entertainment-Nachrichten progressiver sind, aber auf der politischen Seite nach wie vor der Parteikontrolle unterliegen. Am dynamischsten ist das Internet, wo der Nutzer Inhalte direkt und sofort abrufen kann, ohne seinen richtigen Na-men zu benutzen. Trotz aller Seitensperrungen und der Internetpolizei bleibt dies der interes-santeste Ort für den Austausch von Ideen und Informationen.

Wer hat Zugang zum Internet?China hat den zweitgrößten Anteil an Internet-nutzern der Welt. Laut offizieller Statistik sind es etwa 130 Millionen. Dies ist wenig, gemessen an den 1,3 Milliarden Menschen Chinesen. Von ih-nen leben allein 70 Prozent auf dem Land, wäh-rend sich alle ökonomische und politische Macht auf die städtische Bevölkerung konzentriert.

Welche Rolle spielen ausländische Internetfir-men in China? Internetfirmen wie Google, Yahoo, Microsoft spielen sicherlich eine große Rolle bei der Be-reitstellung von neuen Diensten. Das ist, glaube ich, eine gute Sache, wenn es dabei hilft, China politisch zu öffnen. Natürlich sind sie aus wirt-schaftlichen Gründen an China interessiert – für sie ist es ein Markt. Aber da sie an einem so um-strittenen Ort operieren, den Medien, sind sie di-rekt konfrontiert mit den Internet-Zensoren, der chinesischen Regierung und den progressiveren Nachrichten. Sie hängen mittendrin und können dem nicht ausweichen.

Das Gespräch führte Naomi Buck

und Einsichten des Konfuzianismus sowie weitere kostbare Bestandteile seiner reichen kulturellen tradition wieder- erstarken lässt und gleichzeitig an der weiteren Demokra-tisierung und dem besseren schutz der Menschenrechte arbeitet. Dies ist, so glaube ich, der Weg, der china in die Zukunft führt. Dies ist, so glaube ich, die lektion, die man aus dem immensen leid gezogen hat, welches das chinesische Volk in den antagonismen der Moderne im 19. und 20. Jahrhundert ertragen musste.

Aus dem Englischen von Valentina Heck

Demokratie digital

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Xiao Qiang, Leiter von www.chinadigitaltimes.net

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China

Der vierte BlockDie Weltordnung aus drei Blöcken ist am Ende: Die USa und Europa schauen zu, wie sich China und Indien mit Lateinamerika anfreunden

Von Noam Chomsky

tender Chefredakteur von „The Hindu“, meint: „Wenn das 21. Jahrhundert ein ‚asiatisches Jahrhundert‘ werden soll, dann muss Schluss sein mit der passiven Haltung asiens in Fragen der Energiepolitik.“ Der Schlüssel liegt in der Zusammenarbeit zwischen Indien und China. Im Januar wurde durch die Unterzeichnung eines abkommens „der Weg für eine Kooperation zwischen Indien und China geebnet, die sich nicht nur allgemein auf Technologie bezieht, sondern im Besonderen auf die Erforschung und Produktion von Wasserstoff; eine Partnerschaft, die“, wie Varadarjan betont, „schließlich die globalen Machtverhält-nisse in den Bereichen Öl und Erdgas verändern könnte“.

Ein weiterer Schritt, der bereits erwogen wird, wäre die Schaffung eines eigenen asiatischen Ölmarktes, dessen Währung der Euro sein könnte. Die potenziellen auswir-kungen sowohl auf die internationalen Finanzmärkte wie auch das globale Kräftegleichgewicht könnten bedeutend sein. So sollte es niemanden überraschen, dass Präsident Bush kürzlich Indien besuchte, um das Land mit angeboten zur Zusammenarbeit im Bereich der atomtechnologie und anderen anreizen bei der Stange zu halten.

In Lateinamerika dominieren inzwischen von Vene-zuela bis argentinien die Mitte-Links-regierungen. Die Bevölkerung indianischer abstammung ist aktiver ge-worden und hat an Einfluss gewonnen. Das gilt vor allem für Bolivien und Equador, wo man entweder die nationale Kontrolle über die Öl- und Gasindustrie anstrebt oder teils sogar grundsätzlich gegen die Förderung ist. Weite Teile der Bevölkerung indianischer abstammung sehen offenbar nicht ein, warum ihr Leben, ihre Gemeinschaften und Kulturen beeinträchtig oder zerstört werden sollen, damit ein paar New Yorker mit ihren „sport utility vehicles“ im Verkehrsstau stehen können.

Venezuela, der größte Erdölexporteur in dieser He-misphäre, hat von allen lateinamerikanischen Ländern wahrscheinlich die engsten Beziehungen zu China aufge-baut. Der Plan, die Öllieferungen an China zu erhöhen, ist Teil seiner anstrengungen, den Einfluss der offen feindlich eingestellten US-regierung zu reduzieren. Dass Venezuela Mercosur, dem südamerikanischen Freihandels-abkommen, beigetreten ist, beschreiben der argentinische Präsident Nestor Kirchner als einen „Meilenstein“ in der Entwicklung dieser Gemeinschaft und der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva als „neues Kapitel der Integrationsbestrebungen“.

Davon abgesehen, dass Venezuela argentinien mit Heizöl versorgt, hat das Land 2005 fast ein Drittel von argentiniens Schuldenlast aufgekauft – ein Schritt in dem Bestreben, die Kontrolle des Internationalen Währungs-

Die Aussicht, dass Europa und asien sich hin zu mehr Unabhängigkeit entwickeln könnten, hat US-amerika-nische Entscheidungsträger seit dem Zweiten Weltkrieg beunruhigt. Derartige Sorgen sind noch verstärkt worden, seitdem sich die Vorstellung von einer „dreigliedrigen“ Weltordnung verbreitet hat, die von den drei großen Blö-cken Europa, Nordamerika und asien bestimmt werde.

Und nun wird auch noch Lateinamerika mit jedem Tag etwas selbstbewusster. Während asien und Lateinamerika ihre Beziehungen ausbauen, wirkt die herrschende Su-permacht wie ein überzähliger Spieler, der in kein Team mehr passt, und reibt sich in sinnlosen abenteuern im Nahen Osten auf. regionale Zusammenschlüsse in asien und Lateinamerika sind ein wesentlicher und zunehmend wichtiger Punkt – und aus der Sicht Washingtons bezeich-nend für eine Welt, die sich den USa widersetzt und außer Kontrolle gerät. Dabei ist die Sorge um Energiequellen ein entscheidender Faktor und wird mehr und mehr zur Streitfrage.

Dass sich China anders als Europa von Washington nicht einschüchtern lässt, ist einer der Hauptgründe für die angst US-amerikanischer Strategen vor der Volksre-publik und verweist auf ein Dilemma: aufgrund der Wirt-schaftsinteressen US-amerikanischer Konzerne, die China als Exportland und wachsenden Markt sichern wollen, und in anbetracht von Chinas Finanzreserven, die sich einigen Berichten zufolge auf die Größenordnung derer Japans zu- bewegen, vermeidet man die direkte Konfrontation.

Nach dem Besuch von Saudi-arabiens König abdullah in Peking im Januar wird ein saudisch-chinesisches Me-morandum über „eine intensivierte Zusammenarbeit und wechselseitige Investitionen in den Bereichen Öl, Erdgas und Finanzen“ erwartet, wie es im „Wall Street Journal“ heißt. Schon jetzt fließt viel iranisches Öl nach China, und umgekehrt versorgt China Iran mit Waffen, die beide Länder wohl als Mittel zur Vereitelung US-amerikanischer Pläne sehen.

auch Indien hat Optionen: Es könnte sich verstärkt den USa zuwenden oder sich dem asiatischen Block anschlie-ßen, der sich gerade als unabhängige Kraft formiert und zunehmend engere Verbindungen zu den Ölproduzenten im Nahen Osten ausbaut. Siddarth Varadarjan, stellvertre-

Noam Chomsky, gebo-ren 1928 in Philadel-phia/Pennsylvania, ist Professor für Linguis-tik am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge. Sein Buch„Failed States: The Abuse of Power and the As-sault on Democracy“ erscheint im August 2006 im Verlag Antje Kunstmann, München.

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fonds (IWF) über die Länder dieser region zu verringern, nachdem die regeln, welche die von den USa dominierten internationalen Finanzinstitute über die letzten zwanzig Jahre diktierten, verheerende auswirkungen hatten.

Im Dezember 2005 wurde ein Zusammenrücken der südamerikanischen Länder durch die Wahl von Evo Mo-rales in Bolivien gefördert, dem ersten Präsidenten india-nischer abstammung. Morales beeilte sich, eine reihe von Energieabkommen mit Venezuela zu unterzeichnen. Die „Financial Times“ berichtete, man erwarte sich von diesen abkommen „eine Unterstützung radikaler reformen von Boliviens Wirtschafts- und Energiesektor“, zumal das Land über immense Erdgasvorräte verfüge, die zweitgrößten in Südamerika.

auch die Beziehungen zwischen Kuba und Venezuela werden zunehmend enger geknüpft, wovon sich jedes der Länder gleichermaßen Vorteile erhofft. Venezuela bietet preiswertes Erdöl, während Kuba im austausch alphabeti-sierungs- und Gesundheitsprogramme unterstützt, indem es Tausende von gut ausgebildeten Lehrern und Ärzten ins Land schickt, die in den ärmsten und entlegensten Gegenden arbeiten, so wie sie dies in unterschiedlichen Gegenden der Dritten Welt tun.

auch anderswo ist medizinische Hilfe aus Kuba will-kommen. Eine der schlimmsten Tragödien der ver-gangenen Jahre war das Erdbeben in Pakistan Oktober

2005. Zu den vielen Todesopfern kam eine unbekannte Zahl von Menschen, die infolge der Katastrophe einem brutalen Winter ohne ausreichenden Schutz gegen die Witterung, ohne ausreichende Nahrungsmittelversorgung oder medizinische Hilfe ausgesetzt waren. „Kuba hat in Pakistan das größte Kontingent an Ärzten und Sanitätern gestellt“ und kam auch für alle Kosten auf (vielleicht mit Hilfe Venezuelas), schreibt John Cherian in der indischen Zeitung „Frontline“ und zitiert dabei „Dawn“, eine der führenden Tageszeitungen Pakistans.

Der pakistanische Präsident Pervez Musharraf brachte Fidel Castro gegenüber „tiefe Dankbarkeit“ für das „Enga-gement und Mitgefühl“ der medizinischen Teams aus Kuba zum ausdruck: Berichten zufolge hatten mehr als 1000 gut ausgebildete Mitarbeiter – davon 44 Prozent Frauen –ihre arbeit in entlegenen Gebirgsgegenden fortgesetzt, „bei niedrigsten Temperaturen und in völlig fremder Umge-bung in Zelten ausgeharrt“, nachdem westliche Hilfsteams schon abgereist waren.

Wachsende Volksbewegungen, die sich vor allem in Süd-amerika formieren, aber auch in den reichen Industrienati-onen Unterstützung finden, dienen als Grundlage für viele dieser Entwicklungen hin zu mehr Unabhängigkeit und Sorge für die Nöte der großen Bevölkerungsmehrheit.

Aus dem Englischen von Loel Zwecker

Literaturhinweise

Die deutsch-chinesischen Kulturbeziehungen seit 1990Auswahlbibliografie.

Die kommentierte Literaturliste der ifa-Bibliothek bietet Informationen zu:

Konzepten, Maßnahmen und Trägern der Auswärtigen Kulturpolitik | Bildungs- und Wissenschafts-beziehungen | Deutsche Sprache und Germanistik in der VR China | Chinastudien/Sinologie in Deutschland | Perzeption beider Länder | Selbstverständnis der chinesischen Außenkulturpolitik auf internationaler Ebene

Stand: März 2006

http://cms.ifa.de/bibliografien/china

Alle Titel sind in der Bibliothek des ifa ausleihbar

Institut für Auslandsbeziehungen BibliothekPostfach 10 24 63 |D - 70020 Stuttgart | Tel: 0711/22 25 - 147 | Fax: 0711/22 25-131Email: [email protected]

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BündnisfallNordkorea, Japan, Indien: Wie China die Beziehungen zu seinen asiatischen Nachbarn regulieren will

Von Lin Jinbo

der ideologischen Nähe oder dem 1961 unterschriebenen „Vertrag zur Zusammenarbeit“ als typisches Modell eines politischen und militärischen Sonderbündnisses gesehen. Nach dem Ende des Kalten Krieges, dem 11. September und der zweiten atomkrise um Nordkorea steht die Kontinu-ität dieses Sonderbündnisses vor neuen Schwierigkeiten. Gleichzeitig bieten die Umstände auch einen realistischen Wendepunkt für eine Neuordnung des Verhältnisses beider Länder. Während China versucht, Nordkorea zu überreden, auf atomwaffen zu verzichten, motiviert es Nordkorea unaufhörlich, sich zu öffnen und zu reformieren. Zugleich entwickelt China mit dem Hilfsangebot von reis- und Energielieferungen intensive Handelsbeziehungen zu Nordkorea. Die neueste Statistik in China zeigt, dass 2005 das Handelsvolumen zwischen China und Nordkorea 1,58 Milliarden US-Dollar erreicht hat. Im Vergleich zu 2004 ist es damit um 14,1 Prozent gestiegen. Die intensivierten Handelsbeziehungen zwischen China und Nordkorea bedeuten jedoch nicht, dass der Einfluss Chinas auf die Politik Nordkoreas weiter wächst. Nordkoreas Staatschef, Kim Jong-il, beobachtet zwar die Öffnung und reformie-rung Chinas, aber ein Entschluss Nordkoreas, auf das atomwaffenprogramm zu verzichten, sich selbst zu öffnen und zu reformieren, lässt sich nach wie vor nicht feststellen. Wie China diese Beziehungen entwickelt und in welcher richtung es sie steuert, wird auch weiterhin ein Thema der chinesischen außenpolitik sein.

Im Vergleich zu den Beziehungen mit Nordkorea fällt China die Zuversicht in den Beziehungen mit Japan schwerer. Seit der aufnahme der diplomatischen Bezie-hungen mit Japan im Jahre 1972 sind bald 30 Jahre ver-gangen, und mit den Handelsbeziehungen haben China und Japan ein Verhältnis gegenseitiger abhängigkeit entwickelt. Die chinesische Statistik zeigt, dass 2005 das Handels-aufkommen zwischen China und Japan 184,4 Milliarden US-Dollar erreicht hat. Erwartet werden für 2006 über 200 Milliarden US-Dollar. Japan ist schon lange der wichtigste ausländische Investor in China. aber seit Mitte der 1990er Jahre zeigen die Beziehungen zwischen China und Japan rückgangstendenzen. Nach 2005 haben sie den niedrigsten Punkt seit der aufnahme der diplomatischen Beziehungen erreicht. Im augenblick beeinträchtigen das Problem des Umgangs mit der Geschichte, der Taiwankonflikt, der Kon-flikt in der Ostchinesischen See, sowie die Feindseligkeit zwischen den Bürgern beider Seiten das Verhältnis beider Länder enorm. außerdem ist die angelegenheit um den Yasukuni-Schrein als das Kernproblem der Geschichtsaus-legung in den Fokus der antagonismen gerückt. Nur mit einer langfristigen Zusammenarbeit können China und

Als größtes Land Ostasiens und mit zunehmender Ein-flussnahme auf die Welt spielt China eine tragende rolle bei der Stabilisierung des Friedens und der Förderung wirtschaftlicher Entwicklung . China hat atom-Gespräche mit sechs Ländern organisiert, die Wirtschaftskooperation zwischen China, Japan, Nordkorea und des „China-aSEaN Expo Summit for International Cooperation“ (CaESIC) sowie den Prozess der Einheit Ostasiens vorangetrieben. Diese Entwicklungen zeigen, dass China angefangen hat, im Bereich der Sicherheit und der Wirtschaft eine konstruktive Funktion auszuüben. Dass der Prozess der Sechs-Länder-atom-Gespräche jedoch ins Stocken geraten ist und die Beziehungen zwischen China und Japan sich offenbar verschlechtern, macht andererseits deutlich, dass China, will es seine Funktion erfolgreich ausüben, sich noch vielen Herausforderungen im Innern wie nach außen zu stellen hat. Um diese zu bewältigen, muss China einerseits auf einer gewissen strategischen Höhe die diplomatischen Beziehungen mit den Nachbarländern regulieren und ver-bessern. andererseits muss China genug Mut haben, sich in seinem Denken weiter zu öffnen, um auf die anforderungen sich wandelnder internationaler Entwicklungen reagieren zu können. Seit China unter der Führung Deng Xiaopings eine reform- und Öffnungspolitik eingeführt hat und eine außenpolitik verfolgt, die sich über politische Differenzen stellt, erholen sich die Beziehungen zwischen China und seinen Nachbarländern allmählich. Seit den neunziger Jah-ren des letzten Jahrhunderts hat China sein Verhältnis zu den Ländern Südostasiens in der Breite dadurch verbessert, dass es die diplomatischen Beziehungen mit Indonesien wie-derhergestellt, die Beziehungen mit Vietnam verbessert und diplomatische Beziehungen zu Singapur aufgenommen hat. China entwickelt durch den aufbau diplomatischer Bezie-hungen mit Südkorea ausgewogene und freundschaftliche Beziehungen zu beiden Seiten der Halbinsel, dem Norden und dem Süden. Durch die Einrichtung der „Shanghai Cooperation Organization“ hat China mit russland und den Nahostländern eine stabile Beziehung des gegenseitigen Vertrauens und der Zusammenarbeit aufgebaut.

Was die Beziehungen zwischen China und Nordkorea betrifft, so wurden diese lange Zeit aufgrund des Kalten Krieges, der chinesischen Beteiligung am Korea-Krieg,

Lin Jinbo, geboren 1943, arbeitet als Pro-fessor am „China In-stitute of International Studies“ in Peking.

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China

Japan den aufkommenden Nationalismus im jeweiligen Land unter Kontrolle bringen und im Umgang mit der Vergangenheit einen Kompromiss erzielen.

Die krisenhafte Pattsituation zwischen China und Japan lässt eine instabile Zukunft für die Beziehungen beider Länder prognostizieren. Wenn beide regierungen es nicht schaffen, in kurzer Zeit die negativen Faktoren zu beseiti-gen, ist selbst ein militärischer Konflikt nicht ausgeschlos-sen. Obwohl die Beziehungen zwischen beiden Ländern derzeit unter so ungünstigen Bedingungen stehen, haben die beiden Länder noch immer den Vorsatz, eine freund-schaftliche Beziehung zu erhalten und zu entwickeln. Wenn sie Maßnahmen ergreifen, um den beiderseitigen Nutzen und den raum für Zusammenarbeit zu erweitern, kann die Beziehung zwischen China und Japan immer noch eine relativ optimistische Entwicklungsaussicht haben.

Die Verbesserung der Beziehungen mit Indien in den letzten Jahren ist ein großer Erfolg Chinas in der außen-politik in asien. Über 40 Jahre gab es im Grenzkonflikt zwischen China und Indien aufgrund des Tibet-Problems keine tiefgreifenden Besserungen. Erst als man 2003 den Vertrag der „ankündigung zu den Prinzipien in den Beziehungen zwischen China und Indien und zu einer umfassenden Zusammenarbeit“ unterschrieben hatte, erkannte Indien Tibet als einen Teil Chinas an. Damit be-gann in den Beziehungen zwischen China und Indien ein neuer abschnitt. Nicht nur die politischen Beziehungen entwickeln sich seitdem gut, auch das Handelsvolumen steigt rasch an. Nach einer chinesischen Statistik hat 2005 das Handelsaufkommen mit Indien 18,7 Milliarden US-Dol-lar erreicht. Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein anstieg von 37,4 Prozent. Voraussichtlich wird China bald die USa als größten Handelspartner Indiens ersetzen. Von Indiens Seite wird von Tag zu Tag der ruf lauter, die Beziehungen zu China zu intensivieren. Während es die Beziehungen zu den USa und zu Japan aufbaut, verneint Indien un-missverständlich, negative absichten China gegenüber zu haben. aus der chinesischen Perspektive unterstützt China Indien dabei, ständiges Mitglied im UNO-Sicherheitsrat zu werden; man befürchtet nicht, dass Indien zu einer Macht werden könne, die gemeinsam mit den USa und Japan versuchen könnte, China auszubremsen. außerdem bemüht sich China, zwischen Pakistan und Indien eine ausbalancierte diplomatische Beziehung zu entwickeln, um Missverständnisse oder Misstrauen möglichst zu vermeiden. Für das größte Problem, das Grenzproblem, hat man allerdings noch zu keiner Lösung gefunden. Weil beide Länder ungefähr das gleiche wirtschaftliche Niveau haben, entsteht außerdem eine Konkurrenz um Energien und Märkte. 2006 ist jedoch ein freundschaftliches Jahr für China und Indien, beide Staatschefs werden mehr Zeit

und Chancen haben, die Probleme, die die Geschichte hinterlassen hat, zu lösen.

Wenn man die rolle Chinas in Ostasien hinterfragt, stellt sich unvermeidlich das Taiwan-Problem. In den letzten Jahren ist China in seiner reaktion auf die He-rausforderung, die vom ruf Taiwans nach Unabhängigkeit ausgeht, von einer baldigen Vereinigung auf die strenge Unterdrückung der Unabhängigkeitsbestrebungen Taiwans umgeschwenkt. Im intensiven Dialog mit der Oppositions-partei hat man gewisse positive resultate erzielt. Doch die Führungsspitze Taiwans hat ihre Schritte hin zur „Lega-lisierung der Unabhängigkeit“ noch nicht eingestellt. Die Herausforderungen für China haben die Tendenz, größer zu werden. Es gilt, in der Taiwan-Frage zu einer Übereinkunft mit den asiatischen Nachbarländern zu kommen.

Seit China den „umfassenden aufbau einer Wohl-standsgesellschaft“ als Kernpolitik des Staates festgelegt hat, sind „der Dienst am aufbau der Wirtschaft“ und „das Schaffen eines für den umfassenden aufbau einer Wohl-

standsgesellschaft günstigen internationalen Umfeldes“ zu den neuen Leitprinzipien der chinesischen außenpolitik geworden. aus der „Einheitsfront“, die die auf der Ideologie und Philosophie von „revolution“ und „Kampf“ basierende außenpolitik darstellte, entwickelt sich eine multilaterale, weniger ideologisch getragene, „realistische“ und „koo-perative“ außenpolitik. Seit ein paar Jahren sucht China nach neuen Idealen und treibt eine neue Praxis voran. So propagiert man etwa neue ansichten zur Sicherheit, die geprägt sind von „gegenseitigem Vertrauen, gegenseitiger Begünstigung, Gleichberechtigung und Kooperation“, einer „Entwicklung in Frieden“, einer „multilateralen außenpolitik“ und „gemeinsamem Gewinn“. außerdem bringt China in den Beziehungen zu den asiatischen Nach-barländern diplomatische Prinzipien zum Einsatz, wie die „Begünstigung der Nachbarn und Betrachtung der Nach-barn als Partner“, „freundschaftliche Beziehungen zu den Nachbarn, Beruhigung der Nachbarn und Bereicherung der Nachbarn“. aber diese Suche kann die anforderungen der Zeit nicht befriedigen. China muss sich noch weiter öffnen und mit mehr Mut die Erneuerung der diplomatischen Ideen und des Systems einführen, damit es seine Funktion für die Sicherheit und Wirtschaft in Ostasien konstruktiver wahrnehmen kann.

Aus dem Chinesischen von Suming Soun

China wird demnächst die USA als größten Handelspartner Indiens ersetzen

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Shopping in DarfurWarum China und afrika erfolgreich miteinander handeln

Von Leni Wild

Leni Wild, 1981 in London geboren, ist Forschungsstipendia-tin im Internationalen Programm des Insti-tute for Public Policy Research (IPPR) in London. Vor kurzem startete das IPPR das Forschungsprojekt „Die Rolle Chinas in Afrika“. Einzelheiten unter www.ippr.org/international

Noch nie wurde afrika so viel politische aufmerksamkeit zuteil wie im Jahr 2005: durch den afrika-Schwerpunkt, den Tony Blair während der englischen G8-Präsidentschaft setzte. Ein Thema allerdings, das besonders viele Implikati-onen birgt, fehlte in den internationalen Diskussionen: die rolle, die China in afrika spielt. Welchen Einfluss China mittlerweile als bedeutender akteur in afrika gewonnen hat, wird von Entscheidungsträgern in der internationalen Politik nach wie vor unterschätzt. außerdem hat es die internationale Politik versäumt, China in afrikanische angelegenheiten einzubinden.

Während des Kalten Krieges zeigte sich das Engagement Chinas in afrika beispielhaft am Einsatz Tausender chi-nesischer arbeiter beim Bau der 1.896 Kilometer langen Tazara-Eisenbahnlinie, die die tansanische Hafenstadt Daressalaam mit dem Kupfergürtel Sambias verbindet. Dieses Geschenk Mao Tse-tungs war Teil des Versuchs, den Kommunismus durch Prestigeprojekte in alle Teile afrikas zu tragen. Dreißig Jahre später fällt fast nieman-dem auf, wie sehr sich die chinesische Investitionstätigkeit seitdem verstärkt hat. Heute sind der Kapitalismus und der Bedarf an natürlichen ressourcen die Kraftquellen für die rolle Chinas.

Nach einem neueren Bericht der „Financial Times“ im März 2006 hat sich durch den Vormarsch Chinas die Investitions- und Handelslandschaft in afrika innerhalb weniger Jahre verändert. Mit hohem Tempo hat sich das Land als einer der wichtigsten Handelspartner afrikas etabliert und in dieser Hinsicht Großbritannien bereits hinter sich gelassen, wenngleich es noch hinter den USaund Frankreich liegt. real hat sich das Handelsvolumen zwischen China und afrika seit 2000 nahezu vervierfacht und machte nach chinesischen angaben allein im letzten Jahr einen Sprung von 36 Prozent auf nunmehr 33,4 Mil-liarden Euro. Im gleichen Zeitraum haben sich mehr als 500 chinesische Unternehmen und Zehntausende junger chinesischer arbeitskräfte in afrika niedergelassen.

Was bedeuten diese rege Investitionstätigkeit und die intensivierten Handelsbeziehungen für afrika? In Westafrika ist die chinesische Bautätigkeit dem anschein nach flächendeckend präsent. Nach aussagen von Kom-mentatoren wird Freetown, die Hauptstadt von Sierra

Leone, von chinesischen Neubauten dominiert. Während dieses Land bei westlichen regierungen in erster Linie als Hilfsempfänger gilt, sehen die regierung und die staatli-chen Unternehmen Chinas in Ländern wie Sierra Leone Chancen für langfristige Investitionen. Manche afrikaner sind frustriert von der Bürokratie und den drückenden auf-lagen der G8-regierungen und multilateralen Geber. Für sie ist das investive Engagement Chinas eine alternative: „Die Chinesen investieren in afrika im großen Stil und erreichen wirklich etwas, während die G8 sehr viel Geld ins Land pumpen und kaum Ergebnisse sehen“, so Sahr Jonny, der Botschafter Sierra Leones in Peking.

Viele Menschen in afrika bewundern das chinesische Modell, weil es schnelles Wirtschaftswachstum mit poli-tischer Stabilität verbindet. Dass es China innerhalb von 20 Jahren gelungen ist, 400 Millionen Menschen im eigenen Land von armut zu befreien, markiert einen deutlichen Gegensatz zur armutsbekämpfung unter der Losung „Ma-ke Poverty History“, einem Zusammenschluss englischer Wohltätigkeitsvereine, Gewerkschaften und Prominenter, auf dem afrikanischen Kontinent.

Ob afrika von der rolle Chinas konkrete Vorteile zu erwarten hat, ist allerdings fraglich. Investitionen ohne auflagen mögen zwar für das eine oder andere regime ihren reiz haben, schwächen jedoch den Einf luss in-ternationaler Menschenrechts- und anti-Korruptions-Initiativen. Das Gleiche gilt für Initiativen, die sich für eine transparente Gewinnverteilung einsetzen. Beispiel angola: Der Internationale Währungsfonds und andere hatten die angolanische regierung gedrängt, für mehr Transparenz in der Erdölwirtschaft des Landes zu sorgen und im Vorfeld einer geplanten Geberkonferenz noch andere reformen durchzuführen. Im Juni 2005 befand man die reformbemühungen angolas als unzureichend und vertagte die Geberkonferenz. Dass die angolaner sich so wenig genötigt sahen, auf den Druck der west-lichen Geberländer zu reagieren, wird maßgeblich darauf zurückgeführt, dass China dem Land im rahmen eines längerfristig angelegten Hilfspakets einen zinsgünstigen Kredit in Höhe von zwei Milliarden US-Dollar angeboten hatte. Durch Entwicklungen dieser art wird der Erfolg internationaler Bemühungen um eine transparentere Gewinnverteilung im Bereich der Bodenschätze ernsthaft in Frage gestellt.

Zudem ist China ein loyaler Verbündeter einiger afrika-nischer Staaten, die am schlechtesten regiert werden und auf deren Konto schlimmste Menschenrechtsverletzungen gehen. So nutzte China seinen Sitz im UN-Sicherheitsrat, um die sudanesische regierung in Khartum vor interna- Fo

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tionalen Sanktionen zu bewahren, während gleichzeitig lokale und regionale aktivisten nach einer Intervention riefen, die EU massive Menschenrechtsverletzungen in Darfur anprangerte und die US-administration Sudan Völkermord vorwarf. China ist an der international tätigen „aBCO Corporation“ beteiligt, die derzeit in Darfur nach Öl bohrt. China gehört auch zu den wichtigen Lieferanten von Militärausrüstung für die regierung des Sudan.

China ist der wichtigste internationale Verbündete von robert Mugabe in Zimbabwe. Während Mugabe von der internationalen Gemeinschaft beinahe ausnahmslos gemie-den wird, engagieren sich die Chinesen in Zimbabwe im großen Stil und investieren kräftig in Bergbau, Straßenbau und Landwirtschaft. Während die EU ihr Waffenembargo gegen Zimbabwe aufrechterhält, wird das Land von den Chinesen mit großen Mengen an Militärausrüstung und sogar mit K8-Kampfjets beliefert. auch hat China während des Krieges Ende der 1990er Jahre sowohl Äthiopien als auch Eritrea mit großen Mengen an militärischem Gerät im Wert von einer geschätzten Milliarde US-Dollar versorgt. In der Demokratischen republik Kongo – auch dies ein von Bürgerkrieg, schlechter regierung und Menschen-rechtsverletzungen geplagtes Land – investiert China in Kobalt- und Kupferminen und ist intensiv an Vorhaben zur Energiegewinnung beteiligt.

China darum international zum außenseiter abzu-stempeln wäre jedoch kontraproduktiv. Während die chi-nesische Präsenz in afrika große Fragen aufwirft, wurde wenig unternommen, um China bei seiner afrikapolitik in die Pflicht zu nehmen. Dies sollte Vorrang haben. Zwar war der chinesische Premierminister Hu Jintao beim G8-Gipfel 2005 in Gleneagles, bei dem afrika auf der Tagesordnung stand, doch es wurde versäumt, mit ihm das Gespräch über afrikanische Fragen zu suchen. auch in anderen Gremien wie den Vereinten Nationen oder dem african Partners Forum kam Chinas rolle in afrika nicht zur Sprache.

Die regierungen des Westens und die internationalen Institutionen müssen neue Wege finden, um sich in afrika mit China zu verständigen. Denn Chinas Zielsetzungen gehen über das rein Wirtschaftliche hinaus. China strebt danach, als bedeutender Machtfaktor anerkannt zu werden. Beispielsweise unterstützt China verstärkt die aktivitäten der Vereinten Nationen – auch die Entsendung von Frie-denstruppen in afrika. Dadurch entsteht die Chance, gemeinsame Interessen zu erkennen, auf gemeinsame Probleme mit aufeinander abgestimmten Strategien zu re-agieren und mit Interessenkonflikten umgehen zu lernen. Dies wird mehr Erfolg bringen als der einfältige Versuch, Chinas Einfluss zu begrenzen, denn die Bedeutung Chinas für afrika wird voraussichtlich eher zunehmen.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

Vitamin B

„Guanxi“– Beziehungen – braucht man in China nicht nur zum Erklimmen der Karrierelei-ter. Selbst in öffentlichen Verkehrsmitteln hilft es, vor der Fahrt den Fahrer anzusprechen, um sich einen Sitzplatz zu sichern. Jede Gefälligkeit sollte man im Kopf behalten und bei Gelegenheit wiedergeben. Gegenseitigkeit ist oberstes „Guanxi“-Prinzip. Fremden mag es schwer fallen, den Überblick über Hilfs- und Gegenleistungen zu wahren. Zumal nicht nur die Anzahl der geknüpften Beziehungsknoten, sondern auch deren Enge zählt. Eine einmal geknüpfte Beziehung ist nicht zu unterschätzen: Was im Bus als Wohltat nach einem anstrengenden Arbeitstag begann, kann bei ausdauernder Kontaktpflege zu einem Posten im Aufsichtsrat verhelfen. (Quelle: Hanne Chen: Kultur Schock VR China/Taiwan,2004)

Fisch gehabt

In China sind Doppeldeutigkeiten verbreitet und beliebt. So heißt etwa das Wort „Fisch“ auf Chinesisch „yu“. „Yu“ wird aber auch das Schriftzeichen für Reichtum und Überfluss ausgesprochen. Nach demselben Prinzip wird die blutsaugende Fledermaus zu einem Glückstier, da Fledermaus „fu“ und Glück „fu“ gleich klingen. Wie präsent solche Wort-spiele sind, kann man im Restaurant erleben. Ein Geschäftsmann berichtete von einem Essen mit seinen chinesischen Partnern, bei dem unter den Gerichten, von denen sich jeder ein Häppchen nimmt, auch ein köstlicher Fisch war. Als er den Fisch umdrehen wollte, riefen die chinesischen Gastgeber: „Nein! Das bringt Unglück!“ Denn der Fisch bedeute Reichtum, den man doch nicht zum Kentern bringen wolle. Deshalb gehört ein Aquarium mit stattlichen Goldfischen zur Grundausstattung jedes chinesischen Restaurants: zum Ankurbeln der Geschäfte. Und auf Glückwunschkarten sind häufig Fischmotive abgebildet. (Dagmar Gürtler, www.chinesign.de )

Die Chinakarte auf der folgenden Doppelseite ist entnommen aus Alexander Gesamtausgabe Seite 90-91, Klett-Perthes Verlag.

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MagazinIn Europa

Gespaltene ZungeWarum Flamen und Wallonen in Belgien sich einfach nicht verstehen

Liebe Europäerinnen und Europäer!Eine Europarede für jeden Anlass

Forum

4,7 Prozent EuropaWie die europäische Einheit politisch genutzt werden könnte

Kulturdialog – wonach klingt das? Thomas Krüger und Susanne Weigelin-Schwiedrzik suchen ein neues Wort

Hochschule

„Wir werden glücklicher“Ein Interview mit dem nieder-ländischen Glücksforscher Ruut Veenhoven

Meine Uni ist die WeltDas Jetsetleben mobiler Studenten

Programme

KirschholzraspelnEin deutscher Schreiner auf Handwerkeraustausch in Japan

Mit Björk auf du und du Musikbörsen im Internet

Bücher

Paul Nolte über Ralf Dahrendorfs Versuchungen der Unfreiheit

Cem Özdemir über die neuen Veröffentlichungen zu Europa

prägte�dafür�den�Begriff�„dritte�säule“.��Dieser�ist�nach�wie�vor�so�aktuell,�dass�auf�ihn�gleich�an�zwei�stellen�der�Koalitionsvereinbarung�Bezug�genommen�wird.�auswärtige�Kulturpolitik�orientiert� sich�an�den�übergreifenden�zielen�der� deutschen�außenpolitik.�Dazu� gehören�die� sicherung�des� Friedens,� der� schutz� der�Menschenrechte�und�eine�langfristig�angelegte�Konfliktprävention.�nehmen�wir�das�Beispiel�afghanistan:�Das�land�wird�nur�dann�eine�sichere�zukunft�haben,�wenn�es�gelingt,�po-litisch�für�stabilität�und�für�den�aufbau�eines�funktionierenden�gemeinwesens� zu� sorgen�und�der�jungen�generation�eine�Perspektive�zu�geben.�Deshalb�hat�sich�die�Bundesregierung�maßgeblich�am�Wiederaufbau�des�afghanischen�Bildungssystems� beteiligt.�Wir� haben� den�aufbau�von�schulen�unterstützt,�helfen�bei�der�Erstellung�von�lehrplänen,�bilden�lehrer�und�hochschullehrer�aus�und�statten�Bibliotheken�wieder�so�aus,�dass�künftige�generationen�von�studenten�sie�nützen�können.�Das�goethe-in-stitut�in�Kabul�und�die�Deutsche�Welle�leisten�einen�entscheidenden�Beitrag�zur�Entstehung�einer�unabhängigen�Öffentlichkeit.�gemeinsam�mit�unseren�Mittlerorganisationen�wollen�wir�in�diesem�Jahr�einen�Prozess�der�Evaluierung�und�der�künftigen� strategischen�neuausrich-tung�einleiten.�Wir�denken��auch�an�eine�grö-ßere�Konferenz�zur�zukunft�der�auswärtigen�Kultur-�und�Bildungspolitik�gegen�Ende�des�Jahres� im�auswärtigen�amt.�Den�wichtigen�akteuren� der�Kulturarbeit,� staatlichen�wie�nichtstaatlichen,�soll�dabei�gelegenheit�gegeben�werden,�sich�an�diesem�Prozess�zu�beteiligen.

Wie bewerten Sie den verstärkten Bezug der Kultur zur Politik? Wird sie damit ernster genommen oder droht sie durch politische Interessen instrumen-talisiert zu werden?

ich� sehe� in�der�Feststellung,� dass�Kultur�auch�politischen�interessen�dienen�kann,�kei-

Herr Außenminister, wenn wir Sie zurzeit im Fernsehen sehen, geht es meist um den Iran oder die Entführungsfälle im Irak. Wo in Ihrer täglichen Arbeit begegnet Ihnen Außenkulturpolitik?

auswärtige�Kultur-�und�Bildungspolitik�ist�fester�Bestandteil�der�deutschen�außenpolitik.�sie�ist�auch�ein�wichtiger�teil�meiner�politischen�agenda.�Bei�meinem�letzten�Besuch�in�Ägyp-ten�etwa�standen�kulturelle�termine�wie�die�teilnahme�an�der�Buchmesse�Kairo�sogar�im�zentrum�des�Programms.�Die�Mohammed-Ka-rikaturen�oder�der�Film�„tal�der�Wölfe“�haben�es�uns�doch�gerade�wieder�ins�Bewusstsein�geho-ben:�Der�Dialog�der�Kulturen�ist�wichtiger�denn�je�–�um�kulturelle�Produkte�nicht�politisch�zu�instrumentalisieren�und�um�kulturelle�Vielfalt�und�auch��Differenzen�als�ausgangspunkt�eines�Dialoges� sichtbarer� zu�machen.�langfristig�angelegte� außenpolitische�Beziehungen� sind�ohne�ein�solides�kulturpolitisches�Fundament�nicht�denkbar.�Die�resultate�auswärtiger�Kul-tur-�und�Bildungspolitik�begegnen�mir�oft�auch�ganz�direkt.�Viele�meiner�gesprächspartner�in�aller�Welt� sind�mit�der�deutschen�sprache�und�Kultur�gut�vertraut,�weil�sie�eine�deutsche�schule�im�ausland�besucht�oder�an�einem�goe-the-institut�Deutsch�gelernt�haben.�Dies�ist�ein�außenpolitisches�sympathie-Kapital,�das�kaum�überbewertet�werden�kann.

� Ist zwischenstaatlicher Kulturaustausch in Zeiten der Globalisierung noch zeitgemäß?

Diese� Frage� umfasst� zwei� aspekte,� die�rolle�des�staates�allgemein�sowie�speziell� im�

Bereich�der�Kulturarbeit.�Ohne�zweifel� ist�die�zahl�außenpolitischer�akteure�gewachsen�–� im�multilateralen�und� im�nicht-staatlichen�Bereich.�Die�stärkung�zivilgesellschaftlicher�strukturen� ist� ganz� bewusst� teil� unserer�Politik.�ich�bin�davon�überzeugt,�dass�staaten�und�zwischenstaatliche�Beziehungen�auf�lange�sicht�der�zentrale�Baustein�unserer�globalen�außenpolitischen�architektur�bleiben�werden:�als�Knotenpunkte�der�netzwerke,�aber�auch�als�außenpolitische�akteure.�in�Deutschland�wird�Kultur�von�unabhängigen�Kulturschaffenden�gemacht.�unsere� offiziellen�Kulturmittler�sind,� obwohl� staatlich� budgetiert,� in� ihrer�Programmgestaltung�weitgehend� frei� von�staatlichen�Vorgaben.�Dies�spiegelt�unser�Kul-turverständnis�wider,�das�den� im�offiziellen�auftrag�handelnden� institutionen�wie� etwa�dem�DaaD�oder�dem�goethe-institut� einen�substanziellen�gestaltungsspielraum�gewährt.�Das�war�so�und�das�bleibt�so�–�es�ist�der�einzig�zeitgemäße�ansatz.�

Mit Joschka Fischers „Konzeption 2000“ sind Menschenrechte und Konfliktprävention besondere Inhalte der Außenkulturpolitik geworden. Sie ist so enger an die Sicherheitspolitik gerückt. Was wurde seither auf praktischer Ebene erreicht? Werden Sie sich weiter an diesem Kulturbegriff orientieren?

auswärtige�Kulturpolitik�heißt�einerseits,�Kultur�in�ihrem�Eigenwert�und�ihrer�Beson-derheit�wahrzunehmen�und�andererseits,�ihre�Möglichkeiten�als�eigenständiger�Bestandteil�der�außenpolitik� zu�nutzen.�Willy� �Brandt� Fo

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„Wir wollen die Köpfe und die Herzen erreichen“außenminister�Frank-Walter�steinmeier�über�dieaufgaben�der�auswärtigen�Kulturpolitik�

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nerlei Bedrohung für die Kultur, im�gegenteil.Wichtig ist aber, dass sie nicht vordergründigfür kulturfremde�ziele instrumentalisiert, son-dernmitBlick auf ihren eigenständigenBeitragund ihre�ziele ernst genommen wird.�ich habeübrigens den Eindruck, dass auch immermehrKulturschaffende beides – Kultur in ihrem Ei-genwert und als eine der besten Visitenkartender Kulturnation Deutschland – für vereinbarhalten.Dies stärktKulturarbeit undPolitikglei-chermaßen. Die Vielgestaltigkeit unserer Kul-turlandschaft ist die�gewähr dafür, dass es zukeiner�instrumentalisierung durchPolitik undWirtschaft kommt.�auch in der�tatsache, dass

Kultur und Bildung mehr und mehr auch alsWirtschafts- und�standortfaktorDeutschlandsgesehen werden, kann ich nichts�negativeserkennen.�ich sehe hier vielmehr noch großechancen und�raum für neue Partnerschaften,deren Potenzial nach meinem Eindruck nochlange nicht ausgeschöpft ist.

Ist die Außenpolitik vom Fordern nach mehr Dia-log zu echten Dialogprozessen zwischen den Kulturen gekommen? Wo gibt es nachhaltige Erfolge?

zu einem Dialog der Kulturen gehört eineKultur des Dialoges.�gerade im�licht des Kari-katurenstreites stellt sich diese Fragemit neuer

Dringlichkeit.�ich habe aber überhaupt keinenzweifel daran, dass geradeEreignissewie diesefürunsein�appell seinsollten, inunserenBemü-hungennichtnachzulassen.Diegegenwärtig zubeobachtende�instrumentalisierungkulturellerDifferenzenundeinmöglicherweisedrohenderKampf der Kulturen weisen ja darauf hin, dasswir es hier mit einem�ausfall oder zumindesteinem Defizit von Politik zu tun haben. Mitunseren Projekten im�rahmendes�islamdialogsversuchen wir gerade diejenigen Menschen zuerreichen, mit denen bislang deshalb kaumein Dialog stattgefunden hat, weil sie demWesten eher misstrauisch gegenüber stehen.Ein Kulturdialog, der Krisenprävention ernstnimmt, kann nicht nur unter den „Bekehrten“auf beiden�seiten stattfinden, die sich für ihreDialogbereitschaft gegenseitig aufdie�schulternklopfen.Deswegen habe ichmich auch persön-lich dafür stark engagiert, vor allem durch diemit meinem türkischen Kollegen verabredeteinitiative für Freiheit und�respekt.�trotzdem:hier ist ein sehr langer�atem nötig.

Was sind die wichtigsten Herausforderungen der Außenkulturpolitik?

Es geht darum, kulturellen�austauschunterdenveränderten�gegebenheitendes21. Jahrhun-derts neu zu organisieren. Kulturelle Prozesselaufen mehr als je zuvor in internationalen,interkulturellen�netzwerken ab. Dem mussunsere�arbeit stärker�rechnung tragen. Dennwir möchten auch weiterhin die Köpfe undherzendernachwachsenden�generationenundkünftigenEntscheidungsträger inunserenPart-nerländern erreichen. Das wird nur gelingen,wenndas�instrumentariumderKultur-undBil-dungspolitik, die�sprachvermittlung,�auslands-schulen,�stipendien-und�austauschprogramme,sowiedasKulturangebot insgesamtdiesem�zieldienen. Wir wollen diesen „Werkzeugkasten“

gut sortiert und aktuell halten, umihn nach Bedarf schnell auf neueschwerpunkte und�aufgaben aus-richten zu können. Eine zweite, inteilen gegenläufige�herausforde-rung liegt darin, in�zeiten knapperKassen handlungsfähig zu bleiben.Wir stellen uns dieser�herausfor-derung mit einer Doppelstrategie:zum einen werden wir immer wie-der darauf hinweisen, dass weitere

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Chef der Diplomaten: Dr. Frank-Walter Steinmeier, geboren 1956, ist Jurist, SPD-Politiker und seit November 2005 Bundesaußenminister.

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drastische�sparrunden die Fortsetzung einer�vernünftigen�arbeit in diesemBereich inFrage�stellen.�auswärtige Kulturpolitik muss finan-ziell sachgerecht ausgestattet werden.�so steht�es in der Koalitionsvereinbarung, das muss�gelten. Der Entwurf für den�haushalt 2006�sieht in diesem Bereich keine Kürzungen vor.�zugleich müssen wir durch klare Prioritäten�und die Einführung moderner Management-methoden unsere Effizienz verbessern.�und�schließlich haben wir erste Partner, auch im�privaten Bereich, gefunden und suchen nach�weiteren, mit denen wir unsere gemeinsamen�ziele verwirklichen können. Mit�hilfe der�robert Bosch�stiftung ist es uns zum Beispiel�gelungen, eine�anzahl von Kulturmanagern�in wichtige�städte Mittel- und Osteuropas zu�entsenden, wo wir bislang nicht oder nicht�ausreichend vertreten waren.

Muss die politische und parlamentarische Lobby für die Außenkulturpolitik gestärkt werden?

Die�abgeordneten des Deutschen Bundes-tages sind sichermit die energischstenKämpfer�fürdie�auswärtigeKultur-undBildungspolitik.�Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass ich�selbst�gelegenheit habe, meine Vorstellungen�im�ausschuss für Kultur und Medien des�Deutschen Bundestages vorzustellen und das�der neue Bundestag entschieden hat, einen�unterausschuss für�auswärtige Kulturpolitik�einzurichten. Die Besonderheiten der Kultur-arbeit in undmit dem�ausland finden hier eine�große�unterstützung.

Der Regierung Schröder ist vielfach vorgeworfen worden, in ihren Beziehungen zu Russland zu wenig auf Demokratie, Einhaltung der Menschenrechte und die Lösung des Tschetschenienkonflikts gepocht zu haben. Ist es nicht widersprüchlich, einerseits die Wei-terentwicklung der Zivilgesellschaft weltweit fördern zu wollen, dieser Entwicklung aber gleichzeitig auf politischer Ebene nicht immer zu folgen?

DiePartnerschaftmit�russland auszubauen�undzuvertiefen ist�zieldieserBundesregierung.�Wir stehen hier also in einer Kontinuität, die�ich auch persönlich für ein zentrales Element�deutscher�außenpolitik halte. Wir brauchen�die Partnerschaft mit�russland zur�lösung�der globalen Probleme, zum Beispiel die�rati-fizierungdesKyoto-Protokolls durch�russland�und unsere gemeinsamen Bemühungen um�

stabilität im�nahenOsten.DiesePartnerschaft�ermöglicht uns zugleich abseits des medialen�getöses� einen�offenen�und�vertrauensvollen�Dialog, in dem wir auch Punkte ansprechen,�in denen der�reformprozess�russlands noch�nicht alle gewünschten Fortschritte erzielt�hat, wie etwa den�tschetschenienkonflikt,�die Menschenrechtslage oder die innere Ent-wicklung in�russland. Die Bundesregierung�bringt gegenüber�russland immer wieder zum�ausdruck,dassDemokratie,�rechtsstaatlichkeit�undeine lebendige�zivilgesellschaftFundament�und�stärkederdeutschenundeuropäischen�ge-sellschaft sind.Deutschlandsiehtdarinauchdie�grundlage für die künftige�stärke�russlands.�neben den offiziellen, politischen Kontakten�ist der rege gesellschaftliche�austausch der�solide�grundstein der deutsch-russischen Be-ziehungen.�hier können wir�zeichen setzen�und unterstützend tätig sein – undwir tun dies�auch.�zahlreiche, vor allem junge, Deutsche�und�russen nutzen etwa die Möglichkeiten�unsererFörder- und�austauschprogramme,um�sich einen persönlichen Eindruck vom jeweils�anderen�landzumachen.�allein imBereichder�Wissenschaftprofitierendavonmehrals 15.000�studenten, Dozenten und Forscher.�

Wie viel Selbstdefinition und klare Positionierung braucht Deutschland, um überzeugend in den Dialog nach außen treten zu können?

nurwer sichüber sein�selbstverständnis im�Klaren ist, kann auchnach außenüberzeugend�auftreten.�ich glaube, dass in unserer�gesell-schaft nach wie vor ein weitestgehender Kon-sens über unsere zentralenWertvorstellungen,�Meinungsvielfalt, Demokratie undMenschen-rechte, herrscht. Dieses�gesellschaftsmodell�wollen wir in der Konkurrenz der�ideen zur�Diskussion stellenals einModell, dasuns inEu-ropa Frieden,�sicherheit und wirtschaftlichen�Erfolg gebracht hat.�aus unseren historischen�Erfahrungen inEuropa habenwir gelernt, dass�nur demokratische und freiheitliche Verhält-nisseeingedeihliches�zusammenlebenderMen-schen und Völker garantieren. Vor allem aber�haben wir gelernt, dass die größte europäische�leistung darin besteht,� interessenkonflikte�friedlich zu lösen.�ich glaube, gerade wir Deut-schenkönnendiesenkooperativen�ansatz einer�Friedenspolitik besonders glaubhaft vertreten�– und sollten dies auch noch stärker tun.

Wie steht es in einem geeinten Europa um die Auswärtige Kulturpolitik? Es gibt bisher bi- und trinationale Projekte und Programme, aber keinen gemeinsamen kulturpolitischen Ansatz.

Das stimmt so pauschal ja nicht, wenn wir�uns die europäischen Programme ansehen,�denen eine eigene – europäische –�logik zu�eigen ist.�und zwar die, die „Einheit in der�Vielfalt“ zu schützen und zu unterstützen.�genau das macht ja die kulturelle Dimension�der europäischen Einigung aus: dass sie nicht�die national gewachsenen lebendigenKulturen�ersetzt, sonderndieseneinezusätzliche europä-ischeDimension eröffnet.Deswegenbildendie�europäischen�länderundhier insbesonderedie�staaten Mittel- und Osteuropas ja auch einen�schwerpunkt der deutschen�auswärtigen Kul-tur- und Bildungspolitik. Wir tragen so aktiv�bei zu einer besseren gegenseitigen Kenntnis�und stärken so das kulturelle Fundament der�europäischen�identität.�

Kulturaustausch wird nicht nur positiv wahr-genommen. Die Nachricht, dass China in nächster Zeit weltweit 100 neue Konfuzius-Institute er-öffnen will, hat nicht nur Reaktionen der Freude, sondern auch empfundener Bedrohung hervorgeru-fen. Welche Auswirkungen werden neue politische und wirtschaftliche Achsen für den Kulturdialog haben?

ich kann daran nichts Bedrohliches ausma-chen.�im�gegenteil halte ich es für überfällig,�dass den immer enger werdenden wirtschaft-lichen Verbindungen, zum Beispiel mit�china,�auch eine stärkere kulturelle Dimension zur�seite gestellt wird.�schon jetzt stellt�china mit�abstand die größte�zahl der ausländischen�studenten in Deutschland. Wir sollten uns�freuen, dass unser�land offensichtlich in Kul-tur und Bildung ein hohes�ansehen bei den�chinesen genießt.� ich sehe das als�chance.�im Übrigen: der Kulturaustausch mit�china�ist, darauf legen beide�seiten Wert, eine�zwei-bahnstraße. Wir freuen uns daher nicht über�das chinesische Kulturinstitut in Berlin, son-dern wollen unsererseits dem�goethe-institut�inPekingbaldmöglichst eineeigene�zweigstelle�in�shanghai zur�seite stellen. Das Beispiel darf�gerne�schule machen.

Das Interview führte Jenny Friedrich-Freksa

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Kulturaustausch�11/06� 69

Meine sehr verehrten Damen und Herren,liebe überzeugte Europäer,

erfolgreiche und erfolglose Etappen in der�geschichte unterscheiden sich dadurch, dass�es mit�hilfe von Potenzial und Eliten möglich�war, langfristigen positivenEntwicklungen den�Vorzugzugeben.Egoismusund�altruismussind�Widersprüche,dieesnur inwenigstrukturierten�gemeinschaften gibt.�in strukturierteren aber,�wie etwa der Eu, könnte man längst zu dem�schluss gekommen sein, dass�altruismus die�klügere Form der�interessenswahrung ist.

Wir leben, ob es uns gefällt oder nicht, in�einerWelt, in der das Funktionale undnicht das�tribale entscheidet.

Europäer zu sein bedeutet nicht, seine�nati-onalität abzustreifen. Vielmehrmüssenwir uns�abgewöhnen,� identitätsfragen von heute mit�den „Kategorien des�gestern“ zu betrachten.�Wir brauchen kein „Euro Ethnos“, sondern ein�vernetztes�system, einDemos und eine europä-ische�gesinnung

Es ist wichtig und richtig, wirtschaftlich an-einanderzuwachsen,regionale�zusammenarbeit�zu fördern und Europa als einen gemeinsamen�

lebensraum zu achten – und zu schützen. Die�schrittweise�annäherung des wirtschaftlichen�niveauswirddazubeitragen, dass�unterschiede�weitestgehend angeglichen werden.�natürlich�wird es Differenzen geben, aber sind nicht�angemessene Differenzen auch ein kulturelles�und identitätstiftendes „Muss“?�sind sie nicht�die Basis für geistige Mobilität und physische�Vitalität?

Vergegenwärtigen wir uns:�nur eine sy-stemüberwindende Öffnung kann Wohlstand�mit sich bringen. Ein kulturelles und poli-tisches Miteinander wird von einer mündigen�Bürgergesellschaft und einem demokratischen�rechtsstaat getragen.�unifizierer,�identitätsstif-ter oder „nationale Bewahrer“ könnenunsnicht�weiterhelfen.

Die Europäische�union ist in erster�linie�eine�chance, die versteckte�animositäten und�Feindschaften, die sich im�laufe des 20. Jahr-hunderts in ihrer schlimmsten�ausprägung�auf dem Kontinent festsetzten, zu überwinden.�sie hat einst als Friedensprojekt begonnen und�stabilität,�zusammenarbeit und gegenseitige�achtung ermöglicht.�

heute gilt es allerdings mehr denn je, sich�

für Freiheit, Demokratie,�gleichheit,�rechts-staatlichkeit und Menschenrechte einzusetzen.�Vergessen wir nicht, dass das „heute“ allzu oft�von einem beiläufigen „nebenher“ geprägt ist,�in dem das „Miteinander“, der „Brückenschlag“�zu inhaltsleeren Phrasen verkommen. Kluge,�umsichtige�taten sind gefragt, keine Mittäter-schaften.

DieEinheitEuropaskannnuralseineEinheit�politischer und wirtschaftlicher�transparenz�gewahrt werden, durch freiwillige�teilnahme�an der ökonomischen und politischen Praxis�der Demokratie.�

Das fruchtbare und furchtbare Paradoxon,�dassdas�transnationalegleichzeitigmitdem�re-gionalismus, ja teilweise�lokalismuseinhergeht,�macht die�sache nicht leichter.�letztendlich ist�das,waswirEuropanennen–unddavonbin ich�überzeugt–nichtnureinekontinentale,vielmehr�auch eine kulturelle Bestimmung.�

Wir brauchen weiterhin�reformen, eine�Entbürokratisierung und vitale�umstrukturie-rung der�gesellschaft, Budgettransparenz, eine�neukonzeption der�agenden „sicherheit“ und�„gerichtsbarkeit“, neue Wege in der Export-�und�industriepolitik, wir müssen mehr denn je�entschlossengegenKorruptionund�turbokapita-lismusvorgehen,dieWirtschaft restrukturalisie-ren, füreinausgeglichenesökonomischesWachs-tum,dieEntwicklungmenschlicher�ressourcen�und eine soziale�tragfähigkeit sorgen.

Da wir keine�nation namens „Europäer“�haben, solldiesmit�hilfedernationaleDifferenz�als ein Quell systemöffnender Dynamik gelin-gen.�unsere�identitätwirdeinekulturpolitische,�keinemachtpolitische�leistungsein.Wirdürfen�nicht vergessen, eine�union ohne „nation“ als�identifikationsfaktor, ist nicht a-national oder�anti-national, sie ist rational.�

Diejenigen, die meinen, hier trockene�an-botskonzepte, eine aufklärerische�spätlese oder�Ähnliches bekommen zu haben, übersehen die�tatsache, dass auchdieVernunft als�gesamtheit�letztendlich emotional entscheidet.

ich danke�ihnen für�ihre�aufmerksamkeit.�

Michael Stavaric , geboren 1972 in Brno in der Tschechoslowakei. Er lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und Redenschreiber in Wien. Zuletzt erschienen von ihm „Europa – eine Litanei“ (kookbooks, Berlin 2005) und „stillborn“ (Resi-denz Verlag, St. Pölten 2006).

in�EurOPa

Liebe Europäerinnen und Europäer!Müssen�sie�demnächst�aus�einem�europäischen�anlass�vor�Publikum�sprechen?�hier�eine�rede,�die�immer�passt

Von Michael Stavaric

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70 Kulturaustausch 11/06

Wenn Europa funktionieren soll, hat ein bel-gischer�schriftsteller einmal gesagt, muss eswerdenwieBelgien.DieEuropäermüssten ler-nen, schwierigeKompromisse zu akzeptieren,damit sie auch dann zusammenleben können,wenn sie sich nicht übermäßig mögen. Darinhaben die BelgierÜbung.�seit es das�land gibt,wird es geprägt vom komplizierten Verhältnisder knapp sechsMillionen Flamen im�nordenund der rund vier MillionenWallonen im�sü-den. Die Flamen sprechen�niederländisch, dieWallonen Französisch, und die künftige Elitelernt fleißig Englisch, damit man sich wenig-stens in�zukunft besser versteht.�ander renom-mierten Vlerick Management�school in�gentbeispielsweisewird ausschließlich inEnglischunterrichtet. „Damit es egal ist“,meint Vlerick-studentin Virginie, „aus welchem�landesteildie Kommilitonen kommen.“

als sich das katholische Belgien 1830 vonden protestantischen�niederlanden abspaltete,da dachteman, dass eine einheitliche�religionwichtiger sei als eine gemeinsame�sprache.Vielleicht war das damals so.�aber die religi-öse Klammer hat nicht lange gehalten.�heutesind es vor allem der König, die zweisprachigehauptstadt Brüssel und die belgische Fußball-nationalmannschaft, die das�landzusammen-halten.�noch. „in ein paar Jahren wird auchder belgische Fußball in einen flämischen undeinen wallonischen Verband aufgeteilt sein“,schätzt�andré Vanderheyden, Manager dernationalelf.�niemand wolle diese�spaltung,die Fans nicht, die Funktionäre nicht und diespieler schon gar nicht. „aber der Druck ausder Politik ist enorm“, klagtVanderheyden, alleanderen�sportverbände seien längst sprachlichsortiert.

Dabei sind die harten� auseinanderset-zungen längst vorbei, die�zeiten, in denenregierungen stürzten, weil ein Dorfbür-germeister sich weigerte,�niederländisch zureden. Flandern hat über die Jahre so vielautonomie bekommen, dass es oft kaum nochBerührungspunktemitWallonen gibt.Die po-litischen Parteien sind getrennt, die�schulen,die�universitäten. Flamen undWallonen strei-ten sich nicht mehr, weil sie sich kaum nochbegegnen.�aber sie lieben sich auch nicht: Diezahl der Mischehen ist in den letzten Jahrendeutlich zurückgegangen.

Jüngste�umfragen sagen, dass inzwischenwiedermehr als 80Prozent der Belgier zusam-menbleibenund viele gernewieder etwasmehrzusammenrücken würden.�aber es wird im-mer schwieriger. Belgien ist längst zwei�länderin einem. „Wenn ichwirklichwissenwill, wasin meinem�land passiert“, klagt�christianeVierset, „muss ich die flämischen�nachrich-ten um sieben und die französischsprachigenum halb acht anschauen.“ Das seien völligunterschiedliche�themen, unterschiedlicheinformationen, unterschiedlicheWelten: „Diehaben oft nichts miteinander zu tun.“

MadameVierset gehört zu einer�generationvon Belgiern, die es bald nichtmehr geben wird.�sie ist in einerf lämischen Familie aufgewach-sen, in der fast ausschließlichFranzösisch geredet wurde.� ihrVater hat sein�geld in der wallo-nischen�schwerindustrie gemacht.Französisch war die�sprache desgeldes, des gesellschaftlichenaufstiegs, der Mitgliedsausweisder Bourgeoisie. „Flämisch ha-ben wir nur mit den Dienstbotengesprochen“, erzählt�christianeVierset.

noch heute leben die besserenKreise in flämischen�städten wiegent oder� löwen Französisch.aber sie wissen um ihre fragilePosition. Mit dem�zusammen-bruchderwallonischen�schwerin-dustrie nach dem Krieg und demwirtschaftlichen�aufstieg des ein-stigenBauernlandes Flandern zurhightech-region haben sich diegewichte verschoben.�zwei Drit-tel des belgischen�sozialprodukteswurde plötzlich in Flandern er-wirtschaftet. Die Flamen wolltensich nicht mehr der französisch-

in EurOPa

Gespaltene ZungeFlamen und Wallonen sprechen nicht nur verschiedene�sprachen,sie haben sich auch nicht mehr viel zu sagen

Von Alois Berger

Man sieht das Schild vor lauter Schildern nicht: Kein Land ist so skurril organisiert wie Belgien Foto

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In Europa

Kulturaustausch 11/06 71

sprachigen Elite unterordnen und dafür auch noch bezahlen. radikale separatisten, die für die auflösung Belgiens kämpften, hatten Zulauf. „sie stürmten die Kirchen und trom-melten auf die Bänke“, erzählt christiane Vierset, „sie wollten in Flandern nicht einmal mehr französische Messen dulden.“

Die regierung wusste sich nicht mehr anders zu helfen, als das Königreich Belgien schrittweise in einen Bundesstaat umzubau-en. In den letzten drei Jahrzehnten haben Flandern, Wallonien und die region Brüs-sel immer neue rechte bekommen. sie sind selbständiger als alle anderen europäischen regionen. Das hat dem Konflikt die schärfe genommen, aber zu absurden Ergebnissen geführt: sechs parlamente für 10 Millionen Einwohner, sechs regierungen und teilregie-rungen, mehr als 50 Minister. Kein land in Europa hat pro Kopf mehr parlamente, mehr regierungen und mehr Minister. Kein land ist so unübersichtlich und so skurril organi-siert wie Belgien, wo startende Flugzeuge eine schleife über der hauptstadt Brüssel drehen müssen, damit der lärm gleichmäßig über flämisches und französischsprachiges Gebiet verteilt wird.

Viele Belgier, auch Flamen, haben den sprachenstreit satt. Doch die meisten politiker sind noch nicht so weit. Da flämische parteien nur von Flamen gewählt werden können, sehen sie ihre hauptaufgabe darin, mehr rechte für Flamen zu erkämpfen. nicht anders ist das in den wallonischen parteien. schuldirektorin sonja Vandehoef hat trotzdem hoffnung. sie leitet eine niederländischsprachige schule in Brüssel. „unsere schüler kommen fast alle aus französischsprachigen Familien“, sagt sie, „und der andrang wird immer stärker.“ Es habe sich herumgesprochen, dass es Vorteile bringt, wenn die Kinder später beide sprachen können. Die flämische Gemeinschaft steckt viel Geld in diese schulen, damit Brüssel auf diese Weise wieder stärker flämisch wird. so wie früher, bevor die flämische Bourgeoisie angefangen hat, Französisch zu reden. Doch die Kinder aus französischsprachigen Fami-lien legen ihre Muttersprache nicht ab, nur weil sie auf eine flämische schule gehen. sie werden nicht flämisch, sie werden wallonisch-flämisch. Belgisch eben.

Alois Berger lebt und arbeitet als freier Journalist in Brüssel.

Meine Erfahrungen mit der Vielsprachigkeit im Parlament sind unterschiedlich: Grundsätzlich hat in allen Plenar-, Ausschuss-, und Fraktions-sitzungen jede anwesende Sprache das Recht, in jede andere übersetzt zu werden. In kleinere Sprachen wird allerdings in den Ausschuss-sitzungen nur dann gedolmetscht, wenn ein Angehöriger dieser Sprache Vollmitglied des Ausschusses ist. Das ist sinnvoll, denn wenn es 22 Parlamentsausschüsse gibt, aber nur fünf Abgeordnete aus Malta oder sechs aus Estland, dann können sie sich maximal in fünf oder sechs Ausschüssen aufhalten. Also hat man keine Dolmetscher nur für den Fall, dass jemand in einem Ausschuss, in dem er selbst nicht Mitglied ist, „mal eben vorbeischaut“. Das Gleiche gilt für die Parlamentsfraktionen, in denen nicht jedes Mitgliedsland vertreten ist. Bei Terminen innerhalb der Europäischen Union außerhalb der Standorte Brüssel und Straßburg, so etwa bei externen Fraktionssitzungen, werden sieben oder acht Sprachkabinen mitgenommen und dann in die Sprachen gedolmetscht, die die meisten Reiseteilnehmer sprechen. Bei Delegationsreisen außerhalb der Europäischen Union ist das eine Kostenfrage. Beispiel: Wenn eine vierköpfige Delegation mit vier verschiedenen Sprache nach Südafrika reist, müssen theoretisch bis zu acht Dolmetscher mitkommen, weil jeweils einer in die Muttersprache und der andere in die Zielsprache übersetzt, und überdies nicht einer einen ganzen Tag ununterbrochen dolmetschen kann.Die Frage, die ich mir stelle, ist: Soll ich, weil ich Englisch kann, dem Steuerzahler die Kosten für die Dolmet-scher ersparen? Kannn ich das Gleiche von den französischen Kollegen verlangen? Oder sollten die Deutschen aus Gründen der Gleichbehand-lung ihre Sprache wie die Franzosen gedolmetscht bekommen? Am 1. Mai reiste ich nach Togo. Ur-sprünglich sollten zwei frankophone Kollegen und ich unterwegs sein. Weil ich gut Französisch kann, habe ich unserem Sekretariat gesagt: Spart dem Steuerzahler die Dolmetscherkosten, wir machen alles auf Französisch. Im konkreten Fall hat jetzt eine frankophone Kollegin abgesagt, deren Platz ein polnischer Kollege einnahm. Dieser spricht Deutsch und Englisch, aber kein Französisch. Nun reisten zwei Englisch-Dolmetscher mit, aber niemand, der Polnisch-Französisch übersetzt. Letztlich kann man vieles pragmatisch, aber auch prinzipiell sehen. Nur sind Prinzipien immer teuer. Wenn letztlich nur die Hälfte der Abgeordneten reisen kann, weil die andere Hälfte der Reiseplät-ze von Dolmetschern ausgefüllt wird, ist damit dem politischen Anliegen des Europäischen Par-laments in der Welt nicht unbedingt gedient.

Was das äußere Erscheinungsbild des Europä-ischen Parlaments betrifft, gibt es keine deut-schen Aufschriften, trotz der Tatsache, dass in Straßburg und Brüssel die Mehrheit der Besu-chergruppen deutschsprachig ist. Daneben hat sich insbesondere in Straßburg eine französische „Chasse gardée“, oder auf Englisch „closed shop“- Mentalität breit gemacht, die nur franzö-sische Ortskräfte einstellt, mit der Folge, dass vom Wachpersonal, über die Postverteilung bis zu den Bedienungen im Restaurant oder an den Kan-tinenkassen nur Französisch gesprochen wird. Diese sprachenspezifische Personalpolitik lässt sich auch auf der Ebene der Europa-Beamten verfolgen. Ich habe festgestellt, dass neu einge-stellte Mitarbeiter aus Bulgarien und Rumänien mit Hochschulabschluss jeweils auch Englisch konnten, aber 67 Prozent der Bulgaren Franzö-sisch und nur 11 Prozent Deutsch und 88 Prozent der Rumänen Französisch und 12 Prozent Deutsch sprachen. Skandalös wurde der Vorgang erst durch meine Recherche bei EPSO, dem Amt, das für alle EU-Institutionen die Auswahlwettbewerbe durchführt. Es bietet die Bewerber dem Europä-ischen Parlament und ähnlichen Institutionen an. Dort stellte sich Folgendes heraus: Etwa gleich viele Bewerber wiesen die Sprachkombination Deutsch-Englisch und Französisch-Englisch auf. Interessierte Kreise der Parlamentsverwaltung haben also sprachpolitisch vorsortiert, um sicher-zustellen, dass die frankophone Dominanz im Vergleich zu Deutsch erhalten bleibt. Deswegen stelle ich folgende Forderungen an die Verwal-tung: Englisch sollte bei jedem Beschäftigten als Mutter- oder Fremdsprache vorhanden sein. Darüber hinaus ist sicherzustellen, dass in die-sen Laufbahngruppen Deutsch und Französisch annähernd gleich als Mutter- oder Fremdsprache vertreten sind. Bei gleicher fachlicher Qualifikati-on ist Bewerbern mit mehr Fremdsprachenkennt-nissen der Vorzug zu geben.Letztlich ist das Europäische Parlament aber immer noch die Institution, wo Vielsprachig-keit am ausgeprägtesten praktiziert wird und man es aufgrund des politischen Mandats der Abgeordneten letztlich auch erwarten kann.Dass wir uns außerhalb offizieller Runden und ohne Simultanübersetzung in mehrsprachigen Kreisen in der Regel auf Englisch unterhalten, ist auch nahliegend. Und dass für jeden Kollegen mit umfassenderen Fremdsprachenkenntnissen genügend Gelegenheit bleibt, damit andere Kolle-gen zu beeindrucken, ist auch gewährleistet.

Michael Gahler ist CDU-Abgeordneter im Europä-ischen Parlament.

Das kann ich mir sparenMichael Gahler über die Dolmetscherkosten im Europäischen Parlament

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72 Kulturaustausch�11/06

Seit dem französischen und dem niederländischen�

„Nein“ zur Europäischen Verfassung vor einem Jahr�

befindet�sich�Europa�in�einer�Krise,�die�euphemistisch�

„Denkpause“�genannt�wird.�Die�Frage,�wie�es�nun�wei-

tergehen�soll�mit�Europa,� liegt�auf�dem�tisch:�Welche�

Grenzen�soll�die�Eu�haben?�Wie�weit,�wie�tief�soll�die�

Integration�gehen?�Diese�Fragen�sind�jedoch�nicht�neu.�

Die Eu�denkt seit etwa 40 Jahren darüber nach, und�

eigentlich�hat�Europa�nie�etwas�anderes�getan,�als�über�

sich�nachzudenken�und�sich�stets�in�Frage�zu�stellen.

Jedoch�haben�sich�verschiedene�gewohnte,�außenpo-

litische Parameter der Europäischen�union drastisch�

verschoben.�Zum�einen�rückte�die�Eu-Osterweiterung�

immer näher. Zum anderen hatten die Ereignisse des�

11.�september�der�sicherheitspolitischen�Diskussion�mit�

dem�Begriff�des�asymmetrischen�Krieges�gegen�terror�

eine�neue�Dimension�gegeben.�schließlich�hat�der�trans-

atlantische�Bruch�einiger�europäischer�staaten�mit�den�

usa�über�den�Irak-Krieg�auch�hier�die�üblichen�Muster�europäischer�

und�transatlantischer�Politik�aus�den�Zeiten�des�Kalten�Krieges�end-

gültig�überholt.�Eigentlich�Zeit�zu�handeln,�und�Europa�fit�für�die�

„Moderne“,�das�21.�Jahrhundert�zu�machen.�Doch�das�unterblieb.

Mit�dem�Vertrag�von�Nizza�blieb�die�Eu�institutionell�–�auch�was�

ihren�haushalt anbelangte – nur ungenügend auf die anstehende�

Osterweiterung vorbereitet.�aus derNotwurde eine�tugend gemacht,�

das�Instrumentarium�der�regierungskonferenz�wurde�ad�acta�gelegt�

und�ein�Europäischer�Verfassungskonvent�einberufen.�

Der�Verfassungskonvent,�der�2002�begann,�war�eine�gute�Idee.�

Zusammen�mit�regierungsvertretern�verhandelten�Vertreter�sowohl�

des�Europäischen�Parlamentes�wie�auch�der�nationalen�Parlamente�

über�einen�Vertragstext,�der�viele�Elemente�enthielt,�die�die�euro-

päische�Integration�vorangetrieben�hätten.�Der�text,�der�2003�von�

den�staats-�und�regierungschefs�der�Eu�einstimmig�verabschiedet�

wurde,�enthält�weit�reichende�Neuerungen�wie�etwa�die�Wahl�eines�

Europäischen�ratspräsidenten, die Einführung des�

Postens eines Europäischen�außenministers, eine�

bessereMitwirkung der nationalenParlamente an den�

europäischen Entscheidungsprozessen, vertragliche�

Möglichkeiten, um die Integration im Bereich der�

Europäischen�sicherheits-�und�Verteidigungspolitik�

weiter voranzutreiben, sowie neue Möglichkeiten�

im�Bereich�der�Innen-�und�Justizpolitik.�außerdem�

enthält er die Europäische Grundrechtscharta, die�

bereits 2000 verabschiedet wurde, die aber gleichsam�

Verfassungsrang�erhalten�hätte.�

aber die Bürger – zumindest die französischen�

und�die�niederländischen�–�wollten�diese�Verfassung�

nicht, und mutmaßlich wäre ein�referendum auch�

in�Deutschland�knapp�ausgegangen.�Dabei�war�dies�

kein�Votum�gegen�den�text�noch�ein�Votum�gegen�die�

europäische�Integration�als�solche.�Es�war�ein�Votum�

gegen das Europa vonheute, in dem sich vor allem jene�

nichtmehrwiederfinden, die schon lange dabei sind: dieGründungs-

nationen.�abgesehen�davon,�dass�ein�großer�teil�der�Neinstimmen�

Proteststimmen gegen die eigene, nationale�regierungwaren, lag der�

tiefere�Grund�des�„Nein“�eher�im�Wachsen�der�Eu.�

„Erweiterungsmüdigkeit“�ist�das�Modewort�in�dieser�Diskussion.�

Die�„Kosten�der�Erweiterung“�werden�diskutiert,�und�sie�scheinen�

zu�hoch.�Europa�gibt�nur�und�erhält�nichts,�so�ist�der�unterton.�Die�

sehnsüchte�nach�dem�alten,�kleinen�„Europe�de�charlemagne“�oder�

„Kerneuropa“�sind�groß,�zumal�weitere�länder�an�die�tür�der�Eu�

klopfen: voraussichtlich 2007 werden�rumänien und Bulgarien�

dazustoßen,�mit�der�türkei�und�Kroatien�hat�die�Eu�bereits�offiziell�

Verhandlungen�aufgenommen;�die�Balkan-staaten�haben�eine�Per-

spektive für eine Eu-Mitgliedschaft bekommen. Dahinter gibt es�

wiederum�eine�reihe�von�ländern,�die�sich�eine�Beitrittsperspektive�

erhoffen,�wie�etwa�Georgien,�Moldawien�oder�die�ukraine.�Die�Eu�

steckt�in�dem�Dilemma,�dass�sie�unglaublich�attraktiv�für�alle�län-

4,7�Prozent�EuropaEuropa�pflegt�seine�eigenen�Debatten.�Diese�sind�nicht�vorrangig�von�den�großen�globalen�Fragen�

geprägt.�Will�die�Eu�sich�im�21.�Jahrhundert�behaupten,�dann�muss�sie�vor�allem�eines�sein:�groß

Von Ulrike Guérot

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Dr. Ulrike Guérot ist Senior Transatlantic Fellow beim

German Marshall Fund of the United States in Berlin. Zuvor war sie Direktorin der „Eu-ropean Studies“ am German Council of Foreign Relations. Ulrike Guérot lebt in Berlin.

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der�ist,�die�draußen�sind,�aber�unpopulär�in�allen,�die�drinnen�sind.�

Zusätzlich�befindet�sich�die�Eu�in�dem�Dilemma,�dass�sie�als�Eu,�als�

akteur�in�der�Welt,�längst�für�alle�anderen�staaten�in�der�Welt�sichtbar�

ist��und�einige�regionen�dieser�Erde,�wie�etwa�die�asEaN-staaten�

oder� etwa�die�Mercosur-staaten� in�lateinamerika,� bemüht� sind,�

gleichartige� regionale�Kooperationsformen� aufzubauen,�während�

den�meisten�Europäern�nicht�klar�zu�sein�scheint,�dass�Europa�als�

solches�in�der�Welt�bereits�gut�zu�sehen�ist.�Was�europäisch�ist,�weiß�

und�fühlt�man�außerhalb�Europas�am�besten!�

Vielleicht�führt�Europa�also�die�falsche�Debatte?�Zumindest�scheint�

die�europäische�selbstwahrnehmung�nicht�mit�der�außenwahrneh-

mung�in�Einklang�zu�sein.�Dies�zeigt�zumindest,�dass�sich�die�Eu�

nicht� ihrer�Verantwortung� für�die�Welt�und� ihre� internationalen�

Belange,�ganz�speziell�der�Verantwortung�für�ihre�Nachbarstaaten,�

entziehen�kann.�Mehr�noch:�sie�sollte�in�ihrem�eigenen�Interesse�eine�

auf�Öffnung�bedachte�Diskussion�führen.

In� der�Diskussion�über� die�Zukunft�Europas� sollte� daher�mit�

einigen�Dichtonomien�aufgeräumt�werden.�Die�wichtigsten�und�zu-

gleich�schlimmsten�Dichtonomien�der�derzeitigen�Diskussion�sind,�

dass�eine�weitere�Erweiterung�nur�um�den�Preis�der�Vertiefung�zu�

haben�ist,�dass�ein�„Kerneuropa“�oder�eine�„Politische�union“,�wie�

einst�angestrebt,�nur�zu�haben�sind,�wenn�jetzt�keine�weiteren�länder�

mehr�dazu�kommen.�Die�zweite,�ebenso�gefährliche�Dichtonomie�ist,�

dass�sich�Europa�wirtschaftlich�abschotten�muss,�um�ökonomisch�

wieder�zu�erstarken.�Diese�Debatte�wird�in�zwei�lagern�

geführt,�von�denen�das�eine�die�Eu�gerne�als�Bollwerk�

gegen�Globalisierung�sehen�würden;�das�andere�die�Eu�

als�treibkraft�für�weitere�liberalisierung�und�reformen.�

und�die�dritte,�vielleicht�falsche�Debatte�ist�jene�über�die�

so�genannte�Finalität�der�Europäischen�union.�Wo�hört�

sie�auf?�Wo�will�sie�hin?�unterhalb�dieser�Ebene�laufen�

sub-Debatten,�wie� etwa� jene� von� „nationaler�Kompetenz“� versus�

„europäischer�Kompetenz“,�die�ebenfalls�ins�leere�laufen�und�wenig�

zur�Klärung�der�augenblicklichen�Probleme�beitragen.�

Denn�die�Eu�als�Ganzes�hat�ein�Interesse,�zum�Beispiel�den�Bin-

nenmarkt�zu�erhalten,�außenpolitisch�mit�einer�stimme�zu�sprechen,�

eine�gemeinsame�strategie�für�Migration�und�Flüchtlingsströme�zu�

entwickeln,�ihre�Energiesicherheit�und�Versorgung�sicherzustellen,�

eine�konstruktive�strategie�zu�entwickeln,�um�den�Folgen�der�Globa-

lisierung�offensiv�zu�begegnen,�um�die�Prinzipien�von�Demokratie,�

rechtsstaatlichkeit,�„good�governance“�sowie�den�Wertekanon�der�

Europäischen�Grundrechtscharta�in�den�internationalen�Institutionen�

und�auf�der�internationalen�Bühne�auszudehnen�und�zu�verteidigen;�

um�das�europäische�sozialmodell�international�anzupassen�wie�zu�

modernisieren.

Dies�alles�sind�aufgaben,�von�denen�die�meisten�Menschen�heute�

sagen�würden,�dass�sie�national�nicht�mehr�zu�lösen�sind�und�einer�

europäischen�handlungsebene�bedürfen.�Der�Nationalstaat�ist�dafür�

als�strategischer�handlungsrahmen�und�für�effiziente�lösungen�zu�

eng�geworden.�Einen�schritt�weiter�könnte�man�skizzieren,�wie�sich�

die�Eu�institutionell�besser�und�geschlossener�aufstellen�könnte,�um�

gerade� international�mehr� als�akteur�wahrgenommen�zu�werden�

und�um�durch�das�Zusammenlegen�von� „souveränität“�den� inter-

nationalen�Einfluss�zu�erhöhen.�Dazu�würden�gewichtige�schritte�

gehören,�wie�etwa�die�Vertretung�der�Eu�durch�die�„Eurogruppe“�

im�G-8,�ein�Eu-sitz�im�IWF,�ein�europäischer�sitz�im�sicherheitsrat�

der�Vereinten�Nationen�oder�die�konsequente�Verfolgung�des�Ziels�

einer�„europäischen�armee“,�so�wie�dies�ansatzweise�auch�schon�in�

den�so�genannten�„headline�Goals“�der�Eu�bereits�skizziert�ist.�Na-

türlich�wäre�dazu�zumindest�die�Verabschiedung�der�Europäischen�

Verfassung�notwendig;� im�Grunde� aber� eine� viel�weiter� gehende�

institutionelle�reform�der�Eu.

Diese� sollte�man� auch�nicht� nur� als�Gewinn� von�handlungs-

macht�verstehen,�sondern�viel�banaler,�als�sicherung�des�derzeitigen�

europäischen�Platzes� in�der�Welt.�hochrechnungen�zufolge�wird�

im�Jahre�2050�Europa�zusammen�mit�den�usa,�also�der�„Westen“,�

nur�noch�etwa�7�Prozent�der�Weltbevölkerung�ausmachen,�wovon��

4,7�Prozent�auf�die�Eu�entfallen.�Es�ist�daher�vermessen�anzunehmen,�

dass�7�Prozent�der�Weltbevölkerung�allein�über�die�Geschicke�und�

die�Entwicklung�der�internationalen�Beziehungen�im�21.�Jahrhundert�

weltweit�bestimmen�werden.�Multi-Polarität�–�obgleich�ein�unschönes�

Wort�–�ist�längst�realität�in�den�internationalen�Beziehungen.�Vor�

diesem�hintergrund�sollte�sich�die�Eu�entsprechend�als�internatio-

naler�akteur�aufstellen.�Die�transzendenz�des�Nationalstaates�als�

wirkungsmächtigen�Entscheidungsrahmens�und�akteur�für�Politik�

ist�im�21.�Jahrhundert�vorgezeichnet.�

Wer�Europas�Zukunft�skizzieren�möchte,�muss�sich�die�vermeint-

lichen�Dichtonomien�auflösen.�Nehmen�wir�die�Erweiterungsdis-

kussion.�Vielleicht�muss�Europa�die�Kosten�der�Nicht-Erweiterung�

diskutieren� anstatt� die�Kosten� der�Erweiterung?�Die�Kosten� der�

Nicht-Erweiterung�wären�politischer,�ökonomischer,�kultureller�und�

geo-strategischer�Natur.�

Nun�muss�„Erweiterung“�nicht�unbedingt�eine�„schnelle“�Voll-

mitgliedschaft� bedeuten.�aber� negiert�werden� kann�nicht,� dass�

sich�Europa� im�eigenen� Interesse�mehr�um�seine�anrainerstaaten�

kümmern�muss.�Politisch�hat�die�Eu,�dies�wurde�durch�die� letzte�

Erweiterungsrunde�bewiesen,�„transformative�Kraft“.�allein�die�Per-

spektive,�sich�der�Eu�anzunähern,�motiviert�viele�der�angrenzenden�

länder,�weit� reichende�politische�wie� ökonomische�reformen� in�

angriff�zu�nehmen,�hin�zu�Demokratie�und�Marktwirtschaft,�die�

zentral�in�europäischem�Interesse�und�nicht�nur�der�länder�selbst�

FOruM

Die EU ist offensichtlich in dem Dilemma, dass sie attraktiv für alle Länder ist, die draußen sind,

aber unpopulär in allen, die bereits in ihr sind

Page 74: 2006/02 China - auf dem Weg nach oben

74� Kulturaustausch�11/06

sind.�Ökonomisch�sind�dort�ebenfalls�die�Wachstumspotentiale.�Die�

türkei�zum�Beispiel�hat�prognostizierte�Wachstumsraten�von�6�bis�

10�Prozent�für�die�nächsten�zehn�Jahre,�von�denen�Deutschland�nur�

träumen�kann.�Im�europäischen�Interesse�wäre�es,�diese�Wachstums-

impulse�auszunutzen,�anstatt�sich�vor�ihnen�abzuschotten.�Kulturell�

steht�ebenfalls�viel�auf�dem�spiel,�gerade�mit�Blick�auf�die�Eu-Bei-

trittsverhandlungen�mit� der�türkei.�Derzeit� gibt� es� eine� aktuelle�

Diskussion�über�Zuwanderung�und�Integration.�Es�ist�klar,�dass�sich�

vor�allem�Deutschland�allein�aus�demographischen�Gründen�einer�

erhöhten�Öffnung� für�Zuwanderung�nicht� entziehen�kann,� seine�

Integrationspolitik�verbessern�muss.�

Fakt�ist�aber,�dass�die�türkei�nicht�von�der�landkarte�verschwin-

det,�wenn� sie� nicht� in� die�Eu�kommt� –� oder� dass� die� deutschen�

Integrationsprobleme�dadurch�geringer�würden.�Wir�können�uns�

einen�umgang�mit�der�türkei�nicht�wegdenken,�indem�wir�einfach�

die�Beitrittsperspektive�aufgeben.� Inzwischen�haben�die�Verhand-

lungen� begonnen,� aber� zugleich� kursieren�Gerüchte� über� deren�

suspendierung.

hier� geht� es�weder�um� irgendein�überstürztes�Verfahren�noch�

darum,�bei�der�türkei�die�augen�bezüglich�der�zu�erfüllenden�Kri-

terien�zuzudrücken.�Die�Verhandlungen�werden�lang�und�zäh.�Es�

gibt�unzählige�Probleme,�wie�etwa�die�Kurdenfrage,�armenien�oder�

Zypern.�hier�wird�die�türkei�die�europäischen�standards�in�sachen�

Menschenrechte�hundertprozentig�erfüllen�müssen.�

auf�der� anderen�seite� ist� die�aufnahme�der�türkei� in�die�Eu�

vielleicht�die�wichtigste�und�entscheidendste�außenpolitische�Frage�

des� 21.� Jahrhunderts,�wenn� es� darum�geht,� samuel�huntingtons�

Buch�vom�„clash�of�civilizations“�zu�widerlegen.�Die�Eu�hat�–�heute�

vielleicht�als�einzige�politische�Einheit�–�die�chance,�eine�kulturelle�

Brücke�zur�muslimischen�Welt�zu�schlagen�und�auf�der�Basis�von�

Demokratie,�Menschenrechten,�rechtsstaatlichkeit,� „good� � gover-

nance“�und�Marktwirtschaft� zu�demonstrieren,�dass�die�Eu�eben�

kein�„christlicher�club“�ist.�Die�signalwirkung�für�die�ganze�Welt�

–� von�Brasilien�bis�australien�–�wäre� enorm.�und� jeder,� der� sich,�

insbesondere�nach�den�anschlägen�des�11.�september,�nicht�darauf�

einlassen�will,� dass�der�Grundkonflikt�des� 21.� Jahrhunderts� jener�

zwischen�dem�„Westen“�und�der�„muslimischen“�Welt�wird,�sollte�

diese�Entscheidung�und�die�Verhandlungen�der�Eu�mit�der�türkei�

daher�mit�großem�augenmerk�verfolgen.

Was�den�Balkan�anbelangt,�so�ist�das�Problem�vergleichbar:�Die�

antwort�auf�die�dortigen�Probleme�kann�nicht�lauten,�diesen�staaten�

eine�Eu-Beitrittsperspektive�zu�verwehren.�aber�es�muss�gleichzeitig�

klar�sein,�dass�wir�starke�institutionelle�lösungen�brauchen,�denn�

sieben�weitere,�kleinere�Eu-staaten�kann�das�institutionelle�system�

der�Eu�derzeit�nicht�verkraften.�

Ebenso�in�die�leere�läuft�die�annahme,�dass�eine�politische�union�

nur�im�Kreise�einiger�weniger�staaten�zu�haben�ist.�Es�ist�schwer,�

sich� eine� schlagkräftige�Kerngruppe� der�Eu� vorzustellen,� deren�

Mitgliederzahl�unterhalb�der�Euro-Gruppe�liegt.�Denn�es�ist�in�der�

tat�der�Euro,�mehr�als�der�Binnenmarkt,�der�immer�mehr�politische�

Integration�notwendig�macht.�Daher�darf�man�annehmen,�dass�die�

Eu�durch�die�ausbreitung�des�Euro�auch�immer�mehr�Gravität�und�

schwerkraft�entfalten�wird,�wenn�die�neuen�Mitgliedsländer�zum�

Euro�dazustoßen.�

Natürlich�ist�es�vorteilhaft,�wenn,�wie�derzeit�in�den�Verhandlungen�

mit�Iran,�die�drei�„Großen“�die�Führung�übernehmen.�Ihre�stärke�aber�

ziehen�sie�letztlich�daraus,�dass�die�Eu�ihnen�folgt.�Führung�in�der�

Eu�darf�nicht�mit�der�Frage�eines�„Kerneuropa“�verwechselt�werden.�

Wenn�die�Eu�als�Politische�union�heute�stark�sein�will,�dann�muss�

sie�dafür�auch�groß�sein.�Die�„Kerneuropa“-Debatte�führt�zurück�in�

das�Europa�der�90er�Jahre�des�letzten�Jahrhunderts.�Was�Europa�aber�

heute�braucht,�ist�eine�Zusammenführung�der�„Kerneuropa“-Debatte’�

mit�den�geo-strategischen�Notwendigkeiten�der�Eu!�Die�Formel�dafür�

ist�die�alte:�Erweiterung�erzwingt�mehr�Vertiefung;�Vertiefung�erlaubt�

mehr�Erweiterung.�Beide�gehören�zusammen!

am�wichtigsten�aber�wäre�es,�die�„Finalitätsdebatte“�zu�beenden.�

Die�Eu�ist�mehr�denn�je�Projekt�und�Prozess�zugleich,�jedenfalls�nicht�

statisch.�Die�Eu�kann�nicht�vom�Ende�her�gedacht�werden,�weder�was�

ihre�Grenzen�noch�was�ihre�Integrationsdichte�anbelangt.�

Die�Eu�muss�mit�der�Zeit�gehen,�und�vielleicht�ist�dies�

ihre�größte�stärke,�denn�es�hält�sie�flexibel,�um�auf�die�

anforderungen�des�21.�Jahrhunderts�zu�reagieren.�

Dies�ist�vielleicht�ihre�größte�stärke�in�einem�Zeitalter,�

in�dem�flexibles�handeln�wichtig�sein�wird.�Der�Eu�ist�

es�damit�gegeben,�sich�jeweils�auf�neue�historische�Ent-

wicklungen�einzustellen�und�anzupassen.�Damit� ist�gemeint,�dass�

zum�Beispiel�die�Frage�des�Beitritts�der�ukraine�zur�Eu�heute�nicht�

mit�letzter�Verbindlichkeit�beantworten�kann�noch�sollte.�Man�kann�

es�vielleicht�2016�entscheiden,�auf�der�Grundlage�von�Fakten�und�

Gegebenheiten,�die�dann�real�sein�werden.�aber�die�Eu�sollte�sich�

heute�nicht�die�chance�verbauen,�dass�Die�aufnahme�der�ukraine�

vielleicht�2016�von�Vorteil�für�sie�sein�könnte.�

um�mit�der�griechischen�Mythologie�zu�enden,�könnte�man�die�Eu�

vielleicht�mit�dem�Mythos�von�sisyphus�vergleichen:�Europa,�die�Eu,�

ist�der�stein,�an�dem�wir�alle�rollen�und�der�vielleicht�nie�auf�dem�Berg�

liegen�bleiben�wird.�aber�wer�albert�camus’�Essay�über�den�Mythos�

von�sisyphus� gelesen�hat,� der�weiß,� das�sisyphus� ein� glücklicher�

Mann�war!�Der�stein,�in�diesem�Fall�die�Eu,�ist�gleichzeitig�unser�

Interesse�und�unsere�Identität!

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Hochrechnungen zufolge wird 2050 Europa zusammen mit den USA, also der Westen, nur noch 7 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen

Page 75: 2006/02 China - auf dem Weg nach oben

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DatumDatum,, 2. Unterschrif 2. Unterschrif 2. Unterschrift

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TTThe global view | La vision globale | Der globale Bliche global view | La vision globale | Der globale Bliche global view | La vision globale | Der globale Blickk

Noamm Chomsky

„Wer unsere Welt verstehen will – Wer unsere Welt verstehen will – Wer unsere Welt verstehen will – alles was geschalles was geschalles was geschiiieht, und alles, eht, und alles, eht, und alles, was sich beweas sich beweas sich bewegggt, der liest, der liest, der liestttLLLe Monde de Monde de Monde diiiplomatplomatplomatiiique.que.que.““

Page 76: 2006/02 China - auf dem Weg nach oben

Kulturdialog – ein attraktiver Begriff?

„Gutmenschen unterwegs“

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Page 77: 2006/02 China - auf dem Weg nach oben

Immer wenn unterschiedliche Kulturen

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Page 78: 2006/02 China - auf dem Weg nach oben

78 Kulturaustausch 11/06

Goethe-Institute Über die geplante Schließung der öffentlichen Räume des Goethe-Instituts Kopenhagen

Es ist klar, dass es in Kopenhagen künftigkein voll funktionstaugliches Goethe-Insti-tut mehr geben wird. [...] Wir sind davonüberzeugt, dass man in der Kulturabteilungdes�auswärtigen�amts schon lange daraufwartet, dass das Goethe-Institut, nach Dut-zenden Konzepten und�strategiepapieren,Programmkonferenzen und Expertenbefra-gungen, selber einmal sagt,was eswill,was eskann und was es unter Kulturarbeit versteht.Thomas Steinfeld in SÜDDEUTSCHE ZEITUNG (München) am 23. März und 5. April 2006

Ich jedenfalls habe noch nicht gehört, dassdieses Institut geschlossen werden soll.Jutta Limbach im DEUTSCHLANDRADIO (Berlin) am 23. März 2006

Vielleicht ist auch jetzt erst der Zeitpunktgekommen, an demKonsens darüber besteht,dass die weltpolitische Nachkriegsordnungder Vergangenheit angehört, endgültig. DasGoethe-Institut sollte in dieserOrdnungnach1949 Vertrauen stiften, vor allem unter denalten Kriegsgegnern, andere, bessere�seitender deutschen Gesellschaft dokumentieren.Das ist jedoch kaum noch nötig, denn trotzrückschlägen und Erweiterungsakrobatikwächst Europa aus eigener Kraft zusammen.trotzdem sind noch immer 50 Prozent allerMittel desGoethe-Instituts in Europa gebun-den. Das ist ein�anachronismus. In Italienist Deutschland mit sieben, in�china mitanderthalb Instituten vertreten.Thomas E. Schmidt in DIE ZEIT (Hamburg) am 30. März 2006

In globaler Perspektive mag das plausibelerscheinen. Diese Perspektive bringt aller-dings auch das�trugbild hervor, der Westensei sich seiner selbst sicher, die innerwestlicheVerständigung daher eine höchstens nochzweitrangige�aufgabe. Wie man in Europabeobachten kann, ist dem nicht so. Europawächst nicht von allein zusammen.Eckhard Fuhr in DIE WELT (Hamburg) am 6. April 2006

Judas-EvangeliumDie Übersetzung des Judas-Evangeli-ums wurde erstmals veröffentlicht

Der Verschluss, unter dem das Dokumentgehalten worden zu sein scheint, ist vonJames�robinson, dem�altmeister der Kop-tologen, gerügt worden [...]. Doch mit allerGeheimniskrämerei hat es nun ein Ende.Der�tV-Palmsonntagwird,wenn schonnichtals Ereignis der�heilsgeschichte, so doch alseines der neueren Offenbarungsgeschichteregistriert werden dürfen – auf Neudeutsch:als Public-relations-Event.Uwe Justus Wenzel in NEUE ZÜRCHER ZEITUNG am 8. April 2006

Nicht jeder alte�text auf Papyrus, den manim Wüstensand findet, ist unbedingt weise.[...] Kurz, die Entdeckung des Evangeliumnach Judas ist eine schöne Kuriosität, die zueinemgroßenBallon aufgeblasenwurde. Einarchäologischer Fundzweifelhafter�herkunfteines ketzerischen�textes, der seinerzeit vomkirchlichen Kanon ausgeschlossen wurde.Die Erwartung, dass er die�haltung der Kir-che gegenüber der Figur des Judas Ischariotverändern könnte, ist absurd.Benny Ziffer in HAARETZ (Tel Aviv) am 14. April 2006

Dennoch ist das Judas Evangelium eineEröffnung. Denn erstens ist es nützlich da-ran erinnert zu werden, in Zeiten erneutenFundamentalismus, dass� religionen keinFundament haben: dass die unfehlbarentexte und unangefochtenen�heiligtümerjeden Glaubens das Werk von Menschenund Zeit sind. Jede Orthodoxie ist eine�au-genblicksaufnahme. [...]�auch hat das neueEvangelium eine Faszination – besondersfür sympathisierende Freidenker – dennes erinnert uns an die literarische Kraftder kanonischen Evangelien, insbesonderewegen ihrer Verbindung des Göttlichen mitdem�allgemeinplatz.Wirwollen ein bißchenhicksville und ein bißchen�himmel in un-seren heiligen�schriften, Materie, Menschund Magie in einem.Adam Gopnik in THE NEW YORKER am 17. April 2006

Russlands Public DiplomacyRussland möchte im Vorfeld des G8-Gipfels in St. Petersburg im Juli sein Image verbesssern

Die Eliten in Moskau sind besorgt, dass dastreffen der G8 -spitzen in�st. Petersburg imJuli zu einer Public-relations Katastrophewerden könnte,wenndieVereinigten�staatenmit dem fortfahren, was man dort als „In-formations-Krieg“ wahrnimmt. [...] EinigeKritik aus den�usa�in den letzten zwei Mo-naten kam den�russen vor wie�rhetorik ausdem Kalten Krieg, die die�aufmerksamkeitvom Irak und Washingtons eigenen Zielenim�ausland ablenken soll. [...]�aber�analystensagen voraus, dass die�charme-Offensive eherauf�asien oder�südamerika als die�usa�undWesteuropa zielen sollte, denn Moskau hatwachsende�handels-, Militär- und Energie-verbindungen mit diesen beiden�regionen.Tom Parfitt in THE BOSTON GLOBE am 11. April 2006

Es gibt nämlich einen Begriff wie Infor-mationskriege. Zwar stammen sie nichtaus�sowjetzeiten, sondern sind viel älterenDatums. Das Verschwinden der�udssr�hat,wie das�leben selbst beweist, an der�russen-phobie nichts geändert. Das „neue Denken“,von dem Gorbatschow träumte, hat sich nuneinmal nicht eingestellt.�schließlich gibt esauchnochdashistorischeGedächtnis.�sprichtman erst von ethnisch bedingten Phobien,so ist es eine weitere unerschöpfliche Quellevon vergiftetem Wasser. [...] Zudem sind dierussischen Fachleute auf dem Gebiet der au-ßenpolitischen Propaganda (entschuldigensiemir das altmodischeWort) längst ins�roteBuch eingetragen.Pjotr Romanow in RIA NOVOSTI (Moskau) am 4. Mai 2006

Das Problem der russischen Experimentemit „soft power“ ist, dass sie kein Vorbildhaben. [...]�soft Power kann ein wirkungs-volles Instrument sein, sobald Menschen inanderen�ländern auf die�art leben wollenwie Menschen in�russland. Bis dahin blei-ben nur die traditionellen Instrumente deraußenpolitik: Gewalt und Bestechung.KOMMERSANT (Moskau) am 26. April 2006

PrEssEsPIEGEl

Page 79: 2006/02 China - auf dem Weg nach oben

79

Eigenanzeige

56. Jahrgang | 6 Euro Herausgegeben vom Institut für Auslandsbeziehungen

China

auf dem Weg nach oben

In dieser Ausgabe

Ian Buruma:Pan Yue:Noam Chomsky:

Tian Mansha:

Tilman Spengler:

Simone Young:

Paul Nolte:

Frank-Walter Steinmeier

Page 80: 2006/02 China - auf dem Weg nach oben

Kulturaustausch 11/06

lEsErBriEFE

Demokraten 1/2006 – FernbeziehungenAbbas Khider: Die Gespenster der Heimat

abbas Khiders Beitrag hat mir mehr überden� irak erzählt als alles, was täglich inden�nachrichten kommt.� sein Entsetzenangesichts der täglichen und beiläufigengewalt.�seine Einsicht, dass ein Volk, dasjahrelang unterDiktaturen lebt,Demokratieerst lernen muss,� schritt für�schritt.�unddassDemokratie in der�achtung voreinanderbeginnt, inder inneren�haltung, unabhängigzu sein, nicht opportunistisch.Dr. Petra Gropp, Frankfurt am Main

Präsidentinnen1/2006 – FernbeziehungenJulianne Smith: Mrs President

gerne und mit großem�gewinn lese ich„Kulturaustausch“.�in der neuesten�ausgabeistmir jedoch eine kleine�unkorrektheit auf-gefallen.�sie schreiben unter dem�titel „Mrs.President“, dass noch nie eine Frau für dashöchste�amt der�usa�kandidiert habe. Dasstimmt so nicht. 1872 hat VictoriaWoodhulldafür kandidiert, da sie das Wahlrecht füralle Bürger auch auf Frauen bezogen gesehenhat.�sie ist in der Folge inVergessenheit gera-ten. Es wäre aber gut, wenn an diese mutigeund engagierte Frau, die nicht den damalsüblichen Vorstellungen von dem, was eineFrau zu tun und zu lassen hat, entsprach,erinnert wird.�insgesamt jedoch ein großeslob und ein herzliches Dankeschön fürihre�arbeit.Inge Utzt, MdL, Kulturpolitische Sprecherin der

SPD-Landtagsfraktion Baden-Württemberg

Gute Arbeit

ihre�zeitschrift gefällt mir ganz ausgezeich-net und ist mir eine große�hilfe zur Vorbe-reitung meiner Vorträge. Weiter so!Jörg-Eckart Allkämper, Leverkusen

Kulturaustauschzuletzt erschienene�themenhefte:

1/2006Fernbeziehungen –Kommen wir zusammen?

3+4/2005Deutschland von außen –Wie andere uns sehen

2/2005Die Macht der Moral –religion und Politik im 21. Jahrhundert

1/2005Besser werden –Welchen Fortschritt wollen wir?

4/2004Wissensgesellschaft –Kampf um kluge Köpfe

3/2004Die heimlichen Herrscher –Politik mit nationalen Bildernund�stereotypen

2/2004Weltsprache Musik –Wie global klingt die Welt?

1/2004Kunst zieht an –Die�rolle der Kunst in den internationalenKulturbeziehungen

4/2003Willkommen im Club –Die europäische�union sucht ihre Bürger

3/2003Afrika –Patient oder Partner?

2/2003Wertsache Familie –Der alte Kontinent und seine Kinder

1/2003Im Bann der Vergangenheit –Deutsch-russische Begegnungen

zu bestellen unter [email protected]�informationen unter www.ifa.de

Page 81: 2006/02 China - auf dem Weg nach oben

Kulturaustausch�11/06� 81

Herausgeber:Institut für AuslandsbeziehungenGeneralsekretär Dr. Kurt-Jürgen Maaß

Chefredaktion:Jenny Friedrich-Freksa

Redaktion:Friederike Biron, Naomi Buck, Nikola Richter

Mitarbeit:William Billows, Valentina Heck, Su-san Javad, Lisa Schreiber, Eileen Stiller

Redaktionsassistenz:Birgit Hoherz, Christine Müller

Gestaltung:Eberhard Wolfeditorials Gauting/ München

Schlussredaktion:Gabi Banas, Alfred Frank

Redaktionsbeirat:Theo Geißler, Verleger, Mitglied des Deutsch-Französischen Kulturrates, Regensburg

Michael Häusler, Auswärtiges Amt, Berlin

Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun, Redaktionsleiter SWR International, Stuttgart

Dr. Hazel Rosenstrauch, Chefredakteurin Gegenworte, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin

Dr. Claudia SchmöldersHistorikerin und PublizistinHumboldt-Universität Berlin

Prof. Dr. Olaf Schwencke, Präsident der Deutschen Vereinigung der Europäischen Kulturstiftung für kulturelle Zusammenarbeit in Europa, Berlin

Eberhard Wolf, Art Director Süddeutsche Zeitung, München

Redaktionsadresse:Linienstr. 15510115 BerlinTelefon: (030) 284491-12Fax: (030) 284491-20 Email: [email protected]://www.ifa.de

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KULTURAUSTAUSCH erscheint vierteljährlich. Bezugspreis pro Jahr (4 Hefte): 20 Euro und Zustellgebühr. Preis Einzelheft: 6 Euro. Bestellungen über Verlag oder Buch-handel. Für unverlangt eingesandte Manuskripte aller Art wird keine Ge-währ geleistet.

impressum

iMPrEssuM

Neue ifa-Präsidentin

ursula� seiler-albring ist im März 2006�

zur neuen Präsidentin des� instituts für�

auslandsbeziehungen�(ifa)�gewählt�worden.�

sie�löst�alois�graf�Waldburg-zeil�ab,�der�das�

amt�acht�Jahre�innehatte�und�dessen�zweite�

amtszeit� im�Mai�2006�ausläuft.�seiler-al-

bring, studierte�soziologin, Politikwissen-

schaftlerin, Psychologinund�staatsrechtlerin�

war 1983 bis 1994 Mitglied des Deutschen Bundestages, gewählt�

über die�landesliste Baden-Württemberg der FDP. Von 1991 bis�

1995�arbeitete�sie�als�staatsministerin�für�Europäische�angelegen-

heiten�im�auswärtigen�amt.�seit�1995�war�sie�als�Botschafterin�der�

Bundesrepublik�Deutschland�tätig:�zunächst�in�Wien,�ab�1999�in�

sofia�und�seit�2003�in�Budapest.�im�sommer�2006�scheidet�sie�aus�

dem�diplomatischen�Dienst�aus.�sie�will�in�ihrem�neuen�amt�ihrem�

Verständnis nachkommen, dass „die Vermittlung von Kultur im�

ausland�außenpolitik�ist“.

Kulturaustausch�–�zeitschrift�für�internationale�Perspek-

tiven erscheint vierteljährlich mit dem�ziel, aktuelle�themen der�

internationalen�Kulturbeziehungen�aus�ungewohnten�Blickwinkeln�

dar zu stellen.�autoren aus allerWelt tauschen sich überWechselwir-

kungen zwischenPolitik, Kultur und�gesellschaft aus.Die�zeitschrift�

erreicht�leser in 146�ländern. Ein� schwerpunktthema in jeder�

ausgabe� fokussiert�die�wachsende�Bedeutung�kultureller�Prozesse�

in der globalisierten Welt. Kulturaustausch wird vom� institut für�

auslandsbeziehungen (ifa) herausgegeben und durch das�auswärtige�

amt finanziell unterstützt. Das�institut für�auslandsbeziehungen en-

gagiert sichweltweit für Kulturaustausch, denDialog der�zivilgesell-

schaften und dieVermittlung außenkulturpolitischer�informationen.�

als führende deutsche�institution im internationalenKunstaustausch�

konzipiert�und�organisiert�das�ifa�weltweit�ausstellungen�deutscher�

Kunst, fördert�ausstellungsprojekte und vergibt�stipendien.Das�insti-

tut für�auslandsbeziehungen bringtMenschen aus unterschiedlichen�

Kulturen in internationalenKonferenzenund�austauschprogrammen�

zusammen�und�unterstützt�die�zivile�Konfliktbearbeitung.�Das�ifa��

engagiert�sich�in�vielfältigen�Projekten�mit�nationalen�und�internati-

onalen Partnernwie�stiftungen und internationalenOrganisationen.�

Die ifa-Fachbibliothek in�stuttgart, das�internetportalwww.ifa.de und�

die�zeitschrift�Kulturaustausch�gehören�zu�den�wichtigsten�

informationsforen�zur�außenkulturpolitik�in�Deutschland.�

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hOchschulE

82 Kulturaustausch�11/06

Herr Professor Veenho-ven, was ist Glück?nach meiner Defi-nition besteht�glück�darin, wie man im�großenund�ganzen�sein�leben�mag.

Im Zuge Ihrer Unter-suchungen rund um den Globus, sind Ih-

nen da andere Auffassungen von Glück begegnet?Es gibt kulturelle�unterschiede,wasMenschen�glücklichmacht.�aber nachmeinerDefinition�ist�der�Wunsch,�das�leben�zu�genießen,�auf�der�ganzen�Welt�gleich,�ebenso�wie�es�Kopf-schmerzen�überall�auf�der�Welt�gibt.�aber�es�mag unterschiedliche Meinungen darüber�geben,�was�Kopfschmerzen�verursacht.�

Wie untersuchen Sie Glück?zufriedenheit�hat�damit�zu�tun,�was�sie�von�ihrem�leben halten.� ihre�zufriedenheit be-schäftigt�sie,�demzufolge�kann�man�sie�durch�gesprächemessen. Etwa indemman�sie bittet,�diese auf einer� skala von 1 bis 10 anzuge-ben.�und weil diese Fragen so simpel sind,�kann�man�mit�ihnen�große�Bevölkerungsfor-schungendurchführen, inwestlichen�ländern�etwa�durch�telefoninterviews�oder�im�netz.�

Kann man von Glücklichsein-Trends sprechen? ich lese dieDaten so, dasswir insgesamt glück-licher�werden.�in�Europa�und�in�den�Vereinig-ten�staaten hat die�lebenszufriedenheit in den�vergangenen 30 Jahren zugenommen. Der�trend�ist�nicht�sehr�groß,�aber�bedeutend.�

Wo werden die Menschen nicht glücklicher?in�Osteuropa.�nach�dem�regimewechsel�sind�die dortigen�gesellschaften kollabiert.�und�dies�brachte�einen�Knick�auf�der�glücksskala,�

von�dem�sich�die�meisten�länder�erst�allmäh-lich erholen.� im Fall�russlands spielte sich�wirklichDramatisches ab.�in den ersten Jahren�nach dem�regimewechsel verbesserte sich�die�lage,�doch�dann�kam�die�rubelkrise,�und�auf�der�glückskala�ging�es�um�zwei�Punkte�abwärts,�was�enorm�ist.�

Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Reich-tum und Lebenszufriedenheit?Wenn�sie�richtig�arm�sind,�werden�sie�glück-licher, wenn der Wohlstand steigt.� ist aber�erst�einmal�ein�level�von�10�000�Dollar�pro�Kopf und Jahr erreicht, richtet zusätzlicher�reichtum�nur�noch�wenig�aus.�

In Deutschland gibt es viel Gerede über den ei-genen notorischen Hang zum Unglücklichsein. Wie würden Sie den Glückslevel in Deutschland beurteilen?ganz�ordentlich.�aus�dem�Kopf�heraus�würde�ich�7,2�auf�der�glücksskala�sagen.�Das�ist�ein�wenig�niedriger�als�in�den�niederlanden�oder�in�Dänemark,�aber�das�mag�ein�Überbleibsel�der beidenKriege sein. Es gibt einen�aufwärts-trend nach einem leichten Knick nach der�Wiedervereinigung.�nichtwegen dieser selbst,�sondern�weil�viele�Ostdeutsche�nach�Westen�kamen:�Wenn�man�seine�heimat�verlässt�und�Freunde und Familie zurücklässt, ist man�meist�weniger�glücklich.�

Gibt es so etwas wie eine kulturelle Veranlagung für Zufriedenheit?Es�ist�ein�weitverbreiteter�glaube,�dass�einige�nationen�besonders�unglücklich�seien�-�etwa�die�russen.�ich�habe�das�mal�überprüft.�und�zwar indem ich mir Menschen andernorts�genauer ansah, die in ähnlichenVerhältnissen�leben,�also�ähnlich�arm�sind,�schlecht�regiert�werden�und�ein�miserables�Klima�haben.�ich�habe�keinen�unterschied�feststellen�können.�

Dennoch ist klar, dass manchen Kulturen�Voraussetzungen fürs�unglücklichsein in-newohnen, etwa ein übertriebener�gemein-schaftssinn.�Ein�Japaner�ist�vor�allem�teil�der�Familie oder der Firmaund zählt nicht so stark�als�individuum.�und�dies�kommt�der�mensch-lichen�natur�nicht�so�sehr�entgegen,�was�sich�darin äußert, dass die Menschen in diesen�Kollektivkulturen�weniger�glücklich�sind.�

Spielt das Geschlechterverhältnis allgemein eine Rolle?Dort, wo das�leben derMänner strikt von dem�der�Frauen�getrennt�wird,�und�wo�die�Frauen�diskriminiert�werden,�wie�etwa�in�saudi-ara-bien, ist die generelle�lebenszufriedenheit�viel�niedriger�–�und�nicht�nur�bei�den�Frauen,�sondernauchbei denMännern.�in�ländernmit�größerer�gleichberechtigung sind die Men-schen�glücklicher,�unabhängig�von�der�wirt-schaftlichen�lage.�zu�meiner�Überraschung�mit leichtemVorteil fürMänner, sie profitieren�noch�stärker�von�gleichberechtigung.

Wie sind Sie im Laufe Ihrer akademischen Karriere zum Glück gekommen? als�soziologiestudent stellte ichmir die Frage,�„was�ist�gut�für�die�gesellschaft?“�Mir�gefiel�die� idee, dass eine „gute“�gesellschaft eine�lebenswerte ist, in der dieMenschen glücklich�sind.�ich fragtemeine ProfessorennachDaten-material�darüber�und�musste�feststellen,�dass�sich�noch�niemand�damit�befasst�hatte.�und�das�ist�ja�für�einen�jungen�akademiker�nicht�schlecht,�wenn�er�neuland�betreten�kann.�

Hat die Beschäftigung mit dem Glücklichsein auf Ihr eigenes Leben abgefärbt? ich�glaube�nicht,� ich�hätte� ebenso�glücklich�werden�können,�wenn�ich�irgendein�geschäft�aufgemacht�hätte.�

Das Interview führte Naomi Buck Aus dem Englischen von William Billows

Ruut Veenhoven ist Professor für soziale Bedingungen menschlichen Glücks an der Erasmus-Universität in Rotterdam. Er ist zudem Direktor der Weltdatenbank des Glücks, der größten Sammlung empirischer Forschung zu dem Thema.

„Wir werden glücklicher“ruut�Veenhoven�ist�Direktor�der�„World�Database�of�happiness“,�der�größten�glücksdatenbank�der�Welt:�tausende�von�umfragen�aus�aller�Welt�hat�der�rotterdamer�Professor�gesammelt,�um�eine�Frage�zu�beantworten:�Was�ist�glück?

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ständig ist Florence mit irgendwem per In-ternet oder Handy in Verbindung, chattet über die vergangenen tage oder macht termine aus. u-Bahn-Fahrten sind inzwischen eine willkommene abwechslung vom Datenstrom geworden. Früher hatte sie die Metro mit ihrer Hektik und der stickigen luft gehasst.

Florence hat Glück: Wenn sie in Paris ist, hat sie einen gut bezahlten Nebenjob in einem restaurant und das logement gratuit bei ihren eltern – ohne deren finanzielle unterstützung wäre all das so nicht möglich. Nicht jedem stu-dierenden ist ein leben im Jetset, wie Florence es führt, vergönnt. Nicht jeder studiengang ist so international ausgerichtet wie ihrer. Manche können einen solchen lebensstil schlichtweg nicht bezahlen, rund die Hälfte der deutschen studierenden muss arbeiten, um sich allein ihr studium zu finanzieren.

Manchmal macht sich die Mutter von Florence ein wenig sorgen um ihre hektisch lebende tochter: wenn diese etwa die Nacht im Flugzeug verbringt und dann nach einer Dusche in die uni geht. Die oma findet es schön, dass ihre enkelin was von der Welt sieht. Deshalb auch die vereinzelten kleinen Finanzspritzen, die sie ihr immer noch hinter opas rücken zusteckt. Glückliche Florence.

Karl-Heinz Kloppisch jr. studiert Philosophie und Publizistik in Berlin und ist verantwort-licher Redakteur von WORK|OUT European Stu-dents’ Review.

Meine Uni ist die Welt Heute Vilnius, morgen tokio: Viele studenten führen ein Jetset-leben

Von Karl-Heinz Kloppisch

Florence kommt aus einem Pariser Vorort. sie studiert in Paris Politikwissenschaft. Zurzeit absolviert sie ein auslandssemester in austra-lien. sie meint selbst, dass sie in ihrem jungen leben schon „viel von der Welt gesehen“ hat. Das wird der 25-jährigen vor allem immer dann bewusst, wenn sie mit ihren eltern oder Großeltern zusammensitzt. Die können sich nicht mehr merken, wann sie wo überall schon gewesen ist und welche ihrer Freunde aus welchem teil der Welt stammen. um der Verwirrung ein wenig abhilfe zu schaffen, schreibt Florence jedes Mal wenn sie „auswärts unterwegs ist“ Postkarten.

schon früher ist sie mit ihren eltern und Freunden viel gereist. Doch mit ihrem stu-dium in tunis oder Metropolen wie Paris und Berlin hat das eine ganz neue Dimension an-genommen. Die academic community, merkte sie schnell, ist eine international community – vor allem in europa. Grenzübergreifende Bildungsangebote, Förderprogramme, gemein-same Bildungsstandards und nicht zuletzt Billigfluglinien helfen dabei, in die Welt zu gehen und Menschen rund um den Globus kennen zu lernen. Für viele studierende ge-hört der Weg ins ausland zur Vertiefung der sprachfähigkeiten, zum erlangen spezieller Fachkenntnisse oder schlichtweg, um die ei-genen Berufschancen zu verbessern, als fester Bestandteil in den lebenslauf. In kaum einem anderem Bevölkerungssegment moderner Ge-sellschaften ist die grenzübergreifende Mobili-tät und Kommunikation so selbstverständlich wie im leben der studierenden.

Für Florence ist die auswahl von Freunden, Partys oder Wohnorten längst nicht mehr auf ein land begrenzt. Die kulturelle Vielfalt, die sie erlebt, sieht sie als Bereicherung an. Nur manchmal geht alles zu schnell vorbei, wie die Wochenenden bei Freunden oder der abend im club. Zu einer Vernissage ihrer schwester, die in london als Grafikdesignerin arbeitet, kam sie einmal sechs stunden zu spät, weil der Flug

ausfiel, und musste dann zu schnell zurückrei-sen, der Billigflieger-rückflug war ja schon für ein paar stunden später gebucht. Der Mangel an Zeit ist für Florence das größte Problem. Ihrer Meinung nach müsste die Woche neun tage haben: fünf zum studieren und arbeiten, zwei, um sich zu erholen und alte Freunde zu treffen, und zwei Brückentage zum reisen. Gäbe es schnellere Verkehrsmittel, Florence würde sie benutzen.

Der Streit um die Moham-med-Karikaturen warf vor allem die Frage auf: Wie führt man in einer globa-lisierten Welt einen kri-tischen und offenen Dia-log auf nationaler Ebene, der nicht brüskierend für andere Kulturen und Re-ligionen ist? Eine Antwort

auf diese Frage gibt es noch nicht. Mit ihr müssen wir uns aber sehr wohl beschäftigen, etwa im Rah-men der interkulturellen Kommunikation. Medien wirken über Grenzen hinweg. Wir müssen über die Folgen nachdenken und eine verantwortung-sethische Diskussion führen, zumal wenn ein so

sensibles Thema wie das derzeitige Verhältnis von westlicher und islamischer Welt berührt wird. „Die Welt zu Gast bei Freunden“ lautet das euphorische Motto der Fußballweltmeisterschaft – eine gute Gelegenheit in solchen interkulturellen Begeg-nungen die sensible Balance zwischen Respekt und Kritik zu üben. Dass dies auch medial attraktiv vermittelt werden kann, zeigen Beispiele wie die ARD-Vorabend-Serie „Türkisch für Anfänger“ oder die Sendungen, die mit dem ARD Medienpreis CIVIS für Integration und kulturelle Vielfalt in Europa ausgezeichnet werden. Mehr davon ist notwendig.

Barbara Thomaß lehrt am Institut für Medienwis-senschaft der Ruhr-Universität Bochum.

Lernen von Professor Thomaß

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86 Kulturaustausch�11/06

Mein Aufenthalt hier in Japan ist das größte�abenteuermeines�lebens. Ich bin 21 Jahre alt�und komme aus�schwabenheim, einer 2500-seelengemeinde in derNähe vonMainz.Dort�habe ich in derWerkstatt meines Großvaters,�die inder sechstenGenerationvonderFamilie�betriebenwird, eine�schreinerlehre gemacht.�Mirwar schon immer klar, dass ich�schreiner�werden möchte.�seit Mitte November des vergangenen Jahres�bin ich nun in Japan. Zunächst besuchte ich�einen einmonatigen�sprachkurs in�tokio, um�zu lernen, mich einigermaßen bemerkbar�zu machen. Denn mit Englisch kommt man�zwar in�tokio weiter, nicht jedoch im japa-nischen�hinterland. Ich wohne�derzeit inderKleinstadt�samuka-wa, etwa eine�stunde von�tokio�entfernt. Man sieht von hier aus�den�höchsten�Berg� Japans,� den�Fuji-san. Er ist der ganze�stolz�der Japaner und wirklich sehr�beeindruckend.Mein�chef (Oyakatta), ein sehr�bekannter japanischer�schreiner�(Daiku-san), ließ mich zunächst�einen�teetisch und einen�stuhl�bauen. Die erste�schwierigkeit�dabeiwar,dass in Japandie�hand-werker ihreigenesWerkzeugmit-bringen. Ihnen ist ihr Werkzeug�sehr wichtig, und sie haben eine�starkepersönlicheBindungdazu.�Entsprechend schwierig war es,�überhaupt dienötigen�utensilien�zu organisieren.�Mir gefällt sehr gut, dass die ja-panischen�handwerkernochwis-sen, wie man mit traditionellem�Werkzeug umgeht. In Deutsch-land ist diese�tradition verloren�gegangen, vieles wird nur noch�mit� elektrischen�Geräten�bear-

beitet. Des Weiteren macht ein japanischer�schreiner auch die�holzarbeiten, die bei uns�Zimmerleute machen:� sie bauen komplette�häuser und sogar Inneneinrichtungen. Mich�faszinieren die alten japanischen�hauskon-struktionen. Eine schöne�sache ist außerdem,�dasshier imVergleichzuDeutschlandsehrviele�massiveEdelhölzer an�stelle vonEdelfurnieren�verwendet werden.ImMomentarbeitenwiraneinemriesigen luxu-riösen�haus, das 500Meter vomMeer entfernt�ist. Jeden�tag erleben wir den�sonnenaufgang�und den�sonnenuntergang. Das macht richtig�glücklich. Ich muss sagen, dass ich noch nie�auf einer schöneren Baustelle gearbeitet habe.�

Mein�alltag hier in Japan sieht�folgendermaßen aus: Morgens�stehe ich um sechs�uhr auf. Ich�wohne mit einem japanischen�Kollegen zusammen, für den�ich Frühstückmache,während�er die�lunchpakete vorbereitet.�abends kommen wir um 20�uhr von der Baustelle zurück.�Wir kennen uns jetzt schon so�gut, dass wir uns gegenseitig�

die�haare schneiden – allerdings ist das auch�eine�art von Notlösung, da wir sechs�tage in�der Woche arbeiten und kein Frisör nach 20�uhr mehr geöffnet hat.�leider sindmeineKollegenaufder�arbeit sehr�streng und verstehen keinen�spaß.�arbeit ist�für sie etwas ganz Ernstes, und das musste�ich als gut gelaunter Deutscher erst lernen. In�Japan gibt es auch so etwas wie Praktikanten�nicht.Deswegendachtendie anderen, dass sie�mich wie einen Gesellen behandeln könnten.�Doch leiderhatte ich von ihren�arbeitsmetho-denkeine�ahnungundwurde desÖfteren auf�meine langsame, für sie faul scheinende,�ar-beitsweise hingewiesen. Ich ärgerte mich ein�wenig, denn ich bin derMeinung, keiner von�ihnen würde sich trauen, alleine in ein�land�zu gehen, ohne die�sprache zu beherrschen�und dort zu arbeiten.�Im Vorbereitungsseminar in Deutschland�wurden wir zwar über unterschiedliche�kulturelle�hintergründe informiert, jedoch�waren die geschilderten� situationen eher�für Büromenschen als für�handwerker von�Bedeutung.�trotzdem habe ich das Gefühl, hier auf das�leben vorbereitet und gefestigt zu werden.�Ichmuss hellwach sein,manche�tage sind ein�kleiner Kampf. Denn meine�sprachprobleme�führen immer wieder zu schwierigen�situati-onen und Missverständnissen. Es kam auch�mal vor, dass man eine Woche lang nicht mit�mir redete. Erst mit der Zeit wurde mir klar,�dass ich teilweise die falschen Entschuldi-gungsformeln benutzt hatte.��

Die traditionellen�handwerker�in Japan sind gut vernetzt und�kennen sich untereinander sehr�gut. Ich werde nach meinem�Praktikum versuchen, länger zu�bleiben, umnoch einige traditio-nelleWerkstätten kennen zu ler-nen. Diese�chance habe ich nur�einmal im�leben und ichmöchte�sie mir nicht entgehen lassen.�

Marc Andrae ist 21 Jahre alt und nimmt an dem Austauschprogramm „Praktikum in Japan“ der Organisation InWent teil.

Protokolliert von Christine Müller

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KulturPrOGraMME�

Kirschholzraspeln Dass�handwerker�auf�Wanderschaft�gehen,�hat�tradition.�Von�seinen�alltagserfahrungen�im�land�der�aufgehenden�sonne�erzählt�ein�schreiner

Von Marc Andrae

Oben: Wer will fleißige Handwerker sehen? Marc Andrae beim HobelnUnten: Schöne Aussichten: Schreinern in den Zeiten der Kirschblüte

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Kulturaustausch�11/06� 87

Mono, ein mexikanischer Elektro-Pop-Mu-siker ohne Plattenvertrag, mit seinen 4.729�Freunden. Interessant dabei:DerGrad der Be-liebtheit verhält sich nicht proportional zu den�Plattenverkaufszahlen, sondern zuderZeit, die�man�in�diesem�virtuellen�Dorf�verbringt.�Das�scheinbar�mühelose�Zusammenkommen�bereits zuvor bekannter Web-Features in�Myspace�ist�ebenso�der�Klugheit�des�Begrün-ders�der�Internetseite�zu�verdanken�–�dessen�Identität sich hinter einem „Freund“ mit�dem�Namen�tom�verbirgt�–�wie�der�aufkom-menden�Dominanz�einer�internetorientierten�Generation.Globalisierte Pop-Kultur ist eine�realität,�in die Menschen hineingeboren werden. In�Myspace überwiegt eine positive, freund-schaftliche,�jugendliche,�auch�oberflächliche�sprache, in der jeder jedem Komplimente�macht, also schreibt, er sei „hot“ oder ein „sexy�mo-fo“�–�kurz�für�„mother-fucker“.�Inzwischen�mehrt�sich� jedoch�Kritik�an�der�Plattform.�Missfallen�erzeugte�zunächst�der�Kauf�der�Plattform�durch�Medienmogul�ru-pert�Murdoch�im�vergangenen�Jahr.�unlängst�wurde�zudem�der�Vorwurf�der�pädophilen�In-filtration laut.Myspace versuchte zu reagieren,�indem�es�200.000�accounts�von�Minderjäh-rigen�löschte,�um�diese�vor�dem�Kontakt�mit�Pädophilen�zu�bewahren.�Zuletzt� sorgte�die�Änderung�der�allgemeinen�Geschäftsbedin-gungen,�die�die�rechte�der�Künstler�zu�Guns-ten der Plattform einschränken, für�aufre-gung.�In�jedem�Fall�zeigt�sich,�wie�schnell�sich�eine�utopie in eineDystopie verwandeln kann,�wenn�sie�erfolgreich�wird�–�und�sich�zu�viel�Macht�in�den�händen�Einzelner�sammelt.��

Aus dem Englischen von Annalena Heber

Avi Pitchon ist 1968 in Tel Aviv geboren. Er lebt als Autor, Kurator, Künstler und Musiker in Ber-lin und London.

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Wie schon Madonna sagte:�Musik�bringt�die�Menschen zusammen. Wer auf myspace.com�ein�paar�Bilder�hochlädt,� einen�song,�seine Interessen oder seinen�herkunftsort�nennt,�ist�bereits�teil�der�Web-community�von „Myspace“.Diese Internetplattformwird�von�bis�zu�60�Millionen�Nutzern�weltweit�mitgestaltet.�Noch�wichtiger�ist�jedoch,�dass�sie�scheinbar�die�optimistische�Vision�eines�globalen�Dorfes�Wirklichkeit�werden�lässt.Der�Erfolg�von�Myspace�liegt�in�der�Kombi-nation�aus�der�intimen,�freundschaftlichen�atmosphäre einer persönlichen Web-seite�und einer Fan-Webseite für Musikbands�sowie�dem�Einsatz�von�Digitalkameras�und�demFormatMP3.Diese Einzelteile bieten je-der�für�sich�genommen�nur�begrenzte�reize.�MP3 ermöglicht es unbekanntenBands ohne�Plattenvertrag, ihre Musik zu verbreiten,�ohne�auf�Plattenfirmen�angewiesen�zu�sein.�Myspace�erlaubt�es�diesen�Bands�außerdem,�Booker,�agenten, Manager, Promoter und�die�Musikpresse�zu�umgehen.�Denn�gleich-gesinnte�Musiker�und�Einzelpersonen,�die�um die 20 Jahre alt sind, finden sich hier�im� Internet�ganz�organisch�zu�Grüppchen�zusammen. Ein zentralesMerkmal der Platt-form�ist,�dass�jedes�Mitglied�per�Mausklick�„Freund“� („add� to� friends“)� eines�anderen�Mitglieds�werden�kann�und�auf�diese�Weise�eine weitere Verknüpfung im Netzwerk�herstellt.� so finden sich Freundeskreise,�die füreinander� auftrittsmöglichkeiten�oder�Konzerttouren�buchen.�Der�Musikge-schmack ist das Entscheidende, nicht Ort�oder�staatsangehörigkeit.�Mittlerweile präsentieren sich auf dieser�virtuellen�Bühne�von�Björk�bis�Peaches�die�meistenBands der großenPlattenlabel.Denn�keiner kann es sich leisten, bei diesem so�einfachzugänglichen Informationsaustausch�nicht mitzumischen.�hier sind alle gleich�– die Band „Metallica“ zum Beispiel zählt�15.092 „Freunde“ zu ihrem Netzwerk und�damit�gerade�mal�dreimal�so�viele�wie�Jorch�

Termine

14.-20. Juni 2006, RoboCup in Bremen: Parallel zur Fußballweltmeisterschaft findet zum ersten Mal in Deutschland der 10. RoboCup statt. Dort treffen Roboter unterschiedlicher Herkunfts-länder aufeinander, um gegeneinander Fußball zu spielen. Die internationale Initiative will die Forschung in den Bereichen Künstliche Intelli-genz und autonome mobile Roboter fördern. Die nationale Vorentscheidung wurde im Rahmen des Informatikjahres vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.

15.-18. Juni 2006, Comicsalon Erlangen: Die Vor-liebe für japanische Comics und Mangafiguren verbindet die deutsche Künstlergruppe „Moga Mobo“ und das japanische Kollektiv „NouNou-Hau“. Zusammen entwickelten die im Rahmen des Deutschland-in-Japan-Jahrs 2005/06“ eine Ausstellung. Sie wurde vom Goethe-Institut Tokio produziert, vom Forum Goethe-Insti-tut und dem Japanischen Kulturinstitut nach Deutschland gebracht und von der Kulturstif-tung des Bundes gefördert. Im Juli 2005 war sie auf Einladung des Goethe-Instituts in der Hillside Gallery in Tokyo zu sehen.

18.-25. Juni 2006 Interplay Europe 06 — Festival of Young Playwrights in Schaan/Liechtenstein:50 Künstler aus 15 Ländern diskutieren und präsentieren zeitgenössische Dramatik. Alle Au-toren sind zwischen 18 und 26 Jahre alt. Anliegen der 1985 in Sydney gegründeten Initiative ist die Förderung junger dramaturgischer Talente. An wechselnden Orten wird den Teilnehmern alle zwei Jahre ein internationales Austauschforum geboten, auf dem sie ihre Arbeit auch dem brei-ten Publikum vorstellen können.

Mit Björk auf du und duWie�Musikaustausch�im�Internet�funktioniert

Von Avi Pitchon

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Kulturaustausch�11/06� 89

Eugenijus Ališanka über den Kalvarjamarkt in Vilnius

kalvarien

ein�besoffener�ohrfeigt�die�marktplatzluftseine�wörter�übel�aus�einer�seemannsbibelseine�seele�schwarz�wie�ebenholzklebt�als�schlamman�seinen�schuhen�mitten�in�den�kalvarienüberall�stände�von�ständenauf�dem�markt�blüht�schon�wieder�der�kohlein�gör�schlägt�ein�kreuz�und�schiebtseine�hand�in�meine�tasche�mein�kleiner�bruderwar�früher�messdienerals�wir�melonen�wie�hostien�zerteiltenmitten�auf�dem�hofsind�menschen�nur�menschen�sie�laufen�herumund�denken�nicht�an�heilige�sachen�gottseidanksonst�würde�man�nicht�an�diesen�bergen�vorbeidiesen�schirmen�und�mützen�moslems�katholenhare�krishnas�vegetariern�gehen�sondern�kapierendassmanmittendrin ist nichtmalmit hut fürmilde gabenwie�er�jammert�und�weintauf�meinem�platz

Eugenijus Ališanka, geboren 1960, ist Lyriker, Essayist und Übersetzer. Er wuchs in Vilnius in der Kalvarjastraße auf, dort, wo der Kalvarjamarkt an den ehemaligen Kalvarienberg, einen Wallfahrtsort, angrenzt. Er ist-Chefredakteur von „Vilnius Review”. Zuletzt erschien von ihm „Aus ungeschriebenen Geschichten” (Köln, Dumont 2005). A

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90 Kulturaustausch 11/06

Es ist nicht leicht,�lee Kazimir zu erreichen.als es endlich gelingt, steht er in einer�telefon-zelle in einemkleinenDorf in Frankreich undhat gerade die Pyrenäen durchquert. Zu Fuß.ausgerüstet nurmit einer Kamera, einemZeltund einer�landkarte hat sich der 24-jährigeFilmemacher aus�chicago im März auf denWeggemacht, 5000kmvonMadridnachKiewzu laufen und Inspirationen für einen Filmzu sammeln. Damit nahm�lee den�regisseurWerner�herzog beimWort, der Filmstudentenriet, lieber eine�reise zu Fuß zu unternehmen,statt eine�akademie zu besuchen.�lee wähltefür seine�reiseEuropa:DerKontinent sei dichtbesiedelt und die Gefahr gering, verloren zugehen oder für mehrere�tage nichts zu essenzu finden, sagt er. Das klingt vernünftig.Überhaupt spricht� lee ernsthaft von denpsychischen�strapazen, die das�leben schwermachen, wenn man unterwegs ist. „seienes schlechte Wegmarkierungen, eine falschgelesene Karte oder�richtungsangaben, diean�sprachbarrieren scheitern, es gibt nichtsFrustrierenderes, als eine�stunde odermehr zuverlieren, weil ich wieder umkehren und denanderen Weg nehmen muss.“ Im�septemberwill�lee außerdemschon inKiew sein.�amEn-de der europäischen Wanderung soll aus denGesichternundGeschichten, die�lee auf seiner

reise begegneten, ein Film werden: „Moreshoes“ wird er heißen. Wer im�abspann desFilms erwähnt werden werden möchte, kannlees „Fellow�traveler“werden und ihnmit 20Dollar unterstützen.Die�anzahl der�spenderist allerdings auf 1000 begrenzt. Denn reichwerden möchte er mit dem Projekt nicht. Ersucht nach etwas anderem.Nachwas, dasweißer selbst noch nicht so genau.www.madridtokiev.com.

Hotline ohne KonfessionenVor drei Jahren nahm sichPhilipMctaggarts 17-jährigersohn das�leben.DreiWochenspäter gründete Mctaggartdie „Public Initiative to Pre-vent�suicide and�self-harm“,kurz „PIPs“ – wie der�spitz-

name seines� sohnes. PIPs�bekämpft die inNordirland horrende� selbstmordrate mitInformationskampagnen, 24-stunden-hot-lines und Forderungen nach einer verstärktpräventiven Gesundheitspolitik. Mit Erfolg:angesichts der zuletzt veröffentlichtenZahlenhat das Gesundheitsministerium das Budgetfür Präventionsmaßnahmen verdoppelt. Be-merkenswert ist, dass bei PIPs�Katholikenund Protestanten�hand in�hand arbeiten.Denn, so PhilipMctaggart: „leid kennt keineKonfession.“

In der Offensive

als�tochter eines bekanntenFußballschiedsrichters hattedie Ägypterin�sahar el-ha-wary bereits früh Ballkon-takt. Entgegen aller gesell-schaftlichen Konventionenblieb sie ihrer�leidenschaft

treu und wurde zur Vorkämpferin für denarabischenFrauenfußball.�unddasmit Erfolg:Die arabische Frauenfußballmeisterschaft, dieim�april in�alexandria stattfand, wäre ohneihre beharrliche Vorarbeit bei der FIFa�nichtdenkbar gewesen.

Feuer und Flammeseit�anfang des Jahres wohntdieEngländerin�rosie Pannellbei einer Familie in Karachi,Pakistan. Deren�haushälte-rinnen darf sie nicht anlä-cheln. Nur einige Kilometerweiter kümmert sich die 25-

jährige hingegen täglich darum, Frauen�selbst-achtung nahe zu bringen. Zusammen mit derNGO „Flame“ kämpft sie für den Erhalt einerschule für Mädchen, die das�schulgeld nichtbezahlen können.

Der Futurist

Eigentlichhatte�adrian�taylornach seinem Oxfordstudiumbereits ziemlich viel erreicht:1995 bis 1999 arbeitete er beider Europäischen Kommissi-on in derGeneraldirektion fürauswärtige�angelegenheiten

in Brüssel.�aber dann frustrierten ihn die „in-telligenten�leute, die alle in einer Blase leben“.seitdemengagiert sich der 40-jährigeBrite, dersieben�sprachen spricht, nichtmehr von innen,sondern von außen für Europa. Er begründetedie transeuropäische Partei „Generation Eur-

opa 21“ und schreibt Essays über Europa, weiler so „viel radikalere�sachen sagenkann als einBeamter“.�außerdementwickelt�taylor „thinktools“: grafische�strukturen, die Denk- undEntscheidungsprozesse abbilden. Derzeit istder dynamische Denker als Dozent an derBerliner „European�school ofGovernance“ tä-tig und entwirft „szenarien“ des zukünftigenEuropa:�alles ist mit allem digital verbunden,durch das Mittelmeer schwimmen Kongole-sen, es gibt 30 Millionen weniger Menschen,und das Ebolavirus wird nach Europa einge-schleppt.Nurwer in dieZukunft denke, könnedie heutigen�herausforderungen für Europaverstehen, findet�taylor. Fo

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Und er läuft und läuft und läuftDer amerikanische Filmemacher�lee Kazimir läuft durch Europa

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Kulturaustausch�11/06� 91

Der Unfreiheit die Stirn bietenViele Intellektuelle waren von den freiheitsfeindlichen Ideologien des 20. Jahrhunderts fasziniert.�

ralf Dahrendorf fragt, warum andere Denker ihnen widerstanden – und wie sie das zu Einzelkämpfern machte

Von Paul Nolte

BÜchEr

ralf Dahrendorf ist ein be-merkenswertes Buch ge-lungen.�auf wenigmehr als�

200�seiten behandelt er mit großerEindringlichkeit eine der großen�Fragen des�rückblicks auf das 20.Jahrhundert:Warum sind die frei-heitsfeindlichen Ideologien dieserZeitnichtnurmachtpolitisch immerwiedererfolgreichgewesen,sondern�konntensichauchder�unterstützung�vieler klugerMenschen gewiss sein,deren eigentlicher Beruf derjenige�der Kritik und der�skepsis ist, nichtderunverhohlenen,oberflächlichen�Begeisterung:der�unterstützungvon�Intellektuellen?�historiker spüren�seiteinigerZeitderFaszinationnach,die vom deutschen Nationalsozia-lismus nicht nur auf verängstigte�angestellte oder erwerbslose Prole-tarierausgegangen ist,sondernauch�auf Professoren, geistige Eliten undphilosophischeMeisterdenker:Mar-tin�heideggeristeinviel diskutiertes�Beispiel dafür.�seit 1989 richtet sich�dieseFrageauchauf die�attraktivitätdes Kommunismus, der sogar in�seinersowjetisch-stalinschenGestaltIntellektuelle überall auf der Welt,auch in England und�amerika, in�seinen Bann geschlagen, ja auf selt-sameWeise verblendet hat.

Doch Dahrendorf geht das�thema nicht als�historiker an,underbeginntmiteinerauf den�ersten Blick überraschenden�Pointe – er kehrt nämlich die�

sen. Das, so könnte man etwas überspitzt sagen,ist angesichts der tiefgreifenden Ideologisierung�des20.Jahrhunderts,angesichtsderutopischüber-spanntenErwartungenaneinebefriedeteModer-ne eher der Normalfall gewesen. Erklärungsbe-dürftig istdagegendasVerhalteneinerMinderheit

von Intellektuellen, die den „Versuchungen derunfreiheit“ klar und fest widerstanden haben,auch wenn sie damit das�risiko des�außensei-tertums, teils auch der persönlichen Gefährdung�auf sichgenommenhaben.Es sindMenschen,die�sich durch�tugenden der Freiheit auszeichnen;

Die St irnen standhaf te r Denker: Erasmus von Rot te rdam (oben l ink s), Theodor W. Adorno,Hannah Arendt, Karl Popper und Raymond Aron. Unten rechts der Autor des besprochenen Buches, Ralf Dahrendorf.

Fragestellung um.�so schreibt er nicht über die�Professoren,diedenNationalsozialismusbegeisterthochgeschrieben�haben; nicht über diejenigen�Intellektuellen, die sich in den 1930er Jahren mitleuchtenden�augen durch die vermeintlichen�Fortschritte des�sowjetreiches haben führen las-

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keine� liberalen�halbgötter,� sondern�Menschen,�die�der�Verlockung�der�großen�Ideologien,�dem�Versprechen�der�teilhabe�an�der�vermeintlich�siegreichen�Zukunft�nicht�auf�den�leim�gegan-gen� sind.�Dahrendorf�nennt�diese�Menschen,�diese�öffentlichen�Intellektuellen�„Erasmier“,�in�anlehnung�an�Erasmus�von�rotterdam,�der� in�einer�anderen�Zeit�der� ideologischen�und�poli-tischen�umwälzung,�fast�ein�halbes�Jahrtausend�früher,�ein�Vorbote�der�geistigen�unabhängigkeit�gewesen�sei,�ein�„intellektuelle(r)�Einzelkämpfer�par�excellence“.

Wer�sind�diese�Erasmier�des�20.�Jahrhunderts?�Drei�Musterbeispiele�der�unversuchbarkeit�wer-den�gleich�im�ersten�teil�des�Buches�vorgestellt:�Karl�Popper,�raymond�aron�und�Isaiah�Berlin.�an�letzterem�entwickelt�Dahrendorf�auch�seinen�eigenen�Begriff�von�Freiheit:�Er�weist�Berlins�berühmte�unterscheidung�von�„negativer“�und�„positiver“�Freiheit�zurück:�vereinfacht�gesagt,�die�unterscheidung�der�Freiheit�„von“�etwas�und�der�Freiheit�„für“�etwas,�für�bestimmte�Werte�und�Normen�wie�etwa�soziale�Gleichheit.�Die�zweite�ist�eine�scheinfreiheit,�die�in�Wahrheit�in�die�Gefahr�der� totalitären�Festlegung�gerate;�die�„negative“�Freiheit�ist�die�einzige�bedingungslose�Freiheit.�anders�gesagt:�Freiheit� ist�eben�Freiheit�–�und�nicht�Gleichheit�oder�Gerechtigkeit;�mit�diesen�gerät�sie�vielmehr�in�einen�Konflikt,�der�dann,�frei�nach�Max�Weber,�zu�führen�oder�auszuhalten�ist.�„Erasmier“�zeichnen�sich�dadurch�aus,�dass�sie�an�Freiheit�und�Individualität�festgehalten�haben:�ge-gen�die�Konzepte�von�Bindung�und�Gemeinschaft,�die�auf�unterschiedliche�Weise�Faschismus�und�Kommunismus�charakterisiert�haben.

Deshalb� sind�die�Erasmus-Intellektuellen�Einzelgänger,�wenn�nicht�gar�einsame�Menschen�gewesen.�Das�bringt�auch�der�tugendkatalog�zum�ausdruck,�den�Dahrendorf�an�diesen�Intellektu-ellen�entwickelt:�ein�klassischer�Vierklang�aus�Mut,�Gerechtigkeit,�Besonnenheit�und�Weisheit�in�liberaler�Deutung.��„Mut“�ist�dabei�gerade�nicht�das�vordergründige�heldentum,�mit�dem�die�großen�Ideologien�für�sich�warben,�sondern�der�Mut�des�„Einzelkampfes�um�Wahrheit“.�

Gerechtigkeit� ist� gerade�nicht�das�streben�nach�einer�prinzipiellen�Neuformierung�der�Ge-sellschaft,�bei�der�am�Ende�der�Zweck�alle�Mittel�heiligte,�sondern�die�Fähigkeit�des�aushaltens�von�Widersprüchen.�Besonnenheit�–�das�engagierte�Beobachten,�also�wieder�ein�Element�der�selbstdi-stanzierung;�Weisheit�–�die�leidenschaftliche�und�

kompromisslose�Vernunft.�andererseits,�und�das�macht�Dahrendorfs�Entwurf�besonders�spannend,�sind�die�Erasmus-Intellektuellen�mehr�als�eine�ansammlung�von�Einzelgängern�gewesen.�Ihre�gemeinsame�Identität�wurzelt�in�der�Geschichte�des�20.�Jahrhunderts�selbst�–�sie�sind�teil�einer�sehr�spezifischen�Generation,�also�einer�altersko-horte,�die�in�bestimmten�Phasen�ihres�lebens�auf�historische�umbrüche�traf,�die�zu�persönlichen�herausforderungen�wurden.�Nicht�nur�Popper�( Jahrgang�1902),�aron�(Jahrgang�1905)�und�Berlin�( Jahrgang�1909)�entstammen�dieser�Generation�der�Geburtsjahrgänge�des�ersten�Jahrzehnts�des�Jahrhunderts.�auch�die�anderen�Voll-�oder�teiler-asmier,�auf�die�Dahrendorf�immer�wieder�faszi-nierende�biografisch-intellektuelle�schlaglichter�wirft,� sind�zwischen�1902�und�1909�geboren:�Norberto�Bobbio�ebenso�wie�theodor�W.�adorno,�hannah�arendt�und�Marion�Dönhoff,�George�Orwell�ebenso�wie�John�Kenneth�Galbraith.�Die�liste�dieser�Namen� lässt� schon�erkennen:�Die�Erasmier�sind�ein�sehr�internationales�Völkchen,�nationale�Begrenzungen�machen�hier� keinen�sinn.�Wohl�handelt�es�sich�um�ein�„westliches“�Phänomen�im�weiten�sinne,�das�nicht�nur�den�Nordatlantik�umgreift,� sondern�bis�nach�Neu-seeland�(wo�Popper�„Die�offene�Gesellschaft�und�ihre�Feinde“� schrieb)� reicht.�Was�Dahrendorf�jedoch�nicht�sagen�will:�dass�die�Jahrgänge�um�1905�durch�Gnade�der�Geburt�gegen� totalitäre�Versuchungen�gefeit�waren.�Denn�die�Erasmus-In-tellektuellen�dieser�Generation�behaupteten�sich�gerade�gegen�die�Vielzahl�ihrer�Gleichaltrigen,�die�zu�besonders�eifrigen�unterstützern�der�unfreien�regime�wurde.�so�hat�die�Geschichtswissenschaft�für�den�Nationalsozialismus�sehr�scharf�herausge-arbeitet,�wie�dieselbe�Generation�zu�einer�willigen�„Generation�des�unbedingten“�(Michael�Wildt)�geworden�ist.

In�den�beiden� letzten�teilen�seines�Buches�verfolgt�Dahrendorf� seine�Erasmier�durch�die�länder�und�durch�die�Zeiten.�Die�„Versuchungen�der�unfreiheit“� stellten� sich�auch� jenseits�der�

Grenzen,� innerhalb�derer�die�unmittelbare�po-litische�Vereinnahmung�drohte:� auch� in�der�neutralen�schweiz,� auch� in�England,� sogar� in�den�Vereinigten�staaten.�und�sie� stellten� sich,�zeitlich,�auch�jenseits�der�Grenze�von�1945,�die�das�katastrophale�scheitern�der� faschistischen�„Versuchung“�markiert.�Dahrendorf�verfolgt�die�Intellektuellen�auch�durch�die�zweite�hälfte�des�20.�Jahrhunderts,� in�der�„1968“�und�„1989“�die�entscheidenden�Etappen�bilden.�Dabei�enthält�er� sich�einer�deutlichen�Kritik�an�den�„68ern“�nicht,�wie�er�auch�zu�dem�Opportunismus�Jean-Paul�sartres�harsche�Worte�findet.�1989�sah�es�so�aus,�als�erkläre�die�Geschichte�die�Erasmier�zu�siegern�–�oftmals,� in�biografischer�Perspektive,�schon�posthum.�aber�die�vorläufig�letzte�station�ist�nicht�1989,�sondern�„2001“�und�die�Gefahr�einer�„neuen�Gegenaufklärung“.�heroisch�kann�dieses�Buch�schon�deshalb�nicht�enden,�weil�der�autor�selber�zur�spezies�der�Erasmus-Intellektuellen�gehört�und�im�Porträt�einer�Gruppe,�die�seiner�Vatergeneration� entspricht,� sich� immer� auch�selbst�beschreibt,�entwirft,�überprüft.�Dahrendorf�ist�deshalb�weit�davon�entfernt,�das�Drama�eines�„Kampfes�der�Kulturen“�zu�prognostizieren.�aber�er�warnt�vor�der�schleichenden�Bereitschaft�des�Westens,�„die�Freiheiten�der� liberalen�Ordnung�einzuschränken“�oder� jedenfalls� nicht�mehr�aktiv�zu�vertreten.�Dahrendorf� ist�nicht�hegel;�die�Freiheit�macht�sich�nicht�selbst�auf�den�Weg�des�natürlichen�Fortschritts.�Im�Gegenteil,�es�gibt�vielleicht�so�etwas�wie�eine�„Entropie�der�Frei-heit“–�ein�beunruhigender�Gedanke.

Dahrendorfs� schmales�Buch� beantwortet�längst�nicht�alle�Fragen,�die�es�selber�ausdrücklich�stellt�oder�für�den�mitdenkenden�leser�aufwirft.�Die�Kunst�seiner�Verdichtung�ohne�irgendeinen�Verlust� an�leichtigkeit� ist� bemerkenswert.�Es�drängt� sich�nicht� auf�und� lässt�doch�nicht� so�schnell�los.�Wer�dieses�risiko�eingehen�will,�sollte�es�lesen.

Paul Nolte ist Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin. Von ihm erschien zuletzt „Riskante Moderne. Die Deutschen und der neue Kapitalismus“ (München, C.H. Beck Verlag, 2006).

Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung. Von Ralf Dahrendorf. (München, C.H. Beck Verlag 2006).

BÜchEr

Dahrendorfs Tugendkatalog des Intellektuellen: Mut, Gerechtigkeit, Besonnen-heit, Weisheit

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Kulturaustausch�11/06� 93

Zweisprachiger� literatur�haftet� das�Etikett� an,� nur�didaktischer�Behelf�für�den�

Erwerb�einer�Fremdsprache�zu�sein.�Verschreckt�denkt�man�an�Fußno-ten�und�Vokabelhilfen.�Dabei�sind�zweisprachige�Bücher�ziemlich�in-teressant:�Denn�jede�einfache�Über-setzung� ist� ja�eine� Interpretation.�Der�Paralleldruck�des�bilingualen�Buches� hingegen� lässt�den�leser�zwischen�den�eigenen�und�fremden�Wörtern�hin�und�her�springen.�Da�zweisprachige�Bücher�kommerzi-ell�uninteressant� sind,�werden�sie�lediglich�von�wenigen�namhaften�Verlagen�herausgebracht.�Nur�dtv�legt�seit�1973�eine�erfolgreiche�bi-linguale�reihe�auf.�Der�fabelhafte,�für�seine�behutsame�Editierung�geschätzte�Babel�Verlag�verlegt� erstklassige�autoren� aus� dem�englischen�sprachraum.�Künftig�will�Verleger�Kevin�Perryman� auch�die�„unerschöpflichen�skandinavischen�literaturen“�in�sein�Programm�einfügen.�

lohnenswerte�Neuentdeckungen�oder�li-teratur�aus�unpopulären�sprachen�finden�sich�bei�Kleinverlagen.�Die�straelener�Manuskripte�etwa�folgen�bei�Erstveröffentlichungen�der�De-vise�von�Verlegerin�renate�Birkenhauer:�„Zuerst�muss�man�Bücher�machen,�dann�kann�der�Erfolg�kommen.“�Die�Edition�stellt�auf�Empfehlung�des�nahe�gelegenen�Europäischen�Übersetzer-Kolle-giums�in�jährlichen,�von�Klaus�Detjen�gestalteten�Bänden�zeitgenössische�Poesie�aus�dem�ausland�vor.�Ein�highlight�ist�der�leinenband�„an�den�ufern�der�Zeit“,� eine�auswahl�von�lyrik�und�Prosastücken�des�Israeliten�Dan�Pagis.�Der�hebrä-ische�Originaltext�ist�im�Farbton�sepia�gehalten,�was�an�vergilbte�Fotografien�erinnert�und�Pagis´�Bewältigung�der�durchlittenen�shoa�konturiert.�Der�Perspektivwechsel�ist�aufgrund�der�fatalen�gemeinsamen�Vergangenheit�hebräisch�-�deutsch�besonders�eindrücklich.�������������

liebevoll�illustrierte�Bücher�für�Kinder�binatio-naler�Ehen�auf,�was�ein�kniffliges�unterfangen�ist,�da�Kinderliteratur�in�der�oralen�Orientkultur�selten�ist.

Die�Migrantenliteratur�von� türkischen,� in�Deutschland� lebenden�autoren� konnte� sich�in�der�hiesigen�literaturlandschaft�noch�nicht�recht� etablieren.�um� ihr� einen� angemessen�

Platz� zuzuweisen,� gründeten�ha-bib�Bektas�und�Yüksel�Pazarkaya�anfang�des�Jahres�den�sardes�Ver-lag.�Gleich�die�ersten�beiden�titel�skizzieren�eindrücklich�das�Gesicht,�das�sich�der�Verlag�geben�möchte:�Pazarkayas�wortsatter�Poesieband�„Du�Gegenden“�ist�die�litanei�eines�in�die�Einsamkeit�Verbannten�auf�ein� fernes�Du,�auf�die� ihm� fremd�gewordene�heimat.�

Mit�Germán�carrasco,�dem�Ge-winner�des�Pablo-Neruda-Preises�2005,� startete�die�parasitenpresse�ihre�neue�reihe�„paradosis“.�Getreu�der�unverwechselbaren�Verlagsbi-bliophilie�liegt�mit�„Wir�die�wir�kei-nen�Karneval“�ein�handgearbeitetes�Bändchen�vor.�Die�Übersetzung�ist�

eine�klare�Neudichtung:�Worte�wurden� inter-pretativ�übersetzt�(aus�„Welt“�für�„mundo“�etwa�wurde�„Vorstadtbahn“),�es�gibt�Einfügungen�und�auslassungen.�Die�Änderungen� funktionieren,�da�sie�offenkundig�sind.�Der�leser�darf�sich�auf�verschiedene�lesarten� einlassen.�Damit� gibt�der� junge�Verlag�der�zweisprachigen�literatur�jenseits�von�pädagogischer�ambition�den�letzten�authentischen�schliff.�

An den Ufern der Zeit. Von Dan Pagis. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Straelener Manuskripte, Straelen 2003. Fünfter November und andere Tage. Von Petr Borkovec. Aus dem Tschechischen von Christa Rothmeier. Edition Korrespondenzen, Wien 2006.Belagerungszustand. Von Mahmud Darwisch. Aus dem Arabischen von Stephan Milich. Verlag Hans Schiler, Berlin 2005.Du Gegenden. Von Yüksel Pazarkaya. Aus dem Tür-kischen vom Autor. Sardes Verlag, Erlangen 2005.Wir die wir keinen Karneval. Von Germán Carrasco. Aus dem Spanischen nachgedichtet von Timo Berger und Tom Schulz. Parasitenpresse, Köln 2005.

achtsam�gestaltete�Bücher�finden�sich�auch�bei� der� österreichischen�Edition�Korrespon-denzen.�sie�widmet�sich�Mitteleuropa�und�ver-steht�sich�laut�lektor�reto�Ziegler�als�„tür�zum�deutschsprachigen�raum“.�Den� tschechischen�Dichter�Petr�Borkovec,�der�2004/2005�als�„wri-ter�in�residence“�in�Berlin�lebte,�präsentiert�die�Edition�mit�einer�hochwertigen�hardcoveraus-gabe�von�„Fünfter�November�und�andere�tage“.�um�die�Verständigung�mit�der�arabischen�Welt�haben�sich�zwei�Verlage�verdient�gemacht.�Mit�seinem�wiedergegründeten,�nach�ihm�benann-ten�Verlag�will�hans�schiler�„einen�kulturellen�raum� schaffen� für�die�Begegnung� zwischen�Europa�und�dem�Orient�und�den�mannigfachen�orientalischen�Kulturen�untereinander“.�aus�dem�Programm�ragt�ein�geläuterter�Mahmud�Darwisch�heraus.�Der�palästinensische�Dichter,�der�als�Mitglied�des�Nationalrats�energisch�für�einen�palästinensischen�staat�eintrat,�dekliniert�in�„Belagerungszustand“�den�gebündelten�hass,�der�in�mythisiertes�Märtyrertum�mündet,�um�am�Ende�an�eine�friedliche�Koexistenz�zu�gemahnen:�„’Ich�oder�er’/�so�beginnt�der�Krieg.�Doch�er�endet/�Mit�einer�beschämenden�Begegnung:/�‚Ich�und�er’.“�Die�Edition�Orient�dagegen� legt�

BÜchEr

Lest zweisprachig Es�gibt�sie�wirklich:�bilinguale�Bücher,�deren�lektüre�sich�lohnt

Von Eileen Stiller

Im Buch „Fünfter November und andere Tage“ von Petr Borkovec ist auch der handgeschriebene Originaltext zu sehen

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BÜchEr�

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sich�gerade�mit�der�schwerpunktsetzung�nach�ländern�und�einem�strukturmodell�„zentraler�Orte“�auseinander�gesetzt.�Bei�Kathe�vermisst�man�eine�anwendung�dieser�Überlegungen�auf�das�Goethe-Institut.�Was�bedeutete�es�für�das�Institut,�wenn�etwa�1956�die�Bundesrepublik�am�Bau�des�stahlzentrums�im�indischen�rour-kela�beteiligt�war�und�es�dort�einen�Bedarf�an�Deutschunterricht�zu�prüfen�galt?�Oder�wenn�1979�eine�fast�fertige�deutsche�universität�bei�teheran�durch�die�revolution�der�ayatollahs�verhindert�wurde?�Welche�rolle�hatte�die�hel-sinki-Konferenz�über�sicherheit�und�Zusam-menarbeit�in�Europa�von�1975�für�die�arbeit�des�Goethe-Instituts�in�Osteuropa,�aber�auch�gegenüber�der�DDr,�gespielt?�solche�Fragen�bleiben�weitgehend�außer�Betracht.

Dagegen�kann�die�arbeit�fast�immer�dort�mit�präzisen�Ergebnissen�aufwarten,�wo� sie�sich�mit� dem� Binnenverhältnis� zwischen�auswärtigem�amt�und�der�Zentrale�des�Goe-the-Instituts� befasst.�Der� ständige�Kampf��um�einen�anteil�an�den�ressourcen�bis�zum�rahmenvertrag� von� 1969,� die� innovative�Gründung�der�Vereinigung�für�Internationale�Zusammenarbeit�von�1972,�in�der�das�Institut�mit�sieben�anderen�Mittlerorganisationen�ge-genüber�dem�auswärtigen�amts�aktiv�wurde,�der�„Föderalismus“�als�strukturmerkmal�der�auswärtigen�Kulturpolitik�–�all�dies�ist�in�der�arbeit�Kathes�kritisch�dargestellt�und�erörtert.�Demgegenüber�treten�aber�gerade�die�Inhalte�der�Kulturarbeit�etwas�zu�sehr�zurück.�Wie�sich� das� Fach� „Deutsch� als� Fremdsprache“�he-rausgebildet�hat,�oder�ob�die�in�den�1980er�Jahren�von�der�Kulturabteilung�des�auswär-tigen�amts� vertretene�arbeitshypothese�der�„kulturellen�Einbettung�der�Entwicklungs-politik“�(Barthold�c.�Witte)�vom�Goethe-In-stitut� aufgenommen�wurde,�hätte�man�gern�erfahren.�hier�bleibt�noch�viel� zu� forschen.�Wenigstens� für� den� administrativen�Kern�des�Goethe-Instituts�ist�hier�aber�ein�anfang�gemacht.

Kurt Düwell ist emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Kulturpolitik um jeden Preis. Die Geschichte des Goethe-Instituts von 1951 bis 1990. Von Steffen R. Kathe. Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung, München 2005.

Gewiss� lässt� sich�die�Geschichte�des�Goethe-Instituts� auch� als� Instituti-onsgeschichte� schreiben.�Dies� tut�

die�arbeit�von�steffen�r.�Kathe,�eine�trierer�Dissertation,�ausführlich,� ja� fast�ausschließ-lich.�sie� versteht�unter�strukturen� in� erster�linie�Verwaltungsorganisation,�haushaltsan-gelegenheiten�und�Personalpolitik.�Der�leser�erfährt�eine�Menge�über�die�Entwicklung�einer�Einrichtung,�die�politisch�und�administrativ�seit� ihrer�ersten�Gründung�1932,�damals�als�„praktische�abteilung“�der�Deutschen�aka-demie,�in�der�Ns-Zeit�zunächst�als�eingetra-gener�Verein�und� seit� 1941� als�Körperschaft�des�öffentlichen�rechts,�an�der�kurzen�leine�des�auswärtigen�amts�eine�wechselvolle�und�katastrophale�Geschichte�durchlaufen�hatte.�

Eine� lehre� aus� dieser�Geschichte�war,�dass�seit�der�Neugründung�1951�das�„Goethe-Institut�zur�Pflege�der�deutschen�sprache�und�Kultur�im�ausland“�wieder�als�eingetragener�privatrechtlicher�Verein�geschaffen�wurde,�um�einer�erneuten�staatlichen�„Gleichschaltung“�zu�entgehen.�Dieses�unabhängigkeitsstreben�hatte� anfangs� damit� zu� tun,� dass� die� alte�Deutsche�akademie� 1945� ein�restvermögen�hinterlassen�hatte,�welches�das�Goethe-Institut�zu�übernehmen�hoffte.�Diese�rechnung�ging�jedoch�nicht� auf,� und� auch�hoffnungen� auf�Zuschüsse� der� deutschen�Exportwirtschaft�oder�des�auswärtigen�amts�blieben�bis� zur�Mitte�der�1960er�Jahre�Illusion.�

Die�Gründe�für�diese�Zurückhaltung�mög-licher�Zuschussgeber�lagen�in�erster�linie�in�der�Vorsicht,�mit� Personal� zusammenzuar-beiten,�das�zu�viele�Kompromisse�mit�hitlers�Politik� eingegangen�war.�Das� auswärtige�amt,�das�selbst�wegen�der�„Kontinuität“�des�Personals� viel� Kritik� erfahren� hatte,� hielt�sich�noch�bis�Ende�der�1950er�Jahre�bedeckt,�wenn�im�Goethe-Institut�Männer�im�Vorstand�saßen,�die�das�Ns-regime�nicht�ganz�unbela-stet�überstanden�hatten.�Dass� es� sich�dabei,�

besonders�bei�den�Jüngeren,�um�spezialisten�des�Deutschunterrichts� und�der�Kulturwis-senschaften�handelte,�die�selbst�ihr�„historia�docet“� inzwischen�gelernt�hatten,�hätte� der�Fairness�halber�erwähnt�werden�sollen.�Der�autor�übt�hier�mitunter�recht�herbe�Kritik.�

Der�Fokus�der�untersuchung�Kathes�liegt�auf� den� strukturen� der�Kulturverwaltung�und� des�haushaltswesens,�weniger� auf� der�eigentlichen�Kulturarbeit� des�Goethe-Insti-tuts.�Die� studie� orientiert� sich� vorwiegend�an�der�Zeitungsausschnittsammlung�und�den�Vorstandsprotokollen�und� -verlautbarungen�des�Goethe-Instituts,�in�denen�das�Verhältnis�zum�auswärtigen�amt� und� immer�wieder�haushaltsforderungen�des�Instituts�im�Mittel-punkt�stehen.�Zu�den�strukturen�des�Instituts�gehört�aber�eigentlich�auch�das�Verhältnis�zu�den�Zweigstellen� „draußen“,� deren�Berichte�allenfalls�als�reflex�in�den�Vorstandssitzungen�aufscheinen.�auch�ein�Exkurs�über�die�Zweig-stellen�in�Paris�und�lagos�–�nur�zwei�von�120�bis�140!�–�lässt�erkennen,�was�der�studie�fehlt.�Die�arbeit�liefert�mehr�oder�weniger�ein�Bild�der�Zentrale,�das�noch�um�die�Beziehungen�zur�Peripherie�ergänzt�werden�müsste.�Denn�von�den�zeitweise� sechs�Zweigstellen� allein�in�Indien�bis�hin�zum�Goethe-Institut�in�Ko-penhagen,�das�seine�sprach-�und�Kulturarbeit�auch� für�Grönland,� Island,� die�Faröer-�und�andere� nordische� Inseln� versieht,� arbeite-ten� die� Institute� unter� unterschiedlichsten�rahmenbedingungen.�Der� leser�wundert�sich�etwas,�wenn�in�den�Fußnoten�plötzlich�kurz�regionalkonferenzen�der�Zweigstellen�erwähnt�werden.�Zwar�macht�der�autor�sogar�darauf�aufmerksam,�dass�eine�Geschichte�des�Goethe-Instituts� „kaum�ohne� den� genauen�Überblick�über�die�Zweigstellen“�auskommt,�belässt�es�dann�aber�bei�nur�zwei�Beispielen.�Doch�schon�das�Gutachten,�„Die�auswärtige�Kulturpolitik� der�Bundesrepublik�Deutsch-land“,�das�hansgert�Peisert�1971�vorgelegte,�hat�

Zweigstelle KulturEine�Institution�wird�besichtigt:�steffen�r.�Kathe�untersucht�die�Verwaltungsstrukturen�des�Goethe-Instituts

Von Kurt Düwell

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BÜchEr

Kulturaustausch�11/06� 95

Die�Berücksichtigung�der�politischen�reali-täten�in�der�Eu�macht�die�Kritik�der�autoren�nicht�milder,�aber�stellt�sie�in�den�notwendigen�rahmen.�Dabei�gelingt�ein�informativer,�gut�lesbarer�rundumschlag�inklusive�Vorschlägen�zur�abhilfe.�reimon�und�Weixler�üben�Kritik�„von�links“,�sie�plädieren�für�ein�soziales�Eu-ropa,� jedoch� für� die� europäische�Einigung.�Wohltuend�setzt�sich�das�Buch�ab�von�allen,�die�in�Europa�nichts�als�Krise�sehen�wollen.�

Das�„Kritische�Eu-Buch�–�Warum�wir�ein�anderes�Europa�brauchen“�schlägt�in�eine�ähn-liche�Kerbe.�herausgegeben�von�attac�Ös-terreich�versammelt�es�Beiträge�verschiedener�autoren�–�und�auch�verschiedener�Qualität.�Werden�zunächst�die�Eu�und�ihre�Entstehung�lehrbuchartig�dargestellt�–�denn�ein�Ziel�des�Buches�ist�es�auch,�das�system�Eu�zu�vermit-teln,�gehen�die�folgenden�artikel�auf�ein�breites�spektrum�politischer�Fragen�ein.�Der�Einfluss�der�lobbyisten�oder�die�Dramatik�der�Migrati-onsbewegungen�nach�Europa�werden�interes-sant�analysiert.��andere�untersuchungen,�wie�zur�sicherheitspolitik,�verrennen�sich�in�lieb�gewordene�thesen�der�Globalisierungskriti-ker,� etwa� die�Militarisierungsthese.� leider�fällt�attac�zum�Eu-Beitritt�der�türkei�auch�nur�die�cDu-lancierte�und�wenig�substanzielle�„privilegierte�Partnerschaft“� ein.�Es� ist� ein�Buch�der�globalisierungskritischen�Bewegung�und�bietet� an� „rezepten“� leider�nur,�was�zu�erwarten�war.�Neben�selbstbezogener�Bewe-gungsprosa�bietet�das�Buch�nichtsdestotrotz�auch� lesenwert� Kritisches� zum� stand� der�europäischen�Integration.�

Was es heißt, Europäer zu sein. Von Jorge Semprún, Dominique de Villepin. Aus dem Französischen von Michael Hein. Murmann, Hamburg 2006.Das Europa-Komplott. Wie EU-Funktionäre un-sere Demokratie verscherbeln. Von Herbert von Arnim. Hanser, München 2006.Die sieben Todsünden der EU. Vom Ausverkauf einer großen Idee. Von Michel Reimon, Helmut Weixler. Ueberreuter, Wien 2006.Das kritische EU-Buch. Warum wir ein anderes Europa brauchen. Hg. von ATTAC. Deuticke, Wien 2006.

Cem Özdemir ist seit 2004 Abgeordneter des Europäischen Parlaments und Mitglied der Fraktion Die Grünen/Freie Europäische Allianz.

Die�allgemeine�Diagnose� lautet:�Eu-�ropa� ist� in�der�Krise.�Wie�sehr�das�im�historischen�Vergleich�zutrifft�sei�

dahin�gestellt,�doch�erkennbar�sind�eine�große�Verunsicherung�und�die�Notwendigkeit� von�reformen.�Der�streit�um�den�richtigen�poli-tischen�Weg�wird�längst�auch�auf�europäischer�Ebene�ausgetragen.�so�ist�es�nicht�verwunder-lich,�dass�eine�Fülle�von�Neuerscheinungen�zu�Europas�Zustand�zu�sichten�ist.�

„Was�es�heißt,�Europäer�zu�sein“�–�in�Zeiten�wie�diesen�ein�nahe�liegender�titel�für�ein�po-litisches�Buch,�zumal�von�zwei�europäischen�Geistern�unterschiedlicher�politischer�lager:�Dominique�de�Villepin�und� Jorge�semprún.�Der�eine�im�hauptberuf�Premier�Frankreichs,�der� andere� spanischer�schriftsteller,�Wider-standskämpfer�und�späterer�Kulturminister.��auf�einem�Briefwechsel�beruht�das�Buch,�und�man�erhofft�sich�von�diesen�klugen�Männern�antworten�auf�die�drängenden�Fragen�der�Zeit.�Es� braucht� einige�Geduld,� sie� aufzuspüren.�Es�finden�sich�schöne,�oft�wortgewaltige�For-mulierungen�zum�Erbe�Europas�und�unseren�widersprüchlichen�Wurzeln.�an�anderer�stelle�überraschen�die�autoren�mit�eindeutigen�Posi-tionen:�Beide�sprechen�sich�gegen�eine�Festle-gung�der�Grenzen�Europas�aus�und�plädieren�für�weitere�Mitglieder,�inklusive�der�türkei,�deren�schicksal� sie� historisch-politisch�mit�Europa�verbunden�sehen.�Gleichzeitig�wollen�sie� ein�politisches�und� ein� sozialstaatliches�Europa,� das� als� friedlicher�Global� Player�unsere� demokratischen�Werte� in� die�Welt�trägt.�sie�plädieren�für�ein�von�Deutschland�und�Frankreich�getragenes�Kerneuropa�und�werben� eloquent� um�Verständnis� für� das�„europäische�Paradox“,� auf�wirtschaftlicher�Zusammenarbeit� gegründet,� aber� auch� ein�originär�politisches�Projekt�zu�sein.

Was� bei� de� Villepin� und� semprún� die�Weiten�der�historie�sind,�ist�das�Klein-Klein�Europas�bei�herbert�von�arnim,�dem�allseits�

bekannten�Kritiker� von�Politikern�und�Par-teien.�sein�Buch�„Das�Europa-Komplott�–�Wie�Eu-Funktionäre�unsere�Demokratie�verscher-beln“�ist�eine�abrechnung�mit�dem�politischen�system�und�seinen�akteuren�auf�europäischer�Ebene.�Von�arnim�schildert�die�„aufblähung“,�„Kontrollschwäche“� und� das� „Demokratie-defizit“� des� „Monsters“�Eu.� streckenweise�möchte�man�ihm�beipflichten,�gerade�wenn�es�um�das�ausbooten�der�nationalen�Parlamente�im�politischen�Prozess�oder�den� „Buhmann�Brüssel“� geht.�Er� benennt� aufrüttelnde�Bei-spiele,� aber� auch�manche� rein�populistische�Forderung.� so� kritisiert� er� an� den�Wahlen�zum�Europäischen�Parlament,�dass�es�sich�um�Verhältniswahlrecht�handele�und�die�Parteien�listen� aufstellten.�Das� entspricht� allerdings�der� gängigen� Praxis� anderer� europäischer�länder,�und�das�listenverfahren�ist�auch�bei�Bundestagswahlen�üblich.� Innerparteiliche�Wahlen�stuft�er�offenbar�als�nichtig�ein.�Dass�etwa�alle�99�abgeordneten�aus�Deutschland�im�regelfall�auf�Parteitagen�demokratischer�Parteien�mit�ebenso�demokratisch�gewählten�Delegierten�für�die�liste�zur�Europawahl�no-miniert�werden,�sind�Details,�die�von�arnim�der�Effekthascherei�zuliebe�unterschlägt.�Das�Buch�lebt��von�Pauschalisierung�und�skandali-sierung�–�und�erweist�damit�seinem�eigentlich�ehrenwerten�anliegen�einen�Bärendienst.�

Weniger�Polemik,�dafür�mehr�Grundsätz-liches� über� die�Eu,� ihre�Konstruktion�und�Mängel�bietet�dagegen�ein�Buch�von�Michel�reimon�und�helmut�Weixler.�„Die�sieben�tod-sünden�der�Eu�–�Vom�ausverkauf�einer�großen�Idee“�macht�es�sich�mit�seiner�Europa-Kritik�nicht� gar� so� leicht.� In� sieben� thematischen�Kapiteln� stellen�die�beiden�österreichischen�Journalisten�nicht�nur�die� akuten�Probleme�dar,� sondern� auch� deren� tiefere�ursachen�in� einem�politischen�system�ohne�Vorbild.�schwerpunkt�sind�neben�der�Eu-Verfassung�die�themen�Wirtschaft�und�liberalisierung.�

Und jetzt?Die�Krise�der�Eu�hat�mehrere�autoren�zu�stellungnahmen�motiviert

Von Cem Özdemir

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NEuErschEINuNGEN

96 Kulturaustausch�11/06

W i e a n d e r e�westeuropäische�Industriestaaten�mussauchFrank-reich�davon�aus-gehen, dass der�a rb e i t sma rk t�im kommenden�Jahrzehnt unter�

einem�Defizit�an�gut�ausgebildeten�einheimischen Fachkräften leiden�wird, das durch die� anwerbung�von�ausländischen�arbeitnehmern�ausgeglichen werden muss. Wie�aber können in diesem sensiblen�Prozess die Weichen bereits jetzt�so�gestellt�werden,�dass�Frankreich�trotz�des�zunehmenden�internatio-nalenWettbewerbs als Forschungs-�und�Wissenschaftsstandort�für�ein�internationales�Publikum�von�ar-beitskräften attraktiv bleibt? Die�studie formuliert Vorschläge, die�Frankreich fit für die Erforder-nisse der künftigenVeränderungen�auf dem weltweiten�arbeitsmarkt�machen sollen. Das erste Kapitel�untersucht die Mobilität interna-tionaler� studierender und Wis-senschaftler in den westlichen�Industriestaaten.�Vor�diesem�hin-tergrund�wird� im�zweiten�Kapitel�die�situation in Frankreich genauer�in den Blick genommen. Neben�der historischen Entwicklung der�aufnahme� internationaler�studie-render und Forscher interessiert�hier�auch�die�abwanderung�junger�Wissenschaftler aus Frankreich.�Während�ein�weiteres�Kapitel�fünf�Zukunftsszenarien zeichnet, wie�der Wissenschaftsstandort Frank-reich um 2020 aussehen könnte,�gibt�das�abschließende�Kapitel�eine�reihe von Empfehlungen für die�Politik,�wie�die�Einwanderung�von�studierenden und Wissenschaft-lern�konstruktiv�gesteuert�werden�könnte.�(sch)

Etudiants et chercheurs à l’horizon 2020: Enjeux de la mobilité internationale et de l’attractivité de la France. Von Mohamed Harfi. Commissariat Général du Plan, Paris 2005. 249 Seiten.

seit der�unter-zeichnung des�Élysée-Vertrags�1963 wurde das�deutsch-franzö-sische Freund-schaftsabkom-men in Frank-reich durch die�

Einrichtung zahlreicher Informa-tionszentren�zum�thema�Deutsch-land�bekräftigt.�Diese�Zentren�exi-stieren�bis�heute,�und�ihr�stetes�Be-mühen, ihre�strukturen,Methoden�und Präsentationsformen an die�aktuellen Erfordernisse anzupas-sen, steht in herbem Gegensatz�zu den�unkenrufen der Medien,�die von Zeit zu Zeit ein�abf lau-en des wechselseitigen Interesses�der deutschen und französischen�Öffentlichkeit konstatieren. Die�Verfasserin möchte�mit ihrer�stu-die den Nachweis erbringen, dass�die�Nachfrage�nach�dem�Informa-tionsangebot�über�Deutschland� in�Frankreich viel größer ist, als in den�Medien behauptet.Dazuwidmet sie�sich�den�bislang�noch�nicht� syste-matisch�untersuchten�Dokumenta-tionszentrenunddeutschlandkund-lichen�Bibliotheken�in�Frankreich,�verfolgt ihre historische Entwick-lung unter den sich wandelnden�kulturpolitischen Vorzeichen der�vergangenen�Jahrzehnte�und�fragt�nach�ihrer�heutigen�Bedeutung�für�den�deutsch-französischen�Kultur-austausch.�(sch)

Les lieux et supports d’information sur l’Allemagne en France, acteurs et témoins des relations franco-allemandes.Von Anna Walter. Univ., Mémoire de maîtrise, Paris 2005. 147 Sei-ten.

Die� universi-täten sind seit�alters her Orte,�die�sich�der�Welt�geöffnet haben,�um internationa-les Wissen auf-zunehmen und�weiterzuvermit-

teln. In den letzten Jahrzehnten�jedoch�hat�die�Mobilität�der�studie-renden�nie�gekannte�Dimensionen�erreicht. Geopolitische Faktoren�spielenbei derVerteilung eine große�rolle:Währenddie ärmeren�länder�eher�eine�abwanderung�und�damit�regelrecht einen „brain drain“ zu�beklagen haben, konnten sich die�Industriestaaten�bislang�die�künf-tigenExpertenundFührungskräfte�für den einheimischen Markt aus�einem internationalen�angebot aus-suchen.�Die�vorliegende�studie�hat�zum�Ziel,�verschiedene�Modelle�eu-ropäischer�aufnahmeländer zu ver-gleichen,�um�daraus�strategien�zu�entwickeln,wie die�attraktivität der�einzelnen�studienstandorte künf-tig�gesteigert�werden�kann.�Dabei�geht�es�im�ersten�teil�zunächst�da-rum, dieWichtigkeit ausländischer�studierender für die Wirtschaft�und Wissenschaft eines� staates�genauer�zu�bestimmen,�um�sodann�zu analysieren, wie die Wahl für�einen�bestimmten�studienstandort�unter den internationalen�studie-renden�getroffen�wird.�Der�zweite�teil�ist�der�Frage�gewidmet,�welche�auswirkungen die Globalisierung�auf�die�zunehmende�Mobilität�der�studierenden�hat�und�wie�die�uni-versitäten�auf�die�neuen�herausfor-derungen�reagieren�sollten.�(sch)

Comparaison internationale des politiques d’acceuil des étudiants étrangers: Quelles finalités? Quells moyens?Von Guillaume Vuilletet. Conseil économique et social, Paris 2005. 186 Seiten.

„this experience�has affected my�per sona l l i fe�and stimulated�my professional�capacities“, „the�image�of�Germa-ny undoubtedly�becomes clearer�

when you are on the spot” – das�sind nur zwei� aussagen ehema-liger�teilnehmer�der�cross�culture�Praktika,�die�das�Institut�für�aus-landsbeziehungen im�auftrag des�auswärtigen�amts�seit�2005�anbie-tet.�Die�Dokumentation�gibt�einen�Einblick�in�Entstehungsgeschichte�und erste Erfahrungen und stellt�die Praktikanten und ihre Prak-tikumsstellen vor. Die sechs- bis�zwölfwöchigen�Praktika�bieten�die�Gelegenheit, sich einen Überblick�über�strukturen�und�Personen�im�Gastlandzuverschaffen,Netzwerke�zu�bilden�sowie�interkulturelle�Er-fahrungen zu sammeln.�siewenden�sich an junge Berufstätige in den�Mitgliedsstaaten der� arabischen�liga,�in�Pakistan,�afghanistan,�in�der�arabischen�Bevölkerung�Israels�und in Deutschland. Insbesonde-re Kandidaten aus den Bereichen�Wissensgesellschaft und Bildung,�rechtsdialog�und�Menschenrechte,�Medien,�Jugendaustausch�und�Poli-tische�Bildung�sollen�erreicht�wer-den.� starke�resonanz fanden die�Praktika im Medienbereich; die�meisten� teilnehmer kamen aus�Ägypten,�Pakistan�und�dem�sudan.�aktuelle Erfahrungen zeigen einen�anstiegweiblicher Interessentinnen�und�eine�Zunahme�herausragender�Bewerbungen.�Für�die�Zukunft�ist�an eine�ausweitung auch auf andere�Bereiche gedacht. (http://cms.ifa.de/publikationen/dokumentati-onen/euro-islam-dialog/#16696)�(cz)�

Cross-culture internships.Impressions of the first year.Institut für Auslandsbeziehungen, Stuttgart 2006. 87 Seiten.(European-Muslim Cultural Dialogue)

Wissenschaftsstandort FrankreichPerspektiven bis 2020

Deutsche Informationszentren in Frankreich

Studieren im Ausland – Mobilität im internationalen Vergleich

Internationale Praktikanten in Deutschland – Cross Culture

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NEuErschEINuNGEN

Kulturaustausch�11/06� 97

Die�Grenzerwei-t e r ungen der�Eu, das zuneh-mende Interesse�an�der�rolle�der�religion�und�der�Mentalitäten�bei�der Eskalation�von Konf likten�

zwischen unterschiedlichen Kul-turen oder die Erfahrungen eines�massiven,�weltweit�agierenden�ter-rorismus�während�der�letzten�Jahre�–�dies�sind�nur�einige�der�auslöser,�die zu verstärkten Forderungen�nach einer intensiveren Berück-sichtigung interkultureller Fak-toren�in�der�Politik�geführt�haben.�In�den�Vereinigten�staaten�wurde�für die Fähigkeit, auf�staatsebene�einen�Dialog�mit�fremdkulturellen�Öffentlichkeiten führen zu kön-nen, der kulturelle Differenzen�berücksichtigt, anstatt eigene�he-gemonialansprüchedurchzusetzen,�der�Begriff�der�„public�diplomacy“�geprägt. Das von dem britischen�Premierminister�tony�Blair�ins�le-ben�gerufene�Foreign�Policy�center�(FPc) ist dazu ausersehen, ähnliche�strategien für eine europäische�außenpolitik zu entwickeln, um�die Eu�beispielsweise in der Fä-higkeit, mit�staaten wie den�usa�oder� china zu kommunizieren,�zu�stärken.�Die�vorliegende�studie�formuliert�zunächst�grundlegende�leitfragen,�die�für�die�Etablierung�einer gemeinsamen europäischen�„Public�Diplomacy“�berücksichtigt�werden�müssen,�darunter:�Wie�gut�ist die� außenwirkung der euro-päischen� Institutionen?�Über�wel-che besonderen Fähigkeiten der�Interkulturellen Kommunikation�verfügt die Eu�mit ihren 25 Mit-gliedstaaten bereits? Wie sollen�gemeinsame�strategien gegenüber�staaten außerhalb der Eu�gestal-tet, koordiniert und angewendet�werden? Die� studie schließt mit�einem� set an Empfehlungen an�die�Institutionen�der�europäischen�Politik�ab.�(sch)

European Infopolitik: Developing EU Public Diplomacy Strategy.Von Philip Fiske de Gouveia, Hester Plumridge. Foreign Policy Centre, London 2005. 37 Seiten.

Das Verhältnis�zwischen nati-onalstaatlicher�sprachenpolitik�und der� spra-chenpolitik der�Eu ropä i schen�union steht im�Zentrum dieser�

analyse. Dabei unterscheidet der�autor�drei�Bereiche,�auf�die�er�de-tailliert eingeht:�sprachplanungs-prozesse,� sprachverbreitungspoli-tik�und�Politik�gegenüber�Minder-heitensprachen.�Er�untersucht�den�Zusammenhang zwischen�herr-schaftsform und�sprachenpolitik,�die Bedeutung von� standardisie-rung und� sprachenplanung, die�sprachverbreitungspolitik� als�teil�auswärtiger Kulturpolitik sowie�den�umgang mit Minderheiten-sprachen�und�sprachminderheiten�–� einschließlich�der�Grenzsprach-minderheiten und der Migra-tions-sprachminderheiten.�Patrick�schreiner�kommt�zu�dem�Ergebnis,�dass scheinbar ein Widerspruch�besteht zwischen der Politik der�Nationalstaaten,�die�nach�Einheit-lichkeit und�allgemeingültigkeit�der� sprache streben, und der auf�Vielsprachigkeit ausgelegten Eu-sprachenpolitik.�Das�Verdienst�der�arbeit ist es, empirisch zu bele-gen,�in�welchem�ausmaß�dennoch�Übereinstimmungen�zwischen�eu-ropäischer�und�nationalstaatlicher�sprachenpolitik�bestehen.�Der�au-tor�plädiert�darüber�hinaus�dafür,�die�sprachenpolitik nicht länger den�Disziplinen� sprachwissenschaft,�soziologie oderGeschichte zu über-lassen,�sondern�sie�auch�als�thema�der�Politikwissenschaft�zu�begrei-fen�und�zu�bearbeiten.�Die�studie�basiert auf einer Magisterarbeit,�die�im�Wintersemester�2003/2004�vorgelegt�wurde.�Für�die�Veröffent-lichung�wurde�sie�überarbeitet�und�berücksichtigt nun auchdie�länder,�die�im�Mai�2004�der�Europäischen�union�beigetreten�sind.�(cz)

Staat und Sprache in Europa. Nationalstaatliche Einsprachigkeit und die Mehrsprachigkeit der Europäischen Union.Von Patrick Schreiner. Peter Lang, Frankfurt am Main 2006. 186 Seiten.

aufwelchenWe-gen�finden�Men-schenausschwie-rigen�situationen�h e r a u s ? � a u s�Begegnungen ,�aus denen Mit-menschlichkeit�erwächst,�die�ih-

rerseits Veränderung bewirkt, so�lautet die�these der langjährigen�Bundestagsabgeordneten und Er-ziehungswissenschaftlerin Erika�schuchardt,�die�sie�am�Beispiel�der�deutschen Begegnungsschulen in�südafrika eindrucksvoll belegt.�ausgehend von den positiven Er-fahrungen in�lateinamerika und�durch beharrliche Einflussnahme�von�deutscher�seite�wurde�noch�vor�Ende�der�apartheid�die�Integration�einheimischer und nicht weißer�schüler�in�die�deutschen�auslands-schulen� in�südafrika� forciert.�Für�besonders�begabte�schüler�aus�so-weto und den�townships bestanden�darüber hinaus noch zusätzliche�Fördermöglichkeiten zur Integrati-on�in�die�sekundarstufen�der�deut-schen�auslandsschulen.�Im�vorlie-genden�Band�kommen�die�schüler�der ersten�abiturientenjahrgänge�der�deutschen�Begegnungsschulen�in� Johannesburg,�Kapstadt,�Preto-ria,�Windhoek�und�hermannsburg�ausführlich zu Wort. Ergänzende�Beiträge schildern die Erfahrungen�aus� sicht des� auswärtigen�amts�und�der�lehrenden�an�den�Begeg-nungsschulen.�Die�Broschüre�steht�als download unter http://www.prof-schuchardt.de/brueckenbau/�zur�Verfügung.�(cz)

Brückenbau – 15 Jahre Begeg-nungsschulen im Südlichen Afrika. Erfolgsmodell deutscher Auswärtiger Kulturpolitik.Erika Schuchardt (Hrsg.). IBA_media & book, Berlin 2005. 300 Seiten.

Von „abasa“ bis�„Zyklusprinzip“�sind in diesem�lexikon mehr�als 5.000 Ein-träge und eben-so�viele�Verweise�zur� sprachwis-senschaf t und�

ihrer Grenzgebiete wie� anato-mie der� sprech- und�hörorgane,�sprachenrecht und�sprechwissen-schaft verzeichnet.�hinzu kom-men Einträge aus Bereichen wie�computerlinguistik, künstliche�Intelligenz, Diskursanalyse und�Ethnografie der Kommunikation.�Das� lexikon wendet sich außer�an�die�philologische�Fachwelt�und�ihre Nachbardisziplinen auch an�Oberstufenschüler,� redakteure,�Journalisten,�Übersetzer�und�wei-tere interessierte�laien.Die über 70�Fachautoren�waren�angehalten,�auf�möglichst große Verständlichkeit�ihrer�Beiträge�zu�achten�und�neben�dem aktuellen Forschungsstand�auch kontovers diskutierte Fra-gestellungen zu berücksichtigen.�Dem�lexikon vorangestellt sind�Internet-adressen für�linguisten�mit�angaben zu Dienstleistungen�und Informationen,Organisationen�und Institutionen, deutsche und�ausländische Organisationen der�auswärtigen Kultur- und�sprach-arbeit sowie virtuelle Fachbiblio-theken.�(cz)

Metzler Lexikon Sprache. Helmut Glück, Friederike Schmöe (Hrsg.). 3., neubearbeitete Auflage. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart 2006. 782 Seiten.

Alle Titel sind in der Bibliothek des ifa ausleihbar.www.ifa.de/b/[email protected]

Auswahl:Institut für AuslandsbeziehungenGudrun CzekallaChristine Steeger-StrobelAnnotationen:Gudrun Czekalla (Cz)Mirjam Schneider (Sch)

Public Diplomacy für die Europäische Union?

Einsprachigkeit – VielsprachigkeitSprachpolitik in Europa

Lexikon zur SprachwissenschaftDeutsche Schule In Afrika – Begegnungen statt Apartheid

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98� Kulturaustausch�11/06

Zeichen und Wunderheute:�t-shirts�

Stellen Sie sich vor, sie�nehmen�bei�einer�der�zahlreichen�Quizsendungen� teil,� die�derzeit�überall�im�Fernsehen�unser�allgemeinwissen�testen.�Wir�stellen�uns�derweil�vor,�dass�bei�Ihnen als international interessiertem Men-schenGeografie zu den�stärken zählt.Deshalb�atmen�sie�vermutlich�bei�folgender�Frage�auf:�„Welcher�hauptstadt�dient�der�Eiffelturm�als�Wahrzeichen?“�antwort:�a)�Moskau�b)�Paris�c)�New�York�d)�Bad�Münstereifel.�Der�Quiz-master�sieht�sie�erwartungsvoll�an.�Bevor�sie�antworten, werfen�sie zur�sicherheit einen�Blick�auf�Ihren�Bauch,�auf�Ihr�neues�t-shirt,�das�sie sich extra für Ihren Fernsehauftritt�zugelegt�haben.

aber�Vorsicht!�Die�antwort�New�York�ist�leider�falsch.�als�Entschuldigung�können�sie�auf�die�Globalisierung�verweisen,�die�uns� ja�irgendwie alle verunsichert. In jedemFall aber�ist es der holländischeDesigner�simondeBoer�gewesen,�der�sie�um�Ihren�Millionengewinn�gebracht hat. Der vertauscht nämlich in seiner�neuen�t-shirt-Kollektion�„the�world�on�tour“�die�Wahrzeichen�bekannter�städte.�Eine�glo-bale�Gemeinschaft�von�Weltbürgern�schwebt�ihm�dabei�vor.�aber�vielleicht�ist�die�Idee�gar�nicht�so�neu.�Immerhin�ist�die�Freiheitsstatue�ja auch ein Geschenk der Franzosen an die�amerikaner�gewesen.�

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Thema

Die Zukunft der Stadt

Die Urbanisierung schreitet voran. Zum ersten Mal in der Geschichte leben mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Manche Stadtmodelle – wie das euro-päische – erleben eine Renaissance, andere verändern sich radikal.

Ein Themenschwerpunkt zur Entwick-lung der Städte im 21. Jahrhundert

Forum

Was ging schief?

Von der Karikaturenkrise zur Kultur-krise: welche neuen Strategien für den Kulturdialog gibt es? Und mit welchen Argumenten müssen sie vermittelt werden?

In Europa

Gut zu erreichen

Hat Europa ein Kommunikationspro-blem? Wie man die Massen für Europa-themen stärker interessiert und wer was dafür tun könnte

Fokus

Verschollen

Wie geht es Ingrid Betancourt? Patricia Salazar, Korrespondentin der kolum-bianischen Tageszeitung „El Tiempo“, über Kolumbien und seine ungelösten Geiselnahmen

Die Ausgabe 3/2006 erscheint am 31. Juli 2006

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