editorial: Über nützlichkeit, verpackung und sonstige unwahrheiten
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Nr. 4 | 32. Jahrgang 2002 | Biologie in unserer Zeit | 199
| E D I TO R I A L
Witzig oder tragisch wie sie sind, Eberhard Schnepfs
Geschichten über Lug und Trug in der Biologie in die-
sem und im letzten Heft, erscheinen sie uns doch als weitab
vom Wissenschaftsalltag. Sind sie das? Es gab Zeiten, da wur-
de naturwissenschaftliches Forschen zwar als ernste, aber auch
spielerische Kulturleistung verstanden, neben Komponieren,
Malen, Theaterspielen, neben Reflektieren der eigenen Ge-
schichte und Deuten des Denkens – als selbstverständlicher
Bestandteil dessen, was über das bloße Leben hinausgeht. Heu-
te soll Naturwissenschaft einen praktischen, möglichst un-
mittelbaren Nutzen haben. Dies gilt zumindest in einem Eu-
ropa, das voran will und damit viel-
leicht einer Täuschung unterliegt.
Zugegeben, Alexander von Hum-
boldt erhielt seinen Freibrief
für die Tropenforschung vom spa-
nischen Hof vermutlich auch in der
Hoffnung auf politisch-ökonomische
Vorteile. Aber für A. v. H. war es
einfacher, ehrlich zu bleiben. Viele
Schlüsselentdeckungen, die heute
noch das Fundament des technisch-naturwissenschaftlichen
Fortschritts sind, entstanden aus Faszination und Neugier oh-
ne Nützlichkeitsversprechen und ohne die kleinen Halbwahr-
heiten, ohne die heute in der Forschung oft nicht mehr viel
geht. Da diese Versprechen von der Naturwissenschaft aus-
gingen, schließt sich hier ein Kreis von Erwartung und Selbst-
darstellung.
Das Forschen am Kleinen wird gern geduldet (finanziert),
wenn es Lösungen im Großen verspricht. Schaffen wir
das Hochskalieren, beispielsweise vom Chlorophyll zum
Kornertrag, vom Gewebetest zur Krankheit? Selten, aber wir
erheben den Anspruch, dass wir es könnten. Würden wir näm-
lich mit den adäquaten, großen Maßstäben beginnen, zahlt
das erstens niemand, zweitens würde uns die Komplexität
überfordern und drittens würde diese Realitätsnähe die Schär-
fe unserer Resultate mindern, was der Karriere schadet. Die
Präzision steht häufig in Konflikt mit der Relevanz. Je genau-
er wir etwas fassen können, desto weiter ist es oft von den rea-
len Lebensverhältnissen entfernt. Wenn wir zwischen wenig
Einsicht oder gar keiner (weil die Mittel fehlen) wählen müs-
sen, projizieren wir lieber wagemutig vom Detail aufs Ganze.
Freundlich formuliert nennt man das Hoffnung, kritisch
Schaumschlägerei, die oft gefährlich nahe an Eberhard Schnepfs
Bericht über Fälschungen in der Forschung gerät. Das gilt auch
Über Nützlichkeit, Verpackungund sonstige Unwahrheiten
Christian Körner istProfessor für Botanikan der Universität Baselund Kurator von Biologie in unserer Zeit
beim Publizieren: Ein Titel darf mal mehr versprechen, als der
Text hält. Hauptsache, es stolpert jemand darüber, liest und
zitiert dann hoffentlich. Wir werden alle gelegentlich zu Ver-
packungskünstlern – übrigens ein Gebiet, auf dem die Natur
auch überaus erfinderisch ist, wie der Beitrag über „Bionik
der Verpackung“ in diesem Heft zeigt.
Mit Ausnahme einiger klassischer staatlicher Forschungs-
förderer, die sich zum Glück noch überwiegend an Krea-
tivität und Intellekt orientieren, dominiert in den großen und
milliardenschweren Forschungsprogrammen (etwa der EU) oft
die Frage nach dem „political-economic im-
pact“ oder den „social implications“: For-
scherinnen und Forscher aller Länder fabu-
liert und vereinigt Euch, um das tun zu dür-
fen, was immer auch Kultur war – Rätsel der
Natur zu lösen. Streut uns Sand in die Augen,
wir vergolden ihn Euch! Baut Schösser und
schöne Fassaden, holt Euch die besten Dra-
maturgen, füllt die Bühne mit Statisten, zieht
alle Register und spinnt Fäden zu den golde-
nen Netzen, die das Geld bedeuten. Wer hat
hier noch nie mitgespielt? Was Eberhard Schnepf uns schil-
dert, ist auch vor diesem Hintergrund zu sehen. „Life Scien-
ce“, von PR-Strategen der Industrie als freundlich stimmendes
Signet erfunden (wer wird schon gegen das Leben sein?),
lässt Universitäten und Regierungen Altes zu neuen Schwer-
punkten erklären und dabei bewusst in Kauf nehmen, dass
unter diesem „Label“ nur eine bestimmte Sorte von Lebens-
wissenschaften vermarktet wird. Dem ebenso modischen neu-
en Label „Biodiversität“ verdanken wir die Verhinderung des
völligen Untergangs der Wissenschaftsgebiete, die sich seit eh
und je um die Vielfalt der Erscheinungsformen des Lebens
kümmern.
Wissen die Fürsten und Könige um das Gegaukel, das sie
einfordern? Was sie dabei verlieren? Wissen sie, wieviel
Kreativität hier gebunden und verbraucht wird? Sollte man
das erforschen? Vielleicht ja. Ein Dank an Eberhard Schnepf
für den Anstoß zum Nachdenken auch über den kleinen, all-
täglichen „Lug und Trug“ im Wissenschaftsbetrieb.
Ihr
CHRISTIAN KÖRNER
„VIELE SCHLÜSSEL-
ENDECKUNGEN ENTSTANDEN
AUS FASZINATION UND
NEUGIER – UND OHNE NÜTZ-
LICHKEITSVERSPRECHEN.“