forschungsbericht westpreußisches polentum und polnische

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'?£ Peter Böhning Die polnische Malerei des 20. Jhs. ist auf Sonderausstellungen der letzten Jahre schon umfassender dargestellt worden (u. a. 1963 im Essener Folkwang- Museum). Für die ersten Jahrzehnte waren in London die Hauptakzente gesetzt mit Witold Wojtkiewicz (1879—1909), Stanislaw Witkiewicz (1885—1939), Jan Cybis (geb. 1897) und Tadeusz Makowski (1882—1932). Als älterer Meister ab- strakter Malerei erschien Henryk Stażewski (geb. 1894). Im letzten Saal präsen- tierte sich die polnische Gegenwartskunst mit mannigfachen Tendenzen, ein- schließlich Pop Art. „Sozialistischer Realismus" war nicht vertreten. Es wäre zu wünschen, daß diese gehaltvolle und noble Kunstschau unseres Nachbarvolkes auch einmal bei uns gezeigt wird. Forschungsbericht Westpreußisches Polentum und polnische Nation Zur Außenorientierung der nationalpolnischen Bewegung in Westpreußen vor der Reichsgrün düng von Peter Böhning Durch die Sanktionierung der Polnischen Teilungen auf dem Wiener Kongreß wurden die getrennten Glieder der alten Republik den tiefgreifenden sozial- ökonomischen und politischen Veränderungen der folgenden Jahrzehnte in recht unterschiedlicher Intensität und in deutlicher Phasenverschiebung ausgesetzt. Einen Beispielfall isolierter Entwicklung — vor allem in der ersten Jahrhun- derthälfte — stellt das Territorium des alten Königlichen Preußens dar. 1 Die polnische Bevölkerung dieses Gebietes fand auch bei den eigenen Landsleuten jenseits der Provinzialgrenzen lange Zeit nur wenig Beachtung. 2 Spezifische Bedingungen wie die alte Sonderstellung des Königlichen Preußens im Ver- bände der Adelsrepublik, die relativ frühe Trennung von diesem Staat, die 1) Die Masse dieses 1772 an Preußen gefallenen Territoriums ging nach 1815 in den beiden westpreußischen Regierungsbezirken Danzig und Marienwerder auf. Zur Grenzziehung im einzelnen vgl. M. B ä r : Die Behördenverfassung in Westpreußen seit der Ordenszeit, Danzig 1912, S. 171 f., und M. L a u b e r t : Die Ziehung der westpreußisch-Posener Grenze, in: Studien zur Geschichte der Provinz Posen, Bd II, Posen 1927, S. 30 ff. — Zwischen 1824 und 1878 bildeten die beiden Regierungsbezirke Danzig und Marienwerder nur den westlichen Teil der Provinz Preußen; der Einfachheit halber soll hier jedoch auch für diesen Zeitraum von einer „Provinz" Westpreußen die Rede sein. 2) So ließ z. B. das „Narodowe Towarzystwo Patriotyczne" [Patriotisch-Natio- nale Gesellschaft], die erste von 1821 bis 1826 bestehende umfassende polnische Geheimgesellschaft, das ehemals Königliche Preußen in ihrem Organisations- schema, das sich im übrigen auf alle Gebiete der alten Republik erstreckte, unberücksichtigt. Vgl. Historia Polski. Bd II, 2, Warschau 1958. S. 298.

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Page 1: Forschungsbericht Westpreußisches Polentum und polnische

'?£ Peter Böhning

Die polnische Malerei des 20. Jhs. ist auf Sonderausstellungen der letzten

Jahre schon umfassender dargestellt worden (u. a. 1963 im Essener Folkwang-

Museum). Für die ersten Jahrzehnte waren in London die Hauptakzente gesetzt

mit Witold Wojtkiewicz (1879—1909), Stanislaw Witkiewicz (1885—1939), Jan

Cybis (geb. 1897) und Tadeusz Makowski (1882—1932). Als älterer Meister ab­

strakter Malerei erschien Henryk Stażewski (geb. 1894). Im letzten Saal präsen­

tierte sich die polnische Gegenwartskunst mit mannigfachen Tendenzen, ein­

schließlich Pop Art. „Sozialistischer Realismus" war nicht vertreten.

Es wäre zu wünschen, daß diese gehaltvolle und noble Kunstschau unseres

Nachbarvolkes auch einmal bei uns gezeigt wird.

Forschungsbericht

Westpreußisches Polentum und polnische Nation

Z u r A u ß e n o r i e n t i e r u n g d e r n a t i o n a l p o l n i s c h e n

B e w e g u n g i n W e s t p r e u ß e n v o r d e r R e i c h s g r ü n d ü n g

von

P e t e r B ö h n i n g

Durch die Sanktionierung der Polnischen Teilungen auf dem Wiener Kongreß

wurden die getrennten Glieder der alten Republik den tiefgreifenden sozial­

ökonomischen und politischen Veränderungen der folgenden Jahrzehnte in recht

unterschiedlicher Intensität und in deutlicher Phasenverschiebung ausgesetzt.

Einen Beispielfall isolierter Entwicklung — vor allem in der ersten Jahrhun­

derthälfte — stellt das Territorium des alten Königlichen Preußens dar.1 Die

polnische Bevölkerung dieses Gebietes fand auch bei den eigenen Landsleuten

jenseits der Provinzialgrenzen lange Zeit nur wenig Beachtung.2 Spezifische

Bedingungen wie die alte Sonderstellung des Königlichen Preußens im Ver­

bände der Adelsrepublik, die relativ frühe Trennung von diesem Staat, die

1) Die Masse dieses 1772 an Preußen gefallenen Territoriums ging nach 1815

in den beiden westpreußischen Regierungsbezirken Danzig und Marienwerder

auf. Zur Grenzziehung im einzelnen vgl. M. B ä r : Die Behördenverfassung in

Westpreußen seit der Ordenszeit, Danzig 1912, S. 171 f., und M. L a u b e r t :

Die Ziehung der westpreußisch-Posener Grenze, in: Studien zur Geschichte der

Provinz Posen, Bd II, Posen 1927, S. 30 ff. — Zwischen 1824 und 1878 bildeten

die beiden Regierungsbezirke Danzig und Marienwerder nur den westlichen

Teil der Provinz Preußen; der Einfachheit halber soll hier jedoch auch für diesen

Zeitraum von einer „Provinz" Westpreußen die Rede sein.

2) So ließ z. B. das „Narodowe Towarzystwo Patriotyczne" [Patriotisch-Natio­

nale Gesellschaft], die erste von 1821 bis 1826 bestehende umfassende polnische

Geheimgesellschaft, das ehemals Königliche Preußen in ihrem Organisations­

schema, das sich im übrigen auf alle Gebiete der alten Republik erstreckte,

unberücksichtigt. Vgl. Historia Polski. Bd II, 2, Warschau 1958. S. 298.

Page 2: Forschungsbericht Westpreußisches Polentum und polnische

Westpreußisches Polentum und polnische Nation 79

geographische Randlage und nicht zuletzt die seit 1772 kontinuierlich fort­

schreitende Eindeutschung haben wesentlich zu dieser Abschließung beige­

tragen. Andererseits orientierten sich die polnischen Patrioten aller politischen

Richtungen bei ihren Entwürfen eines zukünftigen polnischen Staates beinahe

ausnahmslos an den Grenzen von 1771, auch als es längst gewiß war, daß das

politische Bürgerrecht nicht mehr allein den Angehörigen einer homogenisierten,

zu einer Nation zusammengewachsenen Adelsschicht, sondern der gesamten,

ethnisch vielfältig strukturierten Bevölkerung zufallen würde.

In Westpreußen entfaltete sich seit dem Ausgang der dreißiger Jahre eine

polnisch-patriotische Bewegung unter der Führung einer relativ kleinen, ökono­

misch progressiven Gruppe der Szlachta. Seit dem Völkerfrühling war die

nationale Mobilisierung der polnischen und kaschubischen Bevölkerung bei

gleichzeitiger Sicherung der eigenen sozialen und ökonomischen Position das

erklärte Ziel dieser Gruppe.3 Für diese Patrioten war ein Territorialprogramm

auf der Basis des alten polnischen Adelsstaates unumgänglich; denn im Hinblick

auf die komplizierten ethnischen Verhältnisse im westpreußischen Raum wären

hier Sezessionsbestrebungen mit der Forderung nach nationaler Selbstbestim­

mung kaum ausreichend zu motivieren gewesen. Bei diesen Voraussetzungen

mußte es eigentlich im Interesse der nationalpolnischen Partei Westpreußens

liegen, einer Isolierung auf Grund der oben angedeuteten Randlage entgegen

zu wirken; es stellt sich daher die Frage nach Charakter und Ausmaß der

Beziehungen zu den anderen Teilen der polnischen Nation, der hier für die

Phase der nationalpolnischen Bewegung vor der Reichsgründung nachgegangen

werden soll.

Die äußeren Bedingungen waren zweifellos am günstigsten für ein engeres

Verhältnis zu den Polen im benachbarten, nur durch die Provinzialgrenze ge­

trennten Großherzogtum Posen. Freilich wurde auch dort der Entwicklung

im Weichselland vorerst wenig Beachtung geschenkt, und noch 1848 mußte

Natalis S u l e r z y s k i als Abgeordneter des westpreußischen Polentums in

der Berliner Nationalversammlung enttäuscht feststellen, daß Westpreußen bei

den Posener Polen überhaupt noch nichts galt.4 Abgesehen davon, daß sich eine

3) Für die innere Geschichte des Polentums in Westpreußen und die Genese

einer nationalpolnischen Bewegung zwischen Wiener Kongreß und Reichsgrün­

dung muß auf die noch ungedruckte Dissertation des Vfs. verwiesen werden:

P. B ö h n i n g : Die nationalpolnische Bewegung in Westpreußen und die Ent­

stehung des Nationalitätenproblems (1815—1871). Diss. phil. Bochum 1970.

4) Pamiętniki Natalisa Sulerzyskiego. [Erinnerungen des N. S.] Krakau 1871.

Bd II, Kap. VH. — Natalis S u l e r z y s k i (1801—1878), Gutsbesitzer auf Piont-

kowo, Kr. Strasburg, war einer der engagiertesten Polen in Westpreußen. Nach

geisteswissenschaftlichen Studien in Leipzig und Heidelberg widmete er sich

seit 1824 der Gutswirtschaft. Durch geschicktes Wirtschaften und Einführung

neuer Methoden konnte er seinen Besitz ständig vermehren. 1846 wurde er

inhaftiert, weil er demokratische Emissäre beherbergt hatte; ein Prozeß fand

jedoch nicht statt. Als Vorstandsmitglied eines „Provisorischen Nationalkomitees

für Westpreußen" wurde er im Frühjahr 1848 erneut festgenommen. 1849 war

er Abgeordneter in der Zweiten Preußischen Kammer. Obwohl S. sich auch im

Rahmen der „organischen Arbeit" sehr aktiv und opferbereit zeigte, rückten

Page 3: Forschungsbericht Westpreußisches Polentum und polnische

en Peter Böhning

nationalpolnische Partei im Culmer und Michelauer Land tatsächlich erst gegen

Ende der dreißiger Jahre zu artikulieren begann, liefen die Bewegungen in

den beiden Nachbarprovinzen bis in den Völkerfrühling hinein auch dadurch

nebeneinander her, daß die preußische Regierung auf Grund ihrer Auslegung

der Wiener Verträge nur dem Großherzogtum nationale Sonderrechte einräumen

wollte und die Posener Polen vorerst vor allem auf die Realisierung dieser

Rechte bedacht waren. Während der Reorganisationsbemühungen in der Revo­

lutionszeit gingen ihre Abgeordneten in Berlin sogar so weit, gegen Anträge

ihrer Landsleute aus Westpreußen, die eine Verbesserung der Sprachbestimmun­

gen in der Provinz erstrebten, zu stimmen, um die eigene Position nicht zu

gefährden. Sie degradierten diese Bemühungen also bewußt „auf den Rang

lokaler, nicht allgemeinpolnischer Angelegenheiten".5 Immerhin wurde jedoch

zur gleichen Zeit mit der „Liga Polska" ein vielversprechender Versuch ge­

macht, die polnische Bevölkerung im gesamten preußischen Anteil einheitlich

zu organisieren. Außerdem mußte das endgültige Scheitern der Reorganisations­

pläne und der jetzt einsetzende allmähliche Abbau der Sonderstellung des

Großherzogtums zu der Einsicht führen, daß nur koordinierte Aktionen und

einheitliche Organisation die Behauptung in einer sich verschärfenden Ausein­

andersetzung der Nationalitäten ermöglichen könnten. Im Rahmen der „Liga

Polska" war ein Programm der sog. „organischen Arbeit" (praca organiczna)

entwickelt worden.6 Als Grundzug dieses Programms könnte man die Ablehnung

aller militärisch-konspirativen Aktionen bezeichnen, verbunden mit dem Ver­

such, politische und gesellschaftliche Probleme auf reformistischem Wege zu

lösen. Nach dem Scheitern des Januaraufstandes im Königreich Polen gewannen

die Verfechter dieser Strategie in allen drei Teilgebieten und in der Emigration

endgültig die Oberhand; entsprechend den unterschiedlichen ökonomischen,

sozialen und politischen Bedingungen in Rußland, Österreich und Preußen

konnten im Rahmen der „organischen Arbeit" jedoch durchaus unterschiedliche

Zielsetzungen verfolgt werden.7 Wollte sich der grundbesitzende polnische Adel

seine Standesgenossen wegen seiner politischen Orientierung — er war An­

hänger Ludwik Mierosùawskis, des langjährigen militärischen Führers im demo­

kratischen Lager der Emigration, und bekannte sich zu dessen Programm —

allmählich von ihm ab. Wegen Unterstützung des Januaraufstandes wurde er

1864 vom Königlich-Preußischen Kammergericht in Berlin zu einem Jahr

Festungshaft verurteilt. Er entzog sich der Strafe durch Emigration nach Kra-

kau, wo er 1871 seine Erinnerungen im Selbstverlag publizierte.

5) Zd. G r o t : Dziaùalność posùów polskich w Sejmie Pruskim 1848—1850.

[Die Tätigkeit der polnischen Abgeordneten im preußischen Parlament.] Posen

1961. S. 212.

6) Der Terminus „praca organiczna" wurde zum erstenmal 1848 von Jan

Koźmian, einem Redakteur des „Przegląd Poznański", gebraucht. Die damit

umschriebene politische Konzeption war allerdings älter. Schon Anfang der

vierziger Jahre erhielt sie wichtige Impulse durch Karol Marcinkowski im

Großherzogtum und Leon Sapieha in Galizien.

7) vgl. R. C z e p u 1 i s : Myśl spoùeczna twórców Towarzystwa Rolniczego 1842—

1861. [Die Gesellschaftstheorien der Schöpfer der Landwirtschaftlichen Gesell­

schaft.] Breslau 1964. S. 15 f.

Page 4: Forschungsbericht Westpreußisches Polentum und polnische

Westpreußisches Polentum und polnische Nation 81

im preußischen Anteil, aus dem sich ein großer Teil führender Persönlichkeiten

der „organischen Arbeit" rekrutierte, auf die Dauer gegen staatliche Maßnah­

men und ökonomische deutsche Konkurrenz wie auch gegen agrarrevolutionäre

Tendenzen im eigenen nationalen Lager behaupten, so kam es darauf an, den

bäuerlichen und bürgerlichen Mittelstand wirtschaftlich zu stärken und gleich­

zeitig unter der Losung nationaler Solidarität zu einer „polnischen Gesell­

schaft" 8

im preußischen Staat zu integrieren. Früher als die Posener Polen er­

kannten die politischen Führer in Westpreußen, daß diese Form der „orga­

nischen Arbeit" und das von ihnen projektierte gesellschaftlich-nationale

System nur durch eine Integration der gesamten polnischen Bevölkerung im

preußischen Anteil verwirklicht werden konnte. Anfang der sechziger Jahre

gingen besonders von den südlichen Kreisen der Provinz Impulse zur Organisie­

rung eines weitverzweigten Netzes von landwirtschaftlichen Gesellschaften,

Kreditgenossenschaften und Gewerbevereinen aus, deren Tätigkeit seit Mitte der

siebziger Jahre von entsprechenden für beide Provinzen zuständigen Zentral­

instanzen immer stärker koordiniert wurde.9 Es war von beträchtlicher Bedeu­

tung, daß sich auch die Polen die Technisierung des Kommunikationswesens,

die in der zweiten Jahrhunderthälfte mit der fortschreitenden Industrialisierung

Hand in Hand ging, nutzbar machen konnten. Der Ausbau des Straßensystems,

des Telegraphen- und Eisenbahnnetzes diente zwar primär dazu, die Ostprovin­

zen wirtschaftlich stärker mit den übrigen Gebieten des preußischen Staates

und des Deutschen Reiches zu verflechten, erleichterte und intensivierte jedoch

auch die Kommunikation der polnischen Bevölkerung untereinander. 1852 wurde

die Eisenbahnlinie Bromberg—Dirschau—Danzig als Teil der Königlichen Ost­

bahn eröffnet. Ein Jahr später folgte die Strecke Marienburg—Elbing—Königs­

berg; die Lücke zwischen beiden Linien wurde 1857 durch den Bau der Weich­

sel- und Nogatbrücken geschlossen. Mit der Strecke Breslau-Posen entstand

1856 die erste Bahnverbindung zwischen Schlesien und dem Großherzogtum;

sie wurde mit dem Bau der Linie Posen—Bromberg 1870/71 nach Norden ver­

längert und damit an das Netz der Provinz Preußen angeschlossen.10

Diese Veränderungen der Kommunikationsbedingungen hätten auch die Kon­

takte der westpreußischen Polen zu den anderen Teilen der polnischen Nation

8) Der entsprechende polnische Begriff „spoùeczeństwo polskie" war in der

polnischen Publizistik im preußischen Anteil seit 1848 ein geläufiger Terminus.

Für lange Zeit war damit freilich weniger die gesellschaftliche Realität als viel­

mehr ein Programm umrissen, das auf absolute Dissimilation der Nationalitäten

zielte, die als zwei Sozialsysteme nebeneinander existieren sollten; eine Ent­

wicklung also, die sinnvollerweise nur in einer neuen Eigenstaatlichkeit der

polnischen Nation münden konnte. — Diese Einschränkung des Gesellschafts­

begriffes im entsprechenden Zusammenhang muß für die folgende Darstellung

gegenwärtig bleiben.

9) Zu den Einzelheiten dieser Entwicklung sei noch einmal auf die in Anm. 3

zitierte Dissertation des Vfs. und die dort verarbeitete Literatur verwiesen.

10) P. L e t k e m a n n : Die preußische Verwaltung des Regierungsbezirks

Danzig 1815—1870. (Wiss. Beiträge zur Geschichte und Landeskunde Ostmittel­

europas, Nr. 80.) Marburg/L. 1967. S. 227; Historia Polski. Bd III, 1, Warschau

1963. S. 196 f.

6

Page 5: Forschungsbericht Westpreußisches Polentum und polnische

82 Peter Böhning

günstig beeinflussen können. Während sich jedoch bei den Beziehungen zu den

Landsleuten in den anderen Gebieten des preußischen Staates theoretischer

Entwurf und Praxis der Gesellschafts- und Nationalitätenpolitik vergleichsweise

leicht zur Deckung bringen ließen, mußte das Verhältnis zu Galizien" und

zum Königreich Polen vor allem auf Grund der unterschiedlichen sozialökono­

mischen Bedingungen in den drei Teilungsstaaten einen ambivalenten Charakter

haben. Es wurde schon angedeutet, daß es für die nationalpolnische Partei in

Westpreußen nahelag, an der etatistischen Position, die sich an den Grenzen

von 1771 orientierte, festzuhalten. Andererseits gingen Programm und Ideologie

der „organischen Arbeit" im preußischen Anteil jedoch davon aus, daß man

sich auf eine lange Auseinandersetzung unter den bestehenden Bedingungen

einzurichten habe, so daß das Ziel eines polnischen Staates in den alten Grenzen

in eine unbestimmte ferne Zukunft projiziert wurde. Besonders zum fernen

Galizien mußten daher die Kontakte in der Praxis nur schwach sein. Aktionen

wie etwa das Treffen mit dem Lemberger Sokolverein in Posen (4.—6. Juli 1868)

hatten in erster Linie demonstrativen Charakter. An diesem Treffen nahm auch

eine fünfköpfige Abordnung aus Westpreußen als „Vertreter der Brüder von

der Ostsee" teil unter Führung des Journalisten und Literaten Ignacy D a n i e ­

l e w s k i .1 2

Danielewski versicherte in seiner Begrüßungsrede, auch im Weich­

selland sei das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit wach.13

Damit wurde zwar

der Anspruch auf die Einheit aller Teile der alten Republik deklamatorisch

unterstrichen; besonders für die Beziehungen der geographischen Randgebiete

untereinander blieben derartige Veranstaltungen jedoch ohne praktische Aus­

wirkungen. Seit dem Januar 1867 fanden in Thorn jährlich sog. Wirtschafts­

kongresse (Sejmiki Gospodarskie) statt, auf denen die „organische Arbeit" im

preußischen Anteil diskutiert und koordiniert werden sollte. Wiederholt nahm

auch eine Abordnung aus Galizien teil, deren Leiter, Dr. Trzciński, sogar

zweimal als Referent auftrat; seine Vorschläge für eine praktische Zusammen­

arbeit im Bereich der Volksbildung wurden indes von den westpreußischen

Polen abgelehnt, weil die Verschiedenheit der Verhältnisse eine Kooperation

unmöglich mache.14

Was mit dieser Verschiedenheit gemeint war, wurde 1868

11) Mit Galizien ist hier der nach dem Wiener Kongreß unter österreichischer

Herrschaft verbliebene Anteil gemeint.

12) Ignacy D a n i e l e w s k i (1829—1907) stammte aus Bork im Großherzog­

tum Posen. Nach Lehrerausbildung und -tätigkeit siedelte er 1855 nach Culm

über, wo er als Mitarbeiter und Redakteur des dort seit 1850 erscheinenden

„Nadwiślanin" tätig war. Seit 1872 lebte er in Thorn. Er entfaltete eine rege

Tätigkeit als Mitarbeiter und Redakteur mehrerer Zeitungen, als Herausgeber

von Kalendern für das Volk und als Verfasser patriotisch-historischer Schriften.

Er bekleidete verschiedene Ämter im polnischen Organisationswesen und war

von 1863—1866 Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses.

13) Mitteilung des Posener Polizeipräsidenten an die Regierung Marienwerder

vom 25.6. 1868. Geh. Staatsarchiv Berlin-Dahlem [weiterhin z i t : GStA], Rep.

A 181, Nr. 1459, Bl. 7 ff. — Bericht über den Verlauf des Treffens im „Dziennik

Poznański" Nr. 152, 1868 (amtliche preußische Übersetzung, GStA, Rep. A 181,

Nr. 1459, Bl. 12).

14) Roczniki Sejmików Gospodarskich w Toruniu od roku 1867 aż do roku

Page 6: Forschungsbericht Westpreußisches Polentum und polnische

Westpreußisches Polentum und polnische Nation es

von Mieczysùaw Ù y s k o w s k i1 5

recht deutlich zum Ausdruck gebracht.

Ùyskowski, einer der führenden Genossenschaftspolitiker der sechziger bis acht­

ziger Jahre in Westpreußen und Posen, der wesentlichen Anteil an der Harmo­

nisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse des westpreußischen Polentums

hatte, lehnte eine Zusammenarbeit mit dem galizischen „Towarzystwo Przy­

jacióù Oświaty" [Gesellschaft der Freunde der Aufklärung] ab, weil er von den

dort aufgelegten Büchern einen ungünstigen Einfluß auf die eigene Landbevöl­

kerung befürchtete: „Zweifellos wäre ein bedeutender Teil der Volksbücher,

die für Galizien gut sind, schädlich für unser Volk; es gibt dort eine soziale

Säure [kwas], die bei uns bereits neutralisiert worden ist." 1 6

Über die Staatsgrenzen hinweg wäre freilich ohnehin nur eine lockere Zu­

sammenarbeit möglich gewesen, und diese Einschränkung galt auch für die

Beziehungen zum benachbarten Königreich Polen. Immerhin war der geistige

Austausch hier wesentlich intensiver. So wurde z. B. das 1858 in Warschau

gegründete „Towarzystwo Rolnicze Królestwa Polskiego" [Landwirtschaftliche

Gesellschaft des Königreiches Polen], eine von den Großgrundbesitzern be­

herrschte Organisation1 7

, in Westpreußen stark beachtet und von dem in Culm

erscheinenden „Nadwiślanin" [Der Weichselländer] ausführlich gewürdigt und

als vorbildlich herausgestellt.18

Die im Herbst 1861 in Westpreußen einsetzenden

Gründungen polnischer landwirtschaftlicher Gesellschaften sind durch dieses

Vorbild mit angeregt worden. Ebenso lösten die im Februar 1861 ausbrechenden

Warschauer Unruhen in Westpreußen wie in Posen eine Flut religiös-nationaler

Demonstrationen in Form von Trauer- und Gedenkgottesdiensten aus, wobei es

1879. [Jbb. der Wirtschaftskongresse in Thorn von 1867—1879.] Hrsg. von I.

Ù y s k o w s k i . Thorn 1879. S. 110 ff. und 202.

15) Mieczysùaw Ù y s k o w s k i (1825—1894) war der Sohn eines Gutsbesitzers

im Kreis Culm. Er studierte in Breslau Jura und war nach seiner Referendar­

zeit in Marienwerder als Kreisrichter in Briesen, Lautenburg und Strasburg

tätig. 1864 wegen Beteiligung am Januaraufstand aus dem Staatsdienst entlassen,

widmete er sich ganz dem polnischen Genossenschaftswesen. Er war seit 1852

mit dem deutschen Genossenschaftspionier Schulze-Delitzsch persönlich bekannt

und maßgeblich am Aufbau des polnischen Organisationswesens beteiligt. Von

1871—1885 war er Vorsitzender des Zentralkomitees des Verbandes polnischer

Genossenschaften in Posen. Außerdem wirkte er aktiv in mehreren westpreußi­

schen Genossenschaften. 1859—1861 und 1863—1865 war er Abgeordneter des

Wahlkreises Löbau/Strasburg in der Zweiten Preußischen Kammer.

16) Roczniki Sejmików Gospodarskich, S. 114.

17) C z e p u l i s , S. 16.

18) Wù. Ù e b i ń s k i : Kóùka rolniczo-wùościańskie i rozwój pracy okoùo

rolniczej oświaty ludowej w W. Ks. Poznańskim i Prusach Zachodnich. [Die

bäuerlich-landwirtschaftlichen Zirkel und die Entwicklung der Arbeit für die

landwirtschaftliche Ausbildung der Bevölkerung im Großherzogtum Posen und

in Westpreußen.] In: Ateneum 6 (1881), S. 193 ff. und 411 ff.; d e r s . : Ignacy

Ùyskowski. Życiorys. [I. Ù. Lebensbeschreibung.] 2. Aufl. Posen 1907. S. 29 f. —

Der von 1850 bis 1866 erscheinende „Nadwiślanin" kann ebenso wie die „Szkoùa

Narodowa" [Nationalschule], die ihm von 1848—1850 vorausgegangen war, und

die ihn ablösende „Gazeta Toruńska" [Thorner Zeitung] als das Sprachrohr der

Partei der „organischen Arbeit" in Westpreußen angesehen werden.

Page 7: Forschungsbericht Westpreußisches Polentum und polnische

84 Peter Böhning

den westpreußischen Führern allerdings gelang, das Mitschwingen sozial­

revolutionärer Obertöne zu vermeiden, wie sie im Königreich registriert werden

konnten.

Wenn für die erste Generation nach den Teilungen (1795—1831) festgestellt

wurde, daß sich der personale Nationsnexus „trotz aller Teilungen des Reichs­

territoriums . . . nahezu unverändert" erhielt1 9

, so spielten gerade im Ver­

hältnis zwischen Westpreußen und dem Königreich Polen trotz einer fort­

schreitenden Objektivierung der Kommunikationsformen auch in den sechziger

und siebziger Jahren die persönlichen Beziehungen in der Adelsschicht noch

eine wichtige Rolle. Der gesellschaftliche Verkehr wurde Ende der dreißiger

Jahre sogar intensiviert, als Gutsbesitzer aus Kongreßpolen als offizielle Gäste

auf den Polenbällen in Graudenz erschienen2 0

— eine Gepflogenheit, auf die

der „Nadwiślanin" noch 1861 ausdrücklich hinwies.21

Selbst die schon von Fried­

rich II. angestrebte Auflösung von Besitzverbindungen zwischen Preußen und

Polen war in der zweiten Jahrhunderthälfte noch keine volle Wirklichkeit ge­

worden. Bei einer relativ großen Durchlässigkeit der Staatsgrenze entstanden

bis zur Reichsgründung sogar noch laufend neue Verbindungen durch Kauf,

Erbschaft oder Anknüpfung verwandtschaftlicher Beziehungen. Während des

Januaraufstandes wurde einer großer Teil der über die Provinz Preußen laufen­

den Nachschublieferungen aus dem westlichen Ausland über Adelsgüter beider­

seits der Grenze geleitet, die ihrerseits miteinander in Verbindung standen.2 2

Für die Wirkung der großen Aufstände auf das westpreußische Polentum spielte

der Personalfaktor eine entscheidende Rolle. Sowohl 1830 als auch 1863 waren

die Insurgenten aus taktisch-politischen Gründen zwar sorgfältig darauf be­

dacht, die Erhebung auf den russischen Anteil zu begrenzen; die Provinz kam

jedoch besonders durch die übertretenden Flüchtlinge mit den Vorgängen in

enge Berührung, und auch eine vorübergehende, oft nur ganz kurze Anwesen­

heit blieb dann nicht wirkungslos. Nach Ansicht des damals dreißigjährigen

Natalis S u l e r z y s k i trug nach dem Zusammenbruch des Novemberaufstandes

der nur wenige Wochen dauernde Aufenthalt polnischer Offiziere und Mannschaf­

ten auf den großen Gütern des Strasburger Kreises wesentlich zur Reaktivierung

des nationalpolnischen Bewußtseins der einheimischen Szlachta bei.23

Die Über­

tritte politischer Flüchtlinge aus dem Königreich, hörten nach 1831 niemals ganz

auf und nahmen in den Krisensituationen jeweils wieder größeren Umfang an.

Da diese Flüchtlinge, soweit sie den sog. höheren Ständen angehörten, von den

preußischen Behörden in der Regel zum Verlassen der Provinz gedrängt wurden

19) H. R o o s : Die polnische Nationsgesellschaft und die Staatsgewalt der

Teilungsmächte in der europäischen Geschichte (1795—1863). In: Jbb. für Ge­

schichte Osteuropas 14 (1966), S. 392.

20) Pamiętniki Sulerzyskiego, Bd I, Kap. VII.

21) „Nadwiślanin" Nr. 60, 1861 (amtliche preußische Übersetzung, GStA,

Rep. A 204, Nr. 345, Bl. 147).

22) A. B u k o w s k i : Pomorze Gdańskie w powstaniu styczniowym. [West­

preußen im Januaraufstand.] Danzig 1964; St. M y ś l i b o r s k i - W o ù o w s k i :

Udziaù Prus Zachodnich w powstaniu styczniowym. [Die Beteiligung West­

preußens am Januaraufstand.] Warschau 1968.

23) Pamiętniki Sulerzyskiego, Bd I, Kap. IV.

Page 8: Forschungsbericht Westpreußisches Polentum und polnische

W estpreußisches Polentum und polnische Nation 85

und sich der Emigration in Westeuropa anschlössen, entwickelte sich auf diese

Weise ein Verbindungsstrang ins westliche Ausland.24

Dichte und Häufigkeit direkter Kontakte zu den verschiedenen politischen

Lagern der Emigration hingen nicht unwesentlich davon ab, wieweit sich diese

Gruppen ihrerseits der Provinz zuwandten. Da das vom „Hotel Lambert" reprä­

sentierte aristokratisch-konservative Lager vor allem auf die diplomatische

Sicherung der Wiener Verträge fixiert war, lag das westpreußische Polentum

für diesen Teil der Emigration zunächst vollständig außerhalb des Blickfeldes.

Für die demokratische Emigration dagegen gehörte die Forderung nach einem

polnischen Staat in den Grenzen von 1771 von Anfang an zu den integrierenden

Elementen ihres Programms. Einer der ersten politischen Akte des am 17. März

1832 in Paris gegründeten „Towarzystwo Demokratyczne Polskie" [Polnische

Demokratische Gesellschaft] war der Aufruf, alle „verbrecherischen Verträge"

zu zerreißen, „die Polen seit 1772 zerstückelt haben".2 5

Anläßlich einer Mission

des Agenten Lubliner schrieb Joachim L e l e w e l im April 1848 an seinen

Kampfgefährten und Mitarbeiter in der Emigration, Stanisùaw Worcell, wenn

die französische Diplomatie auf die polnische Frage zu sprechen komme, müsse

man beharrlich darauf bestehen, „daß Danzig und die Kaschubei (Prusse

Occidentale) polnisch sind".26

Die Demokraten ließen es außerdem bei Proklama­

tionen nicht bewenden, sondern bezogen die ganze Provinz Preußen in den

Tätigkeitsbereich ihrer Agenten und Emissäre ein, zum Teil durch dieselben

Leute, die zuvor aus dem Königreich über Westpreußen nach Belgien oder

Frankreich gelangt waren. Noch unter dem Eindruck seiner eigenen Flucht

hatte Lelewel schon im Januar 1834 aus Brüssel an den nach Frankreich emi­

grierten Mitstreiter Józef Zaleski geschrieben: „Preußen ist zur Hälfte polnisch.

Hier müßten Emissäre von einem Punkte in Großpolen oder Galizien aus Dan­

zig und Königsberg besuchen... Zur Zeit des Aufstandes hat mir jemand eine

24) Hierzu H. N e u b a c h : Die Ausweisungen von Polen und Juden aus

Preußen 1885/86, Wiesbaden 1967, Kap. I.

25) Protest des „Towarzystwo Demokratyczne" gegen die Verträge, durch

die Polen seit 1772 zerstückelt wurde. Paris, den 8. Mai 1832. — Deutscher Text

bei E. K n o r r : Die polnischen Aufstände seit 1830 in ihrem Zusammenhang

mit den internationalen Umsturzbestrebungen, Berlin 1880, Anlage 1. — Diese

Generallinie wurde von der demokratischen Emigration auch nach ihrer Spal­

tung in verschiedene, sich teilweise sogar bekämpfende Flügel nie verlassen und

wurde z. B. immer wieder in den verschiedenen Presseorganen betont. Der seit

Ende 1857 erscheinende „Przegląd Rzeczy Polskich" [Rundschau für polnische

Angelegenheiten] rief in seiner ersten Nummer zur Vorbereitung der zukünfti­

gen allgemeinen Revolution auf. Die Emigration erfülle durch ihre bloße An­

wesenheit die Aufgabe, das Ausland darauf hinzuweisen, „daß Polen nicht

gegen diese oder jene Theilung, sondern gegen alle Theilungen, Ungerechtig­

keiten und Gewaltthaten, die es erlitten, vor Gott und der Welt um Rache

ruft.. ." — Nr. 1, 1857 (amtliche preußische Übersetzung, GStA, Rep. A 204,

Nr. 345, Bl. 107).

26) Listy emigracyjne Joachima Lelewela. [Die Briefe Joachim Lelewels aus

der Emigration.] Hrsg. von Helena W i ę c k o w s k a . T. III, Krakau 1952. S. 435

(Brief vom 26. 4. 1848).

Page 9: Forschungsbericht Westpreußisches Polentum und polnische

3S Peter Böhning

lange Reihe von Namen polnischer und deutscher Einwohner Preußens aus ver-

schiedenen Ständen genannt, die den Gedanken einer Vereinigung Preußens,

Danzigs und Königsbergs mit Polen hegen. Ich habe sichere Hinweise darauf,

daß dieser Gedanke auch bei der Landbevölkerung in Preußen, bei Pastoren

und Pröpsten lebt. Ich wünschte, daß sich Leute direkt in diesen Grenzgebieten

aufhielten oder sie durchreisten, die Meinungen sondierten, lobten, aufklärten

und die Bewohner dieser Gebiete immer mehr dahin brächten, über die Vorteile

einer solchen Vereinigung im Bereich des Handels und der Industrie und im

Politischen nachzudenken... Und überall, wo die Emissäre bemerken, daß dieser

Gedanke lebt, muß man sich festsetzen, damit die Vereinigungsbewegung an

möglichst vielen Punkten erfolgreich ist."2 7

Verschiedene Kontaktformen zwi-

schen dem demokratischen Lager der Emigration und der Provinz können am

besten an einigen exemplarischen Einzelfällen dargestellt werden.

Einer der bedeutendsten Agenten und Verbindungsmänner war Seweryn

E l ż a n o w s k i , langjähriger Mitarbeiter Mierosùawskis, seit 1857 Redakteur

und Herausgeber des „Przegląd Rzeczy Polskich" in Paris und seit 1862 Sekretär

des „Staùy Komitet Emigracyi Polskiej" [Ständiges Komitee der Polnischen

Emigration], das sich von Mierosùawskis Gruppe trennte und eine eigene Politik

betrieb. Elżanowski kam 1844 als Dreiundzwanzig jähriger nach Westpreußen,

um sich dem Zugriff der russischen Polizei zu entziehen. Bis Juni 1845 hielt er

sich bei seiner Tante, Frau Jeżewska auf Topolno, und anschließend bei Stani-

sùaw Radkiewicz auf Briesen (beide Güter lagen im Kreis Schwetz) auf. Schon

als Gymnasiast hatte er sich mit Lelewels Schriften vertraut gemacht. In Preu-

ßen bekam er Kontakt mit Mitgliedern und Verbindungsmännern des „Towa-

rzystwo Demokratyczne". Nach seinem Beitritt reiste er zunächst als Agent nach

Königsberg und Thorn, und im Dezember wurde er mit der Vorbereitung des

Aufstandes in der Provinz Preußen beauftragt. Das Unternehmen scheiterte

bekanntlich schon in seiner ersten Phase. Elżanowski wurde im Moabiter Pro-

zeß zum Tode verurteilt, fiel aber, wie die anderen noch inhaftierten Polen,

unter die Amnestie vom 18. März 1848. Er kehrte mit Sulerzyski und anderen

nach Westpreußen zurück und versuchte dort als Mitglied des „Provisorischen

Nationalkomitees", die Volksbewaffnung gegen Rußland durchzuführen. Er

konnte einer erneuten Verhaftung entgehen und sammelte im Auftrage Miero-

sùawskis in der Tucheier Heide ungefähr 500 Mann, die er nach Posen führte,

aber nicht mehr einsetzen konnte. 1850 aus Preußen ausgewiesen, kehrte er

1851/52 noch einmal in die Kreise Culm und Strasburg zurück, um Geld für

die Emigration in Frankreich zu sammeln. Danach betrat er selbst die Provinz

nicht wieder, stand aber weiterhin über andere Emissäre in Verbindung mit

Frau Jeżewska.28

. Bei einem Aufenthalt in Piontkowo hatte Elżanowski 1845

27) Listy J. Lelewela, Bd I, Krakau 1948, S. 241 f. (Brief von Ende Januar

1834 — Original ohne Datierung).

28) Anklageschrift des Staatsanwalts bei dem Königlichen Kammergericht

gegen die bei dem Unternehmen zur Wiederherstellung eines polnischen Staats

in den Grenzen desselben vor dem Jahre 1772 Beteiligten, o. O., o. J. (Berlin

1847). Einleitung und Personalakte Severin von Elżanowski; Polski Sùownik

Biograficzny. [Polnisches Biographisches Wörterbuch.] Bd 6, Krakau 1948.

S. 240 f.; M. T y r o w i c z : Towarzystwo Demokratyczne Polskie 1832—63.

Page 10: Forschungsbericht Westpreußisches Polentum und polnische

V/estpreußisches Polentum und polnische Nation 87

den ebenfalls aus Polen geflohenen Ludwik Ostaszewski kennengelernt, der bei

Sulerzyski Unterkunft gefunden hatte. Ostaszewski schloß sich dem „Towa­

rzystwo Demokratyczne" an, wurde aber bei den Aufstandsvorbereitungen nicht

mehr eingesetzt. Trotzdem erhielt er acht Jahre Festungshaft. Nach der Amnestie

lebte er zunächst im Kreis Kondtz. Während Elżanowski es niemals darauf ange­

legt hat, sich in der Provinz fest niederzulassen, sondern von einigen Stütz­

punkten aus für die demokratische Partei arbeitete, versuchte Ostaszewski, der

über einiges Kapital verfügte, selbst in Westpreußen Fuß zu fassen. Seit 1851

hielt er sich in Jablau (Kr. Preuß. Stargard) bei Hiacenty J a c k o w s k i auf,

dessen Tochter er bald darauf heiratete.2 9

Dem persönlichen Einsatz seines

Schwiegervaters und der Fürsprache des Oberpräsidenten Eichmann beim

Innenminister hatte er es zu verdanken, daß eine bereits angeordnete Auswei­

sung im April 1852 rückgängig gemacht wurde und er die Erlaubnis erhielt, das

Gut Liptschin im Kreis Berent zu kaufen. Er erregte indes schnell wieder den

Verdacht der Behörden, weil sich Leute als Gäste bei ihm aufhielten, die in

den Moabiter Prozeß verwickelt gewesen waren. Als er im Herbst 1854 zur Kur

in Wiesbaden weilte, verkehrte er dort mit dem Grafen Jan Ledochowski.

Ledochowski, der 1830 Mitglied der Provisorischen Regierung in Warschau ge­

wesen war, hatte zu dieser Zeit Polenkongresse in Wiesbaden und Frankfurt

am Main organisiert, um eine Einigung des demokratischen Lagers vorzube­

reiten. Obwohl nicht nachgewiesen werden konnte, daß der Verkehr Ostaszew-

skis mit Ledochowski überhaupt politischer Natur war, verbot der Innenminister

die Rückkehr nach Preußen.3 0

Durch seine persönlichen Verbindungen zum „Towarzystwo Demokratyczne"

wäre Ostaszewski als Gutsbesitzer im Regierungsbezirk Danzig ein idealer

Kontaktmann für Emissäre gewesen. Diese Emissäre, die entweder mit festen

Aufträgen erschienen — das war vor allem bei den Aufstandsvorbereitungen

der Fall — oder nach Lelewels Vorstellungen das Terrain sondierten, agitierten

und Propagandamaterial verbreiteten, stellten die gängigste Verbindungsform

dar, wenn auch meist ohne personelle Kontinuität. Im Juni 1856 wurde z. B.

in Hamburg der Miteigentümer der Londoner Polnischen Buchhandlung, Józef

Olszewski, verhaftet und an die russische Regierung ausgeliefert. Er war 1848

nach Preußen gekommen, hatte am Posener Aufstand teilgenommen und an­

schließend in Ungarn gefochten. 1854 hielt er sich heimlich im Kreis Thorn auf

Przywódcy i kadry czùonkowie. [Die Polnische Demokratische Gesellschaft. Füh­

rer und Mitgliederkader.] Warschau 1964.

29) Hiacenty J a c k o w s k i (1805—1877), Gutsbesitzer auf Jablau und Lippin-

ken im Kreis Preuß. Stargard, war seit 1848 führend auf allen Gebieten der „or­

ganischen Arbeit" tätig. Er gehörte allen wichtigen Spitzengremien des Organi­

sationswesens in Westpreußen an, regte aber gleichzeitig durch eigene Initiative

auch immer wieder Neugründungen örtlicher Vereine an. 1867 wurde er in den

ersten Reichstag zum Norddeutschen Bund gewählt. Seine Güter bildeten zu­

sammen mit den Besitzungen der Familie Kalkstein (Haus Klonowken) seit den

vierziger Jahren ein Zentrum nationalpolnischen Lebens im nördlichen West­

preußen.

30) Staatliches Archivlager Göttingen, Staatsarchiv Königsberg [weiterhin zit.:

St AK], Rep. 2, Tit. 30, Nr. 30, Vol. 5, 6 und 8.

Page 11: Forschungsbericht Westpreußisches Polentum und polnische

88 Peter Böhning

und knüpfte Verbindungen mit dort lebenden Flüchtlingen an. Über diese

Leute vertrieb er dann in den folgenden Jahren einen großen Teil der in Lon­

don verlegten Schriften nach Westpreußen, indem er den Kontaktpersonen

jeweils größere Sendungen zuschickte, die sie vor allem an interessierte Buch­

händler weitergaben. Sein Kompagnon arbeitete auf ähnliche Weise in Ost­

preußen und Litauen.3 1

Obwohl die polnischen Gutsbesitzer auch demokratische Emissäre beherberg­

ten, um nicht in den Geruch schlechter Patrioten zu geraten, verhielten sie sich

insgesamt doch sehr zurückhaltend oder sogar abweisend. Nach 1850 standen

im Culmer und Michelauer Land neben Topolno nur noch Sulerzyskis Güter

und das von Józef I l o w i e c k i gepachtete Rynsk (Kr. Thorn)3 2

uneinge­

schränkt für diese Gäste offen.33

S u l e r z y s k i erhielt weiterhin die Verbin­

dung zu Mierosùawski aufrecht. In Piontkowo logierten beinahe ständig mehrere

Emigranten, die entweder nach Frankreich und Italien weiterreisten oder von

dort mit irgendeinem Auftrage zurückkehrten. Im März 1861 bat Mierosùawski

Sulerzyski und Ilowiecki um Geldunterstützung für seine MilitärschuleM

;

Sulerzyski überwies ihm im Herbst tatsächlich 1 050 Taler nach Genua — die

einzige Spende überhaupt, wie der General bitter notierte.3 5

Im Februar 1863

wurde Mierosùawski auf eigenen Wunsch durch Sulerzyski von Bromberg aus

an die russische Grenze geführt.36

Insgesamt hat die demokratische Emigration auf die Formulierung der gesell­

schaftspolitischen und nationalen Zielvorstellungen, auf Form und Inhalt der

„organischen Arbeit" in Westpreußen vor 1870 —• also gerade in der Epoche

ihrer größten Ausstrahlungskraft •— kaum Einfluß gewinnen können.3 7

Sulerzyski

mußte — darauf wurde bereits hingewiesen — seine Haltung mit zunehmender

31) StAK, Rep. 2, Tit. 39, Nr. 38, Vol. 1, Bl. 241 ff.

32) Ilowiecki, der selbst die Herrschaft Rycin im polnischen Gouvernement

Lublin besaß, wurde Ende 1861 vom Warschauer National-Komitee mit der

Durchführung politischer Andachten in Westpreußen beauftragt; er war einer

der wichtigsten Verbindungsmänner zur Emigration und führend am Januar­

aufstand beteiligt.

33) S u l e r z y s k i berichtet in seinen Erinnerungen, seit 1850 hätten die

anderen Besitzer im Strasburger Kreis keine „Emigranten" mehr aufgenommen.

Diese Feststellung trifft aber auch mehr oder weniger für die anderen Kreise

zu. Pamiętniki Sulerzyskiego, Bd II, Kap. 9.

34) Es handelt sich um einen Aufruf für Westpreußen, der den beiden Guts­

besitzern übersandt worden war. Text in StAK, Rep. 2, Tit. 39, Nr. 38, Vol. 2,

Bl. 231 ff.

35) „Für die Schule in Genua schickte die gesamte Heimat [kraj] außen dem

ehrenwerten Sulerzyski, der als einmalige Hilfe 1000 Taler überwies, dem

General keinen Heller." Pamiętnik Mierosùawskiego (1861—63). [Erinnerungen

Mierosùawskis.] Hrsg. von J. F r e j l i c h . Warschau 1924. S. 35.

36) Pamiętniki Sulerzyskiego, Bd III, Kap. 14.

37) Damit ist noch nicht endgültig festgestellt, daß die Tätigkeit demokra­

tischer Emissäre bei der Landbevölkerung ohne jeden Widerhall blieb; nur gibt

es für diese Zeit keine direkten Indizien für eine derartige Wirkung. Vgl. aller­

dings unten, Anm. 54.

Page 12: Forschungsbericht Westpreußisches Polentum und polnische

Westpreußisches Polenturn und polnische Nation 89

Isolierung bezahlen.38

Einige wenige Angehörige des westpreußischen Adels

engagierten sich stärker, nachdem sie ihren Grundbesitz aufgegeben oder ver­

loren hatten. Teodor J a c k o w s k i , ein Sohn Hiacenty Jackowskis, der das

Gut Gawlowitz im Kreis Graudenz als Pächter bewirtschaftet hatte, setzte sich

1857 ins Königreich Polen ab, um seinen Gläubigern zu entgehen. Dort bewirt­

schaftete er ein Gut seines Onkels nahe der preußischen Grenze und begann

Ende 1862 als Agent für das Warschauer National-Komitee tätig zu werden.3 9

Bei Waffentransporten für den Januaraufstand arbeitete sein Schwager Edward

K a l k s t e i n mit ihm zusammen, der ebenfalls seine Besitzverbindungen in der

Provinz weitgehend gelöst hatte. Kalkstein war schon 1847 in den Polenprozeß

verwickelt gewesen, weil er durch den jungen Józef P u t k a m e r - K l e s z -

c z y ń s k i , einen Vetter Teodor Jackowskis, in die Aufstandsvorbereitungen

eingeweiht gewesen war.40

Beide arbeiteten auch nach dem Völkerfrühling

weiter für die demokratische Emigration. Im Dezember 1853 wurden auf dem

Gute Trzczyn im Kreis Löbau, das Putkamer-Kleszczyński kurz zuvor auf

Kredit erworben hatte, Papiere der demokratischen „Zentralisation" in London

beschlagnahmt, die unter anderem Zeichnungsaufforderungen für eine fünf-

prozentige Anleihe enthielten. Putkamer und Edward Kalkstein hatten sich in

den vorhergehenden Monaten gemeinsam in London und New York aufgehalten

und waren offensichtlich mit dem Auftrag zurückgekehrt, die Anleihe in der

Provinz Preußen zu placieren. Während Kalkstein mit einem Freispruch davon­

kam, wurde Putkamer-Kleszczyński in Abwesenheit wegen „vorbereitender

Handlungen zu einem hochverrätherischen Unternehmen" zu drei Jahren Zucht­

haus und fünf Jahren Polizeiaufsicht verurteilt.4 1

Er tauchte erst 1868 als „Wein­

reisender" wieder in der Provinz auf.42

Da diese Männer aus einflußreichen Familien der einheimischen Szlachta

stammten, konnte die Partei der „organischen Arbeit" von derartigen Kontakten

38) s. oben Anm. 4.

39) Anklageschrift des Ober-Staats-Anwalts bei dem Königlichen Kammer­

gerichte gegen die Betheiligten bei dem Unternehmen, welches darauf abzielt,

zur Wiederherstellung eines polnischen Staats in den Grenzen desselben vor

dem Jahre 1772 einen Theil des Gebiets des Preußischen Staats vom Ganzen

loszureißen: wegen Hochverraths. Berlin 1864, Einleitung und Personalakte

Theodor von Jackowski. StAK, Rep. 2, Tit. 30, Nr. 30, Vol. 15, Bl. 88 ff.

40) Anklageschrift des Staatsanwalts von 1846, Personalakte Eduard von

Kalkstein.

41) Urteil des Kammergerichts für Staatsverbrechen vom 2. 7. 1855. StAK,

Eep. 2, Tit. 30, Nr. 30, Vol. 8, Bl. 289. Außerdem Vol. 7, Bl. 205. — P u t k a m e r -

K l e s z c z y ń s k i war eine durchaus überdurchschnittliche Erscheinung. Der

Löbauer Landrat bestätigte ihm „feine Bildung" und ein „untadeliges mora­

lisches Verhalten". Ebenda, Vol. 9, Bl. 184 ff. — Zu den Anleihen der Emigration

vgl. auch R. K n a a c k : Die Überwachung der politischen Emigration in Preu­

ßen in der Zeit von 1848 bis 1870. Diss. phil. Berlin(-Ost) 1960. S. 130 ff.

42) GStA, Rep. A 181, Nr. 1459, Bl. 4 ff. — Es war nicht festzustellen, ob das

Urteil von 1855 vollstreckt worden ist. Gnadengesuche der Familie wurden

zunächst nur dahingehend beschieden, daß die Zuchthausstrafe und die damit

verbundene Ehrenstrafe in längere Gefängnishaft umgewandelt werden könne.

StAK, Rep. 2, Tit. 30, Nr. 30, Vol. 8, Bl. 289 und 322; Vol. 9, Bl. 166.

Page 13: Forschungsbericht Westpreußisches Polentum und polnische

sc Peter Böhning

und Aktionen nicht völlig unberührt bleiben. Das kann aber ebensowenig wie

das Verhalten der Szlachta in der Aufstandssituation, als in der gesamten pol­

nischen Gesellschaft politische und soziale Gegensätze zeitweilig durch die ge­

meinsame nationale Anspannung verdeckt wurden, darüber hinwegtäuschen,

daß die Führungsschicht andere Interessen verfolgte. Ihr eigener Entwurf deckte

sich weitgehend mit dem Programm, das Józef Ignacy K r a s z e w s k i (1812—

1887) seit 1863 von Dresden aus als Grundlage der „organischen Arbeit" verfocht.

Kraszewski war kein Politiker, sondern Journalist und Schriftsteller. Er gehört

mit seinen außerordentlich zahlreichen historischen und zeitkritischen Erzählun­

gen und Romanen zu den fruchtbarsten Erzählern der Weltliteratur. Durch

seine journalistische Tätigkeit (seit 1859 als Redakteur der Warschauer „Gazeta

Codzienna" [Tageszeitung]) war er jedoch auch für politische Fragen aufgeschlos­

sen. Schon im Zusammenhang mit dem Aufstand von 1830/31 war er verhaftet

worden; nach dem Januaraufstand von 1863 ging er nach Dresden ins Exil.

Von hier aus verfügte er über glänzende Kontakte zu den liberalen Gruppen

in allen drei Teilgebieten und in der Emigration und konnte gerade wegen

seines scheinbaren politischen Desengagements die Forderung nach gesellschaft­

licher und nationaler Solidarität so nachdrücklich vertreten, indem er sowohl

den Ultramontanismus und konservativ-reaktionäre Strömungen als auch alle

Kräfte, die weitergehende gesellschaftliche Veränderungen erstrebten, heftig

bekämpfte.43

Ende 1863 kamen Kontakte zwischen Kraszewski und führenden

Männern der nationalpolnischen Bewegung Westpreußens zustande, die sich

in den folgenden Jahren zu einem regen Briefwechsel entwickelten.44

Die Ver­

bindung entsprach weitgehend den beiderseitigen Interessen. Für die Provinz

war vor allem von Bedeutung, daß Kraszewski die dortige Arbeit unterstützte.

Er konnte für die Mitarbeit an der „Gazeta Toruńska" gewonnen werden und

machte mit seinen „Rachunki", die zwischen 1866 und 1870 als jährliche Rechen­

schaftsberichte über die Entwicklung der „organischen Arbeit" erschienen, die

polnische Nation auch mit der Situation in Westpreußen näher bekannt. Das

Bild, das er entwarf, speiste sich aus den Angaben, die er durch seinen Brief­

wechsel erhielt. Die „Rachunki" von 1S67 unterstrichen zum Beispiel die durch

die nationale Anstrengung in Westpreußen bereits erreichten Resultate. Noch

vor wenigen Jahren habe es den Anschein gehabt, als sei dort alles politische

Leben erstorben. Das nationale Leben, das sich inzwischen entfaltet habe, sei

hauptsächlich ein Verdienst der Presse und einer großen Schar patriotisch ge­

sinnter Männer, die sich vor allem um das Vereinsleben bemühten. Besonders

43) Historia Polski, Bd III, 1, bes. S. 136 ff.; A. B r ü c k n e r : Dzieje kultury

polskiej. T. 4: Dzieje Polski rozbiorowej 1795—1914. [Geschichte der polnischen

Kultur. Bd 4: Geschichte des geteilten Polens 1795—1914.] Krakau 1946. S. 527 ff.

44) Von den westpreußischen Briefpartnern sind vor allem zu nennen Antoni

und Teodor Donimirski, Ignacy und Mieczysùaw Ùyskowski, Teofil Rzepnikowski,

Józef Chociszewski, Ignacy Danielewski, Franciszek T. Rakowicz. Die Briefe

befinden sich unter dem Nachlaß Kraszewskis in der Jagiellonischen Bibliothek

in Krakau. Vgl. auch J. K o n i e c z n y : Ziemia cheùmińska w świetle korespon­

dencji z Pomorza do J. I. Kraszewskiego. [Das Culmer Land im Lichte der

Korrespondenz aus Westpreußen an J. I. Kraszewski.] In: Rocznik Grudziądzki

3 (1963), S. 95 ff.

Page 14: Forschungsbericht Westpreußisches Polentum und polnische

Westpreußisches Polentum und polnische Nation 91

wurde hervorgehoben, daß der Adel bestrebt sei, einen kräftigen Mittelstand

als Hauptträger der Bewegung heranzubilden.4 5

Der Einfluß von Kraszewskis

Schriften, die in der Provinz eine verhältnismäßig große Abonnentenzahl fan­

den4 8

, wurde hoch veranschlagt: „Sie haben die Szlachta und unsere Intelligenz,

ohne die das Volk nur eine gedankenlose Herde ist, lesen und d e n k e n

gelehrt", schrieb Rakowicz, Herausgeber und Redakteur der „Gazeta Toruńska",

nach Dresden.4 7

Teodor D o n i m i r s k i bezeichnete die „Rachunki" gar als

Basis der „organischen Arbeit" in Westpreußen.48

1866/67 bereiste Kraszewski

die Provinz und nahm an zahlreichen Ereignissen wie z. B. der Eröffnung der

Thorner Kreditbank (Bank Donimirski, Ùyskowski, Kalkstein & Co.) teil. Beson-

45) StAK, Rep. 2, Tit. 39, Nr. 38, Vol. 3, Bl. 31 f. Amtliche preußische Über­

setzung.

46) Abonnenten der „Rachunki" und der Wochenschrift „Tydzień" waren u. a.:

Czapski/Bobrowo, Donimirski/Zyguss, Jackowski/Bielitz, Kalkstein/Kuczwally,

Kalkstein/Pluskowens, Kobyliński/Kijewo, Kowalski/Trzczyn, I. Ùyskowski/

Miliszewo, M. Ùyskowski/Thorn, Samplawski/Gawlowitz, Samplawski/Zaskocz,

Węclewski/Culm, Wilkxycka/Wabcz, Zawisza-Czarny/Warszewitz. Von der demo­

kratischen Presse gelangte auf legalem Wege (per Streifband oder über Abonne­

ment im Buchhandel) nur der „Przegląd Rzeczy Polskich" in mehreren Exem­

plaren in die Provinz. Nach Recherchen beider westpreußischen Regierungen

waren Anfang 1862 insgesamt 10 Exemplare (u. a. von Sulerzyski) abonniert.

Der „Demokrata Polski" wurde nach dem Vertriebsverbot des preußischen

Innenministers vom 9. 4. 1851 nur noch von Sulerzyski bezogen. StAK, Rep. 2,

Tit. 39, Nr. 38, Vol. 2, Bl. 118; Rep. 2, Tit. 30, Nr. 30, Vol. 11, Bl. 259 ff.

47) Brief vom 6. 6. 1869, zitiert nach K o n i e c z n y , S. 107. Unterstreichung

im Original (hier gesperrt).

48) Brief vom 2.10.1869. Biblioteka Jagiell., MS 6497. — Die Biographie Teo­

dor D o n i m i r s k i s (1809—1884), Gutsbesitzers auf Buchwalde im Kreis Stuhm,

könnte paradigmatisch für die Genese der nationalpolnischen Bewegung in

Westpreußen stehen, und zwar sowohl für die Dissimilation der Nationalitäten

in der Schicht des grundbesitzenden Adels als auch für den beherrschenden Zug

im sozialen und politischen Programm dieser Bewegung. Die Eltern waren be­

reits weitgehend germanisiert. Nach dem Besuch des Braunsberger Gymnasiums

und dem Studium der Rechte und Verwaltungswissenschaften in Breslau, Bonn

und Berlin legte Teodor Donimirski in Marienwerder sein Examen als Verwal-

tungs- und Gerichtsreferendar ab. 1833 übernahm er die väterlichen Güter im

Kreis Stuhm. Um seine landwirtschaftlichen Kenntnisse zu vertiefen, unternahm

er wiederholt Auslandsreisen in mehrere europäische Länder. Er wurde Land­

schaftsrat und von 1852—1858 Provinzialdirektor der Westpreußischen Landschaft.

Mit der Übernahme der eigenen Güter hatte ein allmählicher Repolonisierungs-

prozeß eingesetzt. Seit 1848 entwickelte sich Donimirski, der u. a. auch enge Kon­

takte zur bischöflichen Kurie in Pelplin unterhielt, zu einem der aktivsten und

energischsten Vertreter der „organischen Arbeit". Er rief z. B. zusammen mit

Ignacy Ùyskowski und Hiacenty Jackowski die Thorner "Sejmiki Gospodarskie" ins

Leben, deren Diskussionen und Entscheidungen er als langjähriger Organisator

und Leiter wesentlich beeinflußte. Sein Gut Buchwalde machte er zu einem

polnischen kulturellen Mittelpunkt des Marienburger Landes. Die Söhne Antoni,

Edward und Jan spielten bis in die Zwischenkriegszeit hinein eine bedeutende

Rolle bei der „organischen Arbeit" im preußischen Anteil.

Page 15: Forschungsbericht Westpreußisches Polentum und polnische

92 Peter Böhning

ders lange hielt er sich bei Teodor Donimirski in Buchwalde auf, wo er Anlaß

und Mittelpunkt nationaler Veranstaltungen war.49

Darüber hinaus übernahm

Kraszewski die Rolle eines Verbindungsmannes zu den liberalen Gruppen der

Emigration. Er bot die Gewähr, daß Unterstützungsgelder nicht in die falschen

Hände gerieten. Es müsse scharf darauf geachtet werden, forderte Teodor Doni­

mirski, daß bei der Jugend nicht die Neigung zum Müßiggang gefördert werde;

es wäre gut, wenn Kraszewski noch einen Vertrauensmann gewönne, der über

die Verhältnisse in Frankreich und in der Schweiz gut unterrichtet sei und

direkt angeben könne, wem die gesammelten Gelder zukommen sollten.50

Klei­

nere Beträge zur Unterstützung der Emigration wurden wiederholt bereit­

gestellt. Im Jahre 1865 z. B. erhielt ein Student in Montpellier ein Stipendium

von 1 000 francs; 400 Taler wurden auf Kraszewskis Rat an das von Dziekowski

in Paris gegründete „Towarzystwo Naukowe" [Wissenschaftliche Gesellschaft],

400 Taler an den Grafen Plater in Zürich und weitere 280 Taler nach Montpellier

zur Unterstützung Studierender überwiesen.51

Die intensivsten und für die Entwicklung in Westpreußen folgenreichsten

Verbindungen zu den anderen Teilen der polnischen Nation beruhten demnach

auf den persönlichen Beziehungen von Angehörigen einer sich neu formierenden

adlig-bürgerlichen Führungsschicht, die sich ohne Vorbehalte den Prinzipien

der „organischen Arbeit" verpflichtet hatte und in der die grundbesitzende

Szlachta auch nach der Reichsgründung den beherrschenden Einfluß ausübte.

Dieser Gruppe gehörten auch die weitaus meisten jener jungen Männer an, die

als Studierende an auswärtigen Universitäten in Kontakt mit polnischen Lands­

leuten kamen. Sie wandten sich überwiegend den Universitäten Breslau und

Berlin und außerhalb Preußens den süddeutschen Hochschulen zu5 2

, und es

entstand allmählich eine lockere Verbindung mit der akademischen Intelligenz

der gesamten Nation. Besonders in Breslau lebten die westpreußischen Studen­

ten in engem Kontakt mit Kommilitonen aus dem Großherzogtum Posen, dem

Königreich Polen und Galizien durch die gemeinsame Tätigkeit im „Towarzystwo

Literacko-Sùowiańskie" [Literarisch-Slavische Gesellschaft], das von 1836 bis

zu seiner gewaltsamen Auflösung im Jahre 1886 ein Zentrum nationalpolnischen

Lebens bildete.53

Eine Reihe der einflußreichsten und bedeutendsten Persön-

49) K o n i e c z n y , S. 104 ff.

50) Brief vom 22. 12. 1864. Biblioteka Jagiell., MS 6497.

51) Briefe vom 20. 2. und 31. 5. 1865, ebenda.

52) Die Polen in Preußen verfügten über keine eigene Universität. Der Wunsch

nach einer Hochschule in Posen fand bei keiner preußischen Regierung Gegen­

liebe, weil die Staatsführung stets befürchtete, damit einen Herd nationalpol­

nischen Lebens zu schaffen.

53) Die Gesellschaft sah in Anlehnung an Ideale und Organisationsform der

Wilnaer Philomaten ihre Hauptaufgabe in der Pflege der polnischen Sprache,

der kulturellen und politischen Tradition und der Stärkung des Nationalbe­

wußtseins. Da keine detaillierten Unterlagen vorhanden sind, können über Zahl

und Namen der Mitglieder nur unvollständige Angaben gemacht werden. Nach

Berechnungen des polnischen Forschers Henryk B a r y c z studierten z. B. zwi­

schen 1858 und 1863 jährlich 40—60 Polen in Breslau, von denen durchschnittlich

neun aus Westpreußen stammten und die großenteils dem „Towarzystwo

Page 16: Forschungsbericht Westpreußisches Polentum und polnische

Westpreußisches Polentum und polnische Nation 93

lichkeiten der nationalpolnischen Bewegung Westpreußens hat der Gesellschaft

während des Studiums angehört.54

Über ihre Aktivität im „Towarzystwo" und

eine Wirkung nach außen ist kaum etwas bekannt, und sie sind hier wahr­

scheinlich auch wenig hervorgetreten. Sie dürften zwar entscheidende Eindrücke

und Impulse für ihre spätere Tätigkeit empfangen haben; Art und Inhalt dieser

Tätigkeit mußten sich jedoch an den Bedingungen orientieren, denen sie in

ihrer Provinz unterworfen waren.

Obwohl die nationalpolnische Partei in Westpreußen in besonderem Maße

darauf angewiesen war, auf einen polnischen Staat in den Grenzen von 1771 hin­

zuarbeiten, scheint diese Bedingung Ausmaß und Art ihrer Außenbeziehungen

wenig beeinflußt zu haben. Charakteristisch war ein politischer Pragmatismus,

der sich stets an den aktuellen politischen Bedingungen und Erfordernissen

orientierte. Dieser Wesenszug galt für einen großen Teil der Polen im preu­

ßischen Anteil. Er trat in Westpreußen besonders deutlich in Erscheinung durch

die Einheitlichkeit und Dominanz der adlig-liberalen Führungsschicht5 5

, die

ihm huldigte und die ihre auswärtigen Beziehungen konsequent den eigenen

Bedürfnissen entsprechend gestaltete. Das galt schon für die Epoche bis 1863/64,

in der die Emigration ihre größte Bedeutung hatte, blieb aber auch über die

Reichsgründung hinaus der herrschende Trend. Ausgangspunkt waren stets die

„organische Arbeit" und die aus ihr resultierenden Probleme und Möglichkeiten.

Literacko-Sùowiańskie" angehörten. Die Zahl dürfte in Wirklichkeit größer ge­

wesen sein; denn Barycz hat, da in den Personal Verzeichnissen der Breslauer

Universität keine Angaben über die Nationalität gemacht wurden, nur die

„sicheren" Polen erfaßt. H. B a r y c z : Polska mùodzież akademicka w Wrocùa­

wiu przed powstaniem styczniowym 1853—63. [Die polnisch-akademische Jugend

in Breslau vor dem Januaraufstand 1853—63.] In: Sobótka 1 (1946), S. 151 ff.;

d e r s . : Rola polaków w Uniwersytecie Wrocùawskim. [Die Rolle der Polen an

der Universität Breslau.] Breslau 1946, hier bes. S. 16 ff.; vgl. auch Historia

Polski, Bd III, 1, S. 283.

54) Zu nennen wären hier etwa Ignacy, und Mieczysùaw Ùyskowski, Antoni

Dondmirski, Teofil Rzepnikowski, Zygmunt Kucharski, Michaù Szczaniecki, die

Journalisten Julian Prejs und Wùadysùaw Ùebiński, die Geistlichen Antoni Knast

und J a n Bartoszkiewicz. Auch Florian Ceynowa, der erste Verfechter eines

kaschubischen Regionalismus, war Mitglied des „Towarzystwo Literacko-

Sùowiańskie".

55) Diese Homogenität, die schon von den Verhältnissen in Posen abstach,

wurde von den westpreußischen Führern selbst wiederholt unterstrichen: „Wir

haben in Westpreußen keine Ultramontanen, keine Aristokraten. . . Es fehlen

auch jene heimlichen Demokraten, deren einer Teil sein Heil in der Revolution

sieht und von denen der Rest als Schmarotzer an den Koch Kornalowskis

glaubt. . . Ohne diese Parteiungen läßt sich die innere Organisation leichter

durchführen." Brief Teodor Donimirskis an Krazewski in Dresden vom 31. 11.

1870. Biblioteka Jagiell., Ms 64 97. — Wie stark die Richtung der nationalpolni­

schen Bewegung durch diese Gruppe bestimmt wurde, geht u. a. aus der Tatsache

hervor, daß es der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) in Preußen auch um

die Jahrhundertwende noch nicht gelungen war, ihre Tätigkeit auf Westpreußen

auszudehnen. U. H a u s t e i n : Sozialismus und nationale Frage in Polen. Köln,

Wien 1969. S. 261 ff.

Page 17: Forschungsbericht Westpreußisches Polentum und polnische

M Peter Böhning

Da aber mit dem Programm der „organischen Arbeit" die erstrebte Eigenstaat­

lichkeit ohnehin in eine ungewisse und vielleicht sehr ferne Zukunft transpo­

niert worden war, wurde mit der Konzentration auf die eigenen Probleme und

Möglichkeiten vielleicht doch am wirkungsvollsten auf jenes Ziel hingearbeitet.

S u m m a r y

The Poles of West Prussia and the Polish Nation

With the partitions of Poland sanctioned at the Congress of Vienna, the separate parts of the old Republic during the subsequent decades were exposed to far-reaching socio-economic and political changes of quite different intensity and distinctly shifting phases. In this respect, West Prussia, the former Royal Prussia, represents a case of isolated development. Though in their plans for a futurę Polish State Polish patriots of all political persuasions almost without exception bore in mind the 1771 frontiers, the Polish population of this territory for a long time was hardly taken account of by their fellow-countrymen beyond the provincial boundaries.

Since the end of the 1830s a Polish patriotic movement arose in West Prussia and was led by a relatively small, economically progressive, group of the nobility (szlachta). They aimed at mobilizing nationally the Polish and Cassubian population while simultaneously safeguarding their own social and economic Position; their relations to the other parts of the Polish nation must to a great extent be seen against the background of these ultimate aims.

The most intensive contacts developed with the neighbouring Grand Duchy of Posen, merely separated by the provincial border. After some initial reserve of the Posen Poles, active collaboration started once the Liga Polska was founded, in 1848/49, and it was based on the then developed Programme of 'organie work' (praca organiczna) which, after the futile rising of 1863/64, became the guiding-line for the entire Polish nation. Since the beginning of the 1860s decisive impulses for establishing a widerspread organisational system came from West Prussia. These agricultural societies, mutual loan co-operatives, or unions for trade and industry became the model for Polish clubs and societies throughout the Prussian part of former Poland.

But the relations of the West Prussian Poles with their countrymen in the Kingdom of Poland and Galicia lacked real development. Morę or less restricted to personal connections and some loose exchange of opinions, they were intensi-fied by outside influence merely during the great insurrections.

For the emigrants' conservative section for the time being bent on safeguar­ding the results of the Treaties of Vienna, West Prussia at first, lay altogether outside their horizon. However, the demoerats led by Towarzystwo Demo-kratyczne Polskie (the 'Polish Democratic Society') founded in 1832, tried from the beginning to include the province in their ränge of activity and, accordingly, to make contacts through their emissaries. The futility of the attempts resulted from the construetion of the National Polish Party of West Prussia undoubtedly being dominated by the group of the liberal economically progressive szlachta which, though striving for the economic strengthening of the middle classes (urban and rural) objeeted to all democratic tendencies and even more to those of agrarian revolution. Their Programme of 'organie work' was effectively upheld and supported by the Journalist and writer Jan Ignacy Kraszewski, sińce 1863 living in Dresden and actively corresponding with the leading Poles of West Prussia. Kraszewski communicated with the liberal group of emigrants, informed his readers through reports on the developments in West Prussia and contributed to the Gazeta Toruńska, the organ of the National Polish Party of West Prussia. His influence on the Polish population of the province was thought to be very significant.

The outward relations of the National Polish Party in the period under discussion are thus characterized by political pragmatism working along the lines of the actual political conditions and requirements and in its activity being constantly based on the 'organie work' and the problems as well as the possibilities resulting thereof.