forschungsbericht westpreußisches polentum und polnische
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'?£ Peter Böhning
Die polnische Malerei des 20. Jhs. ist auf Sonderausstellungen der letzten
Jahre schon umfassender dargestellt worden (u. a. 1963 im Essener Folkwang-
Museum). Für die ersten Jahrzehnte waren in London die Hauptakzente gesetzt
mit Witold Wojtkiewicz (1879—1909), Stanislaw Witkiewicz (1885—1939), Jan
Cybis (geb. 1897) und Tadeusz Makowski (1882—1932). Als älterer Meister ab
strakter Malerei erschien Henryk Stażewski (geb. 1894). Im letzten Saal präsen
tierte sich die polnische Gegenwartskunst mit mannigfachen Tendenzen, ein
schließlich Pop Art. „Sozialistischer Realismus" war nicht vertreten.
Es wäre zu wünschen, daß diese gehaltvolle und noble Kunstschau unseres
Nachbarvolkes auch einmal bei uns gezeigt wird.
Forschungsbericht
Westpreußisches Polentum und polnische Nation
Z u r A u ß e n o r i e n t i e r u n g d e r n a t i o n a l p o l n i s c h e n
B e w e g u n g i n W e s t p r e u ß e n v o r d e r R e i c h s g r ü n d ü n g
von
P e t e r B ö h n i n g
Durch die Sanktionierung der Polnischen Teilungen auf dem Wiener Kongreß
wurden die getrennten Glieder der alten Republik den tiefgreifenden sozial
ökonomischen und politischen Veränderungen der folgenden Jahrzehnte in recht
unterschiedlicher Intensität und in deutlicher Phasenverschiebung ausgesetzt.
Einen Beispielfall isolierter Entwicklung — vor allem in der ersten Jahrhun
derthälfte — stellt das Territorium des alten Königlichen Preußens dar.1 Die
polnische Bevölkerung dieses Gebietes fand auch bei den eigenen Landsleuten
jenseits der Provinzialgrenzen lange Zeit nur wenig Beachtung.2 Spezifische
Bedingungen wie die alte Sonderstellung des Königlichen Preußens im Ver
bände der Adelsrepublik, die relativ frühe Trennung von diesem Staat, die
1) Die Masse dieses 1772 an Preußen gefallenen Territoriums ging nach 1815
in den beiden westpreußischen Regierungsbezirken Danzig und Marienwerder
auf. Zur Grenzziehung im einzelnen vgl. M. B ä r : Die Behördenverfassung in
Westpreußen seit der Ordenszeit, Danzig 1912, S. 171 f., und M. L a u b e r t :
Die Ziehung der westpreußisch-Posener Grenze, in: Studien zur Geschichte der
Provinz Posen, Bd II, Posen 1927, S. 30 ff. — Zwischen 1824 und 1878 bildeten
die beiden Regierungsbezirke Danzig und Marienwerder nur den westlichen
Teil der Provinz Preußen; der Einfachheit halber soll hier jedoch auch für diesen
Zeitraum von einer „Provinz" Westpreußen die Rede sein.
2) So ließ z. B. das „Narodowe Towarzystwo Patriotyczne" [Patriotisch-Natio
nale Gesellschaft], die erste von 1821 bis 1826 bestehende umfassende polnische
Geheimgesellschaft, das ehemals Königliche Preußen in ihrem Organisations
schema, das sich im übrigen auf alle Gebiete der alten Republik erstreckte,
unberücksichtigt. Vgl. Historia Polski. Bd II, 2, Warschau 1958. S. 298.
Westpreußisches Polentum und polnische Nation 79
geographische Randlage und nicht zuletzt die seit 1772 kontinuierlich fort
schreitende Eindeutschung haben wesentlich zu dieser Abschließung beige
tragen. Andererseits orientierten sich die polnischen Patrioten aller politischen
Richtungen bei ihren Entwürfen eines zukünftigen polnischen Staates beinahe
ausnahmslos an den Grenzen von 1771, auch als es längst gewiß war, daß das
politische Bürgerrecht nicht mehr allein den Angehörigen einer homogenisierten,
zu einer Nation zusammengewachsenen Adelsschicht, sondern der gesamten,
ethnisch vielfältig strukturierten Bevölkerung zufallen würde.
In Westpreußen entfaltete sich seit dem Ausgang der dreißiger Jahre eine
polnisch-patriotische Bewegung unter der Führung einer relativ kleinen, ökono
misch progressiven Gruppe der Szlachta. Seit dem Völkerfrühling war die
nationale Mobilisierung der polnischen und kaschubischen Bevölkerung bei
gleichzeitiger Sicherung der eigenen sozialen und ökonomischen Position das
erklärte Ziel dieser Gruppe.3 Für diese Patrioten war ein Territorialprogramm
auf der Basis des alten polnischen Adelsstaates unumgänglich; denn im Hinblick
auf die komplizierten ethnischen Verhältnisse im westpreußischen Raum wären
hier Sezessionsbestrebungen mit der Forderung nach nationaler Selbstbestim
mung kaum ausreichend zu motivieren gewesen. Bei diesen Voraussetzungen
mußte es eigentlich im Interesse der nationalpolnischen Partei Westpreußens
liegen, einer Isolierung auf Grund der oben angedeuteten Randlage entgegen
zu wirken; es stellt sich daher die Frage nach Charakter und Ausmaß der
Beziehungen zu den anderen Teilen der polnischen Nation, der hier für die
Phase der nationalpolnischen Bewegung vor der Reichsgründung nachgegangen
werden soll.
Die äußeren Bedingungen waren zweifellos am günstigsten für ein engeres
Verhältnis zu den Polen im benachbarten, nur durch die Provinzialgrenze ge
trennten Großherzogtum Posen. Freilich wurde auch dort der Entwicklung
im Weichselland vorerst wenig Beachtung geschenkt, und noch 1848 mußte
Natalis S u l e r z y s k i als Abgeordneter des westpreußischen Polentums in
der Berliner Nationalversammlung enttäuscht feststellen, daß Westpreußen bei
den Posener Polen überhaupt noch nichts galt.4 Abgesehen davon, daß sich eine
3) Für die innere Geschichte des Polentums in Westpreußen und die Genese
einer nationalpolnischen Bewegung zwischen Wiener Kongreß und Reichsgrün
dung muß auf die noch ungedruckte Dissertation des Vfs. verwiesen werden:
P. B ö h n i n g : Die nationalpolnische Bewegung in Westpreußen und die Ent
stehung des Nationalitätenproblems (1815—1871). Diss. phil. Bochum 1970.
4) Pamiętniki Natalisa Sulerzyskiego. [Erinnerungen des N. S.] Krakau 1871.
Bd II, Kap. VH. — Natalis S u l e r z y s k i (1801—1878), Gutsbesitzer auf Piont-
kowo, Kr. Strasburg, war einer der engagiertesten Polen in Westpreußen. Nach
geisteswissenschaftlichen Studien in Leipzig und Heidelberg widmete er sich
seit 1824 der Gutswirtschaft. Durch geschicktes Wirtschaften und Einführung
neuer Methoden konnte er seinen Besitz ständig vermehren. 1846 wurde er
inhaftiert, weil er demokratische Emissäre beherbergt hatte; ein Prozeß fand
jedoch nicht statt. Als Vorstandsmitglied eines „Provisorischen Nationalkomitees
für Westpreußen" wurde er im Frühjahr 1848 erneut festgenommen. 1849 war
er Abgeordneter in der Zweiten Preußischen Kammer. Obwohl S. sich auch im
Rahmen der „organischen Arbeit" sehr aktiv und opferbereit zeigte, rückten
en Peter Böhning
nationalpolnische Partei im Culmer und Michelauer Land tatsächlich erst gegen
Ende der dreißiger Jahre zu artikulieren begann, liefen die Bewegungen in
den beiden Nachbarprovinzen bis in den Völkerfrühling hinein auch dadurch
nebeneinander her, daß die preußische Regierung auf Grund ihrer Auslegung
der Wiener Verträge nur dem Großherzogtum nationale Sonderrechte einräumen
wollte und die Posener Polen vorerst vor allem auf die Realisierung dieser
Rechte bedacht waren. Während der Reorganisationsbemühungen in der Revo
lutionszeit gingen ihre Abgeordneten in Berlin sogar so weit, gegen Anträge
ihrer Landsleute aus Westpreußen, die eine Verbesserung der Sprachbestimmun
gen in der Provinz erstrebten, zu stimmen, um die eigene Position nicht zu
gefährden. Sie degradierten diese Bemühungen also bewußt „auf den Rang
lokaler, nicht allgemeinpolnischer Angelegenheiten".5 Immerhin wurde jedoch
zur gleichen Zeit mit der „Liga Polska" ein vielversprechender Versuch ge
macht, die polnische Bevölkerung im gesamten preußischen Anteil einheitlich
zu organisieren. Außerdem mußte das endgültige Scheitern der Reorganisations
pläne und der jetzt einsetzende allmähliche Abbau der Sonderstellung des
Großherzogtums zu der Einsicht führen, daß nur koordinierte Aktionen und
einheitliche Organisation die Behauptung in einer sich verschärfenden Ausein
andersetzung der Nationalitäten ermöglichen könnten. Im Rahmen der „Liga
Polska" war ein Programm der sog. „organischen Arbeit" (praca organiczna)
entwickelt worden.6 Als Grundzug dieses Programms könnte man die Ablehnung
aller militärisch-konspirativen Aktionen bezeichnen, verbunden mit dem Ver
such, politische und gesellschaftliche Probleme auf reformistischem Wege zu
lösen. Nach dem Scheitern des Januaraufstandes im Königreich Polen gewannen
die Verfechter dieser Strategie in allen drei Teilgebieten und in der Emigration
endgültig die Oberhand; entsprechend den unterschiedlichen ökonomischen,
sozialen und politischen Bedingungen in Rußland, Österreich und Preußen
konnten im Rahmen der „organischen Arbeit" jedoch durchaus unterschiedliche
Zielsetzungen verfolgt werden.7 Wollte sich der grundbesitzende polnische Adel
seine Standesgenossen wegen seiner politischen Orientierung — er war An
hänger Ludwik Mierosùawskis, des langjährigen militärischen Führers im demo
kratischen Lager der Emigration, und bekannte sich zu dessen Programm —
allmählich von ihm ab. Wegen Unterstützung des Januaraufstandes wurde er
1864 vom Königlich-Preußischen Kammergericht in Berlin zu einem Jahr
Festungshaft verurteilt. Er entzog sich der Strafe durch Emigration nach Kra-
kau, wo er 1871 seine Erinnerungen im Selbstverlag publizierte.
5) Zd. G r o t : Dziaùalność posùów polskich w Sejmie Pruskim 1848—1850.
[Die Tätigkeit der polnischen Abgeordneten im preußischen Parlament.] Posen
1961. S. 212.
6) Der Terminus „praca organiczna" wurde zum erstenmal 1848 von Jan
Koźmian, einem Redakteur des „Przegląd Poznański", gebraucht. Die damit
umschriebene politische Konzeption war allerdings älter. Schon Anfang der
vierziger Jahre erhielt sie wichtige Impulse durch Karol Marcinkowski im
Großherzogtum und Leon Sapieha in Galizien.
7) vgl. R. C z e p u 1 i s : Myśl spoùeczna twórców Towarzystwa Rolniczego 1842—
1861. [Die Gesellschaftstheorien der Schöpfer der Landwirtschaftlichen Gesell
schaft.] Breslau 1964. S. 15 f.
Westpreußisches Polentum und polnische Nation 81
im preußischen Anteil, aus dem sich ein großer Teil führender Persönlichkeiten
der „organischen Arbeit" rekrutierte, auf die Dauer gegen staatliche Maßnah
men und ökonomische deutsche Konkurrenz wie auch gegen agrarrevolutionäre
Tendenzen im eigenen nationalen Lager behaupten, so kam es darauf an, den
bäuerlichen und bürgerlichen Mittelstand wirtschaftlich zu stärken und gleich
zeitig unter der Losung nationaler Solidarität zu einer „polnischen Gesell
schaft" 8
im preußischen Staat zu integrieren. Früher als die Posener Polen er
kannten die politischen Führer in Westpreußen, daß diese Form der „orga
nischen Arbeit" und das von ihnen projektierte gesellschaftlich-nationale
System nur durch eine Integration der gesamten polnischen Bevölkerung im
preußischen Anteil verwirklicht werden konnte. Anfang der sechziger Jahre
gingen besonders von den südlichen Kreisen der Provinz Impulse zur Organisie
rung eines weitverzweigten Netzes von landwirtschaftlichen Gesellschaften,
Kreditgenossenschaften und Gewerbevereinen aus, deren Tätigkeit seit Mitte der
siebziger Jahre von entsprechenden für beide Provinzen zuständigen Zentral
instanzen immer stärker koordiniert wurde.9 Es war von beträchtlicher Bedeu
tung, daß sich auch die Polen die Technisierung des Kommunikationswesens,
die in der zweiten Jahrhunderthälfte mit der fortschreitenden Industrialisierung
Hand in Hand ging, nutzbar machen konnten. Der Ausbau des Straßensystems,
des Telegraphen- und Eisenbahnnetzes diente zwar primär dazu, die Ostprovin
zen wirtschaftlich stärker mit den übrigen Gebieten des preußischen Staates
und des Deutschen Reiches zu verflechten, erleichterte und intensivierte jedoch
auch die Kommunikation der polnischen Bevölkerung untereinander. 1852 wurde
die Eisenbahnlinie Bromberg—Dirschau—Danzig als Teil der Königlichen Ost
bahn eröffnet. Ein Jahr später folgte die Strecke Marienburg—Elbing—Königs
berg; die Lücke zwischen beiden Linien wurde 1857 durch den Bau der Weich
sel- und Nogatbrücken geschlossen. Mit der Strecke Breslau-Posen entstand
1856 die erste Bahnverbindung zwischen Schlesien und dem Großherzogtum;
sie wurde mit dem Bau der Linie Posen—Bromberg 1870/71 nach Norden ver
längert und damit an das Netz der Provinz Preußen angeschlossen.10
Diese Veränderungen der Kommunikationsbedingungen hätten auch die Kon
takte der westpreußischen Polen zu den anderen Teilen der polnischen Nation
8) Der entsprechende polnische Begriff „spoùeczeństwo polskie" war in der
polnischen Publizistik im preußischen Anteil seit 1848 ein geläufiger Terminus.
Für lange Zeit war damit freilich weniger die gesellschaftliche Realität als viel
mehr ein Programm umrissen, das auf absolute Dissimilation der Nationalitäten
zielte, die als zwei Sozialsysteme nebeneinander existieren sollten; eine Ent
wicklung also, die sinnvollerweise nur in einer neuen Eigenstaatlichkeit der
polnischen Nation münden konnte. — Diese Einschränkung des Gesellschafts
begriffes im entsprechenden Zusammenhang muß für die folgende Darstellung
gegenwärtig bleiben.
9) Zu den Einzelheiten dieser Entwicklung sei noch einmal auf die in Anm. 3
zitierte Dissertation des Vfs. und die dort verarbeitete Literatur verwiesen.
10) P. L e t k e m a n n : Die preußische Verwaltung des Regierungsbezirks
Danzig 1815—1870. (Wiss. Beiträge zur Geschichte und Landeskunde Ostmittel
europas, Nr. 80.) Marburg/L. 1967. S. 227; Historia Polski. Bd III, 1, Warschau
1963. S. 196 f.
6
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günstig beeinflussen können. Während sich jedoch bei den Beziehungen zu den
Landsleuten in den anderen Gebieten des preußischen Staates theoretischer
Entwurf und Praxis der Gesellschafts- und Nationalitätenpolitik vergleichsweise
leicht zur Deckung bringen ließen, mußte das Verhältnis zu Galizien" und
zum Königreich Polen vor allem auf Grund der unterschiedlichen sozialökono
mischen Bedingungen in den drei Teilungsstaaten einen ambivalenten Charakter
haben. Es wurde schon angedeutet, daß es für die nationalpolnische Partei in
Westpreußen nahelag, an der etatistischen Position, die sich an den Grenzen
von 1771 orientierte, festzuhalten. Andererseits gingen Programm und Ideologie
der „organischen Arbeit" im preußischen Anteil jedoch davon aus, daß man
sich auf eine lange Auseinandersetzung unter den bestehenden Bedingungen
einzurichten habe, so daß das Ziel eines polnischen Staates in den alten Grenzen
in eine unbestimmte ferne Zukunft projiziert wurde. Besonders zum fernen
Galizien mußten daher die Kontakte in der Praxis nur schwach sein. Aktionen
wie etwa das Treffen mit dem Lemberger Sokolverein in Posen (4.—6. Juli 1868)
hatten in erster Linie demonstrativen Charakter. An diesem Treffen nahm auch
eine fünfköpfige Abordnung aus Westpreußen als „Vertreter der Brüder von
der Ostsee" teil unter Führung des Journalisten und Literaten Ignacy D a n i e
l e w s k i .1 2
Danielewski versicherte in seiner Begrüßungsrede, auch im Weich
selland sei das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit wach.13
Damit wurde zwar
der Anspruch auf die Einheit aller Teile der alten Republik deklamatorisch
unterstrichen; besonders für die Beziehungen der geographischen Randgebiete
untereinander blieben derartige Veranstaltungen jedoch ohne praktische Aus
wirkungen. Seit dem Januar 1867 fanden in Thorn jährlich sog. Wirtschafts
kongresse (Sejmiki Gospodarskie) statt, auf denen die „organische Arbeit" im
preußischen Anteil diskutiert und koordiniert werden sollte. Wiederholt nahm
auch eine Abordnung aus Galizien teil, deren Leiter, Dr. Trzciński, sogar
zweimal als Referent auftrat; seine Vorschläge für eine praktische Zusammen
arbeit im Bereich der Volksbildung wurden indes von den westpreußischen
Polen abgelehnt, weil die Verschiedenheit der Verhältnisse eine Kooperation
unmöglich mache.14
Was mit dieser Verschiedenheit gemeint war, wurde 1868
11) Mit Galizien ist hier der nach dem Wiener Kongreß unter österreichischer
Herrschaft verbliebene Anteil gemeint.
12) Ignacy D a n i e l e w s k i (1829—1907) stammte aus Bork im Großherzog
tum Posen. Nach Lehrerausbildung und -tätigkeit siedelte er 1855 nach Culm
über, wo er als Mitarbeiter und Redakteur des dort seit 1850 erscheinenden
„Nadwiślanin" tätig war. Seit 1872 lebte er in Thorn. Er entfaltete eine rege
Tätigkeit als Mitarbeiter und Redakteur mehrerer Zeitungen, als Herausgeber
von Kalendern für das Volk und als Verfasser patriotisch-historischer Schriften.
Er bekleidete verschiedene Ämter im polnischen Organisationswesen und war
von 1863—1866 Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses.
13) Mitteilung des Posener Polizeipräsidenten an die Regierung Marienwerder
vom 25.6. 1868. Geh. Staatsarchiv Berlin-Dahlem [weiterhin z i t : GStA], Rep.
A 181, Nr. 1459, Bl. 7 ff. — Bericht über den Verlauf des Treffens im „Dziennik
Poznański" Nr. 152, 1868 (amtliche preußische Übersetzung, GStA, Rep. A 181,
Nr. 1459, Bl. 12).
14) Roczniki Sejmików Gospodarskich w Toruniu od roku 1867 aż do roku
Westpreußisches Polentum und polnische Nation es
von Mieczysùaw Ù y s k o w s k i1 5
recht deutlich zum Ausdruck gebracht.
Ùyskowski, einer der führenden Genossenschaftspolitiker der sechziger bis acht
ziger Jahre in Westpreußen und Posen, der wesentlichen Anteil an der Harmo
nisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse des westpreußischen Polentums
hatte, lehnte eine Zusammenarbeit mit dem galizischen „Towarzystwo Przy
jacióù Oświaty" [Gesellschaft der Freunde der Aufklärung] ab, weil er von den
dort aufgelegten Büchern einen ungünstigen Einfluß auf die eigene Landbevöl
kerung befürchtete: „Zweifellos wäre ein bedeutender Teil der Volksbücher,
die für Galizien gut sind, schädlich für unser Volk; es gibt dort eine soziale
Säure [kwas], die bei uns bereits neutralisiert worden ist." 1 6
Über die Staatsgrenzen hinweg wäre freilich ohnehin nur eine lockere Zu
sammenarbeit möglich gewesen, und diese Einschränkung galt auch für die
Beziehungen zum benachbarten Königreich Polen. Immerhin war der geistige
Austausch hier wesentlich intensiver. So wurde z. B. das 1858 in Warschau
gegründete „Towarzystwo Rolnicze Królestwa Polskiego" [Landwirtschaftliche
Gesellschaft des Königreiches Polen], eine von den Großgrundbesitzern be
herrschte Organisation1 7
, in Westpreußen stark beachtet und von dem in Culm
erscheinenden „Nadwiślanin" [Der Weichselländer] ausführlich gewürdigt und
als vorbildlich herausgestellt.18
Die im Herbst 1861 in Westpreußen einsetzenden
Gründungen polnischer landwirtschaftlicher Gesellschaften sind durch dieses
Vorbild mit angeregt worden. Ebenso lösten die im Februar 1861 ausbrechenden
Warschauer Unruhen in Westpreußen wie in Posen eine Flut religiös-nationaler
Demonstrationen in Form von Trauer- und Gedenkgottesdiensten aus, wobei es
1879. [Jbb. der Wirtschaftskongresse in Thorn von 1867—1879.] Hrsg. von I.
Ù y s k o w s k i . Thorn 1879. S. 110 ff. und 202.
15) Mieczysùaw Ù y s k o w s k i (1825—1894) war der Sohn eines Gutsbesitzers
im Kreis Culm. Er studierte in Breslau Jura und war nach seiner Referendar
zeit in Marienwerder als Kreisrichter in Briesen, Lautenburg und Strasburg
tätig. 1864 wegen Beteiligung am Januaraufstand aus dem Staatsdienst entlassen,
widmete er sich ganz dem polnischen Genossenschaftswesen. Er war seit 1852
mit dem deutschen Genossenschaftspionier Schulze-Delitzsch persönlich bekannt
und maßgeblich am Aufbau des polnischen Organisationswesens beteiligt. Von
1871—1885 war er Vorsitzender des Zentralkomitees des Verbandes polnischer
Genossenschaften in Posen. Außerdem wirkte er aktiv in mehreren westpreußi
schen Genossenschaften. 1859—1861 und 1863—1865 war er Abgeordneter des
Wahlkreises Löbau/Strasburg in der Zweiten Preußischen Kammer.
16) Roczniki Sejmików Gospodarskich, S. 114.
17) C z e p u l i s , S. 16.
18) Wù. Ù e b i ń s k i : Kóùka rolniczo-wùościańskie i rozwój pracy okoùo
rolniczej oświaty ludowej w W. Ks. Poznańskim i Prusach Zachodnich. [Die
bäuerlich-landwirtschaftlichen Zirkel und die Entwicklung der Arbeit für die
landwirtschaftliche Ausbildung der Bevölkerung im Großherzogtum Posen und
in Westpreußen.] In: Ateneum 6 (1881), S. 193 ff. und 411 ff.; d e r s . : Ignacy
Ùyskowski. Życiorys. [I. Ù. Lebensbeschreibung.] 2. Aufl. Posen 1907. S. 29 f. —
Der von 1850 bis 1866 erscheinende „Nadwiślanin" kann ebenso wie die „Szkoùa
Narodowa" [Nationalschule], die ihm von 1848—1850 vorausgegangen war, und
die ihn ablösende „Gazeta Toruńska" [Thorner Zeitung] als das Sprachrohr der
Partei der „organischen Arbeit" in Westpreußen angesehen werden.
6»
84 Peter Böhning
den westpreußischen Führern allerdings gelang, das Mitschwingen sozial
revolutionärer Obertöne zu vermeiden, wie sie im Königreich registriert werden
konnten.
Wenn für die erste Generation nach den Teilungen (1795—1831) festgestellt
wurde, daß sich der personale Nationsnexus „trotz aller Teilungen des Reichs
territoriums . . . nahezu unverändert" erhielt1 9
, so spielten gerade im Ver
hältnis zwischen Westpreußen und dem Königreich Polen trotz einer fort
schreitenden Objektivierung der Kommunikationsformen auch in den sechziger
und siebziger Jahren die persönlichen Beziehungen in der Adelsschicht noch
eine wichtige Rolle. Der gesellschaftliche Verkehr wurde Ende der dreißiger
Jahre sogar intensiviert, als Gutsbesitzer aus Kongreßpolen als offizielle Gäste
auf den Polenbällen in Graudenz erschienen2 0
— eine Gepflogenheit, auf die
der „Nadwiślanin" noch 1861 ausdrücklich hinwies.21
Selbst die schon von Fried
rich II. angestrebte Auflösung von Besitzverbindungen zwischen Preußen und
Polen war in der zweiten Jahrhunderthälfte noch keine volle Wirklichkeit ge
worden. Bei einer relativ großen Durchlässigkeit der Staatsgrenze entstanden
bis zur Reichsgründung sogar noch laufend neue Verbindungen durch Kauf,
Erbschaft oder Anknüpfung verwandtschaftlicher Beziehungen. Während des
Januaraufstandes wurde einer großer Teil der über die Provinz Preußen laufen
den Nachschublieferungen aus dem westlichen Ausland über Adelsgüter beider
seits der Grenze geleitet, die ihrerseits miteinander in Verbindung standen.2 2
Für die Wirkung der großen Aufstände auf das westpreußische Polentum spielte
der Personalfaktor eine entscheidende Rolle. Sowohl 1830 als auch 1863 waren
die Insurgenten aus taktisch-politischen Gründen zwar sorgfältig darauf be
dacht, die Erhebung auf den russischen Anteil zu begrenzen; die Provinz kam
jedoch besonders durch die übertretenden Flüchtlinge mit den Vorgängen in
enge Berührung, und auch eine vorübergehende, oft nur ganz kurze Anwesen
heit blieb dann nicht wirkungslos. Nach Ansicht des damals dreißigjährigen
Natalis S u l e r z y s k i trug nach dem Zusammenbruch des Novemberaufstandes
der nur wenige Wochen dauernde Aufenthalt polnischer Offiziere und Mannschaf
ten auf den großen Gütern des Strasburger Kreises wesentlich zur Reaktivierung
des nationalpolnischen Bewußtseins der einheimischen Szlachta bei.23
Die Über
tritte politischer Flüchtlinge aus dem Königreich, hörten nach 1831 niemals ganz
auf und nahmen in den Krisensituationen jeweils wieder größeren Umfang an.
Da diese Flüchtlinge, soweit sie den sog. höheren Ständen angehörten, von den
preußischen Behörden in der Regel zum Verlassen der Provinz gedrängt wurden
19) H. R o o s : Die polnische Nationsgesellschaft und die Staatsgewalt der
Teilungsmächte in der europäischen Geschichte (1795—1863). In: Jbb. für Ge
schichte Osteuropas 14 (1966), S. 392.
20) Pamiętniki Sulerzyskiego, Bd I, Kap. VII.
21) „Nadwiślanin" Nr. 60, 1861 (amtliche preußische Übersetzung, GStA,
Rep. A 204, Nr. 345, Bl. 147).
22) A. B u k o w s k i : Pomorze Gdańskie w powstaniu styczniowym. [West
preußen im Januaraufstand.] Danzig 1964; St. M y ś l i b o r s k i - W o ù o w s k i :
Udziaù Prus Zachodnich w powstaniu styczniowym. [Die Beteiligung West
preußens am Januaraufstand.] Warschau 1968.
23) Pamiętniki Sulerzyskiego, Bd I, Kap. IV.
W estpreußisches Polentum und polnische Nation 85
und sich der Emigration in Westeuropa anschlössen, entwickelte sich auf diese
Weise ein Verbindungsstrang ins westliche Ausland.24
Dichte und Häufigkeit direkter Kontakte zu den verschiedenen politischen
Lagern der Emigration hingen nicht unwesentlich davon ab, wieweit sich diese
Gruppen ihrerseits der Provinz zuwandten. Da das vom „Hotel Lambert" reprä
sentierte aristokratisch-konservative Lager vor allem auf die diplomatische
Sicherung der Wiener Verträge fixiert war, lag das westpreußische Polentum
für diesen Teil der Emigration zunächst vollständig außerhalb des Blickfeldes.
Für die demokratische Emigration dagegen gehörte die Forderung nach einem
polnischen Staat in den Grenzen von 1771 von Anfang an zu den integrierenden
Elementen ihres Programms. Einer der ersten politischen Akte des am 17. März
1832 in Paris gegründeten „Towarzystwo Demokratyczne Polskie" [Polnische
Demokratische Gesellschaft] war der Aufruf, alle „verbrecherischen Verträge"
zu zerreißen, „die Polen seit 1772 zerstückelt haben".2 5
Anläßlich einer Mission
des Agenten Lubliner schrieb Joachim L e l e w e l im April 1848 an seinen
Kampfgefährten und Mitarbeiter in der Emigration, Stanisùaw Worcell, wenn
die französische Diplomatie auf die polnische Frage zu sprechen komme, müsse
man beharrlich darauf bestehen, „daß Danzig und die Kaschubei (Prusse
Occidentale) polnisch sind".26
Die Demokraten ließen es außerdem bei Proklama
tionen nicht bewenden, sondern bezogen die ganze Provinz Preußen in den
Tätigkeitsbereich ihrer Agenten und Emissäre ein, zum Teil durch dieselben
Leute, die zuvor aus dem Königreich über Westpreußen nach Belgien oder
Frankreich gelangt waren. Noch unter dem Eindruck seiner eigenen Flucht
hatte Lelewel schon im Januar 1834 aus Brüssel an den nach Frankreich emi
grierten Mitstreiter Józef Zaleski geschrieben: „Preußen ist zur Hälfte polnisch.
Hier müßten Emissäre von einem Punkte in Großpolen oder Galizien aus Dan
zig und Königsberg besuchen... Zur Zeit des Aufstandes hat mir jemand eine
24) Hierzu H. N e u b a c h : Die Ausweisungen von Polen und Juden aus
Preußen 1885/86, Wiesbaden 1967, Kap. I.
25) Protest des „Towarzystwo Demokratyczne" gegen die Verträge, durch
die Polen seit 1772 zerstückelt wurde. Paris, den 8. Mai 1832. — Deutscher Text
bei E. K n o r r : Die polnischen Aufstände seit 1830 in ihrem Zusammenhang
mit den internationalen Umsturzbestrebungen, Berlin 1880, Anlage 1. — Diese
Generallinie wurde von der demokratischen Emigration auch nach ihrer Spal
tung in verschiedene, sich teilweise sogar bekämpfende Flügel nie verlassen und
wurde z. B. immer wieder in den verschiedenen Presseorganen betont. Der seit
Ende 1857 erscheinende „Przegląd Rzeczy Polskich" [Rundschau für polnische
Angelegenheiten] rief in seiner ersten Nummer zur Vorbereitung der zukünfti
gen allgemeinen Revolution auf. Die Emigration erfülle durch ihre bloße An
wesenheit die Aufgabe, das Ausland darauf hinzuweisen, „daß Polen nicht
gegen diese oder jene Theilung, sondern gegen alle Theilungen, Ungerechtig
keiten und Gewaltthaten, die es erlitten, vor Gott und der Welt um Rache
ruft.. ." — Nr. 1, 1857 (amtliche preußische Übersetzung, GStA, Rep. A 204,
Nr. 345, Bl. 107).
26) Listy emigracyjne Joachima Lelewela. [Die Briefe Joachim Lelewels aus
der Emigration.] Hrsg. von Helena W i ę c k o w s k a . T. III, Krakau 1952. S. 435
(Brief vom 26. 4. 1848).
3S Peter Böhning
lange Reihe von Namen polnischer und deutscher Einwohner Preußens aus ver-
schiedenen Ständen genannt, die den Gedanken einer Vereinigung Preußens,
Danzigs und Königsbergs mit Polen hegen. Ich habe sichere Hinweise darauf,
daß dieser Gedanke auch bei der Landbevölkerung in Preußen, bei Pastoren
und Pröpsten lebt. Ich wünschte, daß sich Leute direkt in diesen Grenzgebieten
aufhielten oder sie durchreisten, die Meinungen sondierten, lobten, aufklärten
und die Bewohner dieser Gebiete immer mehr dahin brächten, über die Vorteile
einer solchen Vereinigung im Bereich des Handels und der Industrie und im
Politischen nachzudenken... Und überall, wo die Emissäre bemerken, daß dieser
Gedanke lebt, muß man sich festsetzen, damit die Vereinigungsbewegung an
möglichst vielen Punkten erfolgreich ist."2 7
Verschiedene Kontaktformen zwi-
schen dem demokratischen Lager der Emigration und der Provinz können am
besten an einigen exemplarischen Einzelfällen dargestellt werden.
Einer der bedeutendsten Agenten und Verbindungsmänner war Seweryn
E l ż a n o w s k i , langjähriger Mitarbeiter Mierosùawskis, seit 1857 Redakteur
und Herausgeber des „Przegląd Rzeczy Polskich" in Paris und seit 1862 Sekretär
des „Staùy Komitet Emigracyi Polskiej" [Ständiges Komitee der Polnischen
Emigration], das sich von Mierosùawskis Gruppe trennte und eine eigene Politik
betrieb. Elżanowski kam 1844 als Dreiundzwanzig jähriger nach Westpreußen,
um sich dem Zugriff der russischen Polizei zu entziehen. Bis Juni 1845 hielt er
sich bei seiner Tante, Frau Jeżewska auf Topolno, und anschließend bei Stani-
sùaw Radkiewicz auf Briesen (beide Güter lagen im Kreis Schwetz) auf. Schon
als Gymnasiast hatte er sich mit Lelewels Schriften vertraut gemacht. In Preu-
ßen bekam er Kontakt mit Mitgliedern und Verbindungsmännern des „Towa-
rzystwo Demokratyczne". Nach seinem Beitritt reiste er zunächst als Agent nach
Königsberg und Thorn, und im Dezember wurde er mit der Vorbereitung des
Aufstandes in der Provinz Preußen beauftragt. Das Unternehmen scheiterte
bekanntlich schon in seiner ersten Phase. Elżanowski wurde im Moabiter Pro-
zeß zum Tode verurteilt, fiel aber, wie die anderen noch inhaftierten Polen,
unter die Amnestie vom 18. März 1848. Er kehrte mit Sulerzyski und anderen
nach Westpreußen zurück und versuchte dort als Mitglied des „Provisorischen
Nationalkomitees", die Volksbewaffnung gegen Rußland durchzuführen. Er
konnte einer erneuten Verhaftung entgehen und sammelte im Auftrage Miero-
sùawskis in der Tucheier Heide ungefähr 500 Mann, die er nach Posen führte,
aber nicht mehr einsetzen konnte. 1850 aus Preußen ausgewiesen, kehrte er
1851/52 noch einmal in die Kreise Culm und Strasburg zurück, um Geld für
die Emigration in Frankreich zu sammeln. Danach betrat er selbst die Provinz
nicht wieder, stand aber weiterhin über andere Emissäre in Verbindung mit
Frau Jeżewska.28
. Bei einem Aufenthalt in Piontkowo hatte Elżanowski 1845
27) Listy J. Lelewela, Bd I, Krakau 1948, S. 241 f. (Brief von Ende Januar
1834 — Original ohne Datierung).
28) Anklageschrift des Staatsanwalts bei dem Königlichen Kammergericht
gegen die bei dem Unternehmen zur Wiederherstellung eines polnischen Staats
in den Grenzen desselben vor dem Jahre 1772 Beteiligten, o. O., o. J. (Berlin
1847). Einleitung und Personalakte Severin von Elżanowski; Polski Sùownik
Biograficzny. [Polnisches Biographisches Wörterbuch.] Bd 6, Krakau 1948.
S. 240 f.; M. T y r o w i c z : Towarzystwo Demokratyczne Polskie 1832—63.
V/estpreußisches Polentum und polnische Nation 87
den ebenfalls aus Polen geflohenen Ludwik Ostaszewski kennengelernt, der bei
Sulerzyski Unterkunft gefunden hatte. Ostaszewski schloß sich dem „Towa
rzystwo Demokratyczne" an, wurde aber bei den Aufstandsvorbereitungen nicht
mehr eingesetzt. Trotzdem erhielt er acht Jahre Festungshaft. Nach der Amnestie
lebte er zunächst im Kreis Kondtz. Während Elżanowski es niemals darauf ange
legt hat, sich in der Provinz fest niederzulassen, sondern von einigen Stütz
punkten aus für die demokratische Partei arbeitete, versuchte Ostaszewski, der
über einiges Kapital verfügte, selbst in Westpreußen Fuß zu fassen. Seit 1851
hielt er sich in Jablau (Kr. Preuß. Stargard) bei Hiacenty J a c k o w s k i auf,
dessen Tochter er bald darauf heiratete.2 9
Dem persönlichen Einsatz seines
Schwiegervaters und der Fürsprache des Oberpräsidenten Eichmann beim
Innenminister hatte er es zu verdanken, daß eine bereits angeordnete Auswei
sung im April 1852 rückgängig gemacht wurde und er die Erlaubnis erhielt, das
Gut Liptschin im Kreis Berent zu kaufen. Er erregte indes schnell wieder den
Verdacht der Behörden, weil sich Leute als Gäste bei ihm aufhielten, die in
den Moabiter Prozeß verwickelt gewesen waren. Als er im Herbst 1854 zur Kur
in Wiesbaden weilte, verkehrte er dort mit dem Grafen Jan Ledochowski.
Ledochowski, der 1830 Mitglied der Provisorischen Regierung in Warschau ge
wesen war, hatte zu dieser Zeit Polenkongresse in Wiesbaden und Frankfurt
am Main organisiert, um eine Einigung des demokratischen Lagers vorzube
reiten. Obwohl nicht nachgewiesen werden konnte, daß der Verkehr Ostaszew-
skis mit Ledochowski überhaupt politischer Natur war, verbot der Innenminister
die Rückkehr nach Preußen.3 0
Durch seine persönlichen Verbindungen zum „Towarzystwo Demokratyczne"
wäre Ostaszewski als Gutsbesitzer im Regierungsbezirk Danzig ein idealer
Kontaktmann für Emissäre gewesen. Diese Emissäre, die entweder mit festen
Aufträgen erschienen — das war vor allem bei den Aufstandsvorbereitungen
der Fall — oder nach Lelewels Vorstellungen das Terrain sondierten, agitierten
und Propagandamaterial verbreiteten, stellten die gängigste Verbindungsform
dar, wenn auch meist ohne personelle Kontinuität. Im Juni 1856 wurde z. B.
in Hamburg der Miteigentümer der Londoner Polnischen Buchhandlung, Józef
Olszewski, verhaftet und an die russische Regierung ausgeliefert. Er war 1848
nach Preußen gekommen, hatte am Posener Aufstand teilgenommen und an
schließend in Ungarn gefochten. 1854 hielt er sich heimlich im Kreis Thorn auf
Przywódcy i kadry czùonkowie. [Die Polnische Demokratische Gesellschaft. Füh
rer und Mitgliederkader.] Warschau 1964.
29) Hiacenty J a c k o w s k i (1805—1877), Gutsbesitzer auf Jablau und Lippin-
ken im Kreis Preuß. Stargard, war seit 1848 führend auf allen Gebieten der „or
ganischen Arbeit" tätig. Er gehörte allen wichtigen Spitzengremien des Organi
sationswesens in Westpreußen an, regte aber gleichzeitig durch eigene Initiative
auch immer wieder Neugründungen örtlicher Vereine an. 1867 wurde er in den
ersten Reichstag zum Norddeutschen Bund gewählt. Seine Güter bildeten zu
sammen mit den Besitzungen der Familie Kalkstein (Haus Klonowken) seit den
vierziger Jahren ein Zentrum nationalpolnischen Lebens im nördlichen West
preußen.
30) Staatliches Archivlager Göttingen, Staatsarchiv Königsberg [weiterhin zit.:
St AK], Rep. 2, Tit. 30, Nr. 30, Vol. 5, 6 und 8.
88 Peter Böhning
und knüpfte Verbindungen mit dort lebenden Flüchtlingen an. Über diese
Leute vertrieb er dann in den folgenden Jahren einen großen Teil der in Lon
don verlegten Schriften nach Westpreußen, indem er den Kontaktpersonen
jeweils größere Sendungen zuschickte, die sie vor allem an interessierte Buch
händler weitergaben. Sein Kompagnon arbeitete auf ähnliche Weise in Ost
preußen und Litauen.3 1
Obwohl die polnischen Gutsbesitzer auch demokratische Emissäre beherberg
ten, um nicht in den Geruch schlechter Patrioten zu geraten, verhielten sie sich
insgesamt doch sehr zurückhaltend oder sogar abweisend. Nach 1850 standen
im Culmer und Michelauer Land neben Topolno nur noch Sulerzyskis Güter
und das von Józef I l o w i e c k i gepachtete Rynsk (Kr. Thorn)3 2
uneinge
schränkt für diese Gäste offen.33
S u l e r z y s k i erhielt weiterhin die Verbin
dung zu Mierosùawski aufrecht. In Piontkowo logierten beinahe ständig mehrere
Emigranten, die entweder nach Frankreich und Italien weiterreisten oder von
dort mit irgendeinem Auftrage zurückkehrten. Im März 1861 bat Mierosùawski
Sulerzyski und Ilowiecki um Geldunterstützung für seine MilitärschuleM
;
Sulerzyski überwies ihm im Herbst tatsächlich 1 050 Taler nach Genua — die
einzige Spende überhaupt, wie der General bitter notierte.3 5
Im Februar 1863
wurde Mierosùawski auf eigenen Wunsch durch Sulerzyski von Bromberg aus
an die russische Grenze geführt.36
Insgesamt hat die demokratische Emigration auf die Formulierung der gesell
schaftspolitischen und nationalen Zielvorstellungen, auf Form und Inhalt der
„organischen Arbeit" in Westpreußen vor 1870 —• also gerade in der Epoche
ihrer größten Ausstrahlungskraft •— kaum Einfluß gewinnen können.3 7
Sulerzyski
mußte — darauf wurde bereits hingewiesen — seine Haltung mit zunehmender
31) StAK, Rep. 2, Tit. 39, Nr. 38, Vol. 1, Bl. 241 ff.
32) Ilowiecki, der selbst die Herrschaft Rycin im polnischen Gouvernement
Lublin besaß, wurde Ende 1861 vom Warschauer National-Komitee mit der
Durchführung politischer Andachten in Westpreußen beauftragt; er war einer
der wichtigsten Verbindungsmänner zur Emigration und führend am Januar
aufstand beteiligt.
33) S u l e r z y s k i berichtet in seinen Erinnerungen, seit 1850 hätten die
anderen Besitzer im Strasburger Kreis keine „Emigranten" mehr aufgenommen.
Diese Feststellung trifft aber auch mehr oder weniger für die anderen Kreise
zu. Pamiętniki Sulerzyskiego, Bd II, Kap. 9.
34) Es handelt sich um einen Aufruf für Westpreußen, der den beiden Guts
besitzern übersandt worden war. Text in StAK, Rep. 2, Tit. 39, Nr. 38, Vol. 2,
Bl. 231 ff.
35) „Für die Schule in Genua schickte die gesamte Heimat [kraj] außen dem
ehrenwerten Sulerzyski, der als einmalige Hilfe 1000 Taler überwies, dem
General keinen Heller." Pamiętnik Mierosùawskiego (1861—63). [Erinnerungen
Mierosùawskis.] Hrsg. von J. F r e j l i c h . Warschau 1924. S. 35.
36) Pamiętniki Sulerzyskiego, Bd III, Kap. 14.
37) Damit ist noch nicht endgültig festgestellt, daß die Tätigkeit demokra
tischer Emissäre bei der Landbevölkerung ohne jeden Widerhall blieb; nur gibt
es für diese Zeit keine direkten Indizien für eine derartige Wirkung. Vgl. aller
dings unten, Anm. 54.
Westpreußisches Polenturn und polnische Nation 89
Isolierung bezahlen.38
Einige wenige Angehörige des westpreußischen Adels
engagierten sich stärker, nachdem sie ihren Grundbesitz aufgegeben oder ver
loren hatten. Teodor J a c k o w s k i , ein Sohn Hiacenty Jackowskis, der das
Gut Gawlowitz im Kreis Graudenz als Pächter bewirtschaftet hatte, setzte sich
1857 ins Königreich Polen ab, um seinen Gläubigern zu entgehen. Dort bewirt
schaftete er ein Gut seines Onkels nahe der preußischen Grenze und begann
Ende 1862 als Agent für das Warschauer National-Komitee tätig zu werden.3 9
Bei Waffentransporten für den Januaraufstand arbeitete sein Schwager Edward
K a l k s t e i n mit ihm zusammen, der ebenfalls seine Besitzverbindungen in der
Provinz weitgehend gelöst hatte. Kalkstein war schon 1847 in den Polenprozeß
verwickelt gewesen, weil er durch den jungen Józef P u t k a m e r - K l e s z -
c z y ń s k i , einen Vetter Teodor Jackowskis, in die Aufstandsvorbereitungen
eingeweiht gewesen war.40
Beide arbeiteten auch nach dem Völkerfrühling
weiter für die demokratische Emigration. Im Dezember 1853 wurden auf dem
Gute Trzczyn im Kreis Löbau, das Putkamer-Kleszczyński kurz zuvor auf
Kredit erworben hatte, Papiere der demokratischen „Zentralisation" in London
beschlagnahmt, die unter anderem Zeichnungsaufforderungen für eine fünf-
prozentige Anleihe enthielten. Putkamer und Edward Kalkstein hatten sich in
den vorhergehenden Monaten gemeinsam in London und New York aufgehalten
und waren offensichtlich mit dem Auftrag zurückgekehrt, die Anleihe in der
Provinz Preußen zu placieren. Während Kalkstein mit einem Freispruch davon
kam, wurde Putkamer-Kleszczyński in Abwesenheit wegen „vorbereitender
Handlungen zu einem hochverrätherischen Unternehmen" zu drei Jahren Zucht
haus und fünf Jahren Polizeiaufsicht verurteilt.4 1
Er tauchte erst 1868 als „Wein
reisender" wieder in der Provinz auf.42
Da diese Männer aus einflußreichen Familien der einheimischen Szlachta
stammten, konnte die Partei der „organischen Arbeit" von derartigen Kontakten
38) s. oben Anm. 4.
39) Anklageschrift des Ober-Staats-Anwalts bei dem Königlichen Kammer
gerichte gegen die Betheiligten bei dem Unternehmen, welches darauf abzielt,
zur Wiederherstellung eines polnischen Staats in den Grenzen desselben vor
dem Jahre 1772 einen Theil des Gebiets des Preußischen Staats vom Ganzen
loszureißen: wegen Hochverraths. Berlin 1864, Einleitung und Personalakte
Theodor von Jackowski. StAK, Rep. 2, Tit. 30, Nr. 30, Vol. 15, Bl. 88 ff.
40) Anklageschrift des Staatsanwalts von 1846, Personalakte Eduard von
Kalkstein.
41) Urteil des Kammergerichts für Staatsverbrechen vom 2. 7. 1855. StAK,
Eep. 2, Tit. 30, Nr. 30, Vol. 8, Bl. 289. Außerdem Vol. 7, Bl. 205. — P u t k a m e r -
K l e s z c z y ń s k i war eine durchaus überdurchschnittliche Erscheinung. Der
Löbauer Landrat bestätigte ihm „feine Bildung" und ein „untadeliges mora
lisches Verhalten". Ebenda, Vol. 9, Bl. 184 ff. — Zu den Anleihen der Emigration
vgl. auch R. K n a a c k : Die Überwachung der politischen Emigration in Preu
ßen in der Zeit von 1848 bis 1870. Diss. phil. Berlin(-Ost) 1960. S. 130 ff.
42) GStA, Rep. A 181, Nr. 1459, Bl. 4 ff. — Es war nicht festzustellen, ob das
Urteil von 1855 vollstreckt worden ist. Gnadengesuche der Familie wurden
zunächst nur dahingehend beschieden, daß die Zuchthausstrafe und die damit
verbundene Ehrenstrafe in längere Gefängnishaft umgewandelt werden könne.
StAK, Rep. 2, Tit. 30, Nr. 30, Vol. 8, Bl. 289 und 322; Vol. 9, Bl. 166.
sc Peter Böhning
und Aktionen nicht völlig unberührt bleiben. Das kann aber ebensowenig wie
das Verhalten der Szlachta in der Aufstandssituation, als in der gesamten pol
nischen Gesellschaft politische und soziale Gegensätze zeitweilig durch die ge
meinsame nationale Anspannung verdeckt wurden, darüber hinwegtäuschen,
daß die Führungsschicht andere Interessen verfolgte. Ihr eigener Entwurf deckte
sich weitgehend mit dem Programm, das Józef Ignacy K r a s z e w s k i (1812—
1887) seit 1863 von Dresden aus als Grundlage der „organischen Arbeit" verfocht.
Kraszewski war kein Politiker, sondern Journalist und Schriftsteller. Er gehört
mit seinen außerordentlich zahlreichen historischen und zeitkritischen Erzählun
gen und Romanen zu den fruchtbarsten Erzählern der Weltliteratur. Durch
seine journalistische Tätigkeit (seit 1859 als Redakteur der Warschauer „Gazeta
Codzienna" [Tageszeitung]) war er jedoch auch für politische Fragen aufgeschlos
sen. Schon im Zusammenhang mit dem Aufstand von 1830/31 war er verhaftet
worden; nach dem Januaraufstand von 1863 ging er nach Dresden ins Exil.
Von hier aus verfügte er über glänzende Kontakte zu den liberalen Gruppen
in allen drei Teilgebieten und in der Emigration und konnte gerade wegen
seines scheinbaren politischen Desengagements die Forderung nach gesellschaft
licher und nationaler Solidarität so nachdrücklich vertreten, indem er sowohl
den Ultramontanismus und konservativ-reaktionäre Strömungen als auch alle
Kräfte, die weitergehende gesellschaftliche Veränderungen erstrebten, heftig
bekämpfte.43
Ende 1863 kamen Kontakte zwischen Kraszewski und führenden
Männern der nationalpolnischen Bewegung Westpreußens zustande, die sich
in den folgenden Jahren zu einem regen Briefwechsel entwickelten.44
Die Ver
bindung entsprach weitgehend den beiderseitigen Interessen. Für die Provinz
war vor allem von Bedeutung, daß Kraszewski die dortige Arbeit unterstützte.
Er konnte für die Mitarbeit an der „Gazeta Toruńska" gewonnen werden und
machte mit seinen „Rachunki", die zwischen 1866 und 1870 als jährliche Rechen
schaftsberichte über die Entwicklung der „organischen Arbeit" erschienen, die
polnische Nation auch mit der Situation in Westpreußen näher bekannt. Das
Bild, das er entwarf, speiste sich aus den Angaben, die er durch seinen Brief
wechsel erhielt. Die „Rachunki" von 1S67 unterstrichen zum Beispiel die durch
die nationale Anstrengung in Westpreußen bereits erreichten Resultate. Noch
vor wenigen Jahren habe es den Anschein gehabt, als sei dort alles politische
Leben erstorben. Das nationale Leben, das sich inzwischen entfaltet habe, sei
hauptsächlich ein Verdienst der Presse und einer großen Schar patriotisch ge
sinnter Männer, die sich vor allem um das Vereinsleben bemühten. Besonders
43) Historia Polski, Bd III, 1, bes. S. 136 ff.; A. B r ü c k n e r : Dzieje kultury
polskiej. T. 4: Dzieje Polski rozbiorowej 1795—1914. [Geschichte der polnischen
Kultur. Bd 4: Geschichte des geteilten Polens 1795—1914.] Krakau 1946. S. 527 ff.
44) Von den westpreußischen Briefpartnern sind vor allem zu nennen Antoni
und Teodor Donimirski, Ignacy und Mieczysùaw Ùyskowski, Teofil Rzepnikowski,
Józef Chociszewski, Ignacy Danielewski, Franciszek T. Rakowicz. Die Briefe
befinden sich unter dem Nachlaß Kraszewskis in der Jagiellonischen Bibliothek
in Krakau. Vgl. auch J. K o n i e c z n y : Ziemia cheùmińska w świetle korespon
dencji z Pomorza do J. I. Kraszewskiego. [Das Culmer Land im Lichte der
Korrespondenz aus Westpreußen an J. I. Kraszewski.] In: Rocznik Grudziądzki
3 (1963), S. 95 ff.
Westpreußisches Polentum und polnische Nation 91
wurde hervorgehoben, daß der Adel bestrebt sei, einen kräftigen Mittelstand
als Hauptträger der Bewegung heranzubilden.4 5
Der Einfluß von Kraszewskis
Schriften, die in der Provinz eine verhältnismäßig große Abonnentenzahl fan
den4 8
, wurde hoch veranschlagt: „Sie haben die Szlachta und unsere Intelligenz,
ohne die das Volk nur eine gedankenlose Herde ist, lesen und d e n k e n
gelehrt", schrieb Rakowicz, Herausgeber und Redakteur der „Gazeta Toruńska",
nach Dresden.4 7
Teodor D o n i m i r s k i bezeichnete die „Rachunki" gar als
Basis der „organischen Arbeit" in Westpreußen.48
1866/67 bereiste Kraszewski
die Provinz und nahm an zahlreichen Ereignissen wie z. B. der Eröffnung der
Thorner Kreditbank (Bank Donimirski, Ùyskowski, Kalkstein & Co.) teil. Beson-
45) StAK, Rep. 2, Tit. 39, Nr. 38, Vol. 3, Bl. 31 f. Amtliche preußische Über
setzung.
46) Abonnenten der „Rachunki" und der Wochenschrift „Tydzień" waren u. a.:
Czapski/Bobrowo, Donimirski/Zyguss, Jackowski/Bielitz, Kalkstein/Kuczwally,
Kalkstein/Pluskowens, Kobyliński/Kijewo, Kowalski/Trzczyn, I. Ùyskowski/
Miliszewo, M. Ùyskowski/Thorn, Samplawski/Gawlowitz, Samplawski/Zaskocz,
Węclewski/Culm, Wilkxycka/Wabcz, Zawisza-Czarny/Warszewitz. Von der demo
kratischen Presse gelangte auf legalem Wege (per Streifband oder über Abonne
ment im Buchhandel) nur der „Przegląd Rzeczy Polskich" in mehreren Exem
plaren in die Provinz. Nach Recherchen beider westpreußischen Regierungen
waren Anfang 1862 insgesamt 10 Exemplare (u. a. von Sulerzyski) abonniert.
Der „Demokrata Polski" wurde nach dem Vertriebsverbot des preußischen
Innenministers vom 9. 4. 1851 nur noch von Sulerzyski bezogen. StAK, Rep. 2,
Tit. 39, Nr. 38, Vol. 2, Bl. 118; Rep. 2, Tit. 30, Nr. 30, Vol. 11, Bl. 259 ff.
47) Brief vom 6. 6. 1869, zitiert nach K o n i e c z n y , S. 107. Unterstreichung
im Original (hier gesperrt).
48) Brief vom 2.10.1869. Biblioteka Jagiell., MS 6497. — Die Biographie Teo
dor D o n i m i r s k i s (1809—1884), Gutsbesitzers auf Buchwalde im Kreis Stuhm,
könnte paradigmatisch für die Genese der nationalpolnischen Bewegung in
Westpreußen stehen, und zwar sowohl für die Dissimilation der Nationalitäten
in der Schicht des grundbesitzenden Adels als auch für den beherrschenden Zug
im sozialen und politischen Programm dieser Bewegung. Die Eltern waren be
reits weitgehend germanisiert. Nach dem Besuch des Braunsberger Gymnasiums
und dem Studium der Rechte und Verwaltungswissenschaften in Breslau, Bonn
und Berlin legte Teodor Donimirski in Marienwerder sein Examen als Verwal-
tungs- und Gerichtsreferendar ab. 1833 übernahm er die väterlichen Güter im
Kreis Stuhm. Um seine landwirtschaftlichen Kenntnisse zu vertiefen, unternahm
er wiederholt Auslandsreisen in mehrere europäische Länder. Er wurde Land
schaftsrat und von 1852—1858 Provinzialdirektor der Westpreußischen Landschaft.
Mit der Übernahme der eigenen Güter hatte ein allmählicher Repolonisierungs-
prozeß eingesetzt. Seit 1848 entwickelte sich Donimirski, der u. a. auch enge Kon
takte zur bischöflichen Kurie in Pelplin unterhielt, zu einem der aktivsten und
energischsten Vertreter der „organischen Arbeit". Er rief z. B. zusammen mit
Ignacy Ùyskowski und Hiacenty Jackowski die Thorner "Sejmiki Gospodarskie" ins
Leben, deren Diskussionen und Entscheidungen er als langjähriger Organisator
und Leiter wesentlich beeinflußte. Sein Gut Buchwalde machte er zu einem
polnischen kulturellen Mittelpunkt des Marienburger Landes. Die Söhne Antoni,
Edward und Jan spielten bis in die Zwischenkriegszeit hinein eine bedeutende
Rolle bei der „organischen Arbeit" im preußischen Anteil.
92 Peter Böhning
ders lange hielt er sich bei Teodor Donimirski in Buchwalde auf, wo er Anlaß
und Mittelpunkt nationaler Veranstaltungen war.49
Darüber hinaus übernahm
Kraszewski die Rolle eines Verbindungsmannes zu den liberalen Gruppen der
Emigration. Er bot die Gewähr, daß Unterstützungsgelder nicht in die falschen
Hände gerieten. Es müsse scharf darauf geachtet werden, forderte Teodor Doni
mirski, daß bei der Jugend nicht die Neigung zum Müßiggang gefördert werde;
es wäre gut, wenn Kraszewski noch einen Vertrauensmann gewönne, der über
die Verhältnisse in Frankreich und in der Schweiz gut unterrichtet sei und
direkt angeben könne, wem die gesammelten Gelder zukommen sollten.50
Klei
nere Beträge zur Unterstützung der Emigration wurden wiederholt bereit
gestellt. Im Jahre 1865 z. B. erhielt ein Student in Montpellier ein Stipendium
von 1 000 francs; 400 Taler wurden auf Kraszewskis Rat an das von Dziekowski
in Paris gegründete „Towarzystwo Naukowe" [Wissenschaftliche Gesellschaft],
400 Taler an den Grafen Plater in Zürich und weitere 280 Taler nach Montpellier
zur Unterstützung Studierender überwiesen.51
Die intensivsten und für die Entwicklung in Westpreußen folgenreichsten
Verbindungen zu den anderen Teilen der polnischen Nation beruhten demnach
auf den persönlichen Beziehungen von Angehörigen einer sich neu formierenden
adlig-bürgerlichen Führungsschicht, die sich ohne Vorbehalte den Prinzipien
der „organischen Arbeit" verpflichtet hatte und in der die grundbesitzende
Szlachta auch nach der Reichsgründung den beherrschenden Einfluß ausübte.
Dieser Gruppe gehörten auch die weitaus meisten jener jungen Männer an, die
als Studierende an auswärtigen Universitäten in Kontakt mit polnischen Lands
leuten kamen. Sie wandten sich überwiegend den Universitäten Breslau und
Berlin und außerhalb Preußens den süddeutschen Hochschulen zu5 2
, und es
entstand allmählich eine lockere Verbindung mit der akademischen Intelligenz
der gesamten Nation. Besonders in Breslau lebten die westpreußischen Studen
ten in engem Kontakt mit Kommilitonen aus dem Großherzogtum Posen, dem
Königreich Polen und Galizien durch die gemeinsame Tätigkeit im „Towarzystwo
Literacko-Sùowiańskie" [Literarisch-Slavische Gesellschaft], das von 1836 bis
zu seiner gewaltsamen Auflösung im Jahre 1886 ein Zentrum nationalpolnischen
Lebens bildete.53
Eine Reihe der einflußreichsten und bedeutendsten Persön-
49) K o n i e c z n y , S. 104 ff.
50) Brief vom 22. 12. 1864. Biblioteka Jagiell., MS 6497.
51) Briefe vom 20. 2. und 31. 5. 1865, ebenda.
52) Die Polen in Preußen verfügten über keine eigene Universität. Der Wunsch
nach einer Hochschule in Posen fand bei keiner preußischen Regierung Gegen
liebe, weil die Staatsführung stets befürchtete, damit einen Herd nationalpol
nischen Lebens zu schaffen.
53) Die Gesellschaft sah in Anlehnung an Ideale und Organisationsform der
Wilnaer Philomaten ihre Hauptaufgabe in der Pflege der polnischen Sprache,
der kulturellen und politischen Tradition und der Stärkung des Nationalbe
wußtseins. Da keine detaillierten Unterlagen vorhanden sind, können über Zahl
und Namen der Mitglieder nur unvollständige Angaben gemacht werden. Nach
Berechnungen des polnischen Forschers Henryk B a r y c z studierten z. B. zwi
schen 1858 und 1863 jährlich 40—60 Polen in Breslau, von denen durchschnittlich
neun aus Westpreußen stammten und die großenteils dem „Towarzystwo
Westpreußisches Polentum und polnische Nation 93
lichkeiten der nationalpolnischen Bewegung Westpreußens hat der Gesellschaft
während des Studiums angehört.54
Über ihre Aktivität im „Towarzystwo" und
eine Wirkung nach außen ist kaum etwas bekannt, und sie sind hier wahr
scheinlich auch wenig hervorgetreten. Sie dürften zwar entscheidende Eindrücke
und Impulse für ihre spätere Tätigkeit empfangen haben; Art und Inhalt dieser
Tätigkeit mußten sich jedoch an den Bedingungen orientieren, denen sie in
ihrer Provinz unterworfen waren.
Obwohl die nationalpolnische Partei in Westpreußen in besonderem Maße
darauf angewiesen war, auf einen polnischen Staat in den Grenzen von 1771 hin
zuarbeiten, scheint diese Bedingung Ausmaß und Art ihrer Außenbeziehungen
wenig beeinflußt zu haben. Charakteristisch war ein politischer Pragmatismus,
der sich stets an den aktuellen politischen Bedingungen und Erfordernissen
orientierte. Dieser Wesenszug galt für einen großen Teil der Polen im preu
ßischen Anteil. Er trat in Westpreußen besonders deutlich in Erscheinung durch
die Einheitlichkeit und Dominanz der adlig-liberalen Führungsschicht5 5
, die
ihm huldigte und die ihre auswärtigen Beziehungen konsequent den eigenen
Bedürfnissen entsprechend gestaltete. Das galt schon für die Epoche bis 1863/64,
in der die Emigration ihre größte Bedeutung hatte, blieb aber auch über die
Reichsgründung hinaus der herrschende Trend. Ausgangspunkt waren stets die
„organische Arbeit" und die aus ihr resultierenden Probleme und Möglichkeiten.
Literacko-Sùowiańskie" angehörten. Die Zahl dürfte in Wirklichkeit größer ge
wesen sein; denn Barycz hat, da in den Personal Verzeichnissen der Breslauer
Universität keine Angaben über die Nationalität gemacht wurden, nur die
„sicheren" Polen erfaßt. H. B a r y c z : Polska mùodzież akademicka w Wrocùa
wiu przed powstaniem styczniowym 1853—63. [Die polnisch-akademische Jugend
in Breslau vor dem Januaraufstand 1853—63.] In: Sobótka 1 (1946), S. 151 ff.;
d e r s . : Rola polaków w Uniwersytecie Wrocùawskim. [Die Rolle der Polen an
der Universität Breslau.] Breslau 1946, hier bes. S. 16 ff.; vgl. auch Historia
Polski, Bd III, 1, S. 283.
54) Zu nennen wären hier etwa Ignacy, und Mieczysùaw Ùyskowski, Antoni
Dondmirski, Teofil Rzepnikowski, Zygmunt Kucharski, Michaù Szczaniecki, die
Journalisten Julian Prejs und Wùadysùaw Ùebiński, die Geistlichen Antoni Knast
und J a n Bartoszkiewicz. Auch Florian Ceynowa, der erste Verfechter eines
kaschubischen Regionalismus, war Mitglied des „Towarzystwo Literacko-
Sùowiańskie".
55) Diese Homogenität, die schon von den Verhältnissen in Posen abstach,
wurde von den westpreußischen Führern selbst wiederholt unterstrichen: „Wir
haben in Westpreußen keine Ultramontanen, keine Aristokraten. . . Es fehlen
auch jene heimlichen Demokraten, deren einer Teil sein Heil in der Revolution
sieht und von denen der Rest als Schmarotzer an den Koch Kornalowskis
glaubt. . . Ohne diese Parteiungen läßt sich die innere Organisation leichter
durchführen." Brief Teodor Donimirskis an Krazewski in Dresden vom 31. 11.
1870. Biblioteka Jagiell., Ms 64 97. — Wie stark die Richtung der nationalpolni
schen Bewegung durch diese Gruppe bestimmt wurde, geht u. a. aus der Tatsache
hervor, daß es der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) in Preußen auch um
die Jahrhundertwende noch nicht gelungen war, ihre Tätigkeit auf Westpreußen
auszudehnen. U. H a u s t e i n : Sozialismus und nationale Frage in Polen. Köln,
Wien 1969. S. 261 ff.
M Peter Böhning
Da aber mit dem Programm der „organischen Arbeit" die erstrebte Eigenstaat
lichkeit ohnehin in eine ungewisse und vielleicht sehr ferne Zukunft transpo
niert worden war, wurde mit der Konzentration auf die eigenen Probleme und
Möglichkeiten vielleicht doch am wirkungsvollsten auf jenes Ziel hingearbeitet.
S u m m a r y
The Poles of West Prussia and the Polish Nation
With the partitions of Poland sanctioned at the Congress of Vienna, the separate parts of the old Republic during the subsequent decades were exposed to far-reaching socio-economic and political changes of quite different intensity and distinctly shifting phases. In this respect, West Prussia, the former Royal Prussia, represents a case of isolated development. Though in their plans for a futurę Polish State Polish patriots of all political persuasions almost without exception bore in mind the 1771 frontiers, the Polish population of this territory for a long time was hardly taken account of by their fellow-countrymen beyond the provincial boundaries.
Since the end of the 1830s a Polish patriotic movement arose in West Prussia and was led by a relatively small, economically progressive, group of the nobility (szlachta). They aimed at mobilizing nationally the Polish and Cassubian population while simultaneously safeguarding their own social and economic Position; their relations to the other parts of the Polish nation must to a great extent be seen against the background of these ultimate aims.
The most intensive contacts developed with the neighbouring Grand Duchy of Posen, merely separated by the provincial border. After some initial reserve of the Posen Poles, active collaboration started once the Liga Polska was founded, in 1848/49, and it was based on the then developed Programme of 'organie work' (praca organiczna) which, after the futile rising of 1863/64, became the guiding-line for the entire Polish nation. Since the beginning of the 1860s decisive impulses for establishing a widerspread organisational system came from West Prussia. These agricultural societies, mutual loan co-operatives, or unions for trade and industry became the model for Polish clubs and societies throughout the Prussian part of former Poland.
But the relations of the West Prussian Poles with their countrymen in the Kingdom of Poland and Galicia lacked real development. Morę or less restricted to personal connections and some loose exchange of opinions, they were intensi-fied by outside influence merely during the great insurrections.
For the emigrants' conservative section for the time being bent on safeguarding the results of the Treaties of Vienna, West Prussia at first, lay altogether outside their horizon. However, the demoerats led by Towarzystwo Demo-kratyczne Polskie (the 'Polish Democratic Society') founded in 1832, tried from the beginning to include the province in their ränge of activity and, accordingly, to make contacts through their emissaries. The futility of the attempts resulted from the construetion of the National Polish Party of West Prussia undoubtedly being dominated by the group of the liberal economically progressive szlachta which, though striving for the economic strengthening of the middle classes (urban and rural) objeeted to all democratic tendencies and even more to those of agrarian revolution. Their Programme of 'organie work' was effectively upheld and supported by the Journalist and writer Jan Ignacy Kraszewski, sińce 1863 living in Dresden and actively corresponding with the leading Poles of West Prussia. Kraszewski communicated with the liberal group of emigrants, informed his readers through reports on the developments in West Prussia and contributed to the Gazeta Toruńska, the organ of the National Polish Party of West Prussia. His influence on the Polish population of the province was thought to be very significant.
The outward relations of the National Polish Party in the period under discussion are thus characterized by political pragmatism working along the lines of the actual political conditions and requirements and in its activity being constantly based on the 'organie work' and the problems as well as the possibilities resulting thereof.